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- Zur Goldenen Nase
Die “Meinungsführer” der Ärzteschaft einzuspannen, ist für Arzneimittelhersteller von allergrößter Bedeutung. Doch woher wissen Pharmafirmen eigentlich, wie wichtig und wertvoll ein bestimmter Weißkittel ist? Für Durchblick sorgen professionelle Datenbeschaffer – für astronomisch hohe Vergütungen. Einfluss ist relativ. Je größer, desto lukrativer – für die “Influencer” ebenso wie für den, der sie für eigene Zwecke einspannt. Den geschäftlichen Nutzen medizinischer Silberrücken abschätzen und angemessen belohnen hilft „Cutting Edge Information“ (CEI) in Durham, North Carolina, ein auf die Pharmabranche spezialisiertes Beratungsunternehmen, 2002 gegründet. Von den 25 größten Arzneimittelherstellern der Welt nutzen 22 die CEI-Dienste. (1) Ihre alljährlichen „Pharmaceutical Compliance“-Kongresse ziehen jeweils rund 500 Topmanager an. (2) Dank CEI wissen wir endlich, dass Mediziner ebenso einen „fairen Marktwert“ (FMV) aufweisen wie Waren, Wertpapiere, Unternehmen und jedes sonstige ökonomische Gut – und dass ihn Big Pharma zu Marketingzwecken messerscharf kalkulieren kann, sobald sie die Expertise von CEI gekauft hat. Über 140 CEI-Studien (3) verdeutlichen, wie generalstabsmäßig durchdacht die Branche begehrte KOLs, „Key Opinion Leaders“, ködert, hegt und pflegt - und generalstabsmäßig benutzt. Sie legen dar, wie man solche Topleute „managt“, ihnen angemessene „Kompensationen“ zukommen lässt – und misst, inwieweit sie von geschäftlichem Nutzen sind („Return on Investment“). Welch enormen Wert Konzerne solchen Infos beimessen, lassen die verlangten Preise erahnen: Ein einzelner Besteller zahlt pro CEI-Bericht 7.695 US-Dollar („single-user license“). Eine „unlimited license“ für mehrere Leser kostet schlappe 23.995 Dollar. (4) Der “faire Marktwert” des Meinungsführers Was kriegt Big Pharma dafür? Ein Elaborat mit dem Titel „Verwaltung/Management von pharmazeutischen Meinungsführern“ beispielsweise: Es soll firmeneigene „Teams befähigen, Beziehungen zu Meinungsführern aufzubauen und KOL-Datenbanken zu betreiben“. Außerdem zeigt es auf, „welche KOL-Aktivitäten die nützlichsten für das Unternehmen sind“, wobei es „Übergebrauch“ („overusing“) von einzelnen Meinungsführern zu vermeiden gelte. Ein weiterer CEI-Report, „Rednerprogramme zu Werbezwecken“, bietet „innovative, leicht umsetzbare Strategien und bewährte Praktiken, um Vortragsveranstaltungen effektiver und rentabler zu machen“ – wobei es unter anderem darauf ankommt, dass der Redner sämtliche „Fragen über die Produkte auf eine positive Art und Weise beantwortet“. Im CEI-Report über ärztliche Weiterbildung heißt es, ihr „Erfolg“ hänge „davon ab, die richtigen Redner mit einer großen Einflusssphäre anzuwerben“. Weiteres CEI-Material hilft, „den fairen Marktwert von KOLs“ zu messen, sie adäquat zu entlohnen – und dabei selbstverständlich den Anschein von Korruption zu vermeiden. (5) CEI-Daten zufolge schmieren Pharmakonzerne weltweit bis zu 16.500 „führende“ Mediziner, damit sie auf vielfältige Weise die Werbetrommel rühren – im Schnitt 259 pro Firma. Einem pharmazeutischen Großkonzern ist das „Opinion Leader Management“ durchschnittlich 61 Millionen US-Dollar pro Jahr wert, vereinzelt bis zu 300 Millionen. Der Verkaufswert eines KOL bemisst sich demnach an zehn Merkmalen: (6) • Jahre Berufserfahrung (years of experience) • Anzahl Veröffentlichungen pro Jahr (number of publications per year) • Anzahl Vorträge pro Jahr (number of speeches delivered per year) • Arztkategorie (provider category) • Geographische Reichweite (geographic influence) • Klinischer Forschungshintergrund (clinical research background) • Schnelles Einsetzen von Neuem (early-adopter profile) • Ausbildungsniveau (education level) • Höhe der jährlichen Beraterhonorare (level of annual advising fee funding) • Höhe der jährlichen Forschungsförderung (level of annual grant funding) Niemand weiß besser als CEI, wie sich all dies quantifizieren lässt – kein KOL soll auch nur einen Cent zuviel erhalten, aber auch keinen zuwenig. So gibt die Wissenschaftsdatenbank Web of Science Aufschluss darüber, welche Autoren zu welcher Erkrankung wie viel publiziert haben. Beispielsweise erfährt man darin, dass im Jahre 2011 unter den 100 häufigsten Autoren von Veröffentlichungen zu Multipler Sklerose zwei Koryphäen aus Italien top-performten: vorneweg ein gewisser Massimo Filippi mit sage und schreibe 606 Artikeln, gefolgt von Giancarlo Comi mit 453. (7) Dass diese beiden Herrschaften als allererste ins Visier jedes Konzerns geraten, der ein brandneues MS-Präparat hochjubeln lassen will, versteht sich von selbst. Auf mehreren hundert Dokumentseiten listet CEI auf, welche Honorare die 46 weltweit größten Arzneimittelhersteller, von Bayer über Novartis, Roche und Pfizer bis zu Eli Lilly und Bristol-Myers Squibb, an Meinungsbildner ausschütteten – je nach deren „fairem Marktwert“ (FMV). Zwischen Champions League und Stadtmeisterschaft Beim Ranking folgt der Spezialist für Pharmamarketing und „ärztliche Meinungsmacherschaft“, gefragter Marktführer in diesem Bereich, einem branchenüblichen Fünf-Stufen-Modell (8), das an Ligastrukturen im Fußball erinnert. Rang 1: In der Champions League spielen die internationalen Stars der Medizin. Sie gelten unter Fachkollegen als äußerst einflussreich, genießen weltweites Ansehen, bringen es auf mindestens acht Veröffentlichungen und elf Werbevorträge pro Jahr, haben an Therapie-Leitlinien mitgewirkt und Symposien mitorganisiert. Sie haben an einer bestens beleumundeten Universität studiert und lehren an einer solchen. Sie sind rhetorisch gewandt und verfügen über ausgeprägten Geschäftssinn. Auf ihre Konten fließt ein Drittel des Gesamtbudgets für „Meinungsführer“. Ihr üblicher Stundensatz liegt bei 578 US-Dollar, in der Spitze bei 3000. Rang 2 und 3: In der Ersten und Zweiten Bundesliga spielen Ärzte, die sich auf nationaler Ebene einen Namen gemacht haben. Zweitklassige kassieren durchschnittlich 385 Dollar pro Stunde (maximal 2500), drittklassige 244 Dollar (maximal 1000). Rang 4: Zur Regionalliga gehören Ärzte, die im weiteren Einzugsgebiet ihrer Praxis hochangesehen sind. Ihr Einsatz ist der Branche im Schnitt 205 Dollar pro Stunde wert (maximal 300). Rang 5: Bei den Spitzenreitern von Stadtmeisterschaften handelt es sich um Ärzte, die an ihrem Praxisort besonders bekannt sind. Ihr üblicher Stundensatz in Pharmadiensten liegt bei 184 Dollar, höchstens 300. Diese, wie auch die Regionalligisten, dürfe man allerdings keinesfalls unterschätzen, mahnt „Cutting Edge“; gerade sie könnten sich als vorzügliche „Arbeitspferde“ erweisen und vor Ort ein therapeutisch minderwertiges Mittel zu einem Verkaufshit machen. Darüber hinaus kann ein kooperativer Arzt jeden Ranges erkleckliche „Extravergütungen“ ergattern. (9) Im Durchschnitt fließen für einen Vortrag bei einem Marketing-Event 2111 Dollar; für einen wissenschaftlichen Vortrag 3145; für einen kurzen Review, also eine Zusammenfassung von bereits veröffentlichten Studien 2725; fürs Verfassen eines Manuskripts 3726 Dollar; für die Teilnahme an einer Sitzung des firmeninternen „Beratergremiums“ (advisory board) 2940; für deren Moderation 3607; für deren Vorsitz 3664. Je nach Fachgebiet sind sogar noch mehr drin: Ist der Mit“beratende“ ein namhafter Krebsspezialist, streicht er pro Einsatz im Schnitt 5388 Dollar ein, ein Magen-Darm-Experte 7753 Dollar. Weil herausragende „Meinungsführer“ nicht bloß für eine, sondern zumeist für mehrere Firmen tätig sind – die Fleißigsten bringen es auf ein bis zwei Dutzend -, sind für sie durchaus Pharma- zuwendungen von jährlich über einer Viertelmillion Dollar drin. In Europa dürften die branchenüblichen Honorarsätze nicht allzu stark von amerikanischen Verhältnissen abweichen. Die hier genannten Zahlen sind auf dem Stand von 2007, der Medizinjournalist Hans Weiss stieß auf sie in CEI-Dokumenten. Mittlerweile gesunken sein dürften sie eher nicht. Sind “geldwerte Vorteile in angemessener Höhe” unbedenklich? Schmiergelder fließen an Silberrücken oft auch in Form von Provisionen, wie Ende 2018 die „Implant Files“ vor Augen führten, der Skandal um das schmutzige Geschäft mit minderwertigen medizinischen Hilfsmitteln. Ein leitender Chirurg, der jahrelang die Implantate eines bestimmten Herstellers bevorzugt, kann durchaus auf sechsstellige Umsatzprämien kommen. Anstatt dem zwielichtigen Treiben entschlossen ein Ende zu setzen, segnet die Musterberufsordnung für Ärzte es, mit einer halbherzigen Einschränkung, weitgehend ab: „Die Annahme von geldwerten Vorteilen“, so regelt deren Paragraph 33, Absatz 4, „für die Teilnahme an wissenschaftlichen Fortbildungsveranstaltungen ist nicht berufswidrig“, solange sie „in angemessener Höhe“ bleibe. Wie wäre es, darin endlich eine Anregung des US-Mediziners Edwin Fuller Torrey unterzubringen? Bei jedem Kongressreferat sollte an sichtbarer Stelle neben dem Vortragspult ein Hinweis angebracht sein wie: „Für diesen Beitrag erhält Dr. Smith 3500 US-Dollar, ein Flugticket der Business Class sowie die Unterkunft in einem Vier-Sterne-Hotel von Eli Lilly & Co.“ (10) Im Vordergrund steht bei all diesen Vergünstigungen das Bemühen, einen Erwartungsdruck zur Gegenleistung und einen dauerhaften, engen Kontakt aufzubauen, im Zuge dessen der Umworbene die Distanz verlieren soll. Und oft genug gelingt das offenkundig. Dass eine noch so ausgeprägte, überaus einträgliche Industrienähe eines Professors gänzlich unbeeinflusst lässt, wie er seine Studenten ausbildet, was er in Vorträgen äußert, in seine Manuskripte schreibt, bei Kongressen, in Fachgremien von sich gibt, ist eine äußerst gewagte, alles andere als evidenzbasierte Hypothese - eher aber ein frommer Wunsch. Das Unwesen der KOLs zählt zu den Auswüchsen eines auf “pathologischen Profit” ausgerichteten Gesundheitswesens, das “so viele skandalöse Fehlanreize setzt, dass von einer Medizin für die Menschen kaum mehr zu sprechen ist”. So deutliche Worte finden zumindest die “Ärzte für Aufklärung”. Wann erreichen solche Initiativen endlich genügend Standeskollegen, damit die Humanmedizin humaner wird? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 www.cuttingedgeinfo.com/, abgerufen am 18.5.2019. 2 Siehe www.cuttingedgeinfo.com/events. 3 www.cuttingedgeinfo.com. Siehe die CEI-Schriften Pharmaceutical Thought Leaders 2007, Thought Leader Compensation: Establishing Fair-Market Value Procedures; Pharmaceutical Opinion Leader Management – Cultivating Today´s Influential Physicians for Tomorrow 2007, und Pharmaceutical Thought Leaders – Determining Fair Market Value and Measuring ROI, zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin (2008), S. 77-86. Mit seinen hartnäckigen Undercover-Recherchen hat sich Weiss bleibende Verdienste um mehr Ethik in der Medizin erworben. 4 Nach Patientensicht, 18.2.2016: „Das Beratungsunternehmen "Cutting Edge Information" und dessen Berichte über KOL und ROI“, https://patientensicht.ch/artikel/beratungsunternehmen-cutting-edge-information-dessen-berichte-ueber-kol-roi, abgerufen am 18.5.2019. 5 Zit. nach Patientensicht, 18.2,2016, a.a.O. 6 CEI-Bericht PH122: „Key Opinion Leaders“ (2009), zit. nach Patientensicht, a.a.O. 7 Nach Patientensicht, 7.10.2012: „Die häufigsten Multiple Sklerose Publikationsautoren“, https://patientensicht.ch/artikel/haufigsten-multiple-sklerose-publikationsautoren, abgerufen am 18.5.2019. 8 Hans Weiss: Korrupte Medizin (2008), S. 80 ff. 9 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O. 10 E. F. Torrey: „The going rate on shrinks“, American Prospect 13 (13) 2002. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Als KOL zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Dressierte Halbgötter - Wie Ärzte zu Drogendealern werden
Soweit der Arzt entscheidet, welche Medikamente ein Patient bekommt, sind Pharmahersteller auf seine Kooperation angewiesen. Wie lassen sich Verschreibungsgewohnheiten industriefreundlich ändern? Die Rezeptpflicht haben bekanntlich ultralinke Saboteure freier Marktwirtschaft ausgeheckt. Sie bezweckt, dem mündigen Bürger von oben herab gewisse Waren vorzuenthalten, es sei denn, er liefert sich der Willkür eines Weißkittels aus, der ihm nach eigenem Gutdünken einen Berechtigungsschein ausstellen, aber auch verweigern kann. Diese autoritäre Verschreibungspraxis hemmt den Absatz von Produktneuheiten auf vielerlei Weise, die für Hersteller und ihre Aktionäre überaus ärgerlich sind. Allzu vielen Ärzten kommen die grundsätzlich bahnbrechenden, stets evidenzbasierten Innovationen auf dem Arzneimittelmarkt nicht umgehend zu Ohren. Oder sie ziehen ihnen, grundlos risikoscheu, schon eingeführte, meist preiswertere Medikamente vor, mit weitgehend bekannten Wirkungen und Nebenwirkungen. Oder, schlimmer noch: Sie verordnen zu wenig, zu spät oder erst mal gar nix, plädieren fürs Abwarten, raten zu bewährten Hausmitteln, womöglich im Irrglauben, Pharmaprodukte seien manchmal höchstens die zweitbeste Lösung. Solche auf den Rezeptblock bezogene Schreibblockaden zu beseitigen, ist kein Kinderspiel. Schließlich zählen Ärzte zu den hellsten Köpfen im Land – hochgebildet, geistreich, kritisch. Durchschaut so jemand nicht mühelos jedes Manöver, ihn für schnöde Geschäftszwecke einzuspannen? Im übrigen verdienen Ärzte bekanntlich prächtig, so dass sie es gar nicht nötig haben, sich bestechen zu lassen, nicht wahr? Außerdem lässt ihnen der übliche Arbeitsalltag, in dem Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage die Regel sind, ja überhaupt keine Zeit, in Situationen zu geraten, in denen sie Zielscheibe von Korruptionsversuchen werden könnten. Hinzu kommt, dass strenges Standesrecht Vorteilsnahme ausschließt; sie würde unerbittlich sanktioniert, kein Arzt riskiert das. Wer sich mit diesen Beruhigungspillen zufriedengibt, benötigt schleunigst Nachhilfeunterricht in Pharma-Marketing. Diese Artikelserie bemüht sich darum: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben Anmerkung Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. (Harald Wiesendanger)
- Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch
Wie gelingt es Arzneimittelherstellern, praktizierende Ärzte einzuwickeln? Geben sie sich besonders viel Mühe mit überzeugend argumentierenden Briefen? Setzen sie auf E-Mail-Werbung, die ins Auge fällt? Verschicken sie brillant gestaltete Hochglanzbroschüren? Nichts dergleichen. Wie viele Ärzte nähmen sich schon Zeit für eine solche Lektüre, zumal wenn sie unverlangt eintrifft, von einem Absender, mit dem bisher wenig bis gar kein Kontakt besteht, schon gar kein persönlicher? Nein, die Pillenbranche kennt weitaus wirkungsvollere Werkzeuge, die strategisch ausgeklügelt ineinandergreifen. Sie unterwandert die ärztliche Aus- und Fortbildung. Sie macht sich Meinungsführer geneigt. Sie ködert Fachgesellschaften. Sie kauft Verlage und Redaktionen einschlägiger Medien. Und sie setzt auf Marketing vor Ort - auf leibhaftige Begegnungen, Auge in Auge. Dazu dirigiert sie eine Armee von Pharmareferenten. Rund 20.000 sind deutschlandweit im Außendienst unterwegs (1), vornehmlich in Arztpraxen und Kliniken, aber auch in Apotheken, bei Heimbetreibern, Krankenkassen, Verbänden. In den Vereinigten Staaten stieg ihre Zahl allein zwischen 1995 und 2005 von 38.000 auf 100.000 (2) – somit käme dort einer auf sechs Ärzte. Rechnet man nichtpraktizierende Ärzte und „Geringverschreiber“ (low prescribers) heraus, welche von Pharmagesandten ökonomischerweise links liegengelassen werden, so läge das Verhältnis sogar bei 1 zu 2,5. Das deutet auf intensivste Betreuung hin, in welcher Form auch immer. Solches Vor-Ort-Marketing verläuft offenkundig zur größten Zufriedenheit der Auftraggeber - warum sonst findet es statt, wieso wird es fürstlich entlohnt? In Deutschland verdienen Pharmavertreter als Anfänger im Schnitt 35.000 Euro, Profis 60.000 Euro, Topleute 110.000 Euro, zuzüglich Prämien und Firmenwagen. (3) In den USA lag das Durchschnittseinkommen eines „Rep“ – so heißt der sales representative, der Handelsvertreter, branchenintern – schon in den Nullerjahren bei 81.700 Dollar pro Jahr; dabei addiert sich zur Grundvergütung von 62.400 Dollar ein erfolgsabhängiger Bonus von 19.300 Dollar. Um so jemanden anzuwerben, zu trainieren, im Einsatz zu beaufsichtigen und seine Rückmeldungen auszuwerten, wenden Pharmafirmen im Schnitt weitere 89.000 Dollar auf. Somit fallen pro Rep Gesamtkosten von rund 170.000 Dollar pro Jahr an; bei specialty reps, Vertreter für „besondere Aufgaben“, sind es sogar 330.000 Dollar. (4) Bis zu 35.000 Euro – pro Arzt Und das bedeutet unterm Strich? 416.000 Ärzte praktizierten Ende 2021 in Deutschland; davon arbeitet mehr als die Hälfte im Krankenhaus, 114.000 sind niedergelassen. (Weitere 130.000 sind nicht berufstätig.) (5) Selbst wenn Reps nur einen kleineren Teil davon bearbeiten würden, sorgen ihre Bemühungen für gewaltige Ausgaben. Von US-Zahlen ausgehend, würde allein schon eine deutsche Bodentruppe von 20.000 Pharmareferenten ein Jahresbudget von drei Milliarden Euro erfordern – das wären aber bloß die Personalkosten. Hinzu kämen weitere Milliarden für vielerlei Hilfsmittel des Umgarnens, von denen gleich noch die Rede sein wird. Alles in allem wenden Pharmakonzerne für Vor-Ort-Marketing jährlich zwischen 8.000 und 35.000 Euro auf - pro niedergelassenem Arzt wohlgemerkt. (6) Egal wieviel: Die Branche kann´s verschmerzen. Für jegliches Minus beim Klinkenputzen und Schmieren kommt letztendlich eh die Gemeinschaft der Krankenversicherten auf - über erhöhte Medikamentenpreise und Kassenbeiträge. Doch es gibt kein Minus. Für jeden Euro, den Pharmafirmen ins Vor-Ort-Marketing stecken, fließen vielmehr 1,96 Euro zu ihnen zurück. (7) Aber wie könnte sich ein solches Investment jemals rentieren? Welchen Dreh haben Pharmareferenten raus, wie gelangen sie zum Ziel? Der Pharmareferent als Überzeugungskünstler Verbreitete Klischees hierüber sind lächerlich. Weder trägt ein Pharmareferent einen Koffer voll Bargeld bei sich, noch appelliert eine weibliche Industrievertreterin bei männlichen Praxisbetreibern mit kurzem Röckchen und schwülem Parfum, den slipfreien Po auf dem Schreibtisch, an niedere Instinkte. Aber worin sonst besteht ihr Erfolgsgeheimnis? Wie uns Wikipedia weismacht, bestehe die Aufgabe von Pharmareferenten darin, zu „informieren und beraten“, und zwar „fachlich, kritisch und vollständig“ – über „neueste Forschungsergebnisse, Produktentwicklung, neue Therapie- und Versorgungsansätze“. (8) Erfüllen sie diese Funktion als Wissensquelle und Mentor einfach in hervorragender Weise, weshalb Ärzte ihren Besuch außerordentlich schätzen? Fachlich recht gut mithalten können die meisten Pharmagesandten mittlerweile durchaus. Vorbei sind die Zeiten pfiffiger Quereinsteiger, die ihre Eignung schon hinlänglich unter Beweis stellten, indem sie zuvor reihenweise Luxuskarossen, überflüssige Versicherungen und windige Kapitalanlagen verkauft hatten. Der Pharmareferent von heute darf vor dem Arzt keinesfalls als blutiger Laie dastehen, im Fachgespräch soll er eine einigermaßen gute Figur machen. Das erfordert recht umfangreiche medizinische und pharmazeutische Kenntnisse. Um sie sich anzueignen, durchläuft ein Rep inzwischen eine Ausbildung mit mindestens 1000 Unterrichtsstunden, die er mit einer Prüfung bei der örtlichen Industrie- und Handelskammer abschließt; Einzelheiten regelt seit 2007 bundeseinheitlich die „Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Abschluss Geprüfte/r Pharmareferent/in“ (PharmRefPrV). (9) Eine Bildungsstufe höher angesiedelt ist neuerdings der „Pharmaberater“; er benötigt hochspezialisiertes Fachwissen, wie auch juristische Kenntnisse. Immer öfter handelt es sich dabei um Naturwissenschaftler und Mediziner, auch mit Promotion. Nach dem Arzneimittelgesetz (§ 75, Abs. 1 bis 3) muss ein Pharmaberater ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Pharmazie, der Chemie, der Biologie, der Humanmedizin oder der Veterinärmedizin vorweisen können, zumindest aber eine Ausbildung zum technischen Assistenten der Pharmazie (PTA), der Chemie (CTA), der Biologie (BTA), der Human- (MTA) oder Veterinärmedizin (VTA). (10) Verschreibungsgewohnheiten ändern: allein darum geht es Aber wozu setzt ein Pharmareferent sein beachtliches Expertenwissen ein? Um „zu informieren“ und „aufzuklären“, sachlich und neutral? Seine eigentliche Aufgabe bringt ein ehemaliger Rep des Pharmariesen Lilly, Shahram Ahari, unverblümt auf den Punkt: „Ändere die Verschreibungsgewohnheiten des Arztes!“ – ausschließlich darum geht es. (11) Bringe ihn dazu, anstelle des alten billigen Präparats das teure neue zu verordnen; ein Original statt eines Generikums; ein Medikament des Herstellers XY, nicht dasjenige einer Konkurrenzfirma; bei mehr Patienten, bei mehr Krankheitsbildern als bisher, möglichst frühzeitig, möglichst häufig, möglichst lange. Auf diese Ziele hin sind die Firmenvertreter darauf aus, eine persönliche, möglichst enge und langfristige Beziehung zum Arzt aufzubauen, seine Verschreibungsgewohnheiten, persönlichen Einstellungen, Ansichten und Vorlieben auszukundschaften, ihm ein bequemes Zusatzsalär für Gegenleistungen zu verschaffen, ihm umsatzförderliche „wissenschaftliche Evidenzen“ näherzubringen, ihm Bedenken wegen Nebenwirkungen auszureden, Konkurrenzprodukte und chemiefreie Alternativen madig zu machen. Ihm soll bewusst werden, wie „altmodisch“ seine Verordnungen sind, solange er ein bewährtes Medikament der wie immer bahnbrechenden Neuheit vorzieht, statt teuren Originalen lieber billigere Generika rezipiert. „Eine typische Gefahr der Vertretergespräche“ sieht das Arznei-Telegramm, ein Infodienst für Ärzte und Apotheker, in der „Strategie der Desinformation. Die bisherige Therapie des Arztes wird als veraltet dargestellt und der Arzt durch den Verweis auf den ‘Experten’ XYZ in seinen therapeutischen Entscheidungen verunsichert, um eine Bresche für die Verbreitung eines neuen Präparats, meist einer Scheininnovation, zu schlagen.“ (12) Je mehr Verschreibungen der Pharmareferent letztlich anstößt, desto üppiger fällt seine Provision aus (13) - ein mächtiges Motiv, beharrlich subtilen Dauerdruck auszuüben, an medizinischen Fakten und Notwendigkeiten vorbei. Verlogene Freundschaft Und wie kriegt man das hin? „Warum”, rätselt das Arznei-Telegramm, “erlauben 80 bis 95 Prozent der (besuchten) Ärzte - trotz Arbeitsbelastung und Kostendruck -, dass Pharmareferenten ihnen ihre Zeit mit fachlich und inhaltlich fragwürdiger Produktpromotion stehlen?“ (14) Dazu setzt der Pharmareferent eine breite Palette bewährter Maßnahmen ein. Welche er bevorzugt, in welcher Dosierung und Kombination, hängt davon ab, mit welchem Typ von Arzt er zu tun bekommt und wie sich die Beziehung zu ihm entwickelt. Bei jedem Praxisbesuch lautet das A und O: „Schließe Freundschaft!“ Oberstes Ziel ist es, das Vertrauen des Arztes zu gewinnen. Gelingt das, hat man auch schon seine Patienten in der Tasche. Denn „deren Vertrauen in den Arzt als Menschen erstreckt sich automatisch auch auf das Vertrauen in die Medikamente, die er ihnen verschreibt. Auf eben diesen Vertrauenstransfer zielen die Bemühungen der Pharmaindustrie“, erläutert ein ehemaliger Manager mehrerer Branchenriesen. (15) Zu diesem Zweck wird der besuchte Arzt regelrecht überschüttet mit Nettigkeiten, Aufmerksamkeit, Zeichen aufrichtigen Interesses an der ganzen Person hinter dem Weißkittel. „All meinem Tun gebe ich den Anschein von Freundschaft“, so plaudert ein ehemaliger Lilly-Rep aus dem Nähkästchen. „Wenn ich dem Arzt ein Präsent überreiche, dann nicht, weil das mein Job ist, sondern weil ich ihn ganz arg mag. Ich bringe ihm ein Bürolunch mit, weil für mich ein Termin bei ihm eine angenehme Abwechslung zu dem darstellt, was ich bei anderen Docs erlebe. (…) Während meiner Ausbildung ist mir eingetrichtert worden: Beim gemeinsamen Dinner isst der Arzt mit einem Freund. Du isst mit einem Kunden.“ (16) Auch bei Arzthelferinnen und Sekretärinnen, wichtigen Türöffnern zu ihrem Chef, pflegen tadellose Manieren, beste Laune und antrainierter Charme der stets gutgekleideten, überaus wortgewandten Pharmagesandten in der Regel recht gut anzukommen. Der Pfizer-Vertreter Jamie Randall im US-Spielfilm „Love and other Drugs“ (2010), ein unwerfender Womanizer, repräsentiert den Berufsstand insofern durchaus würdig. Nichts lässt ein guter Freund unbeachtet, an allem und jeglichem nimmt er Anteil. „Wir werden darauf trainiert“, so enthüllt der Ex-Pharmareferent, „die Persönlichkeit des Arztes einzuschätzen, die Art seiner Praxisführung und seine Vorlieben – und diese Informationen an das Unternehmen weiterzumelden. Dabei kann Persönliches bedeutsamer sein als Verschreibungspräferenzen. Reps erkundigen sich nach Details aus dem Familienleben des Arztes und behalten sie in Erinnerung. Sie fragen nach seinen beruflichen Interessen und seiner Freizeitgestaltung. Ihr geschulter Blick sucht das Büro nach Gegenständen ab, die dazu dienen können, eine persönliche Verbindung zum Doc aufzubauen – ein Tennisschläger beispielsweise, russische Novellen, eine CD mit Rockmusik der Siebziger, ein Modemagazin, Urlaubserinnerungen, kulturelle oder religiöse Symbole. Ein Foto auf dem Schreibtisch eröffnet eine Gelegenheit, etwas über Angehörige herauszufinden, einschließlich ihrer Namen, Geburtstage und Eigenheiten. All dies pflegt der Rep gleich nach der Begegnung in eine Datenbank einzugeben.“ (17) Im Rahmen eines solch freundschaftlichen Verhältnisses genügt es in der Regel, Medikamente bloß beiläufig zu erwähnen. „Ärzte sind für Firmeneinflüsse empfänglich, weil sie überarbeitet sind, überfordert von der Informationsflut und Papierkram, und weil sie sich nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen. Indem zuvorkommende Reps gute Laune, Sympathie und Geschenke mitbringen, verschaffen sie dem Arzt eine Verschnaufpause. Sie würdigen, was für ein hartes Dasein er fristet, und scheinen bloß darauf aus, seine Last zu erleichtern. Jedoch ist jedes Wort, jede Gefälligkeit, jede Gabe sorgfältig geplant – nicht um Ärzten und Patienten weiterzuhelfen, sondern allein um den Marktanteil gewisser Medikamente zu erhöhen.“ Rückblickend kann der reumütige Rep Ärzten nur dringend raten, sich „Freunde ausschließlich unter Leuten zu suchen, die nicht dafür bezahlt werden, Freunde zu sein“. (18) Wahrhaftigkeit: kaum zweckmäßig Überhaupt ist Wahrhaftigkeit beim Vor-Ort-Marketing nicht unbedingt zielführend. In dem Werbematerial, das der Pharmareferent überreicht – von der Produktbroschüre bis zum Sonderdruck eines Testberichts -, sind 90 Prozent aller Aussagen medizinisch irrelevant, nicht belegt, einseitig oder falsch, wie eine Untersuchung des Kölner Instituts für evidenzbasierte Medizin (DIeM) ergab. Nur acht Prozent aller medizinisch-pharmakologischen Angaben werden belegt und stimmen mit der genannten Quelle überein. (19) Trotzdem bezeichnen mehr als 80 Prozent der Besuchten den Pharmaberater bzw. –referenten als „wichtigste Informationsquelle ihrer therapeutischen Tätigkeit und Verordnungen“. (20) Als hilfreich erweisen sich Geschenke aller Art. Im Koffer führen Pharmaberater allerlei feine Präsente mit: von edlen Kugelschreibern und Taschenrechnern über Arzneimittelmuster, Prospekte und Nachdrucke vielversprechender Forschungsberichte bis hin zu Einladungen zu pharmafinanzierten Veranstaltungen mit exquisitem Freizeitprogramm. Gegenleistungsabhän- gig wird schon mal hochwertige Elektronik spendiert, wie ein niedergelassener Arzt vom Besuch einer Pharmareferentin der Firma Aventis Pasteur MSD berichtet: „Um den Umsatz eines neuen Pneumokokken-Impfstoffs anzukurbeln, eröffnete sie mir die Möglichkeit, bei Abnahme einer größeren Menge würde ich ein Handy gratis erhalten.“ (21) Auch mit kostenlosen Installations-CDs für hochwertige Praxissoftware können die Besucher aufwarten: Kaum hat der Arzt die Symptome eines Patienten eingegeben, schon blinkt auf dem Monitor das „passende“ Medikament derjenigen Firma auf, von der das Softwaregeschenk stammt. Bis zum ausgedruckten Rezept übernimmt das Programm sämtliche Arbeitsschritte. (22) Zu den beliebtesten Geschenken, die Praxistüren besonders zuverlässig öffnen, zählen „Muster“: Arzneimittel, die in geringen Mengen abgegeben werden. Dabei handelt es sich stets um neue, besonders teure Präparate. Ein kleiner Vorrat davon soll den Arzt in Versuchung bringen, auf die „Innovation“ umzusteigen, und daran gewöhnen, sie zu verschreiben. Und oftmals geht er gerne darauf ein. Griffbereite Muster eignen sich dazu, eine Therapie unverzüglich zu beginnen. Auch Patienten erfreut ein solches Präsent. Studien zufolge wechseln die meisten von ihnen zum neuen Präparat, falls sie zunächst Muster davon erhalten haben. (23) “Wir konzentrieren uns auf die Top-Verschreiber” Bekommen denn alle niedergelassenen Ärzte derartigen Besuch? So vielen Doctores unentwegt auf die Pelle zu rücken, sei rausgeschmissenes Geld, erklärt ein Verkaufsmanager von Bayer. Letztlich „konzentrieren wir uns auf die 25 Prozent, die wir beeinflussen können“ – die Top-Verschreiber. Mit denen „machen wir unser Geld. Alle anderen lassen wir links liegen.“ (24) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 Nach Audimax: „Pharmaberater: Ein Beruf mit Zukunft“, www.audimax.de/ingenieur/branchen/medizin-pharma-chemie/pharmaberater-ein-beruf-mit-zukunft/, abgerufen am 29.5.2019. 2 M. Goldberg u.a.: „PE's annual sales and marketing employment survey: The big squeeze“, Pharmaceutical Executive 24/2004, S. 40–45 3 Nach https://hitec-consult.de/de/firmenhistorie-hitec, abgerufen am 29.5.2019. 4 „Hard sell: As expanding the sales force becomes a less attractive option, pharmaceutical companies are reevaluating their sales strategies“, Med Ad News 23/2004, S. 1. 5 „Nachgezählt“, Der Spiegel Nr. 21, 21. Mai 2022, S. 19; nach Angaben der Bundesärztekammer, www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021 6 www.kvpm.de/fakten/fakten zur psychiatrie, abgerufen am 22.10.2016; John Virapen: Nebenwirkung Tod, 7. Aufl. 2015, S. 49; Magnus Heier: „Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 48, 3.12.2006, www.faz.net/aktuell/wissen/medizin- ernaehrung/finanzierung-von-selbsthilfegruppen-wer-soll-das-bezahlen-wer-hat-so-viel-geld-1381620.html? printPagedArticle=true#pageIndex_2, abgerufen am 25.11.2016. 7 „Can I buy you a dinner? Pharmaceutical companies increasingly use doctors´ talks as sales pitches“, August 2004; www.worstpills.org. 8 Siehe die Wikipedia-Einträge „Pharmareferent“ und „Pharmaberater“; jeweils abgerufen am 22.5.2019. 9 Siehe www.bmbf.de/upload_filestore/upload/fvo_pdf/17_11_30_Pharmareferent.pdf, abgerufen am 29.5.2019. 10 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) – Vierzehnter Abschnitt – Informationsbeauftragter, Pharmaberater – § 75 und § 76, siehe www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/BJNR024480976.html#BJNR024480976BJNG001406310. 11 Adriane Fugh-Berman/Shahram Ahari: „Following the Script: How Drug Reps Make Friends and Influence Doctors“, PLoS Medicine 4 (4) 2007, S. 623, https://doi.org/10.1371/journal.pmed.0040150 12 Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90: „Brauchen wir Pharmareferenten?“ 13 Nach Angaben der früheren Pharmareferentin Kathleen Slattery-Moschkau, zit. nach Jeanne Lenzer: „What Can We Learn from Medical Whistleblowers?“, PLoS Medicine 2 (7) 2005. 14 Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90: „Brauchen wir Pharmareferenten?“ 15 Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O., S. 58. 16 Fugh-Berman/Ahari, a.a.O., S. 621, 622. 17 Fugh-Berman/Ahari, a.a.O., S. 621. 18 Fugh-Berman/Ahari, a.a.O., S. 625. 19 T. Kaiser u.a.: „Sind die Aussagen medizinischer Werbeprospekte korrekt?“, arznei telegramm 35 (2) 2004, Sonderbeilage S. 21-23. 20 Nach Wikipedia: „Pharmareferent“, abgerufen am 29.5.2019. 21 Arznei-Telegramm 32/2001, S. 54: „Immer wieder Bestechungsversuche“ 22 Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O., S. 50-52. 23 L. D. Chew u.a.: „A physician survey of the effect of drug sample availability on physicians' behavior“, Journal of General Internal Medicine 15/2000, S. 478–483; K. E. M. Groves u.a.: „Prescription drug samples—Does this marketing strategy counteract policies for quality use of medicines?“, Journal of Clinical Pharmacy and Therapeutics 28/2003, S. 259–271; R. F. Adair u.a.: „Do drug samples influence resident prescribing behavior? A randomized controlled trial“, American Journal of Medicine 118/2005, S. 881–884. 24 zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin (2008), S. 34. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Der gläserne Doc
Was für Arzneimittelhersteller am Arzt letztlich zählt, ist sein „Verschreibungswert“: Wie emsig stellt er Rezepte aus? Aber woher wissen Pharmareferenten das überhaupt, ehe sie ihm zum ersten Mal auf die Pelle rücken? Wie finden ihre Auftraggeber heraus, bei welchen Ärzten sich die Mühsal des Anbaggerns lohnt? Durchblick verschaffen gigantische Datenbanken, anzuzapfen gegen horrende Gebühren. Durchblick verschaffen dubiose Datenbanken, zugänglich gegen horrende Gebühren. Woher weiß Big Pharma, welchen Arzt ihre Abgesandten worauf ansprechen müssen? Wie sie ihn einfangen, bei der Stange halten und motivieren können? Woher kennen sie seinen „Verschreibungswert“, den Prescribing Value, kurz PV? (1) Dazu bedarf es keiner Wanzen, keiner Lauschangriffe, keiner eingeschleusten Spione. Durchblick verschaffen Firmen wie IQVIA, ein monströser, weltweit agierender Unternehmensdienstleister mit Stammsitz in Durham, North Carolina. Mit 79.000 Mitarbeitern, verteilt auf über hundert Länder, erzielt er einen Jahresumsatz von knapp 14 Milliarden US-Dollar. (2) Dieser Goliath steht auf zwei Beinen. Zum einen hat es Iqvia zur weltweit größten Contract Research Organisation (CRO) gebracht; als solche betreibt sie klinische Auftragsforschung für die Pharma-, Biotech- und Medizingeräte-Industrie. Zum zweiten fungiert sie als beinahe allwissender Beschaffer jeglicher Art von Informationen, die für Medizinmarketing von Bedeutung sein könnten. Seine Datenpools, 56+ Petabytes umfassend, gelten branchenintern als pures Gold, so gut wie jeder Pharmakonzern greift darauf zu. (3) Eine Goldgrube namens IQVIA Dabei heißt „Iqvia“ erst so, seit der Firmenvorläufer Quintiles im Oktober 2016 einen 17,6 Milliarden Dollar teuren merger mit einer Geistesverwandten vollzog: der umstrittenen Marktforschungsfirma IMS Health, dem damals weltweit führenden Lieferanten von Informationen über ärztliches Verschreibungsverhalten sowie zu Verkaufszahlen von Arzneimitteln. (4) Mit jährlich 45 Milliarden Daten über „Transaktionen im Gesundheitswesen“, die 14.000 Mitarbeiter zusammentrugen oder anderswo einkauften, dann auswerteten und aufbereiteten – davon über 300 in der deutschen Zentrale in Frankfurt am Main -, setzte IMS pro Jahr 2,6 Milliarden Dollar um. (5) Nach eigenen Angaben erfasste IMS „85 Prozent der weltweiten Verschreibungen“ und bot „annähernd 400 Millionen umfassende Langzeitberichte über Patienten“. (6) Zu ihren Kunden zählten die Top 100 der Pharma- und Biotech-Branche. Ab April 2014 wurden IMS-Aktien an der New Yorker Börse gehandelt. Wie überaus kostbar diese Schätze für Big Pharma sind, lassen die verlangten Preise erahnen. Um auch nur einen elektronischen Zugang zu einer von rund 40 angebotenen Datenbanken zu erhalten – der „IMS DPM“, die minutiös Verkaufszahlen und Umsätze jedes einzelnen Medikaments auflistete -, wurden 40.000 bis 60.000 Euro pro Jahr fällig. Was IMS Health konnte, kriegt Iqvia erst recht hin. Seine „OneKey“-Datenbank verschafft minutiöse Verhaltens- und Einstellungsprofile von 14,3 Millionen Heilberuflern in über hundert Ländern, darunter 2,1 Millionen prescribers; präzise erfasst sie Verschreibungs- und Überweisungsverhalten von niedergelassenen und Klinikärzten. Wer Iqvias Service nutzt, weiß genauestens, wie viele Rezepte über welche Wirkstoffe welcher Marken ein Arzt welchen Patienten mit welcher Indikation ausstellt, welche Therapieentscheidungen er trifft oder eher vermeidet. Er kennt „Arztcharakteristika und Praxismuster“, wie Iqvia hervorhebt. Er weiß, wie rasch oder zögerlich ein Arzt „neue“ Behandlungsweisen einsetzt, von altbewährten Mitteln auf „Innovationen“ umsteigt, Originalpräparate oder Generika bevorzugt. Ein Iqvia-Service namens „Patient Journey“ zeichnet „die Reise des Patienten von der Diagnose zur Therapie“ nach, insbesondere „die Rollen der mitwirkenden Ärzte“. Ein weiterer Dienst, „Expert Profiling“, hilft Unternehmen einzuschätzen, wie wertvoll ein Arzt fürs Marketing sein könnte; er analysiert dessen „wissenschaftlichen, indikationsspezifischen Footprint“, messbar „zum Beispiel an Publikationen, klinischen Studien, Kongressaktivitäten“. So „können Sie Ihre Marketingmaßnahmen punktgenau ausrichten und entscheiden, wen Ihre Botschaften erreichen“, versichert Iqvia auf seiner Homepage. Und natürlich gibt es auch Tools, mit denen sich „die Außendienst-Performance messen“ lässt – was taugt der Pharmareferent? Gnadenlos ausgespäht „OneKey“ knüpft an einen noch von IMS Health entwickelten Datenpool an: ScripTrac, welches mittlerweile der US-Unternehmensdienstleister Medacist fortführt. Auch hiermit bot IMS „Informationen zur treffsicheren Arztbeschreibung“ – einschließlich Namen und Adressen von über 31.000 niedergelassenen Ärzten in Deutschland, also jedem dritten. (7) Gefüttert wurde „ScripTrac“ zum Teil mit den Einträgen aus Formularen, die Ärzte einmal pro Jahr gegen Honorar ausfüllten. Sage und schreibe 600 Fragen erkundeten nicht nur das Verschreibungsverhalten, sondern auch die Patientenstruktur der Praxis, ihre Organisation, ja sogar Interessenschwerpunkte, Einstellungen und Charakterzüge. So bekundete der ausgespähte Arzt auf einer fünfteiligen Skala - von 1: „stimme nicht zu“ bis 5: „stimme völlig zu“ -, inwieweit er mit Aussagen einig geht wie: „Ich habe gerne viele Leute um mich“, „Ich probiere etwas Neues aus, auch wenn mal ein kleines Risiko dabei ist“, „Ich habe Spaß, mich mit neuen Theorien und neuen Ideen zu beschäftigen“, „Wenn ich Erfolg habe, möchte ich das auch nach außen zeigen“, „Das Ansehen, das man als Arzt genießt, ist mir wichtig“, „Es gelingt mir meistens, andere von meiner Meinung zu überzeugen“. ScripTrac steht für „Prescription Tracking“: das Nachverfolgen ärztlicher Verschreibungen, mit geradezu erkennungsdienstlicher Tiefenschärfe. Welcher Arzt stellte welche Rezepte aus, wie oft, wofür? Verordnet er Pharmazeutika besonders häufig, durchschnittlich oft oder eher selten? Welche Originale, welche Generika? Über welchen Zeitraum? Wie rasch ab Markteinführung einer „Innovation“ begann er sie zu verordnen? Bei welchen Indikationen? Verschrieb er ein bestimmtes Medikament ausschließlich für zugelassene Anwendungen, oder auch darüber hinaus, off label? Wie weit ging er dabei? Bevorzugte er Präparate bestimmter Hersteller? Solche aufschlussreichen Einblicke schätzt die Pharmaindustrie dermaßen, dass sie kein noch so dreistes Preisschild abschreckt. Entsprechend heiß umkämpft ist der Markt. Mit Iqvia und Medicast wetteifern etliche weitere Serviceunternehmen, die meisten mit mehreren hundert bis tausend Mitarbeitern und Umsätzen mindestens im dreistelligen Millionenbereich. Sie tragen Namen wie Dendrite – seit 2007, nach einer Übernahme, Cegedim Dendrite -, SDI Health und Wolters Kluwer. Der älteste Arztdatenhändler, Medical Marketing Service (MMS), agiert von Schaumburg, Illinois aus seit 1929. Manche bieten Zusatzleistungen wie E-Mail-Marketing; spezielle Software, welche die Performance der Außendienstler ebenso einschätzen hilft wie den Ertrag bestimmter Maßnahmen zur Verkaufsförderung; oder Statistiken darüber, wonach ein Arzt im Internet suchte, wie oft er beispielsweise die Website eines bestimmten Pharmaunternehmens besuchte. Manche beschränken sich auf den Hauptmarkt USA, andere verschaffen Einblicke in viele weitere nationale Märkte. Manche konzentrieren sich auf niedergelassene Ärzte, andere beziehen auch Kliniken, Heime, Apotheken ein. Doch eines verbindet sie alle: ihr Kerngeschäft, das Bereitstellen von Daten, Daten, Daten. Woher stammen die Daten? Woher die Daten stammen, lässt sich großteils bloß erahnen. Die meisten Quellen liegen im Dunkeln, die Anbieter hüten sie wie einen Goldschatz, und das ist er auch. Zumindest eine Hauptquelle ist allerdings seit langem hinlänglich bekannt: die älteste und größte Standesvertretung der US-amerikanischen Ärzteschaft, die American Medical Association (AMA). Ihre Ärztedatenbank, das Physician Masterfile, gilt weithin als die ausgefeilteste der Welt. Sie bietet demografische Angaben über sämtliche 900.000 US-Ärzte, lebende wie verstorbene, AMA-Mitglieder wie Nichtmitglieder, praktizierende und im Ruhestand befindliche. Und damit betreibt die AMA ein einträgliches Geschäft: Allein im Jahr 2005 verdiente sie daran 44,5 Millionen Dollar. (8) Die allererste Nutzungslizenz vergab sie bereits im Jahr 1929 – an MMS. Datenschutz pflegt man in Amerika eher locker zu handhaben. Aber selbst dort nahmen seit der Jahrtausendwende die Widerstände gegen den ausufernden Datenhandel zu. Im Jahr 2006 verbot New Hampshire den Verkauf von Verschreibungsdaten zu kommerziellen Zwecken (9), weitere Bundesstaaten folgten inzwischen diesem Beispiel. Daraufhin sah sich die AMA veranlasst, ein offizielles „Prescribing Data Restriction Program“ zu beschließen. (10) Seither können US-Ärzte auf einer AMA-Website per Online-Formular Widerspruch dagegen einlegen, dass ihre Daten an Reps und ihre Firmen weitergegeben werden. Doch weiterhin floriert das Datenbusiness prächtig. Denn der AMA liegt daran, dass Verschreibungsdaten nach wie vor „für nutzbringende Zwecke“ verfügbar bleiben, zum Beispiel „für evidenzbasierte medizinische Forschung, zum Strukturieren von klinischen Studien, für wirksame Arzneimittelrückrufe, zur Abschätzung von Nutzen und Risiken nach erfolgter Zulassung und für viele weitere Zwecke“. (11) Und irgendeiner dieser Zwecke findet sich für clevere Datenbeschaffer weiterhin immer. Das erklärt, dass Reps heutzutage kein bisschen weniger als Jahrzehnte zuvor im Bilde darüber sind, wie das Verschreibungsverhalten von Ärzten aussieht. Zudem stellt der Datenschatz ärztlicher Standesorganisationen nur eine Quelle unter mehreren dar. Die Analysekunst besteht darin, sie mit dem zu verknüpfen, was andere liefern. So verfügte IMS Health über Protokolle von über 70 Prozent aller Rezepte, die in Apotheken eingelöst wurden. Die Namen von Patienten sind darin zwar anonymisiert. Trotzdem lassen sich die verschreibenden Ärzte ausfindig machen, auch wenn sie darin nicht namentlich auftauchen - nämlich über ihre staatliche Lizenzierungsnummer, einen von der US-amerikanischen Drogenvollzugsbehörde (DEA) zugeteilten Code ( „Drug Enforcement Administration Number“) oder einen „Identifier“, den jede Apotheke vergibt. (12) Aber woher wissen Reps vorab, noch ehe sie erstmals eine Praxis betreten, darüber hinaus genauestens Bescheid über Einstellungen, Gewohnheiten, Interessen, Vorlieben des besuchten Arztes? Verräterische Surf-Spuren Das Internet macht´s möglich. Auch Ärzte nutzen es, während der Arbeit wie auch in ihrer knappen Freizeit. Wie wir alle, so hinterlassen sie dabei aufschlussreiche Spuren, für die sich gewisse Unternehmen brennend interessieren. Auch solche Daten sammeln und speichern sie – und verkaufen sie meistbietend weiter. Davon leben sie, allen offiziellen Beteuerungen zum Trotz; ihr Geschäftsmodell beruht darauf. Ob eingetippte Anfragen in Suchmaschinen oder Bestellungen in Online-Warenhäusern, Aufrufe bestimmter Websites, das Liken gewisser Posts, das Folgen bestimmter Links, Eingaben in Chatrooms und Foren, das Downloaden von Dokumenten, Bildern und Filmen: In Hülle und Fülle liefert all dies den Stoff, aus dem sich beklemmend präzise Persönlichkeitsprofile erstellen lassen. Dem professionell vorbereiteten Rep des 21. Jahrhunderts liegen sie selbstverständlich vor. Weitere Daten liefern manche Ärzte unentwegt online, oft freiwillig, manchmal auch unwissend. Praxissoftware, die sie sich von Pharmafirmen schenken lassen, leitet über eine installierte Schnittstelle Verschreibungsdaten zu Analysezentren (13); von dort geraten sie auf die Monitore der auftraggebenden Konzerne, schließlich erscheinen sie auf den Laptops der Vertreter. Die sind folglich bestens vorbereitet: Im voraus wissen sie, wo anzusetzen ist. Auch kommt es vor, dass dem Arzt die Dienste eines „Sachverständigen für ärztliche Abrechnung“ ans Herz gelegt werden. Das Angebot: Der Arzt kopiert seine sämtlichen Patientendaten auf einen Stick, den der Pharmareferent an einen Firmenmitarbeiter weiterleitet; dieser erteilt dem Arzt daraufhin unentgeltlich Tipps, wie sich Abrechnungskosten senken lassen. Eine Kontrolle, was letztlich mit den Daten geschieht, gibt es nicht. Recherchen des Spiegel förderten 2012 diese krasse Verletzung des Arztgeheimnisses zutage. (14) Am Horizont: der RoboDoc als industriegesteuerter Vollzugshelfer Es gehört wenig Phantasie zur Prognose, dass in Kürze Daten auch in Gegenrichtung fließen – von Iqvia-Rechnern auf Praxis- und Klinikcomputer. Es wird so kommen, weil die Medizin dabei ist, ins Zeitalter der Digitalisierung einzutreten. Während es über die Arbeitswelt hereinbricht, entmündigt es den praktizierenden Arzt, der empathische Heilkünstler endet als industriegesteuerter Vollzugshelfer, den die KI eines RoboDoc irgendwann überflüssig machen könnte. Denn einerseits soll der Arzt möglichst „evidenzbasiert“ handeln – andererseits besteht diese „Evidenz“ aus einer stetig anschwellenden Informationsmenge, die auch das brillanteste menschliche Hirn überfordert; jährlich kommen weltweit 9000 klinische Studien hinzu. Um Big Data auszuwerten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, bieten sich Dienstleister wie Iqvia an, dazu beauftragt von übermächtigen Industrien, welche Big Business wittern. In die Zukunft sehen hilft der Wirtschaftsingenieur Frank Wartenberg, Iqvias Deutschland-Repräsentant und Vorsitzender einer „Bundesfachkommission Digital Health“, die „eine zukunftsfähige E-Health-Strategie für Deutschland entwickeln“ und „konkreten Nutzen für Big Data schaffen“ will. (15) Die Behandlungspläne des Arztes „werden stärker überprüfbar“, freut sich Wartenberg. „Denn je besser die Dokumentation über Therapieansätze und Behandlungen ist, desto besser lässt sich nachvollziehen, ob die richtigen Entscheidungen getroffen wurden.“ Dies mache Ärzten „verständlicherweise auch Angst“, räumt Wartenberg ein. „Die andere Seite ist die Vielfalt der Therapien. 300.000 Therapiealternativen hat heute ein Arzt für einen Krebspatienten. Vor 50 Jahren hat man noch „Erkrankungen des Blutes“ gesagt, heute unterscheidet man 200 verschiedene Blutkrebsarten. Die Vielfalt nimmt gigantisch zu, ebenso wie die Erkenntnisse und die Therapiealternativen. Das alles zu überblicken wird für Ärzte immer schwieriger, und dann die richtige Entscheidung zu treffen, ist nicht einfach. Dafür wird es Systeme geben, die Ärzten helfen können. Wenn der Patient z.B. bestimmte Eigenschaften hat, wenn man die Behandlungshistorie anschaut, dann kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit abschätzen, ob eine bestimmte Therapie besser anschlägt als eine andere. (…) Die Ärzte werden sich auf Systeme verlassen müssen, die von anderen entwickelt und teilweise mit Inhalten gefüttert werden.“ (16) Demnächst braucht ein Arzt bloß noch die ICD-verschlüsselte Diagnose eines Patienten sowie ein paar weitere personbezogene Daten einzugeben – Sekundenbruchteile später liefern ihm Algorithmen einen perfekt leitlinienkonformen, dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechenden Therapievorschlag. Da die „Evidenzen“ großteils aus pharmagesponserten Forschungsergebnissen bestehen, ist mühelos zu erahnen, wie der Vorschlag aussehen wird. Vom Rep verschont: die „Forget-it-Praxis“ Schon heute verschaffen Datenpools wie „OneKey“ und „Scriptrac“ Pharmafirmen und ihren Abgesandten ein beklemmend genaues Bild jedes einzelnen erfassten Arztes. Der Medizinjournalist Hans Weiss fand darin Einträge wie (17) - „Eine Forget-it-Praxis, klein, wenig innovativ, ohne ausgeprägte Praxisstärken, mit mittlerer bis niedriger Punktzahl, bevorzugt Generika.“ - „Allrounder, große, innovative Praxis, kein Interesse an Naturheilkunde, schwach bei Demenz und Gastro.“ - „Exzentriker, (…) verspricht viel, (…) probiert alles aus, Typ ‘Schmetterling‘, führt häufig Anwendungsbeobachtungen durch, reagiert mit überdurchschnittlichem Verordnungszuwachs.“ - „Vorsichtiger Introvertierter, (…) vermeidet Risiken, baut auf Gewohntes, wenig kommunikativ, (…) eher Nachzügler.“ Derart aufschlussreiche Konterfeis sollen „die Kommunikation zwischen Arzt und Hersteller bedarfsgerecht optimieren“, um „das Maximum an Wachstum herauszuholen“. Es eröffnet sich eine „neue Dimension, Arztprofile zu definieren und das Verordnungspotenzial auszuschöpfen“. (18) Auf fünf Schubladen verteilt auch ein Topmanager von Eli Lilly die Ärzteschaft, je nach ihrem Verschreibungspotential, aber auch nach ihren charakterlichen Qualitäten. Seine Marketingpläne schneidet er auf zwei davon zu: „Überflieger“ (High Flyer) halten sich nicht an Regeln, probieren gerne neue Arzneien aus. „Sie neigen dazu, sehr aggressiv zu behandeln, mit sehr hohen Dosen und auch bei Anwendungsgebieten, die von der Behörde nicht zugelassen sind.“ „Konformisten“ (Rule Bound) hängen ihre Fähnchen nach dem Wind, und „meist verhalten sie sich sehr loyal gegenüber einer Marke“. (19) „Fortbildungen“ zwischen Strand, Bordell und Casino Vor allem gesellige Anlässe öffnen erfahrungsgemäß auch bei Halbgöttern in Weiß Ohren, Herz und Hirn. Industriegesponserte Reisen „schaffen gemeinsame Erinnerungen“, erklärt der frühere Geschäftsführer eines Pharmakonzerns den bestens bewährten Hintergedanken. „Auf Reisen kommt man Menschen näher, zu denen einem der Zugang sonst vielleicht verschlossen bleibt. Reisen schaffen Freiräume, man bewegt sich außerhalb des gewohnten Rahmens lockerer, und man entdeckt vernachlässigte Seiten seiner Persönlichkeit. Kurzum: Reisen können enthemmend wirken. Besonders wenn man ohne die bessere Hälfte reist.“ Offiziell heißen solche Ausflüge, die für eingeladene Ärzte komplett kostenlos sind, natürlich „Fortbildung“, und selbstverständlich gibt es auch eine offizielle Agenda. „Aber glauben Sie, wir fliegen die sonnenentwöhnten Ärzte um den halben Globus, um sie zwei Wochen lang in einem Seminarraum einzusperren, in dem es wieder nur Neonlicht gibt (...) und Tabellen mit endlosen Zahlenkolonnen an die Wand geworfen werden? (...) Nein, die Herren sollen ihren Spaß haben, und sie bekommen ihn. Der Strand ist nicht weit, Bordell und Spielcasino auch nicht. Wir sorgen dafür, dass es ein herrliches Erlebnis wird. Und es funktioniert - die eingeladenen Ärzte erinnern sich gern an uns und haben immer ein offenes Ohr, wenn unsere Vertreter bei ihnen klingeln. Sie setzen unsere Produkte bei ihren Patienten ab.“ (20) Auch ein kulturelles Highlight wie etwa ein Musikfestival zieht - „von da an haben unsere Vertreter leichtes Spiel“. Sie bringen entstandene Schnappschüsse vorbei, die man gemeinsam betrachtet. Man schwärmt nochmals vom tollen Abend, „man tauscht kleine Anekdoten aus, man versteht sich prächtig - unsere Produkte abzusetzen ist jetzt überhaupt kein Problem mehr. Ganz ohne jeglichen Austausch sachlicher Informationen.“ (21) Karnevalesk: „Beratender Ausschuss“ aus 19.000 Ärzten Auch niedergelassene Ärzte – insbesondere, wenn sie in der Fachwelt durch fleißiges Publizieren, Rednertalent, hohe Verschreibungszahlen und einen besonders guten Ruf unter Kollegen aufgefallen sind – kommen vielfach in den Genuss jener Wohltaten, mit denen die medizinische Elite bedacht und eingewickelt wird: sei es als „Autoren“ und „Sprecher“, sei es als „Berater“. Wer meint, das könnten nur ein paar wenige sein, unterschätzt den Branchenbedarf an freien Mitarbeitern gewaltig: Der „beratende Ausschuss“ der Firma Forest etwa umfasste 2009 sage und schreibe 19.000 Mitglieder. (22) Wie eine australische Umfrage ergab, gehörte jeder vierte Facharzt binnen eines Jahres dem Beratungsgremium mindestens einer Pharmafirma an. (23) Prima pflegt bei der Ärzteschaft auch die Offerte anzukommen, einen Vortrag zu organisieren: sei es fürs breite Publikum, sei es vor Fachkollegen. Das schmeichelt dem Arzt: Immerhin wird ihm zugetraut, seine medizinische Kompetenz, seinen gesammelten Erfahrungsschatz, sein rhetorisches Geschick öffentlich unter Beweis zu stellen. Und es nützt ihm, weil es seinen Bekanntheitsgrad erhöht, neue Kundschaft aufmerksam macht. Obendrein bleibt ihm jegliche Mühsal erspart: Um die Durchführung kümmert sich der Pharmavertreter. Für Big Pharma findet dabei ein aufschlussreiches Schaulaufen statt: Wie sicher tritt der Arzt auf? Wie gut kommt er bei seinen Zuhörern an? Wie souverän geht er mit kritischen Fragen um? Bewährt er sich als Referent in kleinerem Kreis, bei einer lokalen Veranstaltung, so hat er sich für höhere Aufgaben qualifiziert. Er verdient sich Einladungen, bei Kongressen oder im Rahmen der ärztlichen Fortbildung aufzutreten, als offizieller „Speaker“, wenn nicht gar als „Keynote Speaker“. Gegen stattliches Honorar, versteht sich. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 Das Branchenmagazin Pharmaceutical Enquirer definiert diese Kennzahl als „eine Funktion der Gelegenheit zu verschreiben sowie der Einstellung dazu, plus äußere Einflüsse. Ärzteprofile, welche diese vielfältigen Dimensionen einbeziehen, ermöglichen es, das ‘Warum‘ hinter dem ‚‘Was‘ und ‚‘Wie‘ ärztlichen Verhaltens zu analysieren.“ C. Nickum/T. Kelly: „Missing the mark(et)“, Pharmaceutical Executive, 1.9.2005, www.pharmexec.com/pharmexec/article/articleDetail.jsp?id=177968, abgerufen am 30.5.2019. 2 https://en.wikipedia.org/wiki/IQVIA, abgerufen am 10.2.2023. 3 Siehe www.iqvia.com, www.thehealthcareprof.com, www.imshealth.com. 4 Zur Kritik an IMS Healths Datensammeln siehe DiePresse.com, 26.8.2013: „Patientendaten: Korruptionsstaatsanwalt ermittelt“; DiePresse.com, 22.8.2013: „Was Ärzte für 432 Euro verkaufen“; Kurier.at, 22.8.2013: „Ärztekammer will Datenhandel verbieten“. 5 Nach Wikipedia.com und Wikipedia.de, Einträge „IMS Health“, abgerufen am 29.12.2016. 6 Zit. Adam Tanner: "Company that Knows What Drugs Everyone Takes Going Public", Forbes 6.1.2014, www.forbes.com/sites/adamtanner/2014/01/06/company-that-knows-what-drugs-everyone-takes-going-public, abgerufen am 29.12.2016. 7 Siehe Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne (2008), S. 27 ff. 8 R. Steinbrook: „For sale: Physicians' prescribing data“, New England Journal of Medicine 354/2006, S. 2745–2747. 9 P. C. Remus: „First-in-the-nation law pits NH against drug industry“, New Hampshire Business Review, 10.11.2006. 10 https://assets.ama-assn.org/resources/doc/dbl-public/x-pub/pdrp_brochure.pdf, abgerufen am 29.5.2019. 11 https://apps.ama-assn.org/PDRP/, abgerufen am 29.5.2019. 12 Nach R. Steinbrook, aa.a.O. 13 Der Standard, 29.8.2013: „Softwarefirma installierte bei Ärzten Schnittstelle zu Marktforscher“, abgerufen am 17.5.2019. 14 Tagesanzeiger.ch, 26.3.2012: „Krasse Verletzung des Arztgeheimnisses“. 15 www.wirtschaftsrat.de/wirtschaftsrat.nsf/id/bundesfachkommission-digital-health-de, abgerufen am 17.5.2019. 16 Im Interview mit Health Relations, 11.10.2018: „Digitale Trends in Healthcare: Dr. Frank Wartenberg von IQVIA“, www.healthrelations.de/dr-frank-wartenberg-iqvia/, abgerufen am 17.5.2019. 17 Zit. nach Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 30. 18 zit. nach Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 28-30. 19 Zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 130 ff. 20 John Virapen: Nebenwirkung Tod. Scheinwissenschaftlichkeit, Korruption, Bestechung, Manipulation und Schwindel in der Pharma-Welt (2012), S. 90 f. 21 Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O., S. 92 f. 22 J. Edwards: „Suit vs. Forest Labs names execs linked to alleged lies about Lexapro, Celexa“, CBS News, Moneywatch 26.2.2009. 23 D. Henry/E. Doran/I. Kerridge u.a.: „Ties that bind: multiple relationships between clinical researchers and the pharmaceutical industry“, Archives of Internal Medicine 165/2005, S. 2493-2496. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Off-Label – Grenzverletzungen als Routine
Arzneimittel „off-label“ anzuwenden, außerhalb ihrer Zulassung, ist häufig medizinisch sinnvoll, manchmal sogar notwendig. Allerdings immer hochriskant - und überaus lukrativ. Ärzte dazu anzustiften, eröffnet Herstellern ein „riesiges Geschäft, das gezielte Desinformation beinhaltet“, wie ein ehemaliger Pharmamanager einräumt. Wenn Behörden ein neues Arzneimittel zulassen, dann immer nur für ein bestimmtes Anwendungsgebiet: eine Erkrankung, ein Beschwerdebild, eine Personengruppe – beispielsweise für akute Schmerzen bei Erwachsenen. Ebenso festgelegt wird, wie es verabreicht werden muss – etwa als Tablette, als Tinktur oder als Spritze unter die Haut -, wie es zu dosieren ist, wie lange es angewandt werden soll. Für jeden beantragten Einsatzbereich muss die Pharmafirma Studienergebnisse vorlegen, aus denen hervorgeht, dass die vorgesehene Anwendung wirksam und sicher ist. In der Praxis erweist sich ein Medikament aber auch als hilfreich bei anderen Indikationen oder Patientengruppen als den ursprünglich vorgesehenen. Die Pharmafirma könnte dann auch hierfür eine Zulassung beantragen. Weil diese Prozedur zeitaufwändig und teuer ist, verzichten Hersteller aber oft darauf. So kommt es, dass Ärzte viele Arzneimittel „off label“ anwenden, anders als im Beipackzettel vermerkt – unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise wenn sich ein nicht zugelassenes Medikament hierfür bewährt hat, etwa ein Antiepileptikum gegen Migräne, ein Antidepressivum gegen eine Angststörung -, oder wenn sich einer Krankheit mit zugelassenen Medikamenten nicht ausreichend beikommen lässt. Off-Label-Use steht jedem Arzt grundsätzlich frei. Er sollte sich sogar dafür entscheiden, wenn seines Erachtens das betreffende Präparat für einen bestimmten Patienten die beste Behandlungsoption darstellt. Falls schwere Nebenwirkungen auftreten, haftet allerdings nicht der Hersteller, sondern er selbst. Soweit die Theorie. Sie klingt vernünftig und ist dies auch, solange über Off-Label-Anwendungen allein medizinische Gesichtspunkte entscheiden. Gezielte Desinformation für Profite Doch aus Herstellersicht zählt eher Profitabilität: Jede Erweiterung von Einsatzbereichen erhöht Umsätze, jedes Zögern mindert sie. Auch hierum geht es dem Pharmareferenten bei seinen Arztbesuchen. Auf Anstiftungen, Medikamente riskanterweise auch außerhalb des Anwendungsbereichs einzusetzen, für den sie zugelassen sind, verwendet er besonders viel Energie. (1) Denn Off-Label Use eröffnet Pharmakonzernen ein „riesiges Geschäft, das gezielte Desinformation beinhaltet“, wie ein ehemaliger Eli-Lilly-Geschäftsführer einräumt. (2) In vielen medizinischen Gebieten, vor allem in der Kinderheilkunde, der Geriatrie, der Onkologie und der Psychiatrie, kommt ein Großteil der Medikamente off-label zum Einsatz - im Durchschnitt aller Verschreibungen zu 40 bis 60 Prozent. (3) Weil behandelnde Ärzte in solchen Fällen für etwaige Nebenwirkungen zur Rechenschaft gezogen werden können, zögern allerdings viele. Um diese Bremse zu lockern, halten gutgeschulte Pharmavertreter in ihren Aktenkoffern stets passende Empfehlungen gewogener „Experten“ und Fachgesellschaften sowie Reprints genehmer „wissenschaftlicher Studien“ griffbereit. Zwar ist es inzwischen selbst in den USA ausdrücklich untersagt, für Off-label-Anwendungen zu werben. Trotzdem nehmen die großen Pharmaunternehmen immer wieder enorme Bußgelder in Kauf, teilweise in Milliardenhöhe, um die Grenzen dieser gesetzlichen Regeln auszutesten und routinemäßig zu überschreiten. Zum Spitzenreiter brachte es GlaxoSmithKline im Juli 2012 mit einer Geldstrafe von drei Milliarden Dollar. Es rentiert sich anscheinend. Therapeutischer Blindflug mit ahnungslosen Versuchskaninchen Abermillionen bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit, ja ihrem Leben. Dass etwa Antipsychotika off-label an ältere Demenzkranke verfüttert werden, „wohlwissend, dass sie zu Herzinfarkten und Schlaganfällen und plötzlichem Tod führen können, ist nichts anderes als Euthanasie“, wie das Wall Street Journal anprangert. (4) Noch schändlicher sind viele Off-Label-Verschreibungen von Psychopharmaka für Kinder. „Die paradoxe Realität ist: Je kleiner und kränker das Kind, desto seltener bekommt es eine offiziell zugelassene Arznei“, schreibt der Medizinjournalist Martin Lindner über den therapeutischen Blindflug mit ahnungslosen Versuchskaninchen. „So verwenden niedergelassene Pädiater 10 bis 30 Prozent der von ihnen verschriebenen Mittel außerhalb der Marktlizenz. In Kinderkliniken steigt der Anteil auf rund 50 Prozent. Und auf Neugeborenen-Stationen können bis zu 90 Prozent der Substanzen off-label verabreicht werden. (...) Eine neuere Studie in knapp 40 französischen Kinderarztpraxen bestätigt, dass eine Off-Label-Behandlung die Nebenwirkungsrate erhöht, manchmal auf mehr als das Dreifache einer zugelassenen Therapie.“ (5) Dass der Nutzen sich im selben Maße vervielfacht, harrt des Beweises. Ein Augenöffner: der Cytotec-Skandal Wie brandgefährlich ausufernder Off-Label-Use sein kann, führte jedem, der sehen will, Anfang 2020 der Cytotec-Skandal vor Augen. Pfizers Magenschutz vor Geschwüren verschwand 2006 zumindest in der Bundesrepublik offiziell vom Markt – trotzdem setzte es jede zweite deutsche Geburtsklinik weiterhin ein (6), weil sich zufällig herausgestellt hatte, dass der Wirkstoff Misoprostol recht zuverlässig Wehen fördert. Dafür war Cytotec aber gar nicht zugelassen, schon gar nicht in der verbreiteten, vermeintlich praxisbewährten Dosierung, die in den Kreißsälen oft um das Doppelte bis Vierfache über dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Wert von 25 Mikrogramm lag. Das führte in mehreren Fällen zu schweren Komplikationen bei der Geburt: Die Gebärmutter riss, ein „Wehensturm“ setzte ein, Babies kamen mit Hirnschäden zur Welt, Mütter und Neugeborene verstarben. Keine Behörde hatte davor gewarnt, keine war eingeschritten. Erst im April 2021 wurde der Import von Cytotec gestoppt. (7) Neurontin: ein Antiepileptikum für beinahe alles Beim Off-Label-Business geht die Rechnung für Big Pharma garantiert immer auf – selbst wenn Rechtsbrüche ausnahmsweise drakonisch sanktioniert werden, wie im Fall von Neurontin. (8) Zugelassen war der Kassenschlager mit dem Wirkstoff Gabapentin ausschließlich bei therapieresistenter Epilepsie. Trotzdem bewarb Pfizer es für nicht weniger als 48 weitere Indikationen – unter anderem bei Migräne und sonstigen Schmerzzuständen, ADHS, Restless Legs Syndrom, bipolaren Störungen, Alkohol- und Drogensucht. Dazu verwendete die Firma manipulierte und unvollständig publizierte Daten aus Studien, die sie selbst gesponsert hatte. (9) Allein auf die Überredungskünste seiner Pharmareferenten verließ sich Pfizer selbstverständlich nicht. Neurontin off-label unters Volk zu bringen, war der Hauptzweck sogenannter „Fortbildung“sveranstaltungen, bei denen stattliche Honorare manchmal nicht nur für die Referenten flossen, sondern auch für die teilnehmenden Ärzte. Ködern ließen sie sich unter anderem mit Luxusreisen nach Florida, Hawaii oder zu den Olympischen Spielen. (10) Wer besonders viele Neurontin-Rezepte produzierte, durfte als bestens bezahler Redner auftreten oder als „Berater“ fungieren. Geld floss auch an Ärzte, die ihren Namen für Artikel hergaben, in denen Ghostwriter in Pfizer-Diensten „bewiesen“, wie fabelhaft Neurontin jenseits seiner Zulassungsgrenzen wirkt. (11) Renommierte Meinungsführer der Schulmedizin – darunter Fachbereichsleiter von Universitäten, Leiter von Forschungsprogrammen und Klinikabteilungen - kassierten fürstliche Prämien dafür, in Vorträgen zu Off-Label-Rezepten anzustiften: Sie verlangten und erhielten zwischen 10.250 und 158.250 Dollar. Einer strich sage und schreibe 308.000 Dollar dafür ein, bei Konferenzen wortgewaltig die Werbetrommel für Neurontin zu rühren. (12) Um eine drohende Anklage abzuwenden, räumte Pfizer im Jahr 2004 Gesetzesverstöße ein und leistete eine Strafzahlung von 430 Millionen Dollar (13) - ein Pappenstiel, gemessen an den 2,7 Milliarden Dollar, welche die Firma mit Neurontin allein im Jahr 2003 umsetzte; ein Jahr darauf waren es 3 Milliarden Dollar. (14) Rund 90 Prozent der Verkäufe stammten aus zulassungsüberschreitenden Anwendungen. (15) Missbrauchte Therapiefreiheit Geschickt macht sich die Pillenbranche ein Standesprivileg des Arztes zunutze: seine Therapiefreiheit. Niemand darf ihm vorschreiben, wie er zu behandeln hat. Er allein wählt und entscheidet, auf welche Weise er hilft. Immer ist er in erster Linie dem individuellen Patienten verpflichtet, dessen Besonderheiten er nach bestem Wissen und Gewissen berücksichtigen muss; auch kann er ernsthafte, wohlbegründete Bedenken gegenüber einer gängigen Methode hegen. Freiheit bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Ein Arzt unterliegt der Sorgfaltspflicht, er muss sich am fachärztlichen Standard orientieren und sich stetig weiterbilden, damit er auf dem aktuellen Stand medizinischer Erkenntnis bleibt. Eben dabei sind ihm Arzneimittelhersteller herzlich gerne zu Diensten: Muss ein Arzt, der Therapiemöglichkeiten gewissenhaft ergründet, nicht die grandiosen Vorteile des Präparats XY, dessen erfreulich harmloses Nebenwirkungsprofil zur Kenntnis nehmen, wie ihm pharmafinanzierte Gefälligkeitsstudien und bestellte Fachartikel bezahlter Schreibtischtäter vorgaukeln? Wäre es nicht zutiefst unethisch, einem leidenden Hilfesuchenden die ungeheuren Chancen vorzuenthalten, die das Präparat ihm eröffnet? Vernachlässigt ein Arzt nicht seine Fortbildungspflichten, wenn er über die allerneuesten pharmazeutischen Durchbrüche, die jüngste bahnbrechende Pilleninnovation ignorant hinweggeht? Überschaubares Haftungsrisiko Gewiss nimmt der Arzt erhebliche Risiken auf sich, wenn er Arzneien bei Indikationen einsetzt, für die sie nicht zugelassen sind: Er haftet für Schäden, die das Medikament anrichtet. Doch greift die Haftung nur, wenn ihm nachzuweisen ist, dass er es versäumt hat, den genannten Pflichten nachzukommen. Die nötigen „Beweise“, dass er sie erfüllte, liefern ihm Arzneimittelhersteller: indem manipulierte Studien, eine korrumpierte Fachpresse, auf Linie gebrachte Aus- und Fortbildungseinrichtungen, gekaufte Meinungsführer und einschlägige Gremien über den „Stand der Forschung“, die maßgebliche „Evidenz“ bestimmen. Ärztliche Skrupel gegenüber Off-Label-Therapien räumt Big Pharma also mit einer cleveren Doppelstrategie aus: Einerseits verschafft sie dem Arzt „evidenzbasierte“ Gründe, Zulassungsgrenzen zu überschreiten. Für den Fall, dass etwas schiefgeht, versorgt sie ihn andererseits mit den nötigen Alibis. Off-Label erspart den Herstellern zudem Kosten im Multimilliardenbereich. Wozu erst noch teure und langwierige klinische Prüfungen anleiern, wo sich das Präparat im alltäglichen Einsatz doch längst „bewährt“? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 A. Fugh-Berman/S. Ahari: “Following the script: how drug reps make friends and influence doctors”, PLoS Medicine 4 (4) 2007: e150; M. A. Steinman/G. M. Harper u.a.: “Characteristics and impact of drug detailing for gabapentin”, PLoS Medicine 4 (4) 2007: e134; A. F. Shaughnessy/D. C. Slawson/J. H. Bennett: “Separating the wheat from the chaff: identifying fallacies in pharmaceutical promotion”, Journal of General Internal Medicine 9/1994, S. 563–568. 2 John Virapen: Nebenwirkung Tod, 5. Aufl. 2009, S. 193. 3 Bernadette Tansey: „HARD SELL: How Marketing Drives the Pharmaceutical Industry“ (2005), www.sfgate.com/health/article/HARD-SELL-How-Marketing-Drives-the-2676193.php, abgerufen am 25.11.2016. 4 Barbara Martinez/Jacob Goldstein: „Big Pharma Faces Grim Prognosis“, Wall Street Journal, 6.12.2007. 5 Martin Lindner: „Versuchskaninchen“, Die Zeit Nr. 36, 31.8.2006. 6 https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/gesundheit/im-wehensturm-e688113/?reduced=true; https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/geburtseinleitung-aerzte-geben-gefaehrliche-tablette,Rq6JTvb, abgerufen am 12.2.2023. 7 tagesschau.de: Importstopp für umstrittenes Medikament Cytotec, https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/cytotec-importstopp-101.html, abgerufen am 3. April 2021. Im Cytotec-Fall war es ausnahmsweise der Hersteller selbst, der die Notbremse zog: Vom Markt genommen hatte Pfizer das Medikament mit der Begründung, der “Missbrauch” sei zu hoch. 8 C.S. Landefeld/M.A. Steinman: “The Neurontin Legacy - Marketing through Misinformation and Manipulation”, New England Journal of Medicine 360/2009, S. 103-106. Auszug; M.A. Steinman u.a.: “Narrative Review: The Promotion of Gabapentin: An Analysis of Internal Industry Documents”, Annals of Internal Medicine 145 (4) 2006, S. 284-293. Volltext. 9 S.Swaroop Vedula u.a.: „“Outcome Reporting in Industry-Sponsored Trials of Gabapentin for Off-Label Use”, New England Journal of Medicine 361/2009, S. 1963-1971; arznei-telegramm 39/2008, S. 121; https://www.iqwig.de/veranstaltungen/2009-11-27_becker-brueser_objektive_forschung_ist_nicht_moeglich.pdf 10 Bernadette Tansey: „Huge penalty in drug fraud: Pfizer settles felony case in Neurontin off-label promotion“, San Francisco Chronicle 14.5.2004 11 M. Petersen: „Suit says company promoted drug in exam rooms“, New York Times 15.5.2002; Marcia Angell: The Truth about the Drug Companies: how they deceive us and what to do about it, New York 2004. 12 M. Petersen: „Suit says company promoted drug in exam rooms“, New York Times 15.5.2002. 13 B. Tansey: „Huge penalty in drug fraud“, a.a.O. 14 http://forum-gesundheitspolitik.de/artikel/artikel.pl?artikel=1489 15 B. Tansey, a.a.O.; O. Harris: „Pfizer to pay $430 million over promoting drug to doctors“, New York Times 14.5.2004; Jeannev Lenzer: „Pfizer pleads guilty, but drug sales continue to soar“, British Medical Journal 328/2004, S. 1217. Foto von pressfoto auf Freepik: Bild von pressfoto auf Freepik Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Anwendungsbeobachtungen – Der Arzt als „Forscher“ 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird
Viele Ärzte lassen sich von Pharmafirmen in „Anwendungsbeobachtungen“ einspannen: wissenschaftlich wertlose Untersuchungen ohne Kontrollgruppe. Überaus nützlich sind solche Pseudostudien trotzdem, zumindest für die Auftraggeber: Sie schaffen willkommene Gelegenheiten, dem Arzt und seinen Patienten ein neues Medikament näherzubringen. Kritiker sprechen von legalisierter Korruption. Jeder zehnte niedergelassene Arzt, neben tausenden Klinikärzten, macht bei sogenannten „Anwendungsbeobachtungen“ (AWB) mit, auch „nicht-interventionelle Studien“ genannt: wissenschaftlich wertlose Untersuchungen ohne Kontrollgruppe, meist ohne Versuchsplan und vorab festgelegtes Ziel - sei es vor der Markteinführung eines Präparats, als sogenannte „Seeding Trials“ (von engl. to seed: säen), sei es nach erfolgter Zulassung. Eine Veröffentlichungspflicht gibt es nicht. Mindestens 1300 derartige Pseudo-Studien fanden in Deutschland zwischen 2009 und 2014 statt – so viele meldeten „forschende“ Pharmaunternehmen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Um die Jahrtausendwende waren es 400 pro Jahr gewesen, 2005 schon etwa 700. (1) 17.000 Ärzte strichen 2014 Geld für umstrittene Studien ein. Ärzte erhalten dabei einen stattlichen Vorrat eines neuen Medikaments, mit dem Ansinnen, es an ihren Patienten auszuprobieren und zu „beobachten“, wie es wirkt. Dazu genügt es, ein paar Formulare auszufüllen und den Patienten zu fragen, wie ihm das Mittel bekommt. Die als „Gebühr“ getarnten Bestechungsgelder, die hierbei fließen, liegen pro Patient bei 25 bis 600 Euro (2), können aber auch vierstellig ausfallen (3), bis zu geradezu obszönen 7000 Euro. Verkappte Korruption Das ist verlockend: An einem Krebskranken verdient ein Kassenarzt pro Quartal weniger als 200 Euro. Verschreibt er ihm das Krebsmittel Avastin aber im Rahmen einer AWB, honoriert der Hersteller Roche einen einzigen flüchtig ausgefüllten Bogen mit bis zu 1260 Euro. Zahlreiche Konzerne betreiben einen gigantischen Aufwand: So startete AstraZeneca 2005 eine Anwendungsbeobachtung bei sage und schreibe 17.000 Ärzten für den Protonenpumpenhemmer Esomeprazol; Altana ließ das Konkurrenzpräparat Pantoprazol von 6000 Ärzten „beobachten“. Auch Lipidsenkern (Ezetimib, Simvastatin) sowie Mitteln gegen Bluthochdruck (Irbesartan), Harninkontinenz (Duloxetin) und Neurodermitis (Pimecrolimus) widmeten sich AWBs mit jeweils mehreren tausend Ärzten. (4) Allein im Jahr 2014 schütteten Pharmafirmen über hundert Millionen Euro an knapp 20.000 deutsche Ärzte aus, die in AWBs zu Diensten waren. „Anwendungsbeobachtungen“ sind getarnte Marketingaktionen, häufig für Mittel, die ein Vielfaches teurer sind als gleichwertige andere: Ärzte und Patienten sollen mit dem Präparat vertraut gemacht und zu Verschreibungen verleitet werden. (5) Kritiker wie der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, plädieren daher für ein Verbot. Lachhafte Erkenntnissuche Den Vorwurf der „legalisierten Korruption“, den Transparency International deswegen seit langem erhebt, weisen Pharmafirmen selbstredend weit von sich: Bei AWBs, so versichern sie scheinheilig, gehe es allein darum, „weitere Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit unter Praxisbedingungen zu generieren“. (6) Das ist lachhaft: Ohnehin sind Ärzte verpflichtet, Nebenwirkungen an die Arzneimittelkommission oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden – und zwar, ohne dafür Geld zu bekommen. Vereinzelt richten sich „Anwendungsbeobachtungen“ auf Medikamente, die seit Jahrzehnten auf dem Markt sind; welche weiteren neuen „Erkenntnisse“ hinsichtlich ihrer Wirksamkeit wären da noch zu erwarten? Im April 2015 startete Pfizer eine AWB zu seinem Rheumamittel Enbrel - 15 Jahre nach dessen Zulassung und kurz bevor erste Konkurrenz-Arzneien auf den Markt kamen. Ärzten, die mitmachten, winkten 650 Euro - pro Patient wohlgemerkt. Und musste der Hersteller von Klosterfrau Melissengeist deutschen Ärzten 225 Euro pro “beobachtetem” Patient zahlen, um zu erproben, ob das Produkt beruhigend wirkt - wie man schon seit rund 190 Jahren weiß? (7) “Das Geld wird aus wissenschaftlicher Sicht verschwendet", ärgert sich Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Nutzen und Unschädlichkeit von Arzneimitteln nach Markteinführung durch Langzeitbeobachtungen zu überprüfen, ist natürlich sinnvoll. Dafür gibt es allerdings PASS- oder PAES-Studien. (Die Abkürzungen stehen für „Post Authorisation Safety“ bzw. „Post Authorisation Efficacy“.) Gesundheitsbehörden wie das BfArM können sie offiziell anordnen, sofern sie Nachforschungsbedarf sehen, weil Sicherheit und/oder Wirksamkeit eines neuen Medikaments nicht hinlänglich belegt scheinen. (8) (Nebenbei gefragt: Wann ist das denn nicht der Fall?) In jüngster Zeit fanden solche Untersuchungen beispielsweise für „moderne“ Antibabypillen, für Krebsmittel oder Medikamente gegen Multiple Sklerose statt. Das Niveau derartiger Studien erreichen AWBs von Pharmafirmen nicht annähernd. Therapeutisch bedenklich, moralisch fragwürdig Niemand neidet Ärzten ein Zubrot. Therapeutisch bedenklich und moralisch fragwürdig werden „Anwendungsbeobachtungen“ vielmehr, indem sie dazu verleiten, einem Patienten unter mehreren möglichen Präparaten nicht das wirksamste, verträglichste und billigste zu verschreiben, sondern jenes, das für den Rezeptaussteller wie für den Hersteller am lukrativsten ist. Wie steht es um die Ethik von Ethikkommissionen, die dieses Treiben dulden und absegnen? Wer meint, die horrenden Summen, die zur Bestechung gutverdienender Ärzte nötig wären, könne sich kein Pharmakonzern leisten, irrt gehörig. Bis zu 90 Prozent des Marketingbudgets der US-Pharmaindustrie zielen auf Ärzte ab. (9) Und so können „beratende“ Fachärzte Vergütungen zwischen 4.000 und 60.000 Euro einstreichen. (10) Manche Klinikärzte kassieren bis zu 90.000 Euro „Beratungshonorar“, wenn sie sich zu einer Konferenz der Pharmaindustrie einladen lassen (11), im Einzelfall 400.000 Dollar für acht Tage Beratertätigkeit. (12) Vier der größten Hersteller von Hüft- und Knieimplantaten schütteten zwischen 2002 und 2006 mehr als 800 Millionen Dollar an Ärzte aus, die mit ihnen „Berater“verträge abgeschlossen hatten. (13) Das rechnet sich, denn geköderte Ärzte sind weitaus bessere Produkt-Promoter als Pharmareferenten. So verrieten interne Berechnungen des Pharmariesen Merck, dass er für jeden Dollar, den er in Vortragshonorare für Ärzte steckte, 3,66 Dollar zurückbekam. (14) Wes Brot ich ess … Würden sich derartige Investitionen nicht auszahlen - wozu gäbe es sie überhaupt? Laut einer Studie, die Daten von fast 7000 Ärzten berücksichtigte, verordneten Teilnehmer einer AWB das entsprechende Medikament um acht Prozent häufiger. Auch ein Jahr nach Ende einer AWB lagen die Verschreibungen noch sieben Prozent höher als in der Vergleichsgruppe. Die Bereitschaft von Ärzten, ein Arzneimittel für Fälle zu verschreiben, für die es gar nicht zugelassen ist - „Off-Label Use“ -, wächst um 70 Prozent, nachdem der Hersteller sie zu einem Essen eingeladen hat, bei dem über unzulässige Anwendungen gesprochen wird. (15) Selbst die Qualität des Menüs beeinflusst die Verschreibungsquote. (16) Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Nicht immer muss Geld fließen, ehe sich Ärzte an die Leine legen lassen. Beim Anwerben für „Anwendungsbeobachtungen“ etwa betonen Pharmavertreter gerne, der betreffende Doktor sei „aufgrund seiner überragenden Arbeit ausgewählt worden, an dieser Testphase teilzunehmen“, wie ein Ex-Pharmamanager aus dem Nähkästchen plaudert. „Wir würden die Ergebnisse, die sie mit ihren Patienten erzielen, sorgfältig auswerten und selbstverständlich den Namen des teilnehmenden Arztes in der Studie maßgeblich erwähnen. Das allein ist für viele schon Anreiz genug, mitzumachen. Den eigenen Namen gedruckt in einer Studie sehen, ist verlockend für einen Arzt, der in der Routine des Alltags vom frischen Wind der empirischen Wissenschaft nichts mitbekommt. Einmal Forscher sein! Und dann auch gleich in einer Veröffentlichung namentlich genannt werden! Die offizielle Bestätigung: Der Mann ist mehr als nur ein Krankenbettverschieber!“ Solche Aussichten „streicheln das Ego“. (17) Kaum einer der 71.000 Ärzte in Deutschland, die zugaben, im Jahr 2015 Geld von der Pharmaindustrie kassiert zu haben (18), räumt freimütig ein, derlei Annehmlichkeiten könnten jemals seine Urteilskraft trüben, seine Ratschläge für Patienten beeinflussen, sich auf sein Verschreibungsverhalten auswirken. Tatsächlich? Allein fürs Reisen zu Fortbildungszwecken strich ein deutscher Urologe und Oberarzt im Jahr 2015 Pharmazuwendungen von 25.357 Euro ein, ein Essener Neurologe für „Beratungen und Dienstleistungen“ 134.078 Euro und weitere 60.820 Euro als „Erstattung von Auslagen“. (19) Und solche Summen sollen psychologisch effektfrei sein, zumindest in Medizinerhirnen? Beispiel Rosiglitazon - Handelsname „Avandia“ -, ein Diabetesmittel. Im Jahre 2007 hatte eine Meta-Analyse von 42 Studien belegt, dass es die Gefahr von Herzinfarkten um 43 Prozent erhöht. (20) Trotzdem verschrieben zahlreiche Ärzte es weiterhin, weil sie das Risiko für vertretbar hielten. Eben diese Mediziner, so brachte 2010 eine Studie zum Vorschein, waren vom Rosiglitazon-Hersteller besonders häufig mit Zahlungen bedacht worden. (21) Wes Brot ich ess … (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 Arznei-Telegramm 37/2006, S. 93-94: „Kurz und bündig“ 2 ebda. 3 Peter Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität – Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, München 2. Aufl. 2015, S. 131. 4 Arznei-Telegramm 37/2006, s. 93-94. 5 Gøtzsche: Tödliche Medizin ..., a.a.O., S. 130 ff. 6 Zahlenangaben und Zitat Roche nach Süddeutsche Zeitung Nr. 58, a.a.O. 7 Nico Damm: „Heilung um jeden Preis?“ 8 Nach § 4 Abs. 34 und § 28 Abs, 3 a und b des Arzneimittelgesetzes. 9 T. A. Brennan u.a.: „Health Industry Practices That Create Conflicts of Interest“, Journal of the American Medical Association 295/2006, S. 429-433. 10 S. Boseley: „Junket time in Munich for the medical profession – and it´s all on the drug firms“, The Guardian 5.10.2004. 11 J. Moore, „Medical device payments to doctors draw scrutiny“, Star Tribune 8.9.2008. 12 R. Abelson: „Whistle-blower suit says device maker generously rewards doctors“, New York Times 24.1.2006. 13 J. Lenzer: „Doctor´s group files legal charges against nine French doctors over competing interests“, British Medical Journal 338/2009, S. 1408. 14 „Can I buy you a dinner? Pharmaceutical companies increasingly use doctors´ talks as sales pitches“, August 2004; www.worstpills.org. 15 Das belegt eine interne Aktennotiz des Neurontin-Herstellers, s. G. Harris: „Pfizer to pay $ 430 million over promoting drug to doctors“, New York Times 14.5.2004. 16 Nach Kim Björn Becker: „Wes Brot ich ess …“, Süddeutsche Zeitung, 20.6.2016, www.sueddeutsche.de/ wissen/gesundheitswesen-wes-brot-ich-ess-1.3042404. 17 John Virapen: Nebenwirkung Tod, 7. Aufl. 2015, S. 106, 108. 18 Spiegel Online, 14.7.2016: „Pharmahonorar für Ärzte - Vielen Dank für die Millionen“. 19 Nach https://correctiv.org. 20 Steven E. Nissen/Kathy Wolski: „Effect of Rosiglitazone on the Risk of Myocardial Infarction and Death from Cardiovascular Causes“, New England Journal of Medicine 356 (24) 2007, S. 2457-2471. 21 Charles Ornstein u.a.: „Now There’s Proof: Docs Who Get Company Cash Tend to Prescribe More Brand-Name Meds“, ProPublica 17.3.2016, online: www.propublica.org/article/doctors-who-take-company-cash-tend-to-prescribe-more-brand-name-drugs, abgerufen am 18.7.2016. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufte Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen
„Du steigerst meinen Profit, im Gegenzug beteilige ich dich daran“: Keine Form der Korruption ist verbreiteter, auch in der Medizin. „Kick-back“, zu deutsch Rückvergütung, heißt dieses Prinzip. Ärzte, die sich derart schmieren lassen, richten im Gesundheitswesen gewaltigen Schaden an. Erschreckend verbreitet ist die sogenannte „Kick-back“-Masche. Hierbei fließen versteckte Umsatzprämien, Provisionen. Sie gilt als bedeutendste Form ärztlicher Korruption. Kick-Backs beschränken sich nicht auf Rezepte - bei ärztlichen Leistungen jeglicher Art können sie stattfinden. Da überweist ein Allgemeinmediziner oder ein Orthopäde seinen Patienten zu einer Kernspintomografie. Dabei empfiehlt er ausdrücklich einen bestimmten Radiologen – nicht, weil er von dessen überragenden Fähigkeiten überzeugt ist, sondern um sich einen finanziellen Vorteil zu sichern. Der Empfohlene erweist sich erkenntlich, indem er einen Teil seines Honorars dem Überweiser rückvergütet. „Ein befreundeter Radiologe“, so erinnert sich der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik, „hat mir berichtet, wie Orthopäden 100 Euro Kick-Back für jede Zuweisung zum Kernspintomogramm von ihm verlangen, sonst müssten die Patienten zu einem anderen Radiologen gehen, der entsprechend zahlen würde. Tägliche Praxis.“ (1) Nicht immer fließt ausschließlich Geld, Kick-backs können auch Sachleistungen einschließen. Ein Augenarzt überweist einen Katarakt-Betroffenen zur Operation an ein bestimmtes Ophthalmologisches Zentrum. Dafür werden ihm, unentgeltlich oder gegen einen symbolischen Betrag, modernste Praxisgeräte überlassen. (2) Weithin üblich sind Kopfgelder und Umsatzprämien für Chirurgen, die bei Implantationen die Erzeugnisse eines bestimmten Medizinprodukteherstellers bevorzugen. So erhob die Staatsanwaltschaft Osnabrück Ende 2018 Anklage gegen den ehemaligen Leiter der Abteilung für Wirbelsäulenchirurgie des Klinikums Leer: Er setzte am liebsten Implantate eines bestimmten Herstellers ein – unter anderem Bandscheibenprothesen, die im Körper der Patienten auf Wanderschaft gingen, zerbröselten und heftige Schmerzen auslösten. Als Gegenleistung beteiligte die Firma den gewieften Chirurgen prozentual an den Umsätzen mit dem Produkt; zwischen 2011 und 2016 sollen sich die Zahlungen auf mehr als 128.000 Euro belaufen haben. (3) Und natürlich rentiert es sich für Ärzte, gewisse Medikamente besonders häufig zu verschreiben. Dafür streichen sie von Pharmafirmen üblicherweise stattliche Provisionen ein – zwischen drei und acht Prozent des Preises, wie ein Insider verrät. (4) Oder sie heimsen lukrative „Berater“verträge ein, kassieren großzügig bemessene Vortragshonorare, heimsen Tickets für teure Veranstaltungen ein. Topverschreiber bekommen luxuriöse Urlaube spendiert. Besonders hohe Vergütungen schlagen wohlorganisierte Ärztenetzwerke heraus, die viele Einzel- und Gruppenpraxen einbeziehen. Wie das Schweizer Verbrauchermagazin „Saldo“ im Sommer 2013 aufdeckte, setzte beispielsweise der Medix-Ärzteverbund Aargau damals vorzugsweise Generika-Cholesterinsenker der Firma Spirig Healthcare ein, Antidepressiva oder Blutdruckmittel der Firma Actavis sowie Mittel gegen Sodbrennen von Sandoz. Von diesen Einschränkungen erfahren die Patienten nichts. Schon gar nicht wissen sie, dass bis zu 25 Prozent des Preises, den sie in der Apotheke zahlen, zurück an das Ärztenetzwerk fließen – gewissermaßen als Belohnung für die Rezepte. „Das ist kein Einzelfall“, stellte die Redaktion fest. Nach ihren Recherchen „verpflichten sich viele Ärztenetzwerke per Vertrag mit Pharmafirmen, Patienten im Hausarztmodell vorzugsweise gewisse Präparate abzugeben. Dafür erhalten die Netzwerke die Medikamente günstiger – die Patienten zahlen aber gleich viel.“ Der Generikahersteller Actavis bestätigte „Saldo“, er räume Netzwerken Rabatte bis 45 Prozent auf den Herstellerpreis ein. Laut Pharma-Insidern „liegen sogar Rabatte bis 80 Prozent drin. Kein Beteiligter wollte auf Anfrage seinen Vertrag offenlegen.“ (5) Juristische Scherereien? Achselzuckend hingenommen. Unter großen Arzneimittelkonzernen findet sich kaum einer, der wegen solcher Bestechungspraktiken nicht schon juristische Scherereien bekam. Johnson&Johnson kosteten sie im November 2013 immerhin 2,2 Milliarden US-Dollar; der Konzern hatte Ärzte dafür prämiert, das Antipsychotikum Risperdal auch an Demenzkranke und ADHS-Kinder zu verschreiben. Abbott blechte 1,5 Milliarden Dollar wegen einer Off-Label-Marketingkampagne für das Antiepileptikum „Depakoke“ (Valproat), bei der reichlich Kick-Backs im Spiel waren; jede zehnte Frau, die ein valproinsäurehaltiges Präparat während der Schwangerschaft einnahm, brachte ein missgebildetes Kind zur Welt, bei 30 bis 40 Prozent traten schwere Entwicklungsstörungen auf. (6) 2015 stimmte Bristol-Myers Squibb einer Zahlung von mehr als 14 Millionen US-Dollar zu, um Vorwürfe zu beseitigen, nach denen das Unternehmen staatliche Krankenhäuser in China mit Schmiergeldern zur Verschreibung von Medikamenten bewogen haben soll. (7) 27 Millionen Dollar Strafe zahlten Teva Pharmaceuticals im März 2016 an das US-Justizministerium, weil die Firma einen Chicagoer Psychiater dafür „belohnt“ hatte, in über 30 Pflegeheimen das Neuroleptikum Clozapin zu verschreiben – auf über 50.000 Rezepten. Im selben Jahr handelte Teva die höchste jemals einem Pharmaunternehmen auferlegte Strafe – und die branchenübergreifend vierthöchste Vergleichszahlung – wegen Verstößen gegen das US-Korruptionsgesetz aus, den Foreign Corrupt Practices Act (FCPA). Das Unternehmen verständigte sich mit dem US-Justizministerium und der US-Börsenaufsicht gegen eine Zahlung von 519 Millionen US-Dollar auf eine Vereinbarung, die weitere Strafverfolgung auszusetzen. Ihm war vorgeworfen worden, in der Ukraine, in Mexiko und in Russland gegen den FCPA verstoßen zu haben. (8) Im Jahr 2015 willigte Novartis in eine Strafzahlung von 390 Millionen Dollar ein – unter anderem wegen Kickbacks zugunsten seines Immunsuppressivums Myfortic. (9) Der Schweizer Pharmamulti hatte Apotheker in den USA bestochen, ihren Kunden bestimmte Medikamente zu empfehlen. Im Frühjahr 2019 traf es Jazz Pharmaceuticals, Lundbeck und Alexion: (10) Insgesamt 122,6 Milionen Dollar kosteten sie Kick-Backs zugunsten von Arzneien gegen Narkolepsie, Chorea Huntington, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) – eine seltene Erkrankung blutbildender Stammzellen – sowie das atypische hämolytisch-urämische Syndrom (aHUS), bei dem im ganzen Körper Blutgerinnsel entstehen, was die Durchblutung lebenswichtiger Organe beeinträchtigt. Bußgelder in Milliardenhöhe: Peanuts, gemessen an kriminellen Umsätzen Rekordhalter ist Pfizer, mit nicht weniger als 34 juristischen Vergleichen, auch wegen Kick-backs, seit 1991 – darunter Bußgelder in Höhe von 4,7 Milliarden und 2,3 Milliarden US-Dollar. (11) „Die Gesetzesverstöße“, so prangert der dänische Mediziner und Pharmakritiker Peter C. Gøtzsche an, sid derart verbreitet, häufig und vielfältig, dass nur eine Schlussfolgerung möglich ist: Sie werden vorsätzlich begangen, weil Verbrechen sich auszahlen. Die Unternehmen betrachten die Strafen als Betriebsausgaben und setzen ihre illegalen Aktivitäten fört, als wäre nichts gewesen.” (12) Viele Straftaten wären unmöglich, wenn Ärzte nicht mitspielen würden. Kaum zu fassen, aber wahr: Mindestens 30 Prozent aller deutschen Akutkrankenhäuser haben Kick-back-Verträge abgeschlossen. (13) Kick-backs sacken aber auch Pflegeheime, Apotheken, Stiftungen und Patientenorganisationen ein, mitunter sogar staatliche Stellen. 45 Millionen Dollar blechte Pfizer im Jahre 2012 dafür, Behörden in Bulgarien, China, Kroatien, Tschechien, Italien, Kasachstan, Russland und Serbien bestochen zu haben. (14) 25 Millionen US-Dollar zahlte Novartis im März 2016, nachdem die US-Börsenaufsicht SEC ihm vorgeworfen hatte, zur Absatzförderung Mitarbeiter des chinesischen Gesundheitswesens bestochen zu haben. Im Frühjahr 2019 blechten Amgen und Astellas Pharma knapp 125 Millionen US-Dollar. Sie hatten zwei Stiftungen „Spenden“ zukommen lassen, bei denen es sich in Wahrheit um verkappte Kick-backs handelte. Als Gegenleistung sollte die „gemeinnützigen“ Einrichtungen Patienten mit Prostatakrebs bzw. mit sekundärem Hyperparathyreoidismus - einer Hormonstörung infolge einer Niereninsuffizienz - dazu bewegen, ausschließlich zu den Mitteln „Xtandi“ bzw. „Sensipar“ zu greifen. (15) Ende 2018 willigten Actelion Pharmaceuticals – 2017 von Johnson&Johnson übernommen - in eine Zahlung von 360 Millionen US-Dollar ein. Die Firma hatte eine gemeinnützige Hilfsorganisation, die „Caring Voice Coalition“ - Motto: „We improve the lives of those with chronic illnesses“ (16) - mit großzügigen Spenden bedacht. Allerdings flossen die Gelder zweckgebunden. Sie sollten ausschließlich Patienten zugute kommen, die zu Actelion-Medikamenten griffen – unter anderem zum Kassenschlager „Tracleer“, einem Mittel gegen Pulmonare Hypertonie (PAH), die den Blutdruck im Lungenkreislauf bedrohlich ansteigen lässt. Preisanhebungen 2014 und 2015, welche die Inflationsrate um das 30-fache übertrafen, hatten Tracleer-Tabletten zu echten Kostbarkeiten gemacht: 60 Stück kosteten nun 14.500 US-Dollar. (17) Solche „pseudo-gemeinnützigen Vereine, die nichts zu tun haben, außer ‚‘Spenden‘ einzusammeln von Anbietern für Anwender, die diese Anwendung wiederum privat abrechnen dürfen“, bringen Thomas Fischer, Bundesrichter in Karlsruhe, seit langem auf die Palme. (18) Im August 2016 geriet Novartis ins Fadenkreuz der türkischen Behörden, nachdem ein anonymer Hinweisgeber die Anschuldigung erhoben hatte, Novartis habe sich durch die Zahlung von Schmiergeldern an staatliche Krankenhäuser geschäftliche Vorteile in Höhe von 85 Millionen US-Dollar verschafft. Diese Vorwürfe ließen bis heute nicht erhärten, aber auch nicht entkräften. (19) Ebenfalls im August 2016 wurden in Südkorea sechs frühere und derzeitige Mitarbeiter von Novartis angeklagt, Ärzten „Rabatte" angeboten zu haben, um den Medikamentenabsatz anzukurbeln. Die Untersuchung endete im April 2017 mit einem Strafurteil über 48,3 Millionen US-Dollar. Im November 2010 räumte Omnicare ein, 19,8 Millionen Dollar an zwei Pflegeheime dafür gezahlt zu haben, dass sie seine Medikamente anboten und einsetzten. (20) Merck wurde 2011 wegen Kick-backs zu einer Strafe von 950 Millionen Dollar verdonnert. (21) Um Spuren zu verwischen, fließen Kick-backs oftmals aus schwarzen Kassen. Geld wird heimlich bar ausbezahlt – oder, gut versteckt vor dem Fiskus, auf Privatkonten im Ausland überwiesen. Unbelastet von jeglichem Unrechtsbewusstsein Ärzten, die routinemäßig solche Rückvergütungen einstreichen, mangelt es im allgemeinen an jeglichem Unrechtsbewusstsein. Schließlich, so wiegeln sie ab, profitieren beide Seiten, der gefällige Leistungserbringer wie auch derjenige, der sich erkenntlich zeigt. Und dem betreffenden Patienten entstehe ja kein finanzieller Nachteil. Immer mehr Gerichte sehen das freilich anders: Sie werten Kick-backs als verbotene Bereicherung und Vorteilsgewährung, derentwegen Kranke nicht die bestmögliche Therapie erhalten, sondern diejenige, die sich für ihren Arzt am meisten auszahlt. Weil diese Therapie in der Regel höhere Kosten verursacht, entsteht den Krankenversicherungen ein beträchtlicher Schaden, somit letztlich der Solidargemeinschaft der Beitragszahler. Hinzu kommt die Gefahr, dass unnötige Untersuchungen und Behandlungen stattfinden – nur damit Prämien fließen. „Kick-Backer“: hanebüchene Kostentreiber In der Schweiz fielen jahrelang nirgendwo pro Versicherten höhere Laborgebühren an als im Kanton Genf: um rund 70 Prozent übertrafen sie den Kanton mit den zweithöchsten Laborkosten, um das Sechsfache den günstigsten. Wie die Neue Zürcher Zeitung recherchierte, spielten dabei Kick-back-Zahlungen eine Hauptrolle. So hatte sich ein Genfer Arzt verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Labor jährlich Leistungen in Höhe von 166.000 Franken bei den Kassen abrechnen konnte. Im Gegenzug erhielt er zehn Prozent davon, zuzüglich eines Vorschusses von 50.000 Franken, um seine Praxis umzubauen. Ärztliches Standesrecht verbietet Kick-backs; nach § 31 der Berufsordnung verstoßen sie gegen das Prinzip der freien Arztwahl, häufig auch gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot. Der Bundesgerichtshof wertet sie als Betrug. Heuchlerische Empörung Die wachsende Empörung über Kick-back-Praktiken, zumal wenn Politiker sie äußern, kommt Bernd Hontschik freilich recht heuchlerisch vor: „Krankenhäuser stehen ökonomisch mit dem Rücken zur Wand. Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal, alle Angestellten arbeiten unter kaum noch erträglichem Erfolgsdruck. Chefärzte werden mit Bonuszahlungen dazu verführt, ihre Behandlungszahlen hochzutreiben. Fangprämien sind da nur ein winziges Teilchen am Rand dieses Überlebenskampfes. Man kann nicht ein Sozialsystem zerstören und in einen Wirtschaftszweig umwandeln wollen, aber dann laut aufheulen, wenn es dort auch zugeht wie in der Wirtschaft.“ (22) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Frankfurter Rundschau, 29.5.2012: „Treuepunkte für den Arzt“, www.fr.de/wissen/treuepunkte-arzt-11358180.html, abgerufen am 16.5.2019. 2 Siehe ZWP online, 16.9.2011: „Verhängnisvolle Kick-Back-Vereinbarungen“, „Fall 4“, www.zwp-online.info/zwpnews/wirtschaft-und-recht/recht/verhaengnisvolle-kick-back-vereinbarungen, abgerufen am 16.5.2019. 3 Süddeutsche Zeitung, 11.12.2018, S. 20: „Anklage gegen Chirurgen“. 4 www.cbgnetwork.org/5731.html, abgerufen am 16.5.2019. 5 Saldo 13/2013: „Pharmafirmen belohnen Ärzte und Apotheker – den Preis bezahlen die Patienten“, www.saldo.ch/artikel/d/pharmafirmen-belohnen-aerzte-und-apotheker-den-preis-bezahlen-die-patienten, abgerufen am 16.5.2019. 6 Salvatore Saporito: „Bestechungsvorwürfe gegen Novartis verdeutlichen Compliance-Risiken im Pharmasektor“, LexisNexis, 12.6.2017; www.justice.gov/opa/pr/abbott-labs-pay-15-billion-resolve-criminal-civil-investigations-label-promotion-depakote, abgerufen am 16.5.2019. 7 www.lexisnexis.de/blog/compliance/korruptionsvorwuerfe-gegen-novartis, abgerufen am 16.5.2019. 8 Nach Saporito, a.a.O. 9 Chemistry World, 9.1.2015: „Pharma kickback claims lead to individual prosecutions“, https://www.chemistryworld.com/news/pharma-kickback-claims-lead-to-individual-prosecutions/9137.article, abgerufen am 16.5.2019. 10 Pharmaceutical Business Review, 5.4.2019: „Three pharma firms agree to pay $122.6m to settle kickback allegations“, www.pharmaceutical-business-review.com/news/three-pharma-kickback-allegations; www.marketwatch.com/story/jazz-pharma-alexion-and-lundbeck-to-pay-1226-million-to-resolve-kickback-allegations-2019-04-04; abgerufen am 16.5.2019. 11 Gardiner Harris: “Pfizer Pays $2.3 Billion to Settle Marketing Case“, NewYorkTimes,´2.9.2009, www.nytimes.com/2009/09/03/business/03health.html., siehe www.oxfam. de/system/files/oxfam_prescription_for_poverty_full_report_090518.pdf, S. 49. 12 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, München 2. Aufl. 2015, S. 77. 13 www.arzt-wirtschaft.de/verbotene-verlockungen-kickback-zahlungen-an-aerzte/, abgerufen am 16.5.2019. 14 “Pfizer Settles US Charges of Bribing Doctors Abroad“, New York Times, 7.8.2012, www.nytimes.com/2012/08/08/business/pfizer-settles-us-charges-of-overseas-bribery.html; SEC complaint to US District Court, District of Columbia: US Securities and Exchange Commission vs. Pfizer Inc., www.sec.gov/litigation/complaints/2012/comp-pr2012-152-pfizer.pdf, s. Oxfam, a.a.O., S. 49. 15 European Pharmaceutical Rebiew, 2.5.2019: „Amgen and Astellas Pharma US agree to settlement costs for kickback charges“, www.europeanpharmaceuticalreview.com/news/86976/ amgen-and-astellas-pharma-us-agree-to-settlement-costs-for-kickback-charges, abgerufen am 16.5.2019. 16 www.caringvoice.org/ 17 New York Times, 6.12.2018: „Drug Maker Pays $360 Million to Settle Investigation Into Charity Kickbacks“, www.nytimes.com/2018/12/06/health/actelion-johnson-and-johnson-kickback-medicare.html, abgerufen am 16.5.2019. 18 Thomas Fischer: „Nieder mit der Ärzte-Korruption“, Zeit online, 4.8.2015, https://www.bdnc.de/fileadmin/Media/bdnc/pdf/meldungen/20150804_Kolumne_Die%20Zeit_aerzte-bestechung-korruption-pharmaindustrie.pdf. 19 Nach Saporito, a.a.O. 20 Medslawsuit: „What is a Pharmaceutical Kickback?“, https://medslawsuit.com/frauds/ what-is-a-pharmaceutical-kickback/, abgerufen am 19.5.2019. 21 David Ingram/Ros Krasny: “Johnson&Johnson to Pay $2.2 Billion to End US Drug Probes“, Reuters, 4.11.2013, www.reuters.com/article/us-jnj-settlement/johnson-johnson-to-pay-2-2-billion-to-end-u-s-drug-probes-idUSBRE9A30MM20131104; Michael S. Schmidt/Katie Thomas: “Abbott Settles Marketing Lawsuit“, New York Times, 7.5.2012, www.nytimes.com/ 2012/05/08/business/abbott-to-pay-1-6-billion-over-illegal-marketing.html; Duff Wilson: “Merck to Pay $950 Million over Vioxx“, New York Times, 22.11.2011. 22 Hontschik in Frankfurter Rundschau, a.a.O. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Weichgespült - Ärztliche Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche
Der Medizinstudent von heute ist der Rezeptaussteller von morgen. Deshalb umgarnt die Pharmabranche angehende Ärzte bereits vom ersten Semester an. Praktizieren sie, so setzt sich die Gehirnwäsche unerbittlich fort – bei der obligatorischen Weiterbildung. „Die Studenten werden schon früh an der Uni eingelullt“, schreibt die Politologin Ina Brzoska, „indem die Firmen ihnen kleine, harmlose Annehmlichkeiten im Klinikalltag bereiten, sie bezahlen Fortbildungen und gutes Essen“, wobei sie „stets höflich und zuvorkommend“ sind. „So vermittelt Big Pharma den angehenden Ärzten ein positives Bild von ihrer Tätigkeit.“ (1) In ihrem dritten Studienjahr sehen sich 93 Prozent der Medizinstudenten mindestens einmal pro Woche mit industriegesponsterten Geschenken oder Aktionen bedacht; ausnahmslos alle sind schon zu mindestens einem pharmafinanzierten Essen eingeladen worden. (2) Den meisten ist durchaus bewusst, dass Industrieeinflüsse ihre Ausbildung mitbestimmen und von Semester zu Semester zunehmen. (3) „Diese fortwährende Exposition“, stellt eine britisch-amerikanische Forschergruppe fest, sorge schleichend für „eine Gehirnwäsche, welche die Einstellungen von Medizinstudenten zu den vermarkteten Produkten verändert“. (4) Die Versuchung, Big Pharma gefällig zu sein und dadurch anfällig dafür zu werden, dass Industrieinteressen die Agenda mitbestimmen, die vielbeschworene Freiheit von Forschung und Lehre verhöhnend, steigt an klammen Universitäten, die notgedrungen nach Pharmamitteln lechzen – und reichlich bekommen: beispielsweise die Uni Köln von Bayer, die Freie Universität Berlin von Sanofi-Aventis, die Uni Mainz von Merck. (5) Der Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen, einst Vorsitzender der deutschen Arzneimittelkommission und als geläuterter Querkopf inzwischen für die Pillenbranche ein rotes Tuch, sähe pharmakritische Seminare am liebsten fest in der Prüfungsordnung aller angehenden Ärzte verankert. „Sie müssen gegen die Meinungsmanipulation der Pharmaindustrie widerstandsfähiger werden“, sagt er. (6) Häufig hält er Seminare über „Advert Retard“ ab - „langanhaltende, nachhaltige Werbung“ -, in denen Medizinstudenten lernen sollen, wie trickreich die Pharmaindustrie sie zu umgarnen trachtet – und wie sie damit umgehen können. Warum beschreibt der Dozent nur die positiven Eigenschaften eines Medikaments, verschweigt aber mögliche Nebenwirkungen? Wieso verwendet er keine eigenen Folien, sondern vorgefertigte des Herstellers? Wie findet man heraus, welche Nebentätigkeiten er ausübt – und wer ihn dafür bezahlt? Wie unterscheiden sich Fachzeitschriften, die keine Inserate drucken, von jenen, die für Pharmawerbung Druckseiten freihalten? Zumindest an der Berliner Charité ist „Advert Retard“ neuerdings Wahlpflichtfach. Aus CME wird CMM: Continuing Medical Manipulation Ärzte müssen sich fortbilden lassen, das schreiben ihnen der Gesetzgeber und die Berufsordnung vor. Dabei mischen Pharmafirmen nach Kräften mit. Für Continuing Medical Education (CME) geben sie allein in den USA jährlich 1,2 Milliarden Dollar aus, womit sie 50 bis 60 Prozent der Gesamtkosten tragen. (7) Als Sponsoren nehmen sie größtmöglichen Einfluss auf Fortbildungsprogramme und –inhalte: Sie finanzieren die Vorbereitung, Ausrichtung und Durchführung entsprechender Veranstaltungen. Sie lassen professorale Mietmäuler ihre neuesten Produkte anpreisen, bequemerweise mit Powerpoint-Präsentationen, die der Hersteller fix und fertig bereitstellt. (8) Sie übernehmen Reise- und Übernachtungskosten rund um Fortbildungen, Tagungs- und Teilnahmegebühren, samt Rahmenprogramm. Sie bezahlen die Mahlzeiten. All das rentiert sich nachweislich: Gesponserte CME verleitet die teilnehmenden Ärzte nachweislich, für höhere Verschreibungsraten zu sorgen. (9) Wer legt diesen Sumpf endlich trocken? Welcher Sumpf trockengelegt werden müsste, führte 2018 der Skandal um den CME-Anbieter Omniamed vor Augen, verdienstvollerweise aufgedeckt von der Ärzte-Initiative MEZIS. Die meisten Referenten der Omniamed-Veranstaltungen hatten Gelder von eben jenen Pharmafirmen eingestrichen, welche diese Veranstaltungen sponserten, im Schnitt mit 100.000 bis 200.000 Euro. (10) Die Vortragsthemen entsprachen den Produkten der Sponsoren. Erst infolge des Medienechos (11) verweigerten die Landesärztekammern Baden-Württemberg (12) und Münster (13) Omniamed erstmals die CME-Zertifizierung von Veranstaltungen - wegen »mangelnder Produktneutralität«. Daraufhin beendete Omniamed seine Geschäftstätigkeit, zumindest in Deutschland. (14) Warum haben Ärzteverbände, und notfalls der Gesetzgeber, dem hanebüchenen Treiben nicht längst einen Riegel vorgeschoben - generell? Bemisst sich die Qualität einer Tagung etwa an der Sternezahl des Hotels? Wer rechnet denn allen Ernstes damit, dass ein Pillenproduzent bei solchen Anlässen nachdrücklich die Risiken und Nebenwirkungen seines Produkts hervorhebt, zur Zurückhaltung beim Verschreiben ermahnt, den Vergleich mit Präparaten der Konkurrenz nicht scheut, die Vorzüge von Naturheilverfahren und bewährten Hausmitteln, von Psychotherapie und sozialer Unterstützung lobt? Für die Arzneimittelindustrie ist nichts geschäftsschädigender als umfassende, ausgewogene Information über alle verfügbaren Behandlungsoptionen. In der ärztlichen Fortbildung haben Pharmakonzerne deshalb definitiv nichts zu suchen. Wozu der ganze Aufwand, um unbestechliche Ärzte nicht zu beeinflussen? Welch irrwitzigen Aufwand Unternehmen treiben, um Ärzte auf den neuesten „Wissensstand“ zu bringen, förderte beispielhaft ein Strafverfahren zutage, das der Generalstaatsanwalt des Südlichen Distrikts von New York Ende März 2016 gegen den Schweizer Giganten Novartis einleitete – wegen massiver Bestechung. Die Ermittlungen in Gang gebracht hatte ein ehemals in Novartis´ Diensten stehender Whistleblower: Er enthüllte, dass sein früherer Arbeitgeber in den USA allein zwischen 2002 und 2011 zu sage und schreibe 25.000 „wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen“ geladen hatte. Bei ihnen allen handelte es sich in Wahrheit um verkappte Marketing-Events, deren Fortbildungswert gegen Null ging. Ihr einziger Zweck: Zehntausende von teilnehmenden Ärzten dazu zu bringen, Novartis-Präparate zu verschreiben. Das Muster war stets dasselbe: Gegen üppiges Honorar referierten willige Mediziner über Medikamente des Pharmakonzerns, während sich die Zuhörer luxuriös verköstigen ließen – auf Konzernkosten, versteht sich. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit über zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr“, so schätzen Analytiker der US-Bankengruppe Citigroup, dürfte Novartis diese Korruptionspraxis gekostet haben. Reichlich ausgezahlt hat sie sich bisher wohl. (15) Warum sonst gäbe es sie? „Wieso nur“, wundert sich der leitende Arzt Markus Pawelzik von der Münsteraner EOS-Klinik, „gibt die Industrie so viel Geld aus, um unbestechliche Ärzte nicht zu beeinflussen?“ Seine Antwort schiebt er sogleich nach: „Weil es sich rechnet.“ (16) Blind für organisiertes Verbrechen Ein „erschreckendes Maß an Verblendung“ innerhalb der Ärzteschaft, so dass „man schon fast von einer kollektiven Psychose sprechen kann“, beklagt auch der dänische Mediziner und Pharmakritiker Peter Gøtzsche. Um wachzurütteln, provoziert er Standeskollegen bei Vorträgen gerne mit einem deftigen Vergleich. Was würden sie von einem Richter halten, der vor Beginn eines Prozesses gegen die Mafia erklärt: „Ich habe Reisestipendien von Silvio Berlusconi erhalten. Ich sitze im beratenden Ausschuss der Unbarmherzigen Kredithaie. Ich habe Geld von Drogenhändlern genommen. Ich habe frei verfügbare Ausbildungsbeihilfen von der Camorra erhalten. Ich berate den Sprecher der Mord-GmbH.“ Warum, so fragt Gøtzsche dann sein Publikum, sollten wir „Geld von der Industrie annehmen, von kriminellen Vereinigungen aber ablehnen“ – wo doch „das organisierte Verbrechen im Vergleich mit der Pharmaindustrie deutlich weniger Menschen tötet“? (17) Solange es in Praxen und Kliniken an Einsicht mangelt, täten berufsständische Kodices not. Ärzte sollten verpflichtet werden, keinen einzigen Pharmareferenten mehr zu empfangen (18), Pharmaeinladungen auszuschlagen, Pharmahonorare abzulehnen - ausnahmslos. Und wie wäre es mit einem Zwangsbeitritt zu MEZIS? Die gemeinnützige Initiative „Mein Essen zahl´ ich selbst“, 2007 von unbestechlichen Ärzten ins Leben gerufen, bringt es bisher gerade mal auf tausend Mitglieder. Für die übrigen 380.000 Ärzte in Deutschland schlage ich einen Zwangsbeitritt vor. Nützliche Idioten – insgeheim verhöhnt Im Management der Pharmakonzerne lacht man sich insgeheim ins Fäustchen darüber, wie widerstandslos sich ein Großteil der Ärzte dazu verführen lässt, nützliche Idioten abzugeben. Das wurde dem österreichischen Medizinjournalisten Hans Weiss klar, als er undercover recherchierte. Um an einer brancheninternen Konferenz teilnehmen zu können, gab er sich als „Pharmaconsultant“ in Diensten einer frei erfundenen Firma namens „Solutions“ aus, für die Eintrittskarte berappte er knapp 4000 Euro. „Da waren etwa 500 Topleute aus der Pharmabranche unter sich, keine Öffentlichkeit, keine Journalisten, ungefähr 30 Top-Pharmamanager aus Deutschland. Und da hören Sie dann halt ganz unverblümte Wahrheiten, wie etwa die: ‘Wir kotzen den Ärzten einen Marketingmix ins Gesicht, und das Erstaunliche ist: die schlucken das. Und solange die das schlucken, gibt es keinen Grund, unsere Geschäftspolitik zu ändern.“ (19) In diesem Dschungel muss sich Klaus Lieb als nostalgischer Vertreter einer aussterbenden Spezies vorkommen. In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Mainz, deren Direktor er seit 2007 ist, setzte er klare Grenzen durch: „Bei uns kommt kein Pharmareferent auf Station.“ Es fänden keine von der Industrie bezahlten „Anwendungsbeobachtungen“ statt, die Annahme von Präsenten und Medikamentenmustern wird verweigert, Fortbildungen werden vollständig aus eigener Kasse bezahlt. (20) „Wir Ärzte haben bezüglich Interessenskonflikten einen blinden Fleck“, beklagt er. (21) „Wenn wir Marionetten der Gesundheitsindustrie werden, verspielen wir das Vertrauen der Patienten.“ (22) Deren Präferenz ist eindeutig. 96 Prozent möchten über finanzielle Verbindungen ihres Arztes zur Pharmaindustrie Bescheid wissen. Und 79 Prozent fordern, dass Ärzte, statt Pharmareferenten zu empfangen, sich aus unabhängigen Quellen informieren sollten. (23) Ihr Wunsch in des weißen Halbgotts Ohr. Über Halbgöttern thronen indes oberste Gottheiten: die Opinion Leaders der Zunft. Und letztlich sind sie es, die vorgeben, was in den unteren Sphären stattzufinden hat. Ihnen widme ich den Rest dieser Artikelreihe. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Ina Brzoska: „Die leisen Lobbyisten“, Uni-Spiegel 5/2012, S. 24. 2 F. S. Sierles u.a..: “Medical students’ exposure to and attitudes about drug company interactions”, Journal of the American Medical Association 294/2005, S. 1034-1042. 3 K. E. Austad u.a.: “Medical students’ exposure to and attitudes about the pharmaceutical industry: a systematic review”, PLoS Medicine 8/2011 :e1001037. 4 Ina Brzoska: „Die leisen Lobbyisten“, Uni-Spiegel 5/2012, S. 23. 5 Emmanuel Stamatakis, a.a.O., S. 472; s. hierzu auch D. Grande/D. L. Frosch u.a.: „Effect of exposure to small pharmaceutical promotional items on treatment preferences”, Archives of Internal Medicine 169/2009, S. 887-893. 6 zit. nach Brzoska, a.a.O. 7 Stand 2007. M. A. Steinman/C. S. Landefeld/ R. B. Baron: “Industry support of CME — are we at the tipping point?”, New England Journal of Medicine 366/2012, S. 1069-1071. 8 J. Avorn/N. K. Choudhry: “Funding for medical education: maintaining a healthy separation from industry”, Circulation 121/2010, S. 2228-2234. 9 A. Wazana: “Physicians and the pharmaceutical industry: is a gift ever just a gift?”, Journal of the American Medical Association 283/2000, S. 373-380. 10 MEZIS, CME-Arbeitsgruppe: Omniawatch-Analyse. (Nicht mehr online verfügbar.) 11 Medizin: Das umstrittene Geschäft mit Ärztefortbildungen. Abgerufen am 10. Februar 2019; Deutsches Ärzteblatt: Interessenkonflikte: Ärger um CME-Zertifizierung. 8. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019; Sebastian Carlens: Punkten für Bayer. 10. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019. 12 Hanno Charisius: Behörde verweigert Zertifikat für umstrittene Ärztefortbildung. In: sueddeutsche.de. 13. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019. 13 Sebastian Carlens: Deckmantel für Pharmalobby. 9. Februar 2019, abgerufen am 10. Februar 2019. 14 ende Geschäftsstätigkeit Deutschland. (Nicht mehr online verfügbar.) In: OmniaMed, abgerufen am 27. Juli 2019 15 Handelszeitung, 29.3.2016: „Novartis: US-Justiz weitet Untersuchung aus“; Neue Zürcher Zeitung, 30.3.2016: „Novartis unter dreifachem Verdacht“. 16 Zit. nach Harro Albrecht: „Ärzte, Pillen und Moneten“, a.a.O. 17 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, München 2. Aufl. 2015, S. 410. 18 Dies fordert der Wiener Arzt Dr. Fahmy Aboulenein in seinem Buch Die Pharma-Falle. Wie uns die Pillen-Konzerne manipulieren, Wien 2016. 19 „Es gibt keine Branche, die so hohe Gewinne macht“, Interview mit Hans Weiss im Deutschlandradio Kultur - Thema, 12.2.2010, www.deutschlandradiokultur.de. 20 Nach Harro Albrecht: „Ärzte, Pillen und Moneten“, Die Zeit Nr. 51, 11.12.2008. 21 Zit. nach Markus Grill u.a.: „Seid umschlungen, Millionen!“, Correct!v, 14.7.2016, https:// correctiv.org/recherchen/euros-fuer-aerzte/artikel/ 2016/07/14/seid-umschlungen-millionen, abgerufen am 24.10.2016. 22 Zit. nach Christoph Link: „Korruption in der Medizin - ‘Was mache ich hier eigentlich?’“, Stuttgarter Zeitung, 18.3.2013. 23 Nach einer Online-Umfrage des British Medical Journal mit 1479 Teilnehmern, zit. nach Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- „Wie du mir, so ich dir“ - Ärzte einwickeln: Reziprozität als Erfolgsrezept
Do ut des, „ich gebe, damit du gibst“: Dem sozialen Grundprinzip der Gegenseitigkeit können sich auch Ärzte schwerlich entziehen. Nicht erst Zuwendungen im fünf- bis sechsstelligen Bereich, schon relativ kleine Gefälligkeiten machen Menschen geneigt, sich erkenntlich zu zeigen. Das macht sich Pharma-Marketing zunutze. „Eine Hand wäscht die andere“: Wohltaten jeglicher Art machen Menschen geneigt, sich beim Geber zu revanchieren. Dafür anfällig zu sein, wenn Pharmafirmen sie großzügig in Versuchung zu bringen versuchen, weisen die meisten Ärzte von sich – zumindest was sie selbst anlangt. Für Kollegen möchten sie freilich nicht die Hand ins Feuer legen. Viele erliegen dem Glauben, sie selbst seien weniger leicht manipulierbar als der Rest ihrer Zunft, wie eine Befragung unter 208 niedergelassenen Fachärzten für Neurologie/Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Kardiologie zum Einfluss von Pharmavertretern ergab. Nur sechs Prozent erklärten sich für „häufig“ oder gar „immer“ beeinflussbar. Zugleich vermutete aber mehr als jeder Fünfte, das treffe auf seine Standeskollegen sehr wohl zu. (1) Die Fehleinschätzung, für Marketingeinflüsse immun zu sein, ist sogar „dosisabhängig“: Je mehr Zuwendungen Ärzte von Firmen erhalten, desto häufiger geben sie an, dass derartige Gaben ihr Verordnungsverhalten mitnichten beeinflussen. (2) Mit solchen Zusammenhängen werden die Klinkenputzer der Arzneimittelindustrie während ihrer Ausbildung wohlvertraut gemacht. Pharmareferenten eignen sich werbepsychologisch ausgeklügelte Strategien an, wie besuchte Ärzte früher oder später rumzukriegen sind, zu höheren Verkaufszahlen der angepriesenen Produkte beizutragen. Dabei genießt kaum ein Wissenschaftler unter Marketingprofis höheres Ansehen als der US-amerikanische Psychologe Robert Cialdini. Während er an der Arizona State University einen Lehrstuhl für Psychologie und Marketing innehatte, leitete er zugleich eine Unternehmensberatung namens Influence at Work. (3) Sein bekanntestes Werk, Die Psychologie des Überzeugens (1997), verkaufte sich über drei Millionen Mal und wurde in dreißig Sprachen übersetzt. Sein Buch Pre-suasion: Wie Sie bereits vor der Verhandlung gewinnen erschien 2017 auf Deutsch. Cialdini wird gefeiert dafür, Marketingkonzepte an einer fundamentalen sozialwissenschaftlichen Erkenntnis auszurichten: der Reziprozitätsregel. Gegenseitigkeit: eine grundlegende soziale Norm In der einfachsten Form kennzeichnet Reziprozität eine soziale Interaktion, die sich in drei Schritten vollzieht: Jemand gibt etwas; der Andere muss die Gabe annehmen - und sich mit einer Gegengabe erkenntlich zeigen. Die Regel, dass wir uns für Gefälligkeiten, Geschenke, Einladungen und dergleichen zu revanchieren haben, weil jegliches Miteinander auf Gegenseitigkeit beruhen muss, ist tief in allen menschlichen Gesellschaften verwurzelt. Indem sie Beziehungen auf Geben und Nehmen gründet, schafft sie Vertrauen gegenüber Mitmenschen. Dadurch ermöglicht sie überhaupt erst Gruppenbildung, Arbeitsteilung und Systeme gegenseitigen Helfens. Alle Kulturen sanktionieren Verstöße gegen diese grundlegende Norm: Wer bloß nimmt und nie gibt, oder wer auf Dauer mehr nimmt als gibt, der wird geächtet. Der Drang, Anderen zurückzugeben, was wir zuvor erhalten haben, scheint so tief in der menschlichen Psyche verankert, dass es bewusster Anstrengung bedarf, die Reziprozitätsregel nicht zu befolgen. Wie Cialdini erkannte, gilt diese Regel weitgehend unabhängig davon, wie stattlich die Gabe ist. Ausnahmslos jedes Präsent, und sei es noch so klein, veranlasst zu Gegengaben; diese weisen manchmal sogar einen unverhältnismäßig höheren Wert auf. Demnach existiert keine Schwelle, unterhalb derer eine Beeinflussung ausgeschlossen ist. Umso fragwürdiger sind Regelungen zu Interessenkonflikten, die es erlauben, „angemessene“ Zuwendungen anzunehmen, wie die Berufsordnung für Deutschlands Ärzte vorsieht. (4) Als besonders anfällig für Beeinflussung haben sich in sozialpsychologischen Experimenten Menschen erwiesen, die sich der Reziprozitätsregel zwar bewusst sind, sich selbst aber für resistent dagegen halten, auf diese Weise manipuliert zu werden. Sie erliegen einer „Illusion der Unverwundbarkeit“. (5) Demnach waltet verkaufspsychologisches Kalkül, wenn der Rep den Doc mit Wohltaten überschüttet. Und die Rechnung pflegt aufzugehen. Das US-amerikanische Recherchezentrum ProPublica, das seit 2010 Zahlungen an US-Ärzte veröffentlicht, fand einen deutlichen Zusammenhang: zwischen den Beträgen, die ein Arzt von Pharmafirmen einstreicht, und der Anzahl an teuren Originalpräparaten, die er verordnet. Unter Augenärzten, denen kein Geld zufloss, verschrieben bloß 46 Prozent Originalia anstelle preiswerterer Generika; bei Kollegen, die über 5000 Dollar erhielten, stieg der Anteil auf 65 Prozent. (6) „Mein Essen zahl´ ich selbst“ Selbst simple Einladungen zum Essen verfehlen ihre Marketingwirkung nicht. Dies stellten Mediziner der University of California in San Francisco fest, als sie Daten von 280.000 Ärzten auswerteten: Gesponserte Mahlzeiten erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass der Bewirtete ein Medikament des Sponsors verschrieb. Psychiater beispielsweise, die keine solche Einladung annahmen, verordneten das Antidepressivum Desvenlafaxin mit einer Häufigkeit von 0,5 Prozent unter Präparaten dieser Klasse. Bei Fachkollegen, die sich ein Essen im Wert von unter 20 Dollar bezahlen ließen, verdreifachte sich dieser Wert auf 1,5 Prozent. Bei Nebivolol, einem Betablocker zur Blutdrucksenkung, erhöhte sich die Verschreibungsrate nach einem Essen von drei auf acht Prozent, nach drei Essen sogar auf 14 Prozent. (7) Um ihre Kollegen gegen solche Versuchungen zu immunisieren, haben unbestechliche Ärzte im Jahr 2007 MEZIS ins Leben gerufen. „MEZIS“ steht für „Mein Essen zahl´ ich selbst“. Rund 1000 Mitglieder hat die gemeinnützige Initiative inzwischen. Es sollten viel mehr sein. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Klaus Lieb/Simone Brandtönies: „Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern“, Deutsches Ärzteblatt 107/2010, S. 392-398; www.aerzteblatt.de/archiv/76324/Eine-Befragung-niedergelassener-Fachaerzte-zum-Umgang-mit- Pharmavertretern. 2 A. Wazana: „Physicians and the pharmaceutical industry: is a gift ever just a gift?“, Journal of the American Medical Association 283 (3) 2000, S. 373-380. 3 Siehe www.influenceatwork.com 4 Bundesärztekammer (Hrsg.): (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte, § 32, Stand 2018, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf, abgerufen am 30.5.2019. 5 B. J. Sagarin/R. B. Cialdini u.a.: „Dispelling the illusion of invulnerability: Themotivations and mechanisms of resistance to persuasion“, Journal of Personality and Social Psychology 83/2002, S. 526-54114; Dana J, Loewenstein: „A Social Science Perspective on Gifts to Physicians From Industry“, JAMA 290/2003, S. 252-255. 6 Nach Spiegel online, 26.7.2015: „Zahlungen an Ärzte - Keiner ist so nett wie der Pharmareferent“, www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/zahlungen-an-aerzte-der-nette-pharmareferent-a-1104739.html 7 Colette de Jong u.a.: „Pharmaceutical Industry-Sponsored Meals and Physician Prescribing Patterns for Medicare Beneficiaries“, JAMA Internal Medicine 2016 Aug 1;176 (8) 2016, S. 1114-1122, doi: 10.1001/jamainternmed.2016.2765. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ – Ärzte einwickeln: Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Nimmersatte Mietmäuler - Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer
Wer ein Produkt verkaufen will, muss nicht jeden einzelnen Konsumenten ansprechen. Es genügt, ein paar ausgewählte, gut vernetzte, überaus populäre Leute, „Influencer“, dafür zu gewinnen, es lautstark anzupreisen. Dann ist es bloß eine Frage der Zeit, bis sich ihre Empfehlung wie ein Lauffeuer verbreitet. Das macht die Meinungsführer der Ärzteschaft so ungeheuer wertvoll für die Pharmaindustrie – und die evidenz- zur eminenzbasierten Medizin. Sie wollten immer schon für umme in der Suite eines Fünf-Sterne-Hotels nächtigen? In Nobelrestaurants auf Michelin-Niveau speisen, ohne dass der Kellner Sie am Ende mit einer Rechnung belästigt? Freikarten für Olympische Spiele oder eine Fußball-WM ergattern, Logenplatz inclusive? Einen kostenlosen Strandurlaub in Florida oder auf Hawaii verbringen? Dorthin in der Business Class fliegen, ohne sich dafür ein Ticket besorgen zu müssen? Umsonst in exklusiven Nightclubs den Augenschmaus aufreizender Girls genießen, deren Dienstkleidung eher nach Geschenkverpackung aussieht? Sich in feucht-fröhlicher Männerrunde für null Cent in einem Edelbordell vergnügen? Sie wären gerne so wichtig, dass Sie vor über tausend Kollegen eine vielbeklatschte Rede halten dürfen - und dafür rund 5000 Euro zugesteckt bekommen? Für die Teilnahme an einer sechsstündigen Gesprächsrunde möchten Sie fast 7.000 Euro einstreichen, für einen Aufsatz knapp 16.000 Euro? (1) Ihr guter Rat, acht Tage lang erteilt, sollte über 350.000 Euro wert sein? (2) Dann werden Sie Arzt. Und bringen Sie es zu was. Leiten Sie ein größeres Krankenhaus, am besten eine Uniklinik. Besetzen Sie einen Lehrstuhl. Gehören Sie dem Vorstand Ihrer Fachgesellschaft an. Geben Sie eine medizinische Zeitschrift heraus. Lassen Sie sich in Kommissionen wählen. So oder so klappt es dann ziemlich sicher. Aber wer bezahlt all die offenen Rechnungen, wer lässt die traumhaften Honorare springen? Und wozu überhaupt? Die Macht der Silberrücken Unter Gorillas geht es seltenst zu wie in einem basisdemokratischen Debattierklub. An ihrer Spitze steht mindestens ein älteres Männchen mit silbergrauem Rückenfell – ein Insignium der Macht, das sich entwickelte, als sein stolzer Träger voll ausgewachsen war. Ihre Gruppe dirigieren die Chef-Primaten mit Imponiergehabe und Gebrüll. Artgenossen versperren sie den Zugang zur Macht. Mit plötzlichen aggressiven Ausrastern ist jederzeit zu rechnen, wie auch mit dem Ausstoß von Duftmarken, bei Ärger und Gefahr: Stinkt der Silberrücken, hat er was zu sagen. Von „Silberrücken“ wimmelt es, im übertragenen Sinne, in der Medizin wie in kaum einem anderen Lebensbereich. Das Sagen haben etwas ältere Männer, häufig mit grauen Schläfen und stets mit überaus dominanter Ausstrahlung. Auf sie hört, ihnen folgt die Herde. Wer sich ihnen widersetzt, kann was erleben. Für ihre soziale Position werden Silberrücken im Affenreich mit der leichten Verfügbarkeit von Weibchen belohnt - unter Menschen des öfteren ebenfalls, vor allem aber mit Geld und Ansehen. Was Verhaltensforscher „Alphatiere“ nennen, bezeichnen Sozialwissenschaftler als opinion leaders oder influencers: Menschen, die innerhalb einer Gruppe als „Meinungsführer“ größten Einfluss ausüben. Sie genießen hohes Ansehen. Ihnen hört man besonders aufmerksam zu. Recht häufig schließt man sich ihren Meinungen an, folgt ihren Empfehlungen, richtet eigene Entscheidungen daran aus. Für jeden, der ein Produkt verkaufen will, sind menschliche „Silberrücken“ von allergrößter Bedeutung. Warum sollten sich Werbung und Marketing darauf beschränken, direkt beim Endverbraucher Interesse und Kauflust zu wecken? Geht es auf Umwegen nicht viel einfacher, billiger und wirkungsvoller? Genügt es nicht, einige ausgewählte, gut vernetzte, überaus populäre Leute dafür zu gewinnen, die Ware möglichst begeistert und lautstark anzupreisen? Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich ihr Lob wie ein Lauffeuer verbreitet. Der gefeierte Propagandist dieses Ansatzes, der kanadische Unternehmensberater Malcolm Gladwell, schwärmt in seinem Bestseller Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können (2001): „Eine totgesagte Schuhmarke, die über Nacht zum ultimativ angesagten Modeartikel wird. Ein neu eröffnetes Restaurant, das sofort zum absoluten Renner wird. Der Roman einer unbekannten Autorin, der ohne Werbung zum Bestseller wird. Für den magischen Moment, der eine Lawine lostreten und einen neuen Trend begründen kann, gibt es zahlreiche Beispiele. Wie ein Virus breitet sich das Neue, einer Epidemie gleich, unaufhaltsam flächendeckend aus. So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt ein winziger, gezielter Schubs, um einen Modetrend zu setzen, ein neues Produkt als Massenware durchzusetzen (...) Wenig Aufwand kann zu einem Mega-Erfolg führen.“ Auch Pharmaunternehmen wissen das. Eine Arznei zu vermarkten, ist überall dort, wo Rezeptpflicht herrscht, allerdings weitaus heikler als bei anderen Produkten. Wenn nicht der Konsument selbst entscheidet, ob er sie braucht, sondern sein Arzt, der den Bezugsschein ausstellt, so gilt es, diesen zum Verschreiben zu bewegen. Einerseits erleichtert sein unerreichtes Sozialprestige die Mühsal des Überredens, denn der Patient vertraut seinem Arzt in einem Maße, wie er es den Werbe- botschaften eines Herstellers gegenüber niemals täte. Ärzte als Umsatzförderer einzuspannen, ist andererseits aber viel schwieriger, als ein zeigefreudiges Girlie als Youtube-“Influencerin“ für Klamotten oder Schminke anzuheuern. Schließlich handelt es sich bei Ärzten um überdurchschnittlich kluge, gebildete, kritische Zeitgenossen. Durchschauen sie schnöde Geschäftsinteressen nicht viel eher als Otto Normalversteher? Halten sie nicht weitaus größeren inneren Abstand zu aufdringlichen Pillenverkäufern? Eminenz- statt evidenzbasierte Medizin Aus dieser Klemme helfen die Meinungsführer des Medizinbetriebs vorzüglich - die KOLs, vom englischen „Key Opinion Leaders“, wie die Masterminds des Pharma-Marketings sie nennen. Denn zu KOLs schaut der praktizierende Arzt auf. Sie lehren und forschen als Professor. Bei der ärztlichen Fortbildung stehen sie am Rednerpult. In Unikliniken sitzen sie auf Chefsesseln, stehen ärztlichen Standesorganisationen vor. Sie organisieren und leiten große Fachkongresse. Als Verfasser von Standardwerken, als Herausgeber oder ständige Autoren angesehener Fachjournale haben sie sich hervorgetan. Sie beraten und entscheiden in gewichtigen Ausschüssen und Gremien mit. Als Gutachter finden sie bei politisch Verantwortlichen offene Ohren. Zum Beispiel der Anästhesist J.B. Eine große Nummer war er mal in Deutschlands Spitzenmedizin. Bei Kongressen, in seinen Lehrveranstaltungen galt der Chefarzt am Klinikum Ludwigshafen als brillanter Redner. Dass er seinem beeindruckten Publikum oft vorsätzlich Humbug auftischte, war erst klar, nachdem er 2010 als dreister Datenfälscher entlarvt wurde. Als echtes Wundermittel hatte er jahrelang das Medikament Hydroxylethylstärke (HES) angepriesen, einen aus Mais- oder Kartoffelstärke hergestellten Blutplasmaersatz. Wie er in mehreren eigenen Studien herausgefunden haben wollte, stabilisieren HES-Infusionen den Kreislauf von Patienten auch bei immensem Blutverlust und machen Transfusionen überflüssig. Seinen Job, seine Professur, sein Ansehen verlor J.B., als aufflog, dass er emsig gefälscht hatte: In Wahrheit half HES nicht nur keineswegs, es konnte erheblichen Schaden anrichten. (3) Jeglicher Industrieferne unverdächtig machte sich Professor H.-J. M., von 1994 bis 2012 Direktor der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Topmann seines Fachs war er: als Autor oder Mitverfasser von mehreren Lehrbüchern und über 1100 wissenschaftlichen Aufsätzen, als Herausgeber führender Fachzeitschriften, als Mitglied und Präsident zahlreicher Fachgesellschaften. Eifrig „beriet“, forschte und referierte er für mindestens 14 Pharmariesen, von Astra Zeneca über Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly und GlaxoSmithKline bis hin zu Janssen-Cilag, Lundbeck, Merck, Novartis und Pfizer. Das Abmagerungsmittel Acomplia pries er in einer Werbeveranstaltung des Herstellers sowie einem Artikel für das hochangesehene British Medical Journal für ein „günstiges Nutzen-Risiko-Profil“ – teilweise sogar noch, nachdem die US-Gesundheitsbehörde dem Appetitzügler schon die Zulassung verweigert hatte, wegen schwerer Nebenwirkungen: Depressionen, Suizidgedanken, Angstzustände, Gedächtnisstörungen, Krampfanfälle, Atemwegsinfektionen, Übelkeit, Durchfall. Ebenso nachdrücklich lobte M. das Antidepressivum Valdoxan – Wirkstoff Agomelatin -, dem die europäische Arzneimittelagentur wegen fehlender Wirksamkeit die Anerkennung verweigerte. (4) M. befindet sich in bester Gesellschaft. Für Bristol-Myers Squibb und Otsuka referierte, für sechs weitere Pharmariesen forschte Professor W. M., Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn, Sprecher zweier vom Bundesforschungsministerium geförderter „Kompetenznetze“ für Demenz, federführender Herausgeber der maßgebenden Fachzeitschrift Der Nervenarzt; von 2012 bis 2014 war M. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), mehrfach leitete er deren Jahreskongresse. (5) Einer von W.M.´s Vorgängern im DGPPN-Vorsitz (2001/2002), Professor M. S., machte sich auf Werbeveranstaltungen von Pfizer, Merz, Pharmacia und Lundbeck für die umstrittenen Antidepressiva Cymbalta, Solvex und Cipralex sowie die Neuroleptika Zeldox und Abilify stark. (6) Als „Consultant“ und Vortragender für ein rundes Dutzend Pharmagiganten legte sich Professor S. K. von der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien ins Zeug. (7) Von 2005 bis 2009 war er Präsident einer der drei weltweit führenden Gesellschaften seines Fachs, der World Federation of Societies of Biological Psychiatry; er saß der Sektion Pharmakopsychiatrie der World Psychiatric Association (WPA) vor; von 2012 bis 2016 gehörte er dem Führungsgremium des International College of Neuropsychopharmacology (CINP) an. Preisfrage: Welche Art von Behandlung seelisch Belasteter stellen solche Leute wohl in ihren Kliniken sicher? Standesethik verhöhnt Eine vielsagende Probe aufs Exempel machte der österreichische Journalist Hans Weiss. Getarnt als „Peter Merten, freier Strategischer Berater“ eines Wiener Pharmaunternehmens, wandte er sich in den Jahren 2007 und 2008 an fünf weltweit angesehene Psychiater in leitenden Positionen an Unikliniken oder Großkrankenhäusern. (8) Seine Firma habe ein tolles neues Antidepressivum entwickelt, so schwindelte er – und unterbreitete ihnen ein verlockend unmoralisches Angebot. Würden sie sich dafür kaufen lassen, eine klinische Studie durchzuführen, die der Weltärztebund als unethisch einstuft, zumindest aber als ethisch fragwürdig: eine an schwerkranken Patienten mit stärksten Depressionen? Die nötige „Placebokontrolle“ hätte erfordert, jedem Zweiten monatelang ihre bewährte Therapie vorzuenthalten, stattdessen bloß eine unwirksame Scheinarznei zu verabreichen – und das, obwohl Medizinstudenten schon in ihren ersten Semestern lernen, wie entsetzlich bei höchstgradig Depressiven der Leidensdruck, wie erheblich das Selbstmordrisiko ist. Für den Studienleiter sah Mertens Offerte ein Honorar von 8000 Euro vor. Pro teilnehmendem Patienten, versteht sich. Ergäbe bei fünfzig Probanden happige 400.000 Euro. Das niederschmetternde Ergebnis: Alle fünf Geköderten erklärten sich bereit einzusteigen oder mochten sich näheren Verhandlungen zumindest „nicht verschließen“. Könnten sie klarer gegen die ärztliche Standesethik verstoßen? „Die Gesundheit meines Patienten“, heißt es in der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes, „soll mein vornehmstes Anliegen sein. Der Arzt soll bei der Ausübung seiner Tätigkeit ausschließlich im Interesse des Patienten handeln. In der medizinischen Forschung haben Überlegungen Vorrang, die das Wohlergehen der Versuchspersonen betreffen.“ (9) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Berechnet nach dem jeweils üblichen durchschnittlichen Stundensatz und Zeitaufwand, nach dem die Pharmabranche Einsätze von Meinungsbildnern um Jahre 2007 vergütete, s. Cutting Edge: Pharmaceutical Opinion Leader Management - Cultivating Today´s Influential Physicians for Tomorrow (2007), zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne, 3. Aufl. Köln 2008, S. 84-86. Gewiss kam seither noch ein großzügiger „Inflationsausgleich“ hinzu. 2 R. Abelson: „Whistle-blower suit says device maker generously rewards doctors“, New York Times 24.1.2006. 3 Veronika Hackenbroch: „Zu schön, um wahr zu sein“, Spiegel Online vom 29. November 2010: www.spiegel.de/spiegel/print/d-75376536.html. 4 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne, a.a.O., S. 148 f., 259. 5 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 163, 258., Eintrag zu W. M. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016. 6 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 169 f., S. 261; Eintrag zu M. S. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016. 7 Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 171 f. und 265; Eintrag zu S. K. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016. 8 Siehe Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 141-191. 9 Siehe „WMA Deklaration von Helsinki“, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/Deklaration_von_Helsinki_2013_DE.pdf, abgerufen am 30.12.2016. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken
“Mietmäuler” sind in der Medizin keineswegs Sonderfälle. Unter den Meinungsführern der Ärzteschaft, den imposanten “Silberrücken” ihrer Gorillaherde, ist kaum einer über jeden Verdacht erhaben, mit der Industrie lukrativ verbandelt zu sein. Die Verflechtungen sind vielfältig. Kommen “Mietmäuler” in der Ärzteschaft äußerst selten vor? In Wahrheit ist kaum jemand, der in der Medizin etwas zu sagen hat, inniger Industrieverflechtungen unverdächtig – und kaum einer legt sie freiwillig offen. Wer in den erlauchten Kreis der „Meinungsführer“ aufgenommen ist und „an prominenter Stelle auf einem riesigen Kongress sprechen darf - der kann nicht anders, als wichtig, ein Führer zu sein“, erhellt der Ex-Pharmamanager John Virapen die Tiefenpsychologie des Bauchpinselns. „Und durch die Kontakte, die wir ihm mittels unseres Programms und mittels der Teilnahme am Kongress erst ermöglichen, steigt er im allgemeinen Ansehen noch höher.“ (1) Meinungsführer sind für Big Pharma „unersetzlich“, deshalb müssen „meist Leute aus dem höheren Management ran“, um sie einzuwickeln, erläutert der Whistleblower. „Das sind ja auch besonders distinguierte Menschen, Spezialisten und Gourmetfreunde. Mittel der Wahl sind hier Symposien zur Erhärtung des eigenen Status, teure medizinische Geräte oder Computer, Reisen und ganz schlicht: Geld.“ (2) Die „Silberrücken“ der Ärzteschaft – Alpha-Männchen mit unschlagbarem Imponiergehabe - sind vielfältig einsetzbar: - als Berater im „advisory board“ von Pharmakonzernen; - als bezahlte Redner, „key note speakers“,für Vorträge, Pressekonferenzen, Symposien, Kongresse und ärztliche Fortbildungsveranstaltungen; - als offizielle (Mit-)Autoren von Artikeln, die in Wahrheit häufig Ghostwriter verfassen: Mitarbeiter der Pressestellen von Pharmakonzernen oder von PR-Agenturen, oft auch freie Medizinjournalisten (3); - als Mitwirkende in Gremien, die für die Ärzteschaft „Leitlinien“ festlegen, wie Krankheiten nach neuestem Forschungsstand zu behandeln sind – sie geben vor, worin „good clinical practice“ (GCP), ein „evidenzbasierter“ Umgang mit Patienten zu bestehen hat; - als Mitglieder jener mächtigen Kommissionen, welche Diagnosekriterien, Schwellen- und Grenzwerte festlegen. Jeder Millimeter, um den sie beispielsweise die Symptomatik einer „Störung“ erweitern, kann Milliardengewinne mit passenden Arzneimitteln bedeuten. Und jede neu eingeführte „Störung“ erschließt zusätzliche Absatzmärkte. Sissi lässt grüßen Um ein Haar geklappt hätte das beispielsweise bei der Erfindung des „Sissi-Syndroms“: einer angeblich viel zu lange verkannten, bestürzend weitverbreiteten Seelenpein, die bereits der österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sissi“, 1837-1898) schmerzlichst zu schaffen gemacht haben soll. Auf die Idee zu dieser Kreation waren Mitarbeiter der Firma GlaxoSmithKline gekommen: Wie wäre es mit einer neuen Form von Depression, die besonders schwer zu diagnostizieren ist, weil die Betroffenen sie mit Frohsinn, gesteigerter Aktivität, ausgeprägtem Körperkult und offenkundiger Zufriedenheit gekonnt überspielen? Welch glücklicher Zufall: Eine Tablette mit passendem Wirkstoff war bereits zur Hand: Paroxetin, Handelsname „Seroxat“. Der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erhöht bei trächtigen Ratten die Anzahl der Totgeburten, verringert das Geburtsgewicht und lässt Neugeborene häufiger sterben. (4) Menschlichen Weibchen hingegen bekomme er bestens, hieß es. Den putzigen Namen „Sissi-Syndrom“ erfand eine PR-Agentur. Nun galt es bloß noch, die Nachfrage zu wecken – und dafür stellten sich zwei angesehene deutsche Mediziner zur Verfügung. Gegen stattliches Honorar referierte A.R., die Leiterin des Bereichs Gynäkologische Psychosomatik des Universitätsklinikums Bonn, über „Kaiserin Sissi als Prototyp eines verkannten Patientenbildes“, wobei sie psychopathologische Untersuchungen des angeblichen Syndroms vorstellte. Ihr zur Seite sprang der Psychologe H.-U. W., Leiter des Instituts für Klinische Psychologie der Technischen Universität Dresden, Mitwirkender am „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ (DSM), in deren 160-köpfiger Expertenkommission er sich in bester Gesellschaft befand: Mehr als die Hälfte der dort beteiligten Mediziner und Psychologen haben eingeräumt, mit der Pharmaindustrie monetentechnisch verbandelt zu sein. Drei Millionen Deutsche seien vom Sissi-Syndrom betroffen, so schwadronierte W., als Berater sechs Pharmafirmen zu Diensten. (5) Doch enttäuschend wenig Sissis ließen sich den Bären aufbinden. Ertragreicher verliefen Bemühungen, ein angebliches „Viagra für die Frau“ im Markt zu platzieren. Im August 2015 ließ die FDA es für den US-amerikanischen Markt zu, wo es unter dem Namen „Addyi“ eine Zeitlang auf Milliardenumsätze zuzusteuern schien. Der Wirkstoff Flibanserin war ursprünglich als Antidepressivum gedacht, erwies sich in klinischen Tests dafür aber als ungeeignet. Obendrein brachte er üble Nebenwirkungen mit sich: Häufig löste er Schwindel, Müdigkeit und Übelkeit aus, gelegentlich auch Schlaflosigkeit, Angstzustände, Mundtrockenheit, Unterleibsschmerzen, Verstopfungen, nächtliches Bettnässen, Herzrasen, anhaltende Stresszustände und Ohnmachtsanfälle. Allerdings wollten einige weibliche Versuchspersonen eine gesteigerte Libido bemerkt haben. Daraufhin erledigte man, wie so oft, die Erfindung eines Medikaments und des entsprechenden Krankheitsbilds Hand in Hand. „Wir haben es geschafft, führende Denker für die sexuelle Dysfunktion der Frau zu interessieren“, verlautbarte der Manager einer beteiligten Firma, „und wir haben eng mit ihnen zusammengearbeitet, um diese Krankheit als Ganze so zu entwickeln, dass sie Sinn ergab.“ (6) So erlangte, mit Hilfe williger Experten, die Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD) – auch „Sexuelle Appetenzstörung“ - den Rang einer Massenepidemie, von der schon jede dritte erwachsene Frau befallen sein soll: ein „ausgeprägtes Defizit bis zum völligen Mangel an sexueller Phantasie und dem Wunsch nach sexueller Aktivität, was ausgeprägten Distress und interpersonelle Schwierigkeiten nach sich ziehen kann“. (7) In der Fachwelt angekommen war die HSDD spätestens, als sie Eingang in die International Classification of Diseases (ICD) fand, Klassifikationsnummer F52.0. Über die weiterhin heftigen Nebenwirkungen ging die US-Zulassungsbehörde seltsam blind hinweg: Viermal häufiger setzen Schwindel und Müdigkeit ein; das Risiko für Übelkeit verdoppelt sich; zusammen mit Alkohol lässt Flibanserin den Blutdruck gefährlich absinken. Ebenso einerlei waren der FDA offenkundig die eher enttäuschenden Ergebnisse von insgesamt acht klinischen Studien mit fast 6000 Teilnehmerinnen: Diese hatten mitnichten ein stärkeres Sexualverlangen nach Einnahme gemessen, sondern lediglich einen leichten Anstieg der sexuellen Befriedigung. Und der bestand worin? Innerhalb von zwei Monaten erlebten Frauen, die „Pink Viagra“ schluckten, durchschnittlich einen Orgasmus mehr als jene, die darauf verzichteten. (8) Das ist zumindest eines nicht: zuviel. Trotzdem gaben sich Koryphäen der Sexualforschung und Gynäkologie - wie peinlicherweise auch Frauenrechtsorganisationen (9) - schamlos dafür her, Flibanserin zu einer epochalen Wunderpille hochzujubeln, welche die weibliche Lust endlich von ihren Fesseln befreie. Unter den Teppich kehrten sie, wie sehr sexuelles Verlangen vom Verhalten des Partners und der Qualität einer Beziehung abhängt. Und sie missachteten einen wesentlichen Unterschied: Viagra hilft dem Mann, der zwar will, aber nicht kann, indem es binnen einer Stunde die Blutzirkulation in den Geschlechtsorganen soweit verbessert, dass eine Erektion eintritt. Flibanserin hingegen sensibilisiert das Gehirn der Frau, die könnte, aber nicht will, erst nach Wochen regelmäßiger Einnahme - ein bisschen. Das Präparat endete, verdientermaßen, als hämisch belächelter Ladenhüter. (10) Derart willfährig zu Diensten zu sein, zahlt sich für Silberrücken reichlich aus: Die Zuwendungen enden beileibe nicht bei der Kostenerstattung von Tagungsgebühren, Reise- und Hotelkosten. Sie reichen von Einladungen in Edelrestaurants über Luxusreisen, auch für die Frau Gemahlin, in die Karibik und Freitickets zu großen Kultur- und Sportevents bis hin zu Entspannungs- und Vergnügungstouren, besser ohne Gemahlin, mit „Tauchen, Surfen, Segeln, hübschen Mädchen und heißen Nächten“ (11), sowie zu Aktienpaketen und üppigen Vergütungen für Autoren- und Referententätigkeiten, vereinzelt im hohen sechsstelligen Bereich. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 John Virapen: Nebenwirkung Tod. Ein Ex-Manager der Pharmaindustrie packt aus, Kleinsendelbach 2009, S. 70 f. 2 Virapen: a.a.O. 3 J. S. Ross/K. P. Hill u.a.: “Guest authorship and ghostwriting in publications related to rofecoxib: a case study of industry documents from rofecoxib litigation”, Journal of the American Medical Association 299/2008, S. 1800-1812; S. Sismondo: “Ghosts in the Machine”, Social Studies of Science 39/2009, S. 171-198. 4 Deroxat: „Fachinformation“, Stand Juni 2009. 5 Der Spiegel 20/2011, S. 118-119. 6 zit. nach Marie Schmidt: „Was will sie denn?“, Die Zeit Nr. 35, 27.8.2015, S. 42. 7 Nach J. J. Warnock: „Female hypoactive sexual desire disorder: epidemiology, diagnosis and treatment“, CNS Drugs 16 (11) 2002, S. 745-753. 8 Nach Loes Jaspers u.a.: „Efficacy and Safety of Flibanserin for the Treatment of Hypoactive Sexual Desire Disorder in Women: A Systematic Review and Meta-Analysis“, Journal of the American Medical Association, online 29.2.2016: http://archinte.jamanetwork.com/article. aspx?articleid=2497781, abgerufen am 1.3.2016. 9 Apotheke Adhoc, 22.9.2015: „Frauenrechtler lobbyierten für ‚Pink Viagra‘“, www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/internationales/pink-viagra-addyi-flibanserin-sprout-pharmaceuticals-even-the-score/, abgerufen am 18.5.2019. 10 Apotheke Adhoc, 22.10.2016: „Addyi: Lustpille als Ladenhüter“, www.apotheke-adhoc.de/ nachrichten/detail/internationales/pharmakonzerne-unlust-auf-lustpille/, abgerufen am 18.5.2019. 11 John Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben
- Albtraum Alzheimer: Rettet uns der Darm?
Vor keiner Krankheit graut Menschen mehr als vor Alzheimer, der häufigsten Form der Demenz: einem schleichenden geistigen Verfall, an dessen trostlosem Ende nichts mehr davon übrig bleibt, was einen Körper zur Person macht. Die Neurodegeneration im Gehirn, die dazu führt, gilt als unheilbar. Doch jüngste Studien machen Hoffnung. Sie verdeutlichen die Schlüsselrolle des Darms: bei der Entstehung des Leidens, womöglich auch bei seiner Heilung. Betroffene ereilt demnach kein unabänderliches, vermeintlich „altersbedingtes“ Schicksal – sie büßen für jahrzehntelange Ernährungssünden und andere ungesunde Gewohnheiten. Den meisten von uns fällt jemand im Bekanntenkreis ein, der Krebs überlebte. Aber kennen wir irgendwen, der seine Alzheimer-Erkrankung überstand? Hans Jäger* zählte nicht dazu. Obwohl nur drei Häuser entfernt, hatte sich unsere Nachbarschaft jahrelang auf ein flüchtiges „Hallo!“ beschränkt, wenn wir einander ab und zu über den Weg liefen. Das änderte sich erst, als meine treulose Hauskatze beschloss, zu Herrn Jäger und seiner Frau umzuziehen, weil sie bei dem kinderlosen Ehepaar stets einen vollen Fressnapf vorfand. Mit meinem fruchtlosen Protestbesuch begannen regelmäßige Treffen, bei denen ich Herrn Jäger, Anfang Siebzig, als einen klugen, hochgebildeten Zeitgenossen kennenlernte. Seine Rente stockte er auf, indem er für einen größeren Verlag kunstvoll Haikus übersetzte, eine traditionelle japanische Gedichtform. Um so bestürzter war ich, als eines Tages in unserer Straße eine unfassbare Neuigkeit die Runde machte: Herr Jäger war mit seinem Auto ungebremst gegen einen Baum gerast. Absichtlich. Den offenkundigen Selbstmordversuch überlebte er nahezu unverletzt. Kurz zuvor hatte er die Diagnose Alzheimer erhalten. Der beginnende geistige Verfall hatte ihn in die Verzweiflung getrieben. Dass er fortschreitet, wollte der Unglückliche sich und seiner geliebten Frau ersparen. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, versuchte Jäger seinen Ersatzwagen in einen Fluss zu steuern. Die Leitplanke einer Brücke verhinderte es. Wochen später brachte ihn sein dritter Versuch schließlich ans Ziel: Spaziergänger fanden ihn erhängt im Wald. Vor keinem Leiden graut Menschen mehr Mehr als jede Statistik, jedes Lehrbuch führte mir diese Tragödie unvergesslich vor Augen, wie grauenvoll es sein muss, mit der Gewissheit leben zu müssen, von Morbus Alzheimer betroffen zu sein: der häufigsten Form der Demenz, mit rund zwei Drittel aller Fälle. Nicht einmal vor Krebs haben Menschen mehr Angst als davor, sich bei lebendigem Leib schleichend aufzulösen – nach und nach alles zu verlieren, was sie ausmacht: ihre Erinnerungen, ihr Denkvermögen, ihre Sprache und Motorik, ihre emotionalen und sozialen Fähigkeiten, ihre Wesensmerkmale, zuletzt ihr Bewusstsein, ihr Ich, ihre Identität. Von dem, was sie einst waren, bleibt im Endstadium bloß noch eine erbärmliche Hülle, deren Aussehen schmerzlich an ihr einstiges Selbst erinnert. Die Person, die diesen Zellhaufen beseelte, ist verschwunden, unwiederbringlich. Zurück bleibt ein desorientierter, inkontinenter Idiot, pflegebedürftig rund um die Uhr, ein Albtraum für Angehörige. In Deutschland leiden 1,7 Millionen Menschen unter Demenz, bis 2050 dürften es drei Millionen sein. Dem World Alzheimer Report (1) zufolge waren im Jahr 2019 weltweit 55 Millionen von Demenz betroffen; bis zur Jahrhundertmitte werden 139 Millionen prognostiziert. (2) Hundert Millionen Alzheimer-Kranke werden dazuzählen. Das Risiko steigt im höheren Alter exorbitant. Kaum mehr als 25.000 haben noch nicht das 65. Lebensjahr erreicht. Von den 65-jährigen sind zwei Prozent betroffen. Unter 70-jährigen sind es schon drei Prozent, bei den 75-jährigen sechs Prozent. Unter 85-jährigen zeigt schon jeder Fünfte Symptome der Krankheit, unter 90-jährigen jeder Dritte. (3) Ab dem Zeitpunkt, zu dem ein Arzt die Alzheimer-Demenz feststellt, verbleibt eine mittlere Lebenserwartung von 1,5 bis 8,5 Jahren. (4) In den USA stirbt bereits einer von drei Senioren an Alzheimer oder einer anderen Art von Demenz – mehr als durch Brust- und Prostatakrebs zusammen. Trotz eines gewaltigen Forschungsaufwands gilt Alzheimer weiterhin als unheilbar. Das war es, was Herr Jäger von seinen Ärzten gehört haben dürfte: Nix zu machen, finde dich damit ab. Bestenfalls lassen sich vereinzelte Symptome zeitweilig lindern, ein Fortschreiten ein wenig verlangsamen. Schulmediziner mögen Herrn Jäger Acetylcholinesterase- und nichtsteroidale Entzündungshemmer wie Ibuprofen verschrieben haben; Thiethylperazin und dessen Derivate; oder Memantin, ein NMDA-Rezeptor-Antagonist, der den Botenstoff Glutamat beeinflusst. Andere haben ihn vielleicht auf die Vorzüge von Denksport, Ergo- und Psychotherapie hingewiesen. Doch lässt sich die zugrundeliegende Neurodegeneration stoppen? Oder gar rückgängig machen? Offenbar fand mein Nachbar niemanden, der ihm da glaubhaft Hoffnung machen konnte. Ihm schien, als ereile ihn das Unheil so unausweichlich wie das Jüngste Gericht. Zu früh resigniert? Aber womöglich gab Hans Jäger zu früh auf. Wie viel wusste er wirklich – über seine Erkrankung, über Heilungschancen, über Möglichkeiten, sich selber zu helfen? Proteine sind die Bausteine unseres Körpers, einschließlich der 86 Milliarden Nervenzellen (5), die unser Gehirn bilden. Fehler in ihrer Struktur können zu Chaos führen. An Alzheimer hauptbeteiligt scheinen zwei Arten von abnormen Eiweißablagerungen im Gehirn. Die einen bilden sich im Interstitium, dem Zwischenraum zwischen Nervenzellen. Unter dem Mikroskop fallen sie als Flecken, französisch „Plaques“, deutlich ins Auge. Diese Ablagerungen setzen sich aus dem abnorm gefalteten Protein-Fragment Beta-Amyloid zusammen. Im gesunden Gehirn werden sie abgebaut. Bei Alzheimer hingegen verbleiben sie als harte, unauflösliche Strukturen. Hinzu kommen sonderbare Knäuel von Fibrillen: gedrehten Fasern, die sich aus Tau-Proteinen zusammensetzen. Dieses Eiweiß ist ein wichtiges Bauteil von Transportstrukturen innerhalb der Nervenzellen: den Mikrotubuli. Diese winzigen Röhrchen befördern unter anderem wichtige Nährstoffe. Wie Klammern stabilisieren Tau-Proteine deren Außenhülle. Bei Alzheimer lösen sie sich davon ab, binden an andere Tau-Moleküle und verklumpen mit ihnen zu fasrigen Bündeln. Sie treten aus dem Zellkörper aus und lagern sich an die Axone an, die Fortsätze der Nervenzelle, die elektrische Impulse weiterleiten. Beide fatalen Proteinansammlungen, die „senilen Plaques“ und die „Tau-Klumpen“, blockieren das Transportsystem der Nervenzellen und stören die Kommunikation zwischen ihnen. Nach und nach sterben sie ab. Kein gesundes Gehirn ohne gesunden Darm Wie kommt es dazu? Immer deutlicher wird, wie die Gesundheit unseres Gehirns mit dem Mikrobiom unseres Darms zusammenhängt. Jüngste Forschung legt nahe, dass die Darmbakterien die Gehirnfunktionen beeinflussen und sogar die Neurodegeneration fördern können. Diesen Zusammenhang ergründet seit Jahren ein Team von Wissenschaftlern aus der Schweiz und Italien. In ihre jüngste Studie bezogen sie 89 Personen im Alter zwischen 65 und 85 Jahren ein. (6) Ein Teil von ihnen litt an Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die übrigen waren geistig gesund und hatten keine Gedächtnisprobleme. Um Amyloid-Ablagerungen in ihren Gehirnen aufzuspüren, setzten die Forscher auf PET-Bildgebung. In Blutproben maßen sie Entzündungsmarker und Proteine, die von Darmbakterien produziert werden. Dabei ergab sich, dass große Amyloid-Plaques im Gehirn mit hohen Blutspiegeln von Lipopolysacchariden (LPS) verbunden waren. Bei LPS handelt es sich um Zellwände von toten Bakterien. Das Immunsystem behandelt sie aber als aktive Erreger und leitet Abwehrmaßnahmen gegen die vermeintlichen Eindringlinge ein. So fördern LPS Entzündungen. Auch in Amyloid-Plaques im Gehirn von Alzheimer-Patienten kommen sie vor. Darüber hinaus fielen in den Blutproben der Alzheimer-Betroffenen, wie auch in deren Hirnplaques, kurzkettige Fettsäuren auf (SCFAs), nämlich Acetat und Valerat. Auch sie stammen von Darmbakterien. Andere kurzkettige Fettsäuren, nämlich Butyrat, schienen hingegen schützend zu wirken. Hohe Butyratspiegel gingen mit weniger Amyloid einher. Butyrat wird von Darmbakterien produziert, wenn sie Ballaststoffe fermentieren. Im Gehirn aktiviert es die Absonderung des neurotrophen Faktors (BDNF), der das Nervenwachstum anregt. Bei Alzheimer ist dessen Konzentration vermindert. „Unsere Ergebnisse sind unbestreitbar“, erklärt eine beteiligte Wissenschaftlerin, Moira Marizzoni vom Fatebenefratelli Center in Brescia: „Bestimmte bakterielle Produkte des Darmmikrobioms korrelieren mit der Menge der Amyloid-Plaues im Gehirn.“ Damit knüpft das Team an frühere Forschungsarbeiten an, bei denen es feststellte: Die Darmmikrobiota von Menschen mit und ohne Alzheimer unterscheiden sich erheblich voneinander. Bei Betroffenen ist ihre Vielfalt stark eingeschränkt; bestimmte Bakterien sind überrepräsentiert, andere fehlen. „Darüber hinaus", so der Neurologe Giovanni Frisoni, Mitautor und Direktor des Memory Center der Universitätskliniken Genf (HUG) in der Schweiz, "haben wir auch einen Zusammenhang zwischen einem im Blut nachgewiesenen Entzündungsphänomen, bestimmten Darmbakterien und der Alzheimer-Krankheit entdeckt. Daher wollten wir hier die Hypothese testen: Könnte die Entzündung im Blut ein Vermittler zwischen der Mikrobiota und dem Gehirn sein?" Lektionen aus dem Mäusekäfig Wie eng ein bakterielles Ungleichgewicht im Verdauungstrakt mit der Alzheimer-Krankheit verbunden ist, bestätigen Tierversuche. Eine 12-köpfige Forschergruppe aus Bern, Genf, Lausanne und Tübingen nutzte dazu Zuchtlinien von Mäusen, die speziell für die Alzheimerforschung entwickelt wurden: Im fortgeschrittenen Alter von zwölf Monaten bilden sie eine alzheimerähnliche Erkrankung aus, bei der ebenfalls die typischen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn auftreten. Wie die Wissenschaftler feststellten, weisen diese Tiere eine andere Darmflora auf als gesunde Artgenossen. Was geschieht, wenn man Darmbakterien der erkrankten Tiere auf Mäuse überträgt, deren Darm zuvor völlig keimfrei gemacht wurde? Der Mikrobentransfer führt dazu, dass sich auch in den Gehirnen der derart „Geimpften“ vermehrt Plaques bilden. (7) Hoffnung auf probiotischen Cocktail Da sich dieser Verdacht immer stärker aufdrängt, plant das Team weitere Forschungen, um herauszufinden, welche spezifischen Bakterien oder Bakterienstämme für die vermuteten Wirkungen verantwortlich sein könnten. Daraus könnte sich letztendlich die Rezeptur eines probiotischen Cocktails ergeben - mit einem neuroprotektiven Effekt zumindest in einem frühen Stadium der Krankheit, ja bereits bei mutmaßlichen Hochrisikopersonen, lange bevor erkennbare Symptome auftreten. Dass nützliche Bakterien die Hirngesundheit von Dementen fördern, ist seit längerem bekannt. Eine Studie aus dem Jahr 2016 mit 60 Alzheimer-Patienten untersuchte, wie sich probiotische Nahrungsergänzungsmittel auf kognitive Funktionen auswirken - mit vielversprechenden Ergebnissen. Bei denjenigen Teilnehmern, die probiotikahaltige Milch tranken, verbesserte sich die geistige Leistungsfähigkeit deutlich – gemessen mit der Mini-Mental State Examination (MMSE). Hingegen sank die MMSE-Punktzahl in der Kontrollgruppe, die normale Milch zu sich nahm. Was könnte für die festgestellten Verbesserungen verantwortlich sein? Die Forscher tippen auf mehrere positive Stoffwechselveränderungen, die sie bei der Probiotikagruppe feststellten: darunter niedrigere Triglyceride, Lipoprotein sehr niedriger Dichte und C-reaktives Protein, ein Maß für Entzündungen, sowie geringere Marker für Insulinresistenz. Wie eng Darm und Gehirn miteinander verbunden sind, erläuterte Walter Lukiw, ein Professor an der Louisiana State University, gegenüber dem Online-Fachdienst Medical News Today: Die Befunde der italienisch-schweizerischen Forschergruppe „decken sich mit einigen unserer jüngsten Studien, die darauf hindeuten, dass das Mikrobiom des Magen-Darm-Trakts bei Alzheimer im Vergleich zu altersgleichen Kontrollen in seiner Zusammensetzung deutlich verändert ist (…) und dass sowohl der Magen-Darm-Trakt als auch die Blut-Hirn-Schranke mit zunehmendem Alter deutlich undichter werden, so dass mikrobielle Exsudate“, d.h. Absonderungen, „des Magen-Darm-Trakts - z. B. Amyloide, Lipopolysaccharide, Endotoxine und kleine nicht-kodierende RNAs - in die Kompartimente des zentralen Nervensystems gelangen können." Als Kompartiment bezeichnen Biologen einen durch Membranen abgegrenzten Reaktionsraum innerhalb einer Zelle. Probiotika können die Neurodegeneration hemmen Offenbar beeinflussen Probiotika – Zubereitungen aus lebenden Mikroorganismen, zum Beispiel Bifidobakterien und Laktobazillen - das zentrale Nervensystem und das Verhalten über die Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse. Somit könnten sie gegen Alzheimer sowohl präventiv als auch therapeutisch zur mächtigen Waffe werden, indem sie unter anderem den Entzündungsprozess modulieren und oxidativem Stress entgegenwirken. (8) Dies bestätigte sich bei einer Meta-Analyse von fünf Studien mit 297 Probanden. Dabei ergab sich, dass sich in Probiotika-Gruppen die kognitiven Fähigkeiten signifikant verbesserten; ebenso deutlich verringerten sich Malondialdehyd und hochsensitives C-reaktives Protein, zwei Biomarker für Entzündungsprozesse und oxidativen Stress. Welche Bakterien für Prävention und Therapie von Alzheimer am vorteilhaftesten sind, wird weitere Forschung erst noch klären müssen. Schon jetzt zeichnet sich aber ab, dass der Stamm A1 von Bifidobacterium breve von besonderem Nutzen sein könnte. Bei Mäusen konnten die Forscher bestätigen, dass sich die kognitiven Funktionsstörungen, die normalerweise durch Amyloid beta ausgelöst werden, deutlich verringern, wenn den Tieren täglich B. breve A1 oral verabreicht wird. Die Zufuhr unterdrückte anscheinend die durch Amyloid-Beta verursachten Veränderungen der Genexpression im Hippocampus. Daher könnte der schützende Effekt rühren. (9) Im Frühjahr 2018 präsentierte das japanische Molkereiunternehmen Morinaga Milk ein neues Probiotikum mit Bifidobacterium breve A1. Studienergebnisse scheinen zu belegen, dass es die räumliche Wahrnehmung sowie Lern- und Erinnerungsfähigkeiten von Mäusen mit kognitiven Defiziten verbessert. (10) Zeichnet sich hier die Zukunft der Alzheimer-Prävention ab? „Wir sollten uns nicht zu früh freuen“, so dämpft Giovanni Frisoni vom Genfer Universitätsspital überzogene Erwartungen. „Zuerst müssen wir die Stämme des Cocktails identifizieren.“ (11) Die „Darm-Hirn-Achse“: Was steuert sie? Auf der Suche nach den vielerlei Faktoren und Prozessen, die entlang der „Darm-Hirn-Achse“ am Werk sind, stochern Forscher noch im Nebel. Doch allmählich lichtet er sich. An der Emory University in Atlanta, Georgia, stieß ein Team um Dr. Chun Chen in Neuronen von Alzheimer-Kranken auf einen womöglich mitentscheidenden Signalweg. (12) Ausgangspunkt ist ein Transkriptionsfaktor namens C/EBPβ – ein Protein, das an bestimmte DNA-Abschnitte bindet und reguliert, wie viel Boten-RNA – mRNA - davon hergestellt wird. Dadurch steuert es die Expression des Gens, so dass die kodierten Proteine in der richtigen Menge und zum richtigen Zeitpunkt produziert werden. Was bewirkt C/EBPβ? Es regt die Produktion von Asparagin-Endopeptidase (AEP) an – eines Enzyms, das alzheimer-typische Ablagerungen begünstigt. In Testreihen mit Mäusen bestätigte sich: Eine veränderte Darmflora unter Alzheimer geht einher mit einer verstärkten Aktivität des C/EBP/AEP-Signalwegs. Frida Fåk von der Lund-Universität vermutet des Rätsels Lösung im Immunsystem. „90 Prozent all seiner Abwehrzellen sitzen im Darm. Daher beeinflussen die Vorgänge dort immunologische Prozesse im ganzen Körper, auch im Gehirn.“ (13) Stoffwechselprodukte der Mikroben könnten auch dort Entzündungsprozesse in Gang setzen. Das italienisch-schweizerische Wissenschaftlerteam um Moira Marizzoni geht davon aus, dass das Darmmikrobiom über mehrere weitere Wege zum Alzheimer-Risiko beitragen kann, unter anderem indem es Blutzucker, Schlaf und tägliche Biorhythmen beeinflusst. Darüber hinaus könnte die Blut-Hirn-Schranke gestört sein: eine physiologische Barriere, die normalerweise verhindert, dass schädliche Stoffe und Krankheitserreger ins Gehirn gelangen. Dort eingedrungen, können sie eine neuroinflammatorische Reaktion auslösen. Tatsächlich hat sich inzwischen gezeigt, dass diese Schranke bei Alzheimer-Patienten durchlässiger ist als bei Gesunden. Aber wie kommt es dazu? Ein Mikrobiologe von der Keck School of Medicine in Los Angeles, Berislav Zlokovic, vermutet dahinter eine Störung der Perizyten: Bindegewebszellen, welche die Blutgefäße wie eine Isolierschicht umgeben. (14) Sie schirmen das Zentralnervensystem gegen toxische Einflüsse ab. Bei Mäusen, deren Perizytenfunktion wegen eines Gendefekts gestört ist, lagern sich vermehrt Beta-Amyloide ab – die Tiere werden dement. (15) Was vermittelt diese Störung? Die Blut-Hirn-Schranke entsteht relativ früh im Mutterleib - bei Mäusen normalerweise um den 17. Entwicklungstag. Danach konnte Viorica Braniste vom Karolinska Institut in Stockholm das Gehirn der Feten nicht mehr mit Raclopid markieren: einem Pharmakon, das im Rahmen von PET-Untersuchungen verwendet wird, um bestimmte Rezeptoren darzustellen. Wurden die Muttertiere allerdings während der Schwangerschaft keimfrei aufgezogen, ohne Bakterien im Darm, so drang Raclopid weiterhin in das Gehirn der Feten ein. Braniste sieht darin einen klaren Hinweis darauf, dass sich bei den Tieren keine intakte Blut-Hirn-Schranke ausgebildet hatte. Diese Störung hielt auch nach der Geburt der Tiere an, wenn der Wurf keimfrei gehalten wurde. (16) Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Störung vermutlich auf der verminderten Bildung der Proteine Occludin und Claudin 5 beruhte. Diese beiden Eiweiße sind normalerweise Bestandteil der sogenannten Tight Junctions (engl. für „dichte Verbindung“), die unter anderem Endothelzellen wie ein Gürtel zusammenhalten. Diese Verbindungen finden sich auch im Darm. Wie Braniste vermutet, bedarf es noch während der vorgeburtlichen Entwicklung eines Anreizes, um die Lücken im Darm und im Gehirn mit Tight Junctions zu schließen. Welche Signale aus dem Darm dabei eine Rolle spielen, ist noch unklar. Es könnte sich beispielsweise um kurzkettige Fettsäuren handeln, die von Darmbakterien produziert und über die Schleimhaut resorbiert werden. Sofern diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, werfen sie ein neues Licht darauf, welche fatalen Folgen der Einsatz von Antibiotika in der Schwangerschaft und der frühen Kindheit haben kann. Könnten sie zu einer bleibenden Störung der Blut-Hirn-Schranke beitragen, die dann die Entwicklung von neurologischen Erkrankungen begünstigt? „Vom vergessenen Organ zum Hauptakteur“ Jedenfalls „gibt es immer mehr Beweise dafür, dass das Darmmikrobiom mit der Alzheimer-Pathogenese interagiert, indem es die Neuroinflammation fördert und die Stoffwechselhomöostase stört", so die Forscher. "Die Darmmikrobiota hat sich von einem vergessenen Organ zu einem potenziellen Hauptakteur in der Alzheimer-Pathologie entwickelt.“ (17) In jedem fünften Fall geht Alzheimer mit einer anderen Form von Demenz einher: der vaskulären, bedingt durch Durchblutungsstörungen im Gehirn. Auch dahinter stecken Ernährungssünden, wie überhaupt ein ungesunder Lebensstil, der Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes und andere Risikofaktoren heraufbeschwört. (18) Dass sich Alzheimer buchstäblich wegessen lässt, legte kürzlich die aufsehenerregende Genesung einer 85-jährigen Engländerin nahe, Sylvia Hatzer. Eine radikale Ernährungsumstellung, zusammen mit regelmäßiger Bewegung und kognitiven Übungen, führte offenbar dazu, dass ihr Geist wieder erwachte. Die britische Alzheimer-Gesellschaft empfiehlt sie Mitbetroffenen inzwischen als Vorbild. (Siehe KLARTEXT „Demenz wegessen?“.) Mut macht zudem ein globaler Vergleich. Würden sich Senioren „altersbedingt“ Morbus Alzheimer einhandeln, dann in allen Altersklassen ungefähr gleich häufig – überall, mit zunehmender Lebenserwartung gleichmäßig ansteigend, ob in den USA, am Persischen Golf oder im Fernen Osten. Tatsächlich fallen aber enorme Unterschiede auf: Besonders hohe Zuwachsraten verzeichnen unter anderem die USA, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate; einen auffallend niedrigen Anstieg meldet hingegen Japan (19) – trotz einer der ältesten Bevölkerungen der Welt. Unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten erklären dies zumindest teilweise. Vielfältige Ursachen erfordern mehr als eine Gegenmaßnahme Kausal eingleisig zu denken, ist immer töricht, erst recht in der Medizin. Einerseits kann die Bedeutung der Bakteriengemeinschaft, welche die Oberfläche der Darmschleimhaut besiedelt, kaum überschätzt werden: nicht nur für unsere Verdauung, auch für unser Immunsystem, für den Alterungsprozess, für die Entstehung vieler Krankheiten, von Parkinson (20) über psychiatrische Leiden bis hin zu stressbedingtem Verhalten (21), zu Stimmungen und Gefühlen (22), zu Autismus (23) und Multipler Sklerose (24) Andererseits verengt der jüngste Hype um den Darm leicht den Blick; er verleitet dazu, allzuviel allein oder vor allem auf den Zustand unseres Verdauungstrakts zurückzuführen. Das wiederum verführt zu übereilten, einseitigen Maßnahmen. Trotz umfassendster Darmreinigung verbessert sich die Darmflora nicht nachhaltig, solange die Ernährung nicht langfristig und konsequent umgestellt wird. Manche schwören auf Probiotika (25) aus nützlichen Bakterienstämmen; auch sogenannte Präbiotika (26) mit Ballaststoffen, die Darmbakterien als Nahrung dienen, gelten als heißer Tipp. Doch beide wirken nur dann optimal (27), wenn das große Ganze der täglichen Nahrungszufuhr stimmt: möglichst wenig Industriezucker, Kochsalz und minderwertige Fette, keine hochverarbeiteten Fertiggerichte, keine Süss-, Konservierungsstoffe und Emulgatoren; weniger Fleisch, mehr Pflanzen, mehr Bio; mehr prä- und probiotische Lebensmittel; mehr Ballaststoffe (28); kleinere Mahlzeiten, möglichst frisch zubereitet, reichlich reines Wasser. Bloß anders zu essen, genügt ebensowenig. Keine Krankheit hat eine einzige Ursache, und das gilt auch für Alzheimer. Entsprechend viele Einflussgrößen gilt es bei Diagnostik, Prävention und Therapie zu berücksichtigen. Sie reichen von Entzündungen, Infektionen und Prionen über Risikofaktoren wie Vitaminmangel, Cholesterin, Traumata, Diabetes, Stress und Bluthochdruck bis hin zu Belastungen durch Rauchen, Alkohol und Arzneimittel; durch Pestizide und andere Umweltgifte, durch Chlor und Fluoride im Leitungswasser, durch Feinstaub, Aluminium und Schwermetalle. Couch-Potatoes neigen zu Demenz Schöngeist Jäger war Kopfarbeiter, passionierter Stubenhocker. Hätte ich frühzeitig geahnt, dass ihm Alzheimer droht, so hätte ich ihm reichlich Bewegung ans Herz legen können. Ich hätte ihm von Versuchen an der University of Colorado in Boulder erzählt, wo ältere Laborratten animiert wurden, regelmäßig das Laufrad zu benutzen. Die tägliche Fitnessübung aktivierte in ihrem Gehirn insbesondere jenen Bereich des Hippocampus, der an Lernprozessen und Gedächtnisfähigkeit beteiligt ist. (29) Arzneimittel können dement machen Auch in Hans Jägers Medikamentenschrank hätte ich einen Blick werfen sollen. Von etlichen Arzneimitteln ist längst bekannt, dass sie die geistige Leistungsfähigkeit einschränken; dauerhaft eingesetzt, erhöhen sie das Demenzrisiko erheblich. Dazu zählen Hormonpräparate, Cholesterinsenker (Statine) (30), Säureblocker – sogenannte Protonenpumpeninhibitoren (31) - und Antibiotika. Massenhaft Hirnschäden richten Psychopharmaka an, die in vielen Alten- und Pflegeheimen routinemäßig zum Einsatz kommen – skandalös häufig ohne medizinische Indikation, um unruhige, verwirrte Senioren ruhigzustellen. In einer 17-jährigen Studie erhöhten Antidepressiva das Demenzrisiko um rund 50 Prozent. (32) Insbesondere Benzodiazepine – altbewährte Angstdämpfer, Sedierer und Schlafförderer - verdoppelten es. (33) Altersdemenz ist großteils ein iatrogenes Phänomen – verursacht.von verschreibungsfreudigen Ärzten. Dem geistigen Verfall pharmazeutisch abzuhelfen, ist weiterhin ein uneingelöstes Versprechen. Bisher hat kein Antidementivum in der Praxis auch nur annähernd gehalten, was herstellerfinanzierte Studien hoffen ließen. Jüngstes Beispiel dafür ist das umstrittene Alzheimer-Medikament Aducanumab: Bei jährlichen Therapiekosten von 100.000 Dollar beschert es jedem dritten Patienten Hirnödeme, jedem fünften Hirnblutungen. (34) Auch erholsamer Schlaf schützt Darüber hinaus hätte ich ernster genommen, was Hans Jäger einmal beiläufig erwähnte: Eine Nachteule sei er, besonders produktiv weit nach Mitternacht – notgedrungen, weil er nachts kaum Schlaf finde. Dass Schlafstörungen das Gehirn belasten und Langzeitschäden anrichten könnten, legen Tierversuche von Neurologen der Washington University in St. Louis nahe. Unter andauerndem Schlafentzug lagerte sich in den Gehirnen von Labormäusen vermehrt Amyloid-Beta ab; zugleich entwickelten die Nager demenzähnliche Symptome. (35) Wie eng Schlafhygiene und Alzheimer zusammenhängen könnten (36), lässt auch eine 2019 im Fachblatt Neurology veröffentlichte Studie (37) ahnen: Nach einer einzigen schlaflosen Nacht steigt schon bei jungen Erwachsenen den Tau-Proteingehalt im Blutplasma um 17 % an. Frühere Untersuchungen hatten ergeben, dass Schlafentzug bei älteren Menschen zu einer Zunahme von Tau-Proteinen im Liquor führt, der Hirnflüssigkeit. (38) Bei 298 älteren Frauen im Schlaflabor zeigte sich: Wer von ihnen unter Schlafapnoe litt – mit mindestens 15 Atemunterbrechungen pro Schlafstunde -, zeigte eher Erinnerungslücken und andere leichte kognitive Störungen; die Wahrscheinlichkeit einer Demenz stieg. (39) Woran könnte das liegen? Fast ausschließlich während des Schlafs aktiv ist ein erst 2012 entdeckter Mikrokreislauf in Gehirn und Rückenmark: das glymphatische System. Es dient als Müllabfuhr des Zentralnervensystems: Überflüssiges und schädliches Material schwemmt es aus – täglich rund sieben Gramm potenziell giftiger Proteinabfälle und zellulären Schrotts, der Hirnfunktionen stören könnte. (40) Auch Beta-Amyloide und Tau-Proteine transportiert es aus dem Zellzwischenraum ab (41) – bei Mäusen während des Schlafs doppelt so schnell wie in Wachphasen, bei anderen Tieren sogar um 95 % mehr. (42) In höherem Alter funktioniert dieses Drainagesystem zunehmend schlechter. (43) Bei Alzheimer-Kranken, wie bei allen neurodegenerativen Erkrankungen, scheint es erheblich gestört. (44) Dass Schlafstörungen den Morbus Alzheimer nicht bloß begleiten, sondern seine Ausprägung mitbedingen und verstärken, legen Tierversuche am Baylor College of Medicine in Houston, Texas nahe. (45) Sie konzentrierten sich auf eine bestimmte Region im Zwischenhirn (Thalamus), dem Nucleus reticularis. Dessen Aufgabe könnte darin bestehen, das Gehirn nachts von äußeren Sinneseindrücken abzuschirmen, die einen erholsamen Schlaf verhindern. Bei Alzheimer-Mäusen ist er weniger aktiv. Wie eine ständige EEG-Ableitung belegte, geht dies mit Schlafstörungen einher: Die Tiere wachten zu 50 % häufiger auf als gesunde Artgenossen. Das glymphatische System wirkt hierbei mit. Im Schlaf erweitern sich die Zwischenräume zwischen den Nervenzellen zu einer „Drainage“, über die Ablagerungen und Stoffwechselprodukte in den Liquorraum abgeführt werden, einen flüssigkeitsgefüllten Hohlraum im Gehirn. Andererseits verhält es sich mit dem Schlafquantum ähnlich wie mit Arzneien: Mehr bringt nicht unbedingt mehr, eine Überdosis verwandelt Heilmittel in Gifte. Dies verdeutlichte eine dreijährige Studie des Universitätsklinikums 12 de Octubre in Madrid anhand von 3300 Männern und Frauen über 65 Jahren. Diejenigen Teilnehmer, die nachts und tagsüber mehr als neun Stunden schliefen, trugen ein doppelt so hohes Demenzrisiko wie jene, denen sieben Stunden Schlaf genügten. Im Studienzeitraum entwickelten über fünf Prozent der Langschläfer eine Demenz. Bei den 7-Stunden-Schläfern hingegen erkrankten weniger als zwei Prozent; bei den 8-Stunden-Schläfern waren letztlich vier Prozent betroffen. Studienleiter Julian Benito-Leon betrachtet Tagesschläfrigkeit bei Senioren, wie auch ein exzessiv gesteigertes Schlafbedürfnis, als ernstzunehmenden Frühindikator für eine Demenz. (46) Dabei könnten beide auf eine tieferliegende gemeinsame Ursache verweisen, etwa eine Depression oder Arzneimittelwirkungen. Schwerhörigkeit: ein unterschätztes Demenzrisiko Das menschliche Gehirn ist ein überaus stimulushungriges Organ. Bleibt es insofern andauernd unterversorgt, so verkümmert es. Diese Gefahr droht auch, wenn es an akustischen Reizen mangelt. Eine Metaanalyse aus Singapur, die Daten von über 137.000 Menschen auswertete, belegt einen auffälligen Zusammenhang: Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen, die ein Hörgerät trugen, hatten ein signifikant geringeres Risiko, ihre geistigen Fähigkeiten einzubüßen als diejenigen, deren Schwerhörigkeit unkorrigiert blieb. Das Verwenden von Hörhilfen verringerte die Wahrscheinlichkeit langfristiger kognitiver Beeinträchtigungen um 19 Prozent. Auch davon ahnte Hans Jäger offenbar nichts. Meine Gespräche mit ihm verliefen mühsam, weil ich Äußerungen häufig wiederholen musste, ehe er sie ganz verstand. Um mich möglichst deutlich zu hören, rückte er mir oft unangenehm nahe. Hörgeräte trug er nicht. Hätte er sich dazu entschlossen: Womöglich hätte diese Maßnahme, im Bund mit weiteren, dazu beigetragen, ein Fortschreiten der Alzeimer-Erkrankung zu verlangsamen, im Frühstadium vielleicht sogar zu stoppen, ja umzukehren. Alleinsein ist Gift fürs Gehirn Hans Jäger lebte zurückgezogen. Vermutlich war ich der einzige Nachbar, mit dem er öfters zusammensaß. Ansonsten hatte er nur seine Ehefrau und, wie gesagt, meine treulose, eher mäßig kommunikative Katze. Solche soziale Isolation erhöht das Demenzrisiko ebenfalls, wie im Jahr 2022 Forscher der chinesischen Fudan-Universität belegten. Unter 463.000 Studienteilnehmern, deren Gesundheit und Lebensumstände sie beobachteten, erkrankten während des zwölfjährigen Beobachtungszeitraums knapp 5000 an einer Demenz. Ein um 26 Prozent erhöhtes Risiko hierfür trugen Menschen, die angaben, sicb einsam zu fühlen. Zum selben Ergebnis war zwei Jahre zuvor eine US-amerikanische Langzeituntersuchung mit über 12.000 Frauen und Männern über 50 Jahren gekommen, die „Health and Retirement Study“. Dabei kommt es weniger auf die Häufigkeit sozialer Kontakte an als auf ihre Qualität: Ausgerechnet in der Gruppe mit den meisten sozialen Kontakten war Einsamkeit sogar mit einem um über 50 Prozent erhöhten Demenzrisiko verbunden. Kognitive Resilienz: geistig fit trotz Alzheimer Hätte es Hans Jäger nicht getröstet zu erfahren, dass Kopfarbeiter wie er das Fortschreiten der Demenz erheblich verzögern können? Wer ein Leben lang in Beruf und Freizeit intellektuell aktiv war, kann im Alter lange seine kognitiven Fähigkeiten erhalten, auch wenn sein Gehirn am Morbus Alzheimer erkrankt ist. Vor allem mit der berühmten „Nonnenstudie“ hätte ich meinem Nachbarn Mut machen können: einer Längsschnittuntersuchung, in die der Epidemiologe David Snowdon von der University of Kentucky in Lexington 678 amerikanischen Ordensschwestern im Alter zwischen 75 und 106 Jahren einbezog. Ab 1986 lief sie knapp 15 Jahre lang. Sowohl Laborwerte als auch psychologische Parameter und histologische Schnitte des Gehirns konnte der Forscher heranziehen. Über die Archive der Klöster verschaffte er sich Einblicke in die Lebensläufe der Teilnehmerinnen und deren geistige Aktivitäten vor Jahrzehnten. Viele waren an Alzheimer erkrankt. Umso mehr verblüft, was Snowdon feststellte: Der pathologische Gehirnbefund - multiple Plaques - war unabhängig von der wiederholt erhobenen intellektuellen Leistungsfähigkeit der betreffenden Personen zu Lebzeiten. Das bedeutet: Auch Personen, bei deren Sektion stark veränderte Gehirnbefunde auffielen, konnten bis zu ihrem Tod geistig anspruchsvolle Aufgaben ausführen. (47) US-Forscher führen dieses Phänomen neuerdings auf den Transkriptionsfaktor MEF 2 zurück: ein weiteres Protein, das an bestimmte DNA-Sequenzen bindet, um die Expression eines bestimmten Gens zu steuern. Dessen Bildung schützt Mäuse vor einer Demenz. Auch im Gehirn von geistig regen Menschen wird es im Alter vermehrt gebildet. (48) Bereits in epidemiologischen Untersuchungen wie der „Religious Orders Study“ (49) ab 1994 oder dem „Memory and Aging Project“ (50) ab 1979 war aufgefallen, dass Senioren seltener an einer Demenz litten, wenn sie als junge Menschen eine Hochschule besucht hatten, anschließend in intellektuell anspruchsvollen Berufen gearbeitet und ihr Gehirn im Ruhestand mit anregenden Tätigkeiten wie Lesen oder Kreuzworträtsel trainiert hatten. Worauf beruht diese „kognitive Resilienz“? Ein Team um Li-Huei Tsai vom Picower Institute for Learning and Memory in Cambridge/Massachusetts untersuchte bei Mäusen, wie sich eine geistig stimulierende Umgebung auf das Gehirn auswirkt. Während einige Tiere in leeren Käfigen aufgezogen wurden, stand anderen ein Laufrad und Spielzeug zur Verfügung, das alle paar Tage ausgetauscht wurde. Anschließende Untersuchungen der Gehirne ergaben, dass sich die anregenden Tätigkeiten auf das Epigenom ausgewirkt hatten. Es bestimmt, welche Gene in einer Zelle aktiviert werden können. Bei den stimulierten Mäusen zählte das Gen MEF2C dazu. MEF2, „Myocyte Enhancer Factor 2“, ist ein Transkriptionsfaktor, der nicht nur am embryonalen Wachstum des Herzmuskels mitwirkt, sondern auch an der Entwicklung und Funktion von Nervenzellen beteiligt ist. Die von MEF2 aktivierten Gene enthalten Baupläne für Ionenkanäle in der Zellmembran,welche die Erregbarkeit eines Neurons und damit die Nervensignale beeinflussen. In zwei Biobanken, die die Hirnzellen von Verstorbenen untersucht hatten, korrelierte die Aktivität von MEF2 und die von ihm gesteuerten Gene mit der kognitiven Resilienz vor dem Tod. Die Forscher erzeugten „Knockout-Mäuse“, indem sie einzelne Gene aus dem Erbgut eliminierten. Ohne MEF2 profitierten die Tiere nicht mehr von der anregenden Umgebung in ihrem Käfig: Genauso schnell wie die anderen Tiere erkrankten sie an einer Demenz. In einem weiteren Experiment wurden die Tiere genetisch so verändert, dass sie vermehrt das Tauprotein produzierten. Normalerweise entwickeln sie daraufhin rasch eine Demenz. Dies verhinderte jedoch ein zweiter Eingriff, der zu einer vermehrten Bildung von MEF2 führte. Daraus ergeben sich womöglich neue therapeutische Ansätze. Medikamente, welche die Aktivität von MEF2 steigern, könnten die Entwicklung einer Demenz auch bei Menschen ohne geistige Interessen hinausschieben. Fasten aktiviert Selbstreinigung – auch von Alzheimer-Plaques Die Art und Weise, wie der Körper biologischen Müll entsorgt, Aufbau und Vermehrung neuer, gesunder Zellen fördert, nennen Biologen „Autophagie“. Fasten aktiviert sie. (51) Dies ist ein Hauptgrund, warum es sich bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer als vorteilhaft erweist, in täglichen Intervallen von mindestens 12, besser 18 Stunden oder ein, zwei Wochen lang durchgehend auf Nahrungsaufnahme völlig zu verzichten. Dass Fasten den Darm von entzündungsfördernden Prozessen befreit, steht für den amerikanischen Arzt Dr. Steven R. Gundry fest. „Wir haben ein erstaunliches Reparatursystem, das beim Fasten seine Arbeit aufnimmt“, so führte Gundry in einem Interview 2017 aus. „Dabei ruht der Darm. Es ist wahrscheinlich eines der klügsten Dinge, die jeder von uns tun kann: die Darmwand zur Ruhe kommen lassen, keine Nährstoffe aufnehmen müssen, nicht mit dem ständigen Zustrom von Lektinen oder Toxinen umgehen müssen. Aber ich glaube, was noch wichtiger ist: Fasten gibt dem Körper die Chance, endlich eine ernsthafte Reinigung des Gehirns vorzunehmen. (…) Alzheimer und Parkinson haben eine gemeinsame Ursache: Das Gehirn verteidigt sich gegen eine wahrgenommene Bedrohung. Diese geht auch von LPS aus. Wenn Sie Ihren Darm zur Ruhe bringen und keine LPS in Ihr System eindringen lassen, und je länger Sie das aufrechterhalten können, desto besser geht es Ihnen.“ Geistigen Verfall rückgängig machen? Wie viel ein entsprechend komplexer Ansatz erreichen kann, beweist Dr. Dale Bredesen, Professor für molekulare und medizinische Pharmakologie an der University of California, Los Angeles School of Medicine, Autor von "The End of Alzheimer's: The First Program to Prevent and Reverse Cognitive Decline“. (Näheres über Bredesens Arbeit im KLARTEXT-Beitrag „Neurologe belegt: Alzheimer ist heilbar“.) Für einen gesunden Darm zu sorgen, ist nur einer von vielen Parametern, die sein ReCODE-Konzept berücksichtigt. Es erfasst und bewertet 150 Faktoren, von denen bekannt ist, dass sie zur Alzheimer-Krankheit beitragen. Auf diese Weise identifiziert er den jeweiligen Subtyp der Krankheit - oder eine Kombination von Subtypen. Auf dieser Grundlage erstellt er ein hochwirksames Behandlungsprotokoll. Es schließt Fasten ein, ebenso das Vermeiden von Gluten und verarbeiteten Lebensmitteln, die Reduzierung der Aufnahme von mehrfach ungesättigten Fettsäuren, auch PUFAs genannt, die in minderwertigen Speiseölen und Transfetten vorkommen. Eine ketogene Diät mit hohem Fettanteil, mäßigem Proteingehalt und wenig Kohlenhydraten hält Bredesen für ideal, um der Degeneration vorzubeugen, die zu Alzheimer führen kann, und sie trägt auch zu einem gesunden Darm bei. Darüber hinaus setzt Bredesen auf eine bessere Mundhygiene, Vitamin D und B12, Mikronährstoffe, einen ausbalancierten Hormonspiegel, Entgiftung, Meditation, mehr und besseren Schlaf. Insgesamt 36 Stoffwechselaspekte berücksichtigend, die einen gesunden Lebensstil kennzeichnen, erzielt Bredesen beeindruckende Behandlungsergebnisse. Von den ersten zehn Patienten, die sein ReCODE-Protokoll folgten, machten neun innerhalb von drei bis sechs Monaten deutliche Fortschritte. Vereinzelt ließ sich der kognitive Verfall nicht bloß stoppen oder zumindest verlangsamen, sondern sogar rückgängig machen. (52) Seitdem zeigten sich bei Hunderten weiterer Patienten ähnliche Resultate. In seinem aufsehenerregenden Buch The End of Alzheimer's: The First Program to Prevent and Reverse Cognitive Decline legte Bredesen 2017 für ein breites Publikum von Patienten, Pflegepersonal, Ärzten und Behandlungszentren ein Step-by-Step-Programm vor, mit dem sich Alzheimer verhindern und beikommen lässt. Die Quintessenz ist simpel: Dass unser Gehirn bis ins hohe Alter gesund bleibt, können wir ohne weiteres sicherstellen: durch eine umfassend gesunde Lebensweise. Und deshalb sollten wir stets protestieren, wenn man uns „das Alter“ als Risikofaktor für alles und jegliches weismachen will. Man stellt uns dabei eine rhetorische Falle, die uns davon abhalten soll, die Kontrolle über unsere eigene Gesundheit zu übernehmen. „Wir können unser Risiko nicht dadurch senken, dass wir unsere Geburtsurkunde ändern; darum ist das Alter kein veränderbarer Risikofaktor, sondern die unvermeidliche Folge des Weiterlebens“, gibt der dänische Medizinprofessor Peter C. Gøtzsche zu bedenken. „Wer darauf besteht, das Alter als Risikofaktor zu bezeichnen, sollte bedenken, dass die Geburt ebenfalls ein Risikofaktor ist, der irgendwann mit Sicherheit zum Tod führt.“ (53) Aber Vorbeugen ist geschäftsschädigend Einen Demenzkranken medizinisch zu versorgen und zu pflegen, belastet die Kostenträger zur Zeit mit durchschnittlich knapp 21.000 Euro pro Jahr; bei einer Leidensdauer von 1,5 bis 8,5 Jahren ab Diagnose bis zum letztem Atemzug – im Schnitt fünf Jahre - fallen demnach rund 100.000 Euro pro Betroffenem an. (Bei schwerer Alzheimer-Demenz sind es jährlich 45.000 Euro.) (54) 34 Milliarden Euro waren es allein in der Bundesrepublik bereits im Jahr 2016. (55) Dieser Betrag wird drastisch steigen – in Deutschland bis 2060 voraussichtlich auf 90 Milliarden Euro. (56) Denn in einer individualisierten Single-Gesellschaft werden Angehörige seltener, die pflegen können und möchten; immer früher, immer ausgiebiger müssen bezahlte Profis ran. Zugleich werden Diagnostik und Therapeutika immer aufwändiger und teurer. Um herauszufinden, welch fabelhaftes Geschäftsfeld diese Trends eröffnen, genügen Grundrechenarten. Falls sich die Zahl der Demenzkranken weltweit bis 2050 tatsächlich nahezu verdreifacht, auf rund 140 Millionen (57), dann werden sie für Umsätze weit jenseits der Billionengrenze sorgen. Aus ökonomischer Sicht sind Gesunde Konsumverweigerer, die sich erst noch aus potentiellen in tatsächliche Patienten verwandeln müssen. Wer an Alzheimer verdienen will – sei es mit Diagnostik, Medikamenten, Therapien oder Pflegeleistungen -, kann nicht tatenlos zusehen, wie sich Erkenntnisse und Erfolge wie Bredesens herumsprechen. Er muss verhindern, dass sie in die ärztliche Aus- und Fortbildung einfließen, Eingang in Behandlungsleitlinien von Fachgesellschaften finden, über Massenmedien ein allzu breites Publikum erreichen. Er muss alles in seiner Macht Stehende tun, damit möglichst viele Menschen weiterhin an die Mär vom „altersbedingten“ geistigen Abbau glauben, den man nur schicksalsergeben abwarten und tapfer ertragen kann, solange Big Pharma noch nicht mit innovativen Arzneimitteln und Impfungen aufwarten kann. Wem Geduld und Zuversicht fehlen, solcher Durchbrüche zu harren, dem bleibt anscheinend nur noch der Ausweg, keinen mehr zu sehen – wie dem unglückseligen Herrn Jäger. Fünfzehn Jahre nach seinem entsetzlichen Ende steht für mich fest: Dieser Mann könnte noch leben – bei ziemlich wachem Geist, den japanische Haikus weiterhin nicht überfordern würden. Kein unabwendbares Verhängnis war es, das seine finale Verzweiflungstat, mit einem Strick im Wald, erzwang. Sondern ein haarsträubendes Informationsdefizit, vorsätzlich erzeugt durch Profiteure massenhaften Leids, aufrechterhalten durch ihre Lobbyisten, begünstigt durch ein chronisch krankes Gesundheitswesen, das finanzielle Fehlanreize zuhauf setzt: Statt zuallererst jene zu honorieren, die Gesundheit bewahren und wiederherstellen, belohnt es jene am üppigsten, die den Verlust von Gesundheit aufwändig verwalten – evidenzbasiert, versteht sich. Die Parallelen zur Coronakrise liegen auf der Hand. Wie viele Abermillionen SARS-CoV-2-Infizierte könnten noch leben, wenn sie sich nicht hätten einreden lassen, sie seien einem „neuen“ Killervirus „schutzlos ausgeliefert“, solange es keine Impfstoffe gibt? Wie vielen wären schwere Verläufe, Hospitalisierung, Verlegung auf die Intensivstation, vorzeitige Friedhofsruhe erspart geblieben, wenn sie rechtzeitig erfahren hätten, worauf zensierte, als „Fake-News“-Verbreiter verunglimpfte Ärzte und Wissenschaftler von Pandemiebeginn an hinzuweisen versuchten: dass sich Covid-19 mittels längst bewährter, preiswerter Arzneien und Nahrungsergänzungsmittel hochwirksam verhindern und in jedem Stadium behandeln lässt? (Sie z.B. hier und hier.) Für Covid wie für Alzheimer, Krebs, Diabetes, Bluthochdruck, Herz-/Kreislaufleiden und alle übrigen Zivilisationskrankheiten gilt: An Gesunden gibt es nichts zu verdienen. An Toten ebensowenig. Interessant sind die dazwischen: die chronisch Kranken. Je mehr es davon gibt, je länger sie es bleiben, desto besser für die Umsätze der Gesundheitswirtschaft, für die Renditen ihrer Investoren, für die Honorare ihrer akademischen Mietmäuler, für Fördertöpfe im Drittmittelbordell. Heilungschancen entscheiden sich heutzutage weniger in medizinischen Forschungseinrichtungen als auf den Vorstandsetagen von Big Pharma, Blackrock und Vanguard. Zumindest Hans Jäger hat keine Gelegenheit mehr, sich darüber klar zu werden. (Harald Wiesendanger) * Pseudonym Anmerkungen 1 https://www.alzint.org/u/WAR-Launch-Slides-2021-4.10.pdf 2 DOI: 10.1016/S2468-2667(21)00249-8 3 Skript (Memento vom 21. September 2008 im Internet Archive) (PDF; 612 kB) der Sendung Quarks & Co zum Thema Alzheimer 4 https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/wissen/alzheimer-demenz/hintergrund 5 https://www.helmholtz.de/newsroom/artikel/wie-viele-nervenzellen-hat-das-gehirn/ 6 Moira Marizzoni u.a.: „Short-Chain Fatty Acids and Lipopolysaccharide as Mediators Between Gut Dysbiosis and Amyloid Pathology in Alzheimer's Disease“, Journal of Alzheimer Disease 78 (2) 2020, S. 683-697, doi: 10.3233/JAD-200306 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33074224/ 7 T. 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Harach u.a.: „Reduction of Abeta amyloid pathology in APPPS1 transgenic mice in the absence of gut microbiota“, Scientific Reports 7 (41802) 2017, https://www.nature.com/articles/srep41802 14 Berislav Zlkokovic u.a.: „Pericyte loss influences Alzheimer-like neurodegeneration in mice“, Nature Communications 4 (2932) 2013; doi: 10.1038/ncomms3932, https://www.nature.com/articles/ncomms3932 15 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/60954/Darmbakterien-errichten-Blut-Hirnschranke-in-utero 16 Viorica Braniste u.a.: „The gut microbiota influences blood-brain barrier permeability in mice“, Science Translational Medicine 6 (263) 2014, http://stm.sciencemag.org/content/6/263/263ra158, https://www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.3009759 17 Dong-Oh Seo u.a.: „Gut Microbiota: From the Forgotten Organ to a Potential Key Player in the Pathology of Alzheimer’s Disease“, The journals of gerontology. 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Zur offiziellen Nun Study-Homepage: https://web.archive.org/web/20131229163933/https://www.healthstudies.umn.edu/nunstudy/ 48 Scarlett J. Barker u.a.: „MEF2 is a key regulator of cognitive potential and confers resilience to neurodegeneration“, Science Translational Medicine 13 (618) 2021; DOI: 10.1126/scitranslmed.abd7695; https://picower.mit.edu/news/study-links-gene-cognitive-resilience-elderly 49 https://en.wikipedia.org/wiki/Religious_Orders_Study 50 https://knightadrc.wustl.edu/Volunteer/MAP.htm 51 Mehrdad Alirezaei u.a.: „Short-term fasting induces profound neuronal autophagy“, Autophagy 6 (6)2010, S. 702–710, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3106288/; Anne Trafton: „Fasting boosts stem cells’ regenerative capacity. A drug treatment that mimics fasting can also provide the same benefit, study finds“, MIT News, 3. Mai 2018, https://news.mit.edu/2018/fasting-boosts-stem-cells-regenerative-capacity-0503 52 Siehe Dale E. Bredesen: „Reversal of cognitive decline: A novel therapeutic program“, Aging 6 (9) 2014, 27. September, S. 707-717, https://www.aging-us.com/article/100690. 53 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Psychopharmaka Psychopharmaka und organisiertes Leugnen: Wie Ärzte und Pharmaindustrie die Gesundheit der Patienten vorsätzlich aufs Spiel setzen (2016), S. 211. 54 Für Deutschland s. F. G. Boess, M. Lieb, E. Schneider, T. M. Zimmermann, R. Dodel: Kosten der Alzheimer-Erkrankung in Deutschland – aktuelle Ergebnisse der GERAS-Beobachtungsstudie. In: Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement. Band 21, Nr. 5. Thieme, Oktober 2016, ISSN 1432-2625, S. 232–241, doi:10.1055/s-0042-100956; Michael Brendler, Susanne Gallus: Demenz: Gesellschaftliche Kosten können sich vervielfachen. 23. September 2019, abgerufen am 9. Juli 2021; für Österreich_: PA: „Demenz fordert uns alle, Effizienz und Fürsorge sind gefragt“.; für die Schweiz: Demenzkosten in der Schweiz. 55 https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-019-02985-z 56 https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-019-02985-z 57 https://www.alzint.org/u/WAR-Launch-Slides-2021-4.10.pdf
- Neun Tage im Übermorgen - Vom „Auswege“-Camp zur Klinik der Zukunft
Wer ein Therapiecamp der Stiftung Auswege besucht, begibt sich auf eine Zeitreise: Er betritt den Heilungsort der Zukunft – einen, an dem vielen chronisch Belasteten nicht bloß effektiver geholfen wird, sondern auch humaner und für alle Beteiligten befriedigender als in jenem „Krankenhaus“, das Patienten von der pharmalastigen, technophilen, profitorientierten Schulmedizin zugemutet wird. Es sind Nebensächlichkeiten, die den Blick darauf verstellen. Eine Klinik ist definitionsgemäß eine Einrichtung, in der durch ärztliche, therapeutische und pflegerische Hilfeleistung gesundheitliche Schäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden. In diesem Sinne betreiben wir mit unseren Camps längst eine Klinik, und zwar eine mobile: In bestimmten Kalenderwochen öffnen wir sie für eine kurze Weile, betreuen Patienten vollstationär, geben am Ende den Schlüssel ab, zahlen unseren Gastgebern für Miete und Verpflegung, frei von jeglichen weiteren Verpflichtungen – und öffnen sie Wochen, Monate später andernorts erneut, immer dann, wenn sich genügend qualifizierte Helfer aus unserem Therapeuten-Netzwerk Zeit für ehrenamtlichen Einsatz nehmen können. Angenommen, diese Camps fänden irgendwann an einem festen Standort statt, sie bekämen ein ständiges Zuhause, das ganzjährig geöffnet bliebe: Was würde ihnen dann noch zu einer vollwertigen Klinik fehlen? - In den „Auswege“-Camps findet bisher keine Diagnostik statt; das angebotene Therapiespektrum ist begrenzt; keinerlei Apparate sind vorhanden; es gibt kein Labor; Pflege, Rehabilitation, Nachsorge und Prävention fehlen. Doch all dies ließe sich eingliedern oder in enger Zusammenarbeit mit Praxen, Kliniken und Diensten in der näheren Umgebung sicherstellen. - Bisher reisen Therapeuten für jeweils acht bis neun Tage an, anschließend kehren sie zu ihren Wohnorten zurück. Ein ständiger Klinikbetrieb müsste ihnen Unterkunft und Praxisräume bieten oder Anreize schaffen, sich in unmittelbarer Nähe niederzulassen. - Eine Klinik verursacht Kosten, die unseren Camps erspart bleiben: für den Erwerb einer geeigneten Immobilie; für Umbau, Renovierung und Einrichtung zum vorgesehenen Zweck; für den laufenden Betrieb (Strom, Wasser, Heizung; Versicherungen, Steuern und Abgaben; Instandhaltung, Reparaturen); für Therapeuten, Pflegekräfte und sonstiges Personal - wie Sekretariat, Hausmeister, Gärtner, Reinigungskräfte, Küchenhelfer, Handwerker, Kinderbetreuer etc. -, von denen die meisten nicht länger ehrenamtlich mitwirken könnten, sondern auf ein ständiges Einkommen angewiesen wären. Würden die damit verbundenen organisatorischen, architektonischen und Finanzierungsprobleme gelöst, so könnten die „Auswege“-Camps ohne weiteres in eine Klinik übergehen, die herkömmlichen Krankenhäusern vieles voraus hat: 1. Es wäre eine ganzheitliche Klinik, die nicht nur manifeste Beschwerden und deren organischen Ursachen beseitigen, sondern „Gesundheit“ in einem umfassenden Sinn wiederherstellen will, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon 1946 in ihrer Verfassung weise definierte als einen „Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Nicht bloß ums Kurieren ginge es hier, sondern ums Heilen; nicht nur um Symptomfreiheit, sondern ums Heilsein. 2. Ein Gebäude, das Beklemmungen auslöst, behindert Heilungsprozesse. Die „Auswege“-Klinik wäre ein Ort zum Wohlfühlen: draußen eine idyllische Natur fernab von städtischem Lärm und Smog, von trister Nachbarschaft, von Asphalt- und Betonwüsten; drinnen frohe Farben, organische Formen, warme Materialien, natürliches Licht, angenehme Gerüche, reichlich Bilder an den Wänden, überall Pflanzen. Denn ein ästhetisches Ambiente ist heilsam. Anstelle der gefürchteten Krankenhauskost, die der Schweizer Politologe und Gesundheitsökonom Gerhard Kocher als „Form der aktiven Sterbehilfe“ verspottet (1), würde schmackhaftes, möglichst vollwertiges, frisch zubereitetes Essen in Bio-Qualität geboten. 3. Sie wäre ein Ort des Verstehens. Damit sich Patienten dafür öffnen, was ihnen geboten wird, und bereitwillig mitwirken, müssen sie sich als Teil eines sinnvollen Ganzen begreifen können. Warum, so fragt der frühere Berliner Ärztekammerpräsident (1987-1999) und „Auswege“-Beirat Ellis Huber, „beginnt der ohnehin lange Krankenhaustag mit Wecken und Waschen im Morgengrauen, kommt das Frühstück erst Stunden später, dafür das Abendbrot weit vor der Sandmännchenzeit? Warum hat der Professor bei der Visite so wenig Zeit, und warum erklärt der junge Assistenzarzt die bevorstehende Operation im Medizinerkauderwelsch?“ (2) Der Gesundheitsökonom Gerhard Kocher ätzt: „Frühstück um 6, Mittagessen um 11, Abendessen um 5 – wer zweifelt da noch, dass unsere Krankenhäuser der Zeit voraus sind?“ (3) In „Auswege“-Camps sind Abläufe und Regeln transparent, sie werden erläutert und begründet, vorab und während des Aufenthalts. Immer bleiben sie auf dem Prüfstand, dem kritischen Feedback von Patienten und Mitarbeitern ausgesetzt. Laufend werden sie überdacht und gegebenenfalls modifiziert. Therapien werden nicht bloß durchgeführt, sondern erklärt – einfach und anschaulich, ohne Fachchinesisch; nicht nur auf seitenlangen Infoblättern, die weniger der Aufklärung des Patienten dienen als der juristischen Absicherung der Klinik, in einer Detailfülle, für deren sorgfältiges, kritisches Nachvollziehen und Überprüfen der gesamte Klinikaufenthalt nicht ausreichen würde. 4. Die „Auswege“-Klinik wäre ein Menschenhaus, ein Genesungshaus, kein „Krankenhaus“: kein „Gebäude, wo Kranken im allgemeinen zwei Arten von Behandlung zuteil werden – medizinische vom Arzt und menschliche vom Personal“, wie der Satiriker Ambrose Bierce witzelte. Bei uns fühlen sich Hilfesuchende nicht auf eine Patientenrolle reduziert, in der es ausschließlich um ihre Symptome, ihre funktionellen Beeinträchtigungen und organischen Defekte geht; sie sehen sich als Individuen angenommen, mit ihrer einmaligen Geschichte, ihren besonderen Lebensumständen, ihren Wesensmerkmalen, ihren Bedürfnissen, Sorgen und Ängsten. Ihnen würde Respekt zuteil. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, garantiert Artikel 1 des Grundgesetzes, unseres Wissens ohne den Zusatz „es sei denn, er muss ins Krankenhaus“. Unsere Therapeuten kümmern sich nicht um „die Schrumpfniere von Zimmer 13“, sondern um eine ganze Person. 5. Sie wäre ein Ort des Vertrautseins. Die Behandler bleiben keine Fremden. In vorweg zugesandten Profiltexten, in einführenden Veranstaltungen stellen sich alle Therapeuten vor, schildern ihren Lebensweg, erläutern ihre Qualifikationen, ihre Praxisschwerpunkte und ihre Vorgehensweise, anschließend lassen sie sich darüber ausfragen. Bezugspersonen wechseln nicht unentwegt, wie im Schichtdienst üblicher Krankenhäuser, sondern bleiben Hilfesuchenden vom ersten bis zum letzten Tag erhalten. Man bekommt sie nicht nur bei offiziellen Terminen zu Gesicht; von früh bis spät bleiben sie Teil des Geschehens: beim morgendlichen Yoga, am Frühstückstisch, bei der gemeinsamen Wanderung, in der Warteschlange am Essensbuffet, in Plauderrunden während Pausen. 6. Vertrauen braucht Zeit. Verhindert und zerstört wird es bei Hilfesuchenden, die schon nach durchschnittlich 15 Sekunden von ihrem Arzt unterbrochen werden, wenn sie ihre Probleme und Leidensgeschichte schildern wollen. (4) Deshalb sind „Auswege“-Camps Orte einer „sprechenden“ und „hörenden“ Medizin, bei der keiner ungeduldig auf die Uhr schaut und einen Dialog brüsk abbricht, ehe er richtig begonnen hat. 7. Wie in Urlaubsparadiesen, so in „Auswege“-Camps: Wenn zuviele den Zauber eines Orts suchen, verflüchtigt er sich. Statt in riesigen Gebäuden, auf verschiedene Stockwerke und Stationen verteilt, zu Hunderten nebeneinanderher zu wohnen, werden in „Auswege“-Camps maximal zwei Dutzend Patienten und ihre Angehörigen zu moderierten Heilgruppen zusammengeführt. In solchen überschaubaren sozialen Einheiten finden sie ständig Ansprechpartner, die zuhören, unterhalten, trösten, auf andere Gedanken bringen, ermutigen können. Im Rahmen eines Klinikbetriebs derartige Kollektive zu bilden, stellt eine organisatorische Herausforderung dar, die durchaus zu bewältigen ist. 8. Sie böte verbindende Rituale, die den Übergang aus/die Rückkehr in den Alltag erleichtern, Sicherheit geben und das Miteinander fördern: von Begrüßungs- und Verabschiedungszeremoniellen über gemeinsames Singen, Vorlesen, Tanzen, Trommeln und Spielen im täglichen „Morgenkreis“, der sich ans Frühstück anschließt, und gemeinsames Meditieren am Ende der Mittagspause bis zur abendlichen Gesprächsrunde im Anschluss an eine Filmvorführung, einen Workshop, einen Vortrag. 9. Die „Auswege“-Klinik ließe Hilfesuchenden größtmögliche Freiheit. Eine stationäre Unterbringung erleben Patienten gewöhnlich als drastische Einschränkung ihrer Selbstbestimmung. Über ihre Köpfe hinweg wird festgelegt, wer was wann wo mit ihnen macht; ihnen wird vorgeschrieben, was sie zu tun und zu unterlassen haben. In unseren Camps hingegen können Therapien und Therapeuten selbst gewählt werden, auf der Grundlage eingehender Vorinformationen und erläuternder Gespräche, im Vertrauen auf den mündigen Bürger im Patienten. Termine werden nicht vom Behandler diktiert, sondern mit ihm vereinbart. Ihre freie Zeit zwischen den Terminen können Teilnehmer nach eigenem Gutdünken gestalten, sei es im Haus oder außerhalb. 10. Sie wäre ein systemischer Ort, an dem Hilfesuchende nicht von ihrem vertrauten sozialen Netz abgeschnitten und isoliert betreut werden, sondern gemeinsam mit Menschen, die ihnen am nächsten stehen. Nicht nur zu festgelegten Besuchszeiten, sondern ständig sind begleitende Lebensgefährten, Kinder, Eltern willkommen, sie wohnen mit im Haus, sie werden in Konsultationen, in Therapien und das gesamte übrige Campgeschehen einbezogen. Ihre Angaben haben Gewicht, ihre Mitwirkung ist unverzichtbar. Auch sie werden beraten und behandelt. 11. Sie wäre ein Ort liebevoller Zuwendung. Dort verrichten Helfer nicht bloß professionell unterkühlt, gnadenlos zweckorientiert, profitmaximierend und jederzeit leitlinienkonform irgendwelche Maßnahmen – sie schenken Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Fürsorge. „Das zukunftsorientierte Krankenhaus muss ein besonderes Maß an Gemeinschaftlichkeit, an Menschlichkeit und Nächstenliebe möglich machen“, betont Ellis Huber. (5) Pflege, das Versorgen und Betreuen Kranker und Behinderter, wäre kein minderwertiges, zweitrangiges Anhängsel der „eigentlichen“ Therapie, sondern deren integraler, unabdingbarer Bestandteil. Die menschliche Nähe, die dabei gegeben und gespürt wird, „vermittelt Geborgenheit und damit etwas, aus dem man wieder Kraft schöpfen kann“, wie einer der namhaftesten Fürsprecher einer „liebevollen Medizin“ betont, Dietrich Grönemeyer, Professor für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke. (6) Liebe heilt. 12. Sie wäre ein Ort der dreifachen Gemeinschaft: Hilfesuchende werden angeregt, aufeinander zuzugehen, sich füreinander zu öffnen, sich mit ihnen auszutauschen, Zeit miteinander zu verbringen, einander zuzuhören, Anteil am Schicksal des Anderen zu nehmen, mitzuhelfen. Die Therapeuten stehen nicht besserwissend und autoritär über ihnen, sondern als freundliche, wohlwollende Wegbegleiter an ihrer Seite. Untereinander bilden die Helfer ein hierarchiefreies, von gegenseitiger Wertschätzung getragenes Team. Gegenseitiges Duzen empfindet niemand als peinlich. 13. Sie wäre ein sinnstiftender Ort. Hier beginnen Hilfesuchende, in ihrer Erkrankung nicht mehr die Ungerechtigkeit eines blinden Schicksals walten zu sehen, mit dem sie verbittert hadern müssen – sondern als Chance zu innerem Wachstum zu begreifen, als Türöffner zu einem bewussteren Leben mit neuen Perspektiven. 14. Die „Auswege“-Klinik wäre ein Ort erfüllten Helfens. Über Standesgrenzen hinweg fühlen sich alle Teammitglieder gleichermaßen geachtet. Keiner ist wichtiger. Jeder findet Gehör mit Einschätzungen, Anregungen und Kritik. Unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen greifen gleichwertig ineinander. Entschieden wird gemeinsam. Autorität beruht auf Kompetenz, Erfahrung und besseren Argumenten, nicht auf Positionen und akademischen Meriten. Hier gibt es keine Ober- und Unterärzte, keine Chefs und Untergebene, keine Profis über Laien. Entsprechend entspannt, harmonisch, vertrauensvoll, kooperativ ist die Arbeitsatmosphäre. Niemand muss sich überfordert fühlen: Wer Auszeiten benötigt, sieht in seinen Terminlisten Pausen vor, zieht sich für mehrere Stunden oder einen ganzen Tag zurück. Helfer können sich voll und ganz ihrer eigentlichen Aufgabe widmen: dem Dienst an Patienten; von aufwändigen Dokumentationspflichten werden sie weitgehend entlastet, von Organisationsabläufen, Verwaltungs- und Abrechnungsroutinen vollständig. „Auswege“-Camps sind frei von alledem, woran Umfragen zufolge zwei Drittel aller Klinikärzte und die Hälfte aller Pflegekräfte leiden: zuviel Bürokratie, zuwenig Entscheidungsbefugnisse, Zeitmangel, Leistungsdruck, Überforderung, schlechtes Arbeitsklima, mangelnde Anerkennung. (7) Wann immer sich Ärzte unseren Helferteams anschlossen, genossen sie das „Auswege“-Kontrastprogramm zu ihrem üblichen Arbeitsalltag – wie die Fachärztin Dr. Gisa Gerstenberg im Herbst 2022. „Für mich war es eine bewegende und bereichernde Erfahrung! Besonders beeindruckte mich das Arbeitssetting: die Möglichkeit, so menschlich simpel zusammenzuleben, dass dabei in jedem Moment ein Austausch, Therapie, Heilung möglich wurde - und das Ganze in größtmöglicher Selbstbestimmung - Wer arbeitet mit wem/ wie lange/mit welchem Inhalt -, in Ruhe und Freiheit. Dies war für mich ein großartiges Geschenk. Und eine Reflektionsmöglichkeit auf all das, wodurch ich mich in unserem Gesundheitssystem eingeengt fühle. Sehr gerne möchte ich weiter in diese wunderbare und erfrischende Gemeinschaft von Menschen eintauchen.“ 15. Es wäre ein heiterer Ort. Humor hilft heilen – nicht durch Fließbandproduktion von Witzen, sondern als eine Form menschlichen Verstehens und Umgehens miteinander, die dem Ernst der Lage trotzt, ohne ihn kleinzureden. Helfern wie Hilfesuchenden tut Humor im Sinne der sprichwörtlichen Begabung gut, trotzdem lachen zu können: der Unzulänglichkeit der Welt, der Mitmenschen und seiner selbst, den alltäglichen Schwierigkeiten und Missgeschicken mit heiterer Gelassenheit zu begegnen. (8) 16. Um einen Ort der Barmherzigkeit zu schaffen, ist kein Zeitalter zu modern. Weiterhin, wie bei all unseren Camps seit 2007, bliebe die „Auswege“-Klinik eine karitative Einrichtung: Wie bisher würden arme Hilfesuchende kostenlos beraten und behandelt, notfalls sogar kostenlos untergebracht und verpflegt. Leisten könnten wir uns das, wenn uns ausreichend Spenden zufließen – und weiterhin allen Mitwirkenden die Erfüllung im Helfen wichtiger ist als Einkommensmaximierung. Welche Art von "Optimierung" benötigen Kliniken? Brauchen wir wirklich neuartige Krankenhäuser dieser Art? Immerhin äußern sich 83 Prozent aller stationär Versorgten im nachhinein zufrieden mit der dortigen ärztlichen Versorgung, 82 Prozent mit der pflegerischen Betreuung, 79 Prozent mit Organisation und Service; 82 Prozent würden ihr Krankenhaus weiterempfehlen: Das ergab die Zwischenauswertung einer seit November 2011 laufenden Mammutstudie, bei der bundesweit bislang mehr als 1,5 Millionen Krankenversicherte im Anschluss an einen Klinikaufenthalt befragt worden sind. (9) Aber wie aussagekräftig ist solcherlei Lob? Zufrieden ist, wessen Erwartungen erfüllt oder übertroffen werden. Weil ein Großteil der Patienten vor Krankenhausaufenthalten eher mit dem Schlimmsten rechnet, sind sie leicht zufriedenzustellen und angenehm zu überraschen. Die meisten erwarten von vornherein nicht mehr, als sie aus ihren bisherigen Kontakten mit dem konventionellen Medizinbetrieb zu erwarten gelernt haben: dass dort Defekte der Körpermaschine festgestellt und repariert werden. Wievielen ist klar, was Heilwerden bedeutet; dass es darauf ankommt; was auf dieses Ziel hin nötig wäre? Vom „Krankenhaus der Zukunft“ wird indes nicht nur innerhalb der Stiftung Auswege geträumt, sondern seit längerem allerorts in unserem Gesundheitswesen: allerdings nicht aus wiederentdecktem Humanismus und einer breiten Trendwende zur Ganzheitsmedizin, sondern wegen materieller Sachzwänge. Angesichts explodierender Kosten für Therapien, Techniken, Betrieb und Personal fühlen sich Kliniken im Überlebenskampf genötigt, von einem fiskalischen, aus Steuermitteln finanzierten System zum kaufmännischen überzugehen. Im Hinblick darauf gilt es Strukturen, Prozesse und Ergebnisse zu „optimieren“. Dazu verhelfen soll professionelles „Qualitätsmanagement“, das in unserem Gesundheitswesen neuerdings zum Zauberwort geworden ist. Damit Praxen und Kliniken eine bessere Medizin bieten, hat der Gesetzgeber Institute beauftragt, Ausschüsse eingerichtet, Richtlinien erlassen, Regelwerke verbindlich gemacht, das Sozialgesetzbuch angepasst, einen Zertifizierungszwang angedacht. Im Vordergrund stehen dabei Faktoren wie organisatorische Abläufe, technische Ausstattung, Aus- und Fortbildungsstand des Personals, Dokumentation, Infektions- und Hygiene“management“, Sicherheit, Brandschutz, Arbeitsschutz, Abrechnungsverhalten, Arzneimittelverbrauch, Anzahl durchgeführter Maßnahmen, Beschaffung von Equipment, Rationalisierungspotentiale, Rentabilität. Das „Krankenhaus der Zukunft“, wie es betriebswirtschaftlichen und technologischen „Optimierern“ vorschwebt, ist papierlos, erstellt, archiviert und versendet Befunde elektronisch, schafft Online-Diktiergeräte und mobile OP-Tische an, computerisiert Patientenaufnahme und Anamnese, Gebührenerfassung und die Verarbeitung von Versicherungsansprüchen, „plant“ im voraus sogar „die Anzahl notwendiger Arzt/Patienten-Kontakte“ (10) führt Labor- und Radiologieinformationssysteme ein, setzt auf „Mobile Computing“ und „Hospital Engineering“. Anschließend müssen nur noch der Patient sowie das Klinikpersonal „optimiert“ werden, damit sie derart zurechtgemanagte Qualität tatsächlich als hilfreich und heilsam empfinden, sich freudig einfügen und „Optimiertes“ als optimal zu würdigen wissen. In einem derart reformierten Gesundheitswesen ist der Therapeut umso besser, je effizienter er immer bessere Maschinen und Software einzusetzen versteht – und der Hilfesuchende umso besser, je anspruchsloser er anstelle echter Fürsorge eine oberflächliche Kundenorientiertheit goutiert, die ihn zum Konsumenten, seine Gesundheit zur Handelsware macht. Kein „alternativer“ Außenseiter, sondern der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, prangert diese Fehlentwicklungen an: „Die Ökonomisierung schreitet ungebrochen voran. Daraus wird ein gefährlicher Trend“, warnte er bei der Eröffnung des 116. Deutschen Ärztetags im Mai 2013 in Hannover. „Im Krankenhaus bekommt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einen höheren Stellenwert als die medizinische Leistungsfähigkeit, die Qualität der Patientenversorgung und die Humanität in der Daseinsvorsorge für die uns anvertrauten Patienten.“ (11) Eine unzweifelhaft optimale Goldgrube stellt diese Art von Gesundheitsreform für Unternehmensberater, IT-Dienstleister, Softwareentwickler und Zertifizierer dar, weshalb die von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag vom November 2013 ausgerufene „Qualitätsoffensive“ (12) in erster Linie von Akteuren vorangetrieben und dominiert wird, deren geschäftliche Interessen sie maximal befriedigt – von finanziellen Nutznießern der „Optimierungsrevolution“. (13) Unter ihrer opinion leadership haben sich Prioritäten grotesk verschoben. Von den Betroffenen ausgehend, hätte „Ergebnisqualität“ unbedingt Vorrang: Welche Art von Klinik macht Patienten am ehesten wieder gesund – und schafft jenen, die dabei helfen, möglichst befriedigende, erfüllende Arbeitsbedingungen? Einer humanen Krankenhausreform hätte eine Kulturreform vorauszugehen, die Veränderungen von den beteiligten Menschen her denkt und plant: Was ist zu tun, damit es ihnen besser geht? Vor allem daraufhin müssten Strukturen und Prozesse optimiert werden. Die Propagandisten der „Optimierung“ hingegen treibt die Frage um: Wie bringen wir Heilungsuchende und Heilende dazu, Strukturen und Prozesse optimal zu finden, die es aus betriebswirtschaftlicher und technologischer Sicht sind – sowie politische Entscheider und Klinikbetreiber dazu, hierfür teuer zu bezahlen? Dabei wäre, worauf es bei medizinischer Qualität eigentlich und zuallererst ankommt, mühelos feststellbar: durch Besuche in unseren Therapiecamps. „Qualitätsmanager“ sind dort nicht anzutreffen, reichlich Qualität hingegen durchaus. Und deshalb sind zwei Wochen „Auswege“-Campklinik pro Jahr im Grunde viel zu wenig. „Warum sollten solche Gesundheitscamps nicht irgendwann das ganze Jahr ablaufen?“, fragt uns Dr. Johannes Engesser, ein Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, nachdem er drei Tage lang ins Campgeschehen eintauchte – „immer mit verschiedenen Ärzten und Therapeuten, die ihr Potenzial gerade zur Verfügung stellen können, immer an anderen geeigneten Orten, immer mit anderen Patienten, so oft und so lange die das brauchen?“ (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 Gerhard Kocher: Vorsicht, Medizin! 1555 Aphorismen und Denkanstöße, Bern, 3. Aufl. 2006. 2 Ellis Huber: Liebe statt Valium – Konzepte für eine neue Gesundheitsreform, München 1993, aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe 1995, S. 91 f. 3 in Vorsicht, Medizin!, a.a.O. 4 Nach Journal of the American Medical Association 298/2007, S. 993. 5 In einem Interview mit Weleda Nachrichten 216/1999, S. 6 ff.: „Das Krankenhaus der Zukunft – Vom Überlebensraum zum Lebensraum“, dort S. 11. 6 In seinem Beitrag „Eine liebevolle Medizin ist keine Utopie“, in Arnulf Thiede/Heinz-Jochen Gassel (Hrsg.): Krankenhaus der Zukunft, Heidelberg 2006, S. 81-87, dort S. 82. 7 Katharina Janus/Volker E. Amelung u.a.: „German physicians ‚on strike’ - Shedding light on the roots of physician dissatisfaction“, Health Policy 82 (3) 2007, S. 357–365; Werner Schweidtmann: „Berufszufriedenheit und Identität bei Ärzten und Pflegepersonal im Krankenhaus“, Prävention 21 (4) 1998, S. 120-123; F. W. Schwartz/P. Angerer (Hrsg.): Arbeitsbedingungen und Befinden von Ärztinnen und Ärzten – Befunde und Interventionen, Köln 2010; Bettina Dilcher/Lutz Hammerschlag (Hrsg.): Klinikalltag und Arbeitszufriedenheit, 2. Aufl. Wiesbaden 2013. 8 So definiert der Duden: Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1989, S. 294. 9 Achim Kleinfeld/Marcel Weigand u.a.: „Patientenperspektiven als Element der Krankenhaus-Qualitätssicherung“, BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2014, S. 76–89. 10 Nach European Health Forum Gastein (EHFG), der führenden gesundheitspolitischen Konferenz für Experten und Entscheidungsträger in der Europäischen Union: „Das Krankenhaus der Zukunft: Betten zählen war gestern“, online hier. 11 Pressemitteilung der Bundesärztekammer: „116. Deutscher Ärztetag in Hannover eröffnet“, online hier. 12 Online nachzulesen hier. 13 Siehe hierzu beispielsweise das Krankenhaus-IT Journal 2/2007, S. 76 ff.: „Führungskräfte skizzieren das Krankenhaus der Zukunft“; www.behoerden-spiegel.de: „Krankenhaus der Zukunft“; www.hospital-engineering.org: „Hospital Engineering – Innovationspfade für das Krankenhaus der Zukunft“; Hospital Engineering Magazin 4/2014: „Koloss Krankenhaus – Strategien zur Steuerungsfähigkeit eines schwerfälligen Giganten“; Elektronik Praxis Nov. 2012: „Blue Hospital – Wie das Krankenhaus der Zukunft aussehen könnte“, online hier. 14 Veröffentlicht in Berliner Ärzte 9/2002, online nachzulesen hier. 15 Online nachzulesen hier.
- Das Märchen vom bösen Salz
Natriumarm essen: Gesundheitsbewussten kommt das selbstverständlich vor. Denn hoher täglicher Salzkonsum, so heißt es, erhöhe das Risiko für Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfall. Entsprechend strikt beraten Ärzte, entsprechend fad müssen sich Insassen von Krankenhäusern, Altenheimen, Pflegeeinrichtungen bekochen lassen. Dabei ist es viel leichter, zuwenig Salz zu sich zu nehmen als zuviel. Im übrigen: Salz ist nicht gleich Salz - die Qualität entscheidet. „Erst Salz, dann Sense“: So martialisch betitelte eine Ärztin kürzlich einen Beitrag im Infoportal doccheck – so als sei der Salzstreuer ein bevorzugtes Tatwerkzeug von Gevatter Tod. Schließlich sei ja „bekannt, dass ein zu hoher täglicher Salzkonsum ein erheblicher Risikofaktor für Bluthochdruck ist und damit auch für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere Schlafanfall“. Die Bangemache der Heidelberger Allgemeinmedizinerin folgt gängiger Lehrmeinung. Diese entsprang unkontrollierten Fallberichten aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Schier unausrottbar hält sie sich seither. In der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), täglich höchstens 6 Gramm Salz zu sich zu nehmen, spiegelt sie sich ebenso wie in der Obergrenze von 5 Gramm, für die sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausspricht. Dabei gibt die Studienlage längst Anlass, das schier unverrückbare Dogma zu hinterfragen. So ergab im Jahr 2018 eine systematische Übersicht über neun Studien, dass es keine handfesten, hochwertigen Belege gibt, die eindeutig für eine natriumarme Ernährung sprechen. Lehrbuchweisheit widerlegt – die SODIUM-HF-Studie Im April 2022 wurden die Ergebnisse der großangelegten SODIUM-HF-Studie publik. (1) An ihr beteiligt waren 806 erwachsene Patienten an 26 Standorten in sechs Ländern. Im Schnitt 66 Jahre alt, litten sie an chronischer Herzinsuffizienz im Stadium II bis III gemäß Einteilung der New York Heart Association (NYHA), d.h. mit leichten bis starken Einschränkungen der Belastbarkeit, aber noch mit Beschwerdefreiheit in Ruhe. Medikamentös waren sie allesamt leitlinienkonform versorgt. Aus diesen Probanden wurden zwei gleich große Gruppen gebildet: Die eine erhielt bloß allgemeine Ratschläge zur Natriumzufuhr in der Ernährung; die andere sollte eine strikt natriumarme Diät von höchstens 1500 mg täglich einhalten. Sechs Jahre lang beobachteten Kardiologen, wie sich diese Vorgaben gesundheitlich auswirkten. Im ersten Jahr nach Studienbeginn sank in der Diätgruppe die durchschnittliche Natriumaufnahme von 2.286 mg pro Tag auf 1.658 mg, in der Kontrollgruppe von 2.119 auf 2.073 mg. Wie wirkte sich diese Differenz bis zum Ende des sechsjährigen Beobachtungszeitraums aus? Bis dahin mussten sich 15 % der natriumarmen Gruppe und 17 % der Kontrollgruppe kardiovaskulär bedingt ins Krankenhaus einweisen lassen, suchten deswegen die Notaufnahme auf oder verstarben - ein Unterschied in puncto Inzidenz, der statistisch bedeutungslos war. Erstaunlicherweise lag die Gesamtsterblichkeit in der Diätgruppe mit 6 % sogar leicht höher als in der Kontrollgruppe mit 4 %. Und so schlossen die Autoren kurz und bündig: „Bei ambulanten Patienten mit Herzinsuffizienz führte eine diätetische Intervention, um die Natriumaufnahme zu reduzieren, nicht zu einer Verringerung der klinischen Ereignisse." Ein Manko der Studie könnte die Ergebnisse verfälscht haben: der Umstand, dass auch die Kontrollgruppe keine besonders hohen Salzmengen zu sich nahm. In dieser Hinsicht unterschieden sich die beiden Gruppen nur um 415 mg pro Tag. Ein erwachsener Deutscher konsumiert im Schnitt 8 bis 10 Gramm Salz pro Tag, ein US-Amerikaner 9,6 Gramm, so dass die Kontrollgruppe nicht wirklich eine Bevölkerung repräsentiert, die einem typisch westlichen (Fehl-)Ernährungsstil frönt. Ein weiterer Kritikpunkt lautet: Die einbezogenen Patienten könnten nicht krank genug gewesen sein, um von einer natriumarmen Ernährung zu profitieren. Womöglich hätte sich ein Nutzen ergeben, wenn auch Patienten mit schwerster Herzinsuffizienz – im Stadium IV – teilgenommen hätten. Diese Unzulänglichkeiten entwerten die Ergebnisse aber keineswegs. In seiner Analyse für das Infoportal Medscape stellt der Elektrophysiologe Dr. John Mandrola fest: "SODIUM-HF ist (…) hat gezeigt, dass bei einer typischen Herzinsuffizienz-Kohorte die Empfehlung einer strengeren natriumarmen Diät im Vergleich zu allgemeinen Ratschlägen keinen Unterschied bei den Behandlungsergebnissen ausmacht ... Mein Fazit ist, dass wir keine Zeit und Energie darauf verwenden müssen, die Patienten zu einer extrem natriumarmen Ernährung zu bewegen." Ein größeres Problem: Salzmangel In Wahrheit ist es ziemlich schwierig, sich schädliche Mengen an Natrium einzuverleiben – jedoch leicht, zuwenig davon zu sich zu nehmen. Zu den Erstsymptomen eines Natriummangels zählen allgemeine Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Kopf- und Muskelschmerzen oder Verwirrtheitszustände. Als Elektrolyt - eine Substanz, die Elektrizität leitet - trägt Natrium dazu bei, die Wassermenge in und um die Zellen zu regulieren, wie auch den Blutdruck. Wessen Salzgehalt zu niedrig ist, der kann chronisch dehydriert werden. Als kritisch gelten Natriumwerte unter 115 nmol/l. Dann kommt es zu einer verstärkten Wasserverschiebung ins Zellinnere, mit Funktionsstörungen verschiedener Organe – etwa einer Nierenschwäche – und der Gefahr einer Hirnschwellung, die zu Bewusstseinsstörungen bis hin zu Krämpfen und Koma führt. Ein Natriumwert von unter 110 mmol/l, der nicht schleunigst behoben wird, kann tödlich enden. Dass zuwenig Salz das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöht, belegte im Jahr 2014 die PURE-Studie mit rund 102.000 Teilnehmern aus 19 Ländern. Weitere Untersuchungen (2) bestätigten sie. Thomas Lüscher, Leiter des Zentrums für Molekulare Kardiologie an der Uniklinik Zürich, sieht den Grund darin, dass der Organismus bei sehr niedrigem Salzkonsum Hormone ausschüttet, die den Blutdruck hochtreiben. "Das ist ähnlich wie mit dem Blutzucker bei Diabetikern", erklärt er, "zuviel ist gefährlich, zuwenig aber auch." (3) Viele Patienten mit Bluthochdruck bekommen Diuretika verschrieben: harntreibende Mittel, welche die Situation noch verschlimmern. Auch den Kaffeekonsum berücksichtigen Empfehlungen eines niedrigen Salzgehalts nur selten - obwohl Kaffeetrinken die Salzspeicher schnell leert. Wer vier Tassen Kaffee an einem Tag trinkt, kann innerhalb von vier Stunden leicht mehr als 1 Teelöffel Salz mit dem Urin ausscheiden. Dennoch legen ihm Ärzte ans Herz, höchstens 1 Teelöffel Salz pro Tag zu sich zu nehmen. Das entspricht ungefähr 2.300 mg Natrium. Wer sich als Kaffeetrinker an diesen Ratschlag hält, kann innerhalb weniger Tage einen erheblichen Natriummangel erleiden, da sein Körper große Mengen an Salz verliert. Noch gefährdeter ist der Kaffeetrinker, wenn er intensiv Sport betreibt, regelmäßig die Sauna besucht oder körperlich anstrengende Tätigkeiten erledigt. Denn auch mit dem Schweiß scheidet sein Körper Natrium aus: 700 bis 2000 mg pro Liter. Wer also viel schwitzt, wird möglicherweise mehr Salz los, als er sich bei einer salzarmen Diät wieder zuführt. Einst lag die Salzzufuhr zehn Mal höher Auch historisch und interkulturell betrachtet ist die allgemeine Empfehlung, die Salzzufuhr einzuschränken, nicht sonderlich sinnvoll, wie der Kardiologe James DiNicolantonio in einem lesenswerten Buch darlegt. (4) Frühere Generationen haben zehn Mal mehr Salz konsumiert als wir Heutigen – denn jahrhundertelang diente es zur Konservierung von Lebensmitteln. Schätzungen zufolge verspeiste ein Schwede im 16. Jahrhundert durchschnittlich 100 Gramm Salz pro Tag. Wieso wundern sich bis heute so wenige Ärzte darüber, dass gehäufte Auftreten von Bluthochdruck im frühen 20. Jahrhundert mit einem deutlichen Rückgang des Salzkonsums einherging – dadurch bedingt, dass die Kühlung die Salzkonservierung ersetzte? Chinesen und Japaner, deren Lebenserwartung zu den stattlichsten der Welt gehört, konsumieren zugleich die höchsten Salzmengen: im Schnitt 13,4 bzw. 11,7 Gramm pro Tag. Die fixe Idee, die Salzaufnahme korreliere mit dem Blutdruck, gewann durch die 1999 veröffentlichte DASH-Studie (Dietary Approaches to Stop Hypertension) an Popularität. (5) Eine geringere Salzaufnahme war tatsächlich einer der Ernährungsansätze, die hierbei verfolgt werden, aber keineswegs der einzige. Die DASH-Diät schränkt auch den Konsum von zuckerhaltigen und verarbeiteten Lebensmitteln ein, die den Blutdruck weitaus stärker beeinflussen können als Salz. Am meisten Salz, 75 bis 90 %, nimmt der westliche Durchschnittsesser aus verarbeiteten Lebensmitteln auf: etwa aus Fertiggerichten wie Pizza und Pommes, Instantsuppen, Brot und Brötchen, Knabbergebäck, Fleisch und Wurstwaren. Eine derart einseitige Ernährung fördert Übergewicht – und dies ist der hauptverantwortliche Faktor bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Salzverzicht kann mehr schaden als nützen Laut DiNicolantonio kann unser Blutdruck tatsächlich sinken, wenn wir unseren Salzkonsum reduzieren. Leider verschlechtert sich dabei das Verhältnis von Gesamtcholesterin zum „guten“, schützenden High-Density-Lipoprotein (HDL), das ein viel zuverlässigerer Prädiktor für Herzkrankheiten ist als das „böse“, Gefäßwände schädigende Low-Density-Lipoprotein (LDL). Auch Triglycerid- und Insulinspiegel sind erhöht. Somit steigt das Risiko für Herzkrankheiten eher, als dass es sinkt, auch wenn die Blutdruckwerte besser erscheinen. Schlimmer noch: Salzmangel erhöht auch das Risiko, eine Insulinresistenz zu entwickeln, da der Körper Salz unter anderem durch einen Anstieg des Insulinspiegels konserviert. Ein höherer Insulinspiegel hilft den Nieren, mehr Salz zurückzuhalten. Insulinresistenz wiederum ist ein Merkmal nicht nur von Herzkrankheiten, sondern der meisten chronischen Erkrankungen. Da also der Ratschlag, sich salzarm zu ernähren, das gesamte Krankheitsbild nicht berücksichtigt, kann er am Ende mehr schaden als nützen. Unser Salzstatus wirkt sich auch unmittelbar auf unseren Magnesium- und Kalziumspiegel aus. Wenn wir nicht genügend Salz zu uns nehmen, so beginnt unser Körper nicht nur, Natrium aus den Knochen zu ziehen - er entzieht den Knochen auch Magnesium und Kalzium, um einen normalen Natriumspiegel aufrechtzuerhalten. Zum selben Zweck verringert er die über den Schweiß verlorene Natriummenge und scheidet stattdessen Magnesium und Kalzium aus. Außerdem erhöht ein niedriger Natriumspiegel das Aldosteron, ein natriumbindendes Hormon, das ebenfalls Magnesium reduziert, indem es dafür sorgt, dass das lebenswichtige Mineral über den Urin ausgeschieden wird. Eine rigoros natriumarme Ernährung zählt demnach zum Übelsten, was wir unserer Gesundheit antun können - insbesondere dem Zustand unserer Knochen und unseres Herzens. Hören wir besser auf unseren Körper als auf fragwürdige Experten Kurzum: Es gibt keinen schwerwiegenden Grund, sich über zu viel Salz in der Ernährung Sorgen zu machen. Wie eine Studie aus dem Jahr 2017 bestätigt hat (6), behält ein gesunder Körper stets ein relativ konstantes Natriumgleichgewicht bei , erstaunlich unabhängig davon, wie viel er aufnimmt; einen Überschuss scheidet er einfach über die Nieren aus. Laut DiNicolantonio kann eine Person mit intakten Nieren mindestens 86 Gramm Salz pro Tag zu sich nehmen. Außerdem verfügt unser Organismus über einen eingebauten "Salzthermostaten", der uns die benötigte Menge anzeigt, indem er unser Verlangen nach Salzigem reguliert. Wer zuviel Salz zu sich genommen hat, wird durstig und trinkt Wasser; dabei verdünnt er sein Blut ausreichend, um die richtige Natriumkonzentration aufrechtzuerhalten. Lernen wir also, auf unseren Körper zu hören. Und denken wir daran, dass wir bei starkem Schwitzen und reichlich Kaffeegenuss automatisch mehr Salz benötigen als sonst. Manche Erkrankungen können den Natriumverlust erhöhen - oder verhindern, dass der Körper das Salz gut aufnimmt. Dazu zählen entzündliche Darmerkrankungen, Schlafapnoe, Nebennierenschwäche, Nierenerkrankungen, Hypothyreose und Zöliakie. Wer unter einer dieser Krankheiten leidet, benötigt möglicherweise etwas mehr Salz bei seiner Ernährung, um dies auszugleichen. Auch gibt es einige salzempfindliche Bevölkerungsgruppen, die ihre Salzaufnahme auf 2.300 mg pro Tag beschränken müssen. Dazu gehören Menschen mit endokrinen Störungen, hohem Aldosteronspiegel, dem Cushing-Syndrom, erhöhtem Cortisol sowie dem Liddle-Syndrom, einer seltenen Erkrankung, von der einer von 1 Million Menschen betroffen ist; bei ihr wird zuviel Salz zurückhalten. Viel wichtiger: das Natrium-Kalium-Verhältnis Während Salz als Ursache für Bluthochdruck und Herzkrankheiten weiterhin verteufelt wird, zeigen Forschungsergebnisse: Der wahre Schlüssel zur Normalisierung des Blutdrucks ist das Verhältnis von Natrium und Kalium - und nicht die Natriumzufuhr allein. (7) Wie Salz, so ist auch Kalium ein Elektrolyt. Doch während sich das Kalium größtenteils in den Zellen befindet, schwimmt das Natrium überwiegend außerhalb. Kalium sorgt dafür, dass sich unsere Arterienwände entspannen, unsere Muskeln nicht verkrampfen und unser Blutdruck sinkt. (8) Als Faustregel gilt: Wir sollten fünf Mal mehr Kalium als Natrium zu uns nehmen. Wer eine westliche Standardernährung mit verarbeiteten Lebensmitteln bevorzugt, der verleibt sich wahrscheinlich doppelt so viel Natrium wie Kalium ein. Wie fatal sich eine solche Fehlernährung auswirken kann, führen Forschungsergebnisse vor Augen, auf welche die eingangs zitierte doccheck-Autorin ihren Sensenhorror stützt. Sie verweist auf eine Anfang August 2022 im European Heart Journal veröffentlichte Studie, in die Gesundheitsdaten von 501.379 Personen eingingen. Zu Beginn gaben die Probanden unter anderem an,ob und wie häufig sie fertige Speisen bei Tisch nachsalzen – ein ungefähres Maß dafür, wie groß die individuelle Vorliebe für salzig schmeckende Lebensmittel und die gewöhnliche Salzzufuhr ist. Mehr als die Hälfte, 277.931, gan zu Protokoll, nie oder nur sehr selten nachzusalzen; weitere 140.618 Personen taten dies nach eigenen Angaben „manchmal“, 58.399 „für gewöhnlich“, 24.431 „immer“. Am Ende des neunjährigen Studienzeitraums war es unter den Teilnehmern zu 18.474 Todesfällen gekommen. Bei gelegentlichen Nachsalzern ergab sich eine mäßig über dem Durchschnitt liegende Mortalität, bei ständigen ein um enorme 28 % erhöhtes Sterberisiko. Ein entscheidender Aspekt dieser Studie: Der regelmäßige Verzehr von Obst und Gemüse machte den signifikanten statistischen Zusammenhang zwischen Nachsalzen und Mortalität zunichte. Wieso? Weil Obst und Gemüse reichlich Kalium liefern. (Besonders ergiebig sind Bananen und Aprikosen, wie auch Karotten, Avovcado, Tomaten, Kohlrabi, Kartoffeln, Rosenkohl, Paprika, Champignons. Auch Nüsse, Zartbitterschokolade und bestimmte Mehlsorten punkten als Kaliumlieferanten.) Daraus folgt: Der ausgiebige Griff zum Salzstreuer schadet in erster Linie jenen, die keinen Wert auf gesunde, vollwertige Ernährung legen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich jegliche Obergrenze für die tägliche Salzaufnahme erübrigt. Irgendwann ist viel zuviel. Die INTERMAP-Studie (9) von 2018, die 4680 Männer und Frauen zwischen 40 und 59 Jahren aus China, Japan, Großbritannien und den USA einbezog, kam zu dem Ergebnis, dass nicht einmal eine gesunde Ernährung mit viel Obst und Gemüse den schädlichen blutdruckerhöhenden Effekt allzu eifrigen Salzkonsums kompensieren kann. Auch gibt es Hinweise, dass zuviel Salz Entzündungen und Autoimmunerkrankungen fördert, indem es der Darmflora schadet. Schon nach zwei Wochen mit täglich 12 Gramm Salz waren in der Darmflora von Studienteilnehmern keine Laktobakterien mehr auffindbar. Von einer vagen Assoziation bis zu einem eindeutigen ursächlichen Zusammenhang ist es freilich ein weiter Weg. Bis dahin sollten sich Ärzte davor hüten, die grundsätzlich winzigen Effekte einzelner Nahrungsbestandteile auf unsere Gesundheit überzuinterpretieren und zu Mythen aufzublasen. Wie stets im Leben gilt es, auch beim Salz einen Mittelweg zu finden: zwischen Verteufelung und Exzess. Dabei helfen kann es, sich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, die moderner, vermeintlich wissenschaftlich felsenfest abgesegneter Ernährungsforschung seit eh und je anhaftet. Welche Essensvorliebe hat sie nicht schon als ungesund, ja lebensbedrohlich entlarvt? Wie oft hat sie unsinnigen, oft sogar kontraproduktiven Verzicht auf guten Geschmack gepredigt? Zumeist bloß für begrenzte Zeit – bis sich irgendwann zeigte, dass zum Beispiel Eier keineswegs den Cholesterinspiegel bedenklich ankurbeln und damit Arterienverkalkung und Herz-Kreislauferkrankungen hervorrufen; dass vegane Ernährung nicht zwangsläufig Mangelernährung ist; dass Fett nicht fett machen muss; dass weder fünf Mahlzeiten ideal noch Süßstoffe eine gute Alternative zu Zucker sind. Viele Ratschläge zur „richtigen“ Ernährungsweise „fallen unter die Rubrik Religionsfreiheit“, meint Prof. Volker Schusdziara von der TU München. „Das sind Glaubensbekenntnisse, die jeder haben darf. Aber sie sind nicht medizinisch und naturwissenschaftlich untermauert." Leider verhält es sich mit Askese-Geboten so ähnlich wie mit Gerüchten und genetisch modifizierten Organismen: Einmal in die Welt gesetzt, sind sie kaum leichter wieder einzufangen als Aladdins Geist aus der Flasche. Im Streit ums Salz herrscht auf beiden Seiten ein Tunnelblick vor. Man dürfe sich nicht bloß auf dieses eine Gesundheitsdetail konzentrieren, mahnt Joachim Hoyer, Nephrologe an der Uni-Klinik Marburg. "Viel besser belegt ist, dass Übergewicht, Rauchen oder zu wenig körperliche Bewegung das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen. Statt sich mühsam das Salzen zu verkneifen, sollte man sich vielleicht lieber öfter an der frischen Luft bewegen." (10) Salz ist nicht gleich Salz Im übrigen: Salz ist nicht gleich Salz - die Qualität entscheidet. Um seine physiologischen Vorzüge zu nutzen, sollten wir darauf achten, dass es nicht raffiniert und möglichst wenig verarbeitet ist. Das spricht beispielsweise für das rosagetönte Himalaya-Salz; es ist reich an natürlich vorkommenden Spurenelementen, die für gesunde Knochen, den Flüssigkeitshaushalt und die allgemeine Gesundheit benötigt werden. Eine weitere gute Wahl sind andere rohe Steinsalze, naturbelassene Meersalze, Kristallsalze oder das erlesene Fleur de Sel. Von billigem, industriell hergestelltem Kochsalz hingegen sollten wir aus mehreren Gründen die Finger lassen. Zunächst einmal enthält natürliches Salz in der Regel, neben 84 % Natriumchlorid, auch 16 % natürlich vorkommende Mineralstoffe wie Kalium und Magnesium sowie Spurenelemente, darunter Selen, Zink, Silizium, Phosphor und Vanadium. Verarbeitetes Speisesalz hingegen besteht zu über 97 % aus Natriumchlorid; den Rest bilden künstlich hergestellte Chemikalien wie Feuchtigkeitsabsorber und Rieselhilfen. In Kochsalz für Wurstwaren steckt darüber hinaus krebsförderndes Natriumnitrit. Auch eine geringe Menge Jod kann zugesetzt sein – obwohl wir unseren Bedarf an diesem Spurenelement auf gesündere Weise anderweitig decken könnten. Zudem ist rund 90 % des Speisesalzes mit Mikroplastik verunreinigt. Hinzu kommt, dass die industrielle Verarbeitung auch die chemische Struktur des Salzes radikal verändert. Langen Textes kurzer Sinn: Für eine optimale Gesundheit benötigen wir unbedingt Salz - aber nicht jedes. Was unser Körper braucht, ist natürliches, unverarbeitetes Salz, ohne Zusatz von Chemikalien oder Plastik. Bis der Sensenmann auch den letzten Salzverzichtsdogmatiker heimgesucht hat, dürfte es allerdings noch ein Weilchen dauern. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) Justin A. Ezekovitz u.a..: Reduction of dietary sodium to less than 100 mmol in heart failure (SODIUM-HF): an international, open-label, randomised, controlled trial. Lancet, 2.4.2022. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)00359-5) (2) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3041211/; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3064042/ (3) Zit. nach https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/ernaehrung-schadet-zu-viel-salz-im-essen-wirklich-a-1020274.html (4) James DiNicolantonio: The Salt Fix: Why the Experts Got It All Wrong - and How Eating More Might Save Your Life, New York 2017 (5) Cardiology Review September-October 1999; 7(5): 284-288, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11208239/. Weitere Studien, die für eine Reduzierung der Salzzufuhr zur Vorbeugung von Bluthochdruck zu sprechen scheinen, werden hier zusammengefasst. (6) Journal of Clinical Investigation 2017;127(5):1944–1959, https://doi.org/10.1172/JCI88532; New York Times May 8, 2017, https://www.nytimes.com/2017/05/08/health/salt-health-effects.html (7) Advances in Nutrition, 2014; 5:712, http://advances.nutrition.org/content/5/6/712.full (8) Harvard Health Publications, January 23, 2017, http://www.health.harvard.edu/heart-health/potassium-lowers-blood-pressure; Journal of the American Medical Association 1997;277(20):1624, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9168293; Journal of Human Hypertension 2003; 17(7):471, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/12821954; British Medical Journal 2013; 346:f1378, http://www.bmj.com/content/346/bmj.f1378 (9) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29507099/, zusammengefasst hier (10) Zit. nach https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/ernaehrung-schadet-zu-viel-salz-im-essen-wirklich-a-1020274.html Quelle Galileo-Grafik: https://cms-api.galileo.tv/app/uploads/2020/05/grafik_salz.png
- Mikroplastik in uns: eine Zeitbombe
Kunststoff ist allgegenwärtig, schier unverwüstlich – und brandgefährlich, wenn er in unseren Körper gerät. Während die Industrie abwiegelt, Gesundheitsbehörden und Gesetzgeber zaudern, schlagen Wissenschaftler längst Alarm: Winzige Fasern und Bruchstücke aus Plastik, die wir ahnungslos über Trinkwasser und Nahrungsmittel, Atemluft und Haut aufnehmen, können chronisch krank machen. Mitten im Weihnachtsgeschäft 2017 musste der Schokoladenhersteller Feodora seine beliebten „Anthon Berg“-Pralinen zurückrufen: Es sei nicht auszuschließen, dass in die Packungen Kunststoffteile gelangt sind, so teilte das Unternehmen mit. Man solle die Produkte keinesfalls verzehren. Betroffene Kunden könnten sie zurückgeben. Den Preis erhielten sie erstattet, auch ohne Kassenbon. Die Logik dahinter ist ulkig. Konsequent weitergedacht, triebe sie nämlich unsere gesamte Lebensmittelindustrie umgehend in den Ruin. Denn Plastik ist längst überall: nicht nur in Gewässern, im Regen, in der Atmosphäre, sondern auch im Trinkwasser, in der Nahrungskette, in unserem Essen, und damit auch in unserem Körper. Es ist der Preis, den wir mit Verzögerung für den gedankenlosen Turbo-Eintritt ins bequeme Plastik-Zeitalter zahlen. Die Schleusen hatte ihm der belgische Chemiker Leo H. Bakeland geöffnet, als er zwischen 1905 und 1907 Bakelit entwickelte, den ersten vollsynthetischen Stoff aus Erdöl. Mitte der fünfziger Jahre produzierte unser Planet rund 1,5 Millionen Tonnen Kunststoff pro Jahr – inzwischen liegen wir bei ungefähr 280 Millionen Tonnen; ein Viertel davon stammt aus Europa, mit Deutschland als Exportprimus. Mittlerweile würde die Produktionsmenge ausreichen, um den gesamten Erdball sechsmal einzupacken. 8,3 Milliarden Tonnen Plastik wurden bisher in die Welt gesetzt – das entspricht dem Gewicht von 822.000 Eiffeltürmen, 25.000 Empire State Buildings, 80 Millionen Blauwalen oder einer Milliarde Elefanten, wie US-Forscher vorrechneten. Nur ein Zehntel wird wiederverwertet, zwölf Prozent verbrannt; der überwältigende Rest treibt sich in unserer Umwelt oder auf Deponien herum. Recycling schiebt zumeist bloß den Zeitpunkt hinaus, an dem das Material letztlich zu Abfall wird. Und so wird der Plastikmüllberg bis zur Jahrhundertmitte auf zwölf Milliarden Tonnen anwachsen, falls niemand gegensteuert. Innehalten, bremsen, umkehren: Zumindest den Herstellern steht der Sinn danach zuallerletzt. Denn Plastik ist Big Business: 800 Milliarden Euro Umsatz im Jahr macht die Kunststoff erzeugende und verarbeitende Industrie damit – rund 60 Milliarden allein in Deutschland -, wofür sie vier Prozent der Erdölvorkommen verbraucht. Kaum ein Material ist tückischer, kaum eines hartnäckiger. Denn Plastik ist so gut wie unzerstörbar. Es baut sich nicht biologisch ab, sondern zerbricht allenfalls in immer kleinere Teile. Inzwischen ist Mikromüll überall zu finden – um uns, in uns. Dass sich kaum jemand darüber aufregt, liegt daran, dass die Teile winzig sind, für das bloße Auge unsichtbar und erst unter dem Mikroskop aufzuspüren. Manche sind nur ein paar Nanometer groß – Tausendstel eines Tausendstels eines Millimeters. Die Quellen der Verseuchung Wie gelangt das Zeug in unsere Lebenswelt, in unseren Organismus? Die Quellen sind vielfältig. Fachleute unterscheiden „sekundäres“ Mikroplastik, das aus Zerfall und Abbau entsteht, von „primärem“, das von vornherein so winzig produziert wird. Bis zu zehn Millionen Tonnen Kunststoffe, so schätzt das Umweltbundesamt, geraten jedes Jahr in die Meere – von PET-Flaschen über Einkaufstüten bis hin zu Strohhalmen, den wohl überflüssigsten Konsummitteln; Tag für Tag kommt weltweit über eine Milliarde dieser eher kindischen Ansaughilfen zum Einsatz. In allen Ozeanen wabern inzwischen kilometergroße Abfallstrudel, die vornehmlich aus Plastikmüll bestehen. Im Pazifik zwischen Japan und Nordamerika treibt der „Great Garbage Patch“, eine gigantische Müllhalde voller Kunststoffrückstände, 2500 km im Durchmesser, bis zu 200 Metern tief reichend. Sogar rund um den Nordpol hat sich die Müllmenge binnen eines Jahrzehnts vervierfacht. Wellen und Wind zerschlagen und zerreiben die größeren Teile. Von Kruste umhüllt, sinken sie tiefer („Biofouling“). Oder die Meeresströmung spült sie an die Küsten. Erst im Laufe von Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten „nanofragmentieren“ sie, zerfallen in mikroskopisch kleine Bruchstücke; 400 bis tausend Jahre dauert es, ehe sie sich weitestgehend zersetzt haben. Die Teile, in die ein einziger Ein-Liter-Plastikbehälter zerbrechen kann, ergäben aneinandergereiht eine Strecke von 1,6 Kilometern. In jedem Quadratkilometer schwimmen mittlerweile zehntausende Teile Kunststoffmüll; ließe er sich vollständig herausholen, so würde er 38.500 Lastwagen füllen. Bis 2050 wird er sich verzehnfachen, wenn es ungebremst so weitergeht. Fische, Krebse, Muscheln und andere Meeresbewohner fressen die Minipartikel. Landen sie auf unserem Teller, essen wir unweigerlich mit. Chemikalienaustritte aus Plastikbesteck, Trinkbechern und -behältern, Gefrierbeuteln, Frischhaltefolien, Mikrowellengeschirr, Schüsseln, Dosen, Kanistern und einer Fülle weiterer Gebrauchsgegenstände. Allein 320.000 Einweg-Becher, die innen eine dünne Plastikschicht überzieht, verbrauchen Deutsche pro Stunde. Wäsche. Rund 36 Milliarden Mal pro Jahr starten in Europa Waschmaschinen. Eine Fleece-Jacke – sinnigerweise oft aus recycelten Plastikflaschen hergestellt - verliert während eines einzigen Waschgangs im Schnitt 1900 Synthetikfasern, wie die Umweltorganisation WWF schätzt; das 2014 ins Leben gerufene EU-gefördete Projekt MERMAIDS Life+ geht sogar von einer Million freigesetzter Mikroplastikteilchen aus, bei einem Acryl-Schal von 300.000, bei Nylon-Socken von 136.000. Schätzungsweise eine Million Tonnen Plastikabrieb geraten so pro Jahr ins Abwasser, von dort in Kläranlagen, Flüsse und Meere. Auch die Entlüfter von Wäschetrocknern blasen Kunstfasern in die Luft. Unzählige Mikrofasern lösen sich aus Teppichen und Polstermöbeln – erst recht, wenn wir sie ausklopfen - sowie aus Kleidung, während wir sie tragen. Farben. Bei den modischen Latex- und Acrylfarben handelt es sich im wesentlichen um flüssiges Plastik, dem Pigmente beigemengt wurden. Beim Auswaschen der Pinsel gerät es in die Kanalisation. Autoreifen. Annähernd zwei Milliarden werden weltweit pro Jahr produziert. Mehrere zehntausend Tonnen synthetischen Kautschuks bleiben jedes Jahr als Abrieb auf den Straßen liegen. Regen wäscht ihn in Abflüsse und Bäche, die leichtesten Partikel wirbeln in die Luft. Reinigungsmittel, sei es für die Säuberung von Maschinen oder für die Bodenpflege. Körperpflegeprodukte. Mikroperlen, die in Zahnpasta und Flüssigseifen, in Duschgels und Shampoos, in Hautpeelings und Gesichtscremes schleifend und scheuernd für mechanischen Abrieb sorgen sollen, spülen wir am Waschbecken, unter der Dusche, in der Badewanne ins Abwasser; über acht Billionen waren es im Jahre 2015 allein in den Vereinigten Staaten. Bei manchen Produkten liegt der Anteil der Plastikkügelchen am Gesamtinhalt nahe zehn Prozent. Ins Abwasser geraten, wandert Mikroplastik durch die Kanalisation in Kläranlagen, die es bloß teilweise herausfiltern können. Der Rest, nach Expertenschätzungen 10 bis 30 Prozent, verbleibt im Klärschlamm, von dem in Deutschland 40 Prozent auf Felder ausgebracht wird. Von trockenen Böden nimmt der Wind die leichten Fasern auf und verweht sie großflächig, wie auch von luftgetrockneter Wäsche. Über Atemluft, Trinkwasser und Nahrungsmittel schleicht sich Kleinstkunststoff in unseren Körper. In einer zehnmonatigen Untersuchung auf fünf Kontinenten fanden Wissenschaftler im Auftrag des US-Medienunternehmens Orb Mikroplastikfasern in vier von fünf Proben, die sie Leitungswasser an 159 Orten entnahmen. In Europa waren es 72 %, in den USA sogar 94 %. Entwicklungs- und Schwellenländer sind nicht minder betroffen wie Industriestaaten: von Quito, Ecuador (75 %) und Jakarta, Indonesien (76 %) über Kampala, Uganda (81 %) und New Delhi, Indien (82 %) bis nach Beirut, Libanon (94 %). Der deutsche Forscher Gerd Liebezeit, emeritierter Professor am Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg, entdeckte Mikroplastik in zahlreichen Lebensmitteln, die er unter die Lupe nahm. Fasern und Fragmente aus Plastik tauchten sogar in 19 Honigproben auf; vermutlich trieb sie der Wind auf Blüten, wo Bienen sie einsammelten. Auch in Deutschlands beliebtesten Biersorten wurden Forscher fündig: Zwischen 42 und 79 Mikropartikel pro Liter mussten sie feststellen. Zwei von drei Shrimps aus der Nordsee sind mit Mikroplastik verseucht. Die Übeltäter lauern überall Beinahe schon im Monatsrhythmus verlängert freie Marktwirtschaft ungebremst innovativ die Liste der Übeltäter. Besonders verbreitet sind Polyvinylchlorid (PVC): Es steckt in Nahrungsmittelverpackungen, Plastikfolien, Kosmetik, Stoßschutz in Kinderbetten, Schnullern, Spielsachen, Bodenfliesen, Duschvorhängen, Sitzbezügen u.a. Phthalate (DEHP, DINP u.a.): Sie finden sich als Weichmacher in Kleidung, Emulsions- und Druckfarbe, Schuhwerk, Spielzeug, Lebensmittelverpackungen, Blutbeuteln, Atemmasken und anderen medizinischen Geräten. Polycarbonate, am häufigsten mit Bisphenol A als Bestandteil: Enthalten sind sie unter anderem in Trinkflaschen; in CDs, DVDs und Blu-ray Discs; in Brillengläsern und Kontaktlinsen; in der Verglasung von Wintergärten und Gewächshäusern; in Schutzhelmen; in Campinggeschirr; in medizinischen Einmalprodukten. Polystyrol (PS) mit Styrenen: Es verbirgt sich unter anderem in Lebensmittelbehältern für Wurst, Fisch, Käse, Joghurt; in Verpackungen von Nüssen und Chips; in Trinkbechern, Geschirr und Besteck; in Spielzeug. Polyethylen (PE): der weltweit mit Abstand am häufigsten verwendete Kunststoff, in erster Linie für Verpackungen verwendet, etwa für Frischhaltefolien, Tragetaschen, Milchkartonbeschichtungen und Müllsäcke. Polypropylen (PP): Der am zweithäufigsten eingesetzte Kunststoff wird häufig für Verpackungen verwendet, aber auch für Armaturen, Kindersitze und Fahrradhelme, für Draht- und Kabelummantelungen, für Rohrleitungen. PP-Fasern stecken in Heim- und Sporttextilien, in Teppichen, in medizinischen und Hygieneprodukten; in Bechern, Flaschenverschlüssen, Gespirrspülern, Warmhaltebehältern, Trinkhalmen und Klebefolien, sogar in Geldscheinen mancher Länder. Polyethylen-Terephthalat (PET) befindet sich in Getränkeflaschen, Teppichfasern, Kaugummi, Kaffeemaschinen, Essensbehältern, Plastiktaschen, Spielzeug. Polyester: Es lauert in Bettzeug, Kleidung, Windeln, Lebensmittelverpackungen, Tampons, Sitzbezügen u.a. Formaldehyd (Methanal): Es steckt in Anstrichfarben, Span-, Sperrholz- und Dämmplatten; in Bodenbelägen und Möbeln. Darüber hinaus dient es zur Textilveredelung („knitterfrei“); für Farb- und Arzneistoffe; als Konservierungsstoff in Kosmetika; in Impfstoffen zur Inaktivierung von Impfviren oder Bakteriengiften; als Bindemittel; als Zusatz in Desinfektionsmitteln, wie auch in Klebstoffen, Düngemitteln, Gerbstoffen, Giessharzen, Fungiziden. Polyurethane: Sie finden Verwendung als Schaumstoffe in Kissen, Matratzen, Polstern; für Isolierungen, Wärmedämmung und Flammschutz; in Lacken und Beschichtungen; für Textilfasern; für Fussbälle und Bowlingkugeln; für Gummistiefel, Kondome, Schuhsohlen und Stehmatten, in Lederimitaten, in Farbkosmetik-, Sonnenschutz-, Haut- und Haarpflegeprodukten. Acryl: Es befindet sich in Farben, Lacken und Klebstoffen; im Dentalbereich dient es als Werkstoff. Tetrafluoroethylen (TFE): Es versteckt sich in Bügeleisen, Bügelbrettbezügen, Rohr- leitungen; in Kochtöpfen und Pfannen, als Antihaft-Beschichtung; in Gefässprothesen und anderen Implantaten; in der Zahnmedizin als Barrieremembran zum Knochenaufbau; es ummantelt Metallsaiten für Gitarren und andere Musikinstrumente; es innenbeschichtet Ventile, Rohrleitungen und Behälter. Polyamide (PA) wie Nylon und Perlon: Sie werden überwiegend für Textilien verwendet, aber auch für Fallschirme, Ballons, Segel, Seile, Angelschnüre, zur Bespannung von Tennisschlägern, für Saiten von Streich- und Zupfinstrumenten; für Dübel, Schrauben, Gehäuse, Isolatoren, Kabelbinder; für Kellen, Löffel und andere Küchenutensilien; für Borsten von Zahnbürsten. Ethylenvinylacetat (EVA): Es verbirgt sich unter anderem in Einschweissfolien, Dusch- vorhängen, Fussbodenbelägen, Elektrokabeln, Klebstoffen, Tuft-Teppichen, Schuhsohlen, als Mikropellets in kosmetischen Peelings. Wie gefährlich für unsere Gesundheit sind diese Substanzen, wenn sie sich als synthetische Winzlinge durch Mund, Nase und Haut in uns einschleichen? Sind die Verunreinigungen am Ende harmlos? Immer mehr Hinweise auf Gesundheitsgefahren Die Industrie forscht emsig über Kunststoffe: über Zusammensetzung, Einsatzbereiche und Zweckoptimierung, über Verbraucherbedürfnisse und Marktakzeptanz. Herstellerstudien zu Gesundheitsgefahren hingegen machen sich rar: die veröffentlichten geben Entwarnung, besorgniserregende dürfen, als „Betriebsgeheimnisse“, folgenlos unter Verschluss bleiben. Kunden spielen schließlich nur mit, solange sie sich in Sicherheit wiegen. Behörden wiegeln ab, Regierungen zaudern, unabhängigen Wissenschaftlern fehlt das Geld für die dringend nötige Erforschung von Risiken und Nebenwirkungen. Die wenigen Ergebnisse jedoch, die bislang vorliegen, sorgen mühelos für Alarmstimmung. Bei Versuchen mit Miesmuscheln, Austern und Ringelwürmern, mit Ratten, Hasen und Hunden stellten mehrere Forschergruppen fest: Partikel, die kleiner als fünf bis 15 Mikrometer (10 hoch -6 = 0,000001 m) sind, können durch den Verdauungstrakt wandern, die Eingeweide und Magenwände durchdringen, sich in Lymphknoten, das Gehirn und andere Organe einnisten. Das Material reichert sich im Zellgewebe an, wo es den Stoffwechsel verändert und Entzündungen hervorruft. Bei kleinen Fischen, die über Wasser und Nahrung den Tüten- und Folienkunststoff Polyethylen aufnahmen, stellte eine Forschergruppe der University of California in Davis schon nach acht Wochen erhebliche Leberschäden fest. Auch bei Fischen, Fröschen, Meeresschnecken und bestimmten Alligatorenarten ergab sich: Phthalate und polychlorierte Biphenyle hemmen männliche Geschlechtshormone, verringern die Testosteronproduktion, beeinträchtigen die Hodenfunktionen, führen zu genitalen Missbildungen. Französische und belgische Biologen verglichen Austern, die in sauberem Wasser lebten, mit Artgenossen, deren Umgebung mit Mikroplastikteilchen verseucht war. Bereits in den ersten Wochen des Experiments hatten letztere knapp 20 Prozent weniger Nachwuchs. Nach zwei Monaten war das Minus auf rund 40 Prozent angewachsen, die Anzahl der Eizellen um 38 Prozent gesunken, ihr Durchmesser um 5 Prozent; die Spermien bewegten sich um 23 Prozent langsamer. Es entwickelten sich 41 Prozent weniger Larven. Von ähnlich besorgniserregenden Beobachtungen berichten Meeresbiologen des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven, nachdem sie Muscheln in Aquarien mit winzigen Polyethylen-Teilchen fütterten: „Bereits innerhalb von zwölf Stunden reichern sich diese Partikelchen im Magen auch in den Leberepithelien an, wie auch in einem vakuoligen Apparat in der Zelle, den wir ‚Mülleimer‘ nennen; von da aus werden sie wieder rausgeschmissen ins umgebende Körpergewebe“, wo sie „ganz extreme Entzündungsreaktionen auslösen. Es bilden sich bindegewebige Kapseln, um diese Fremdkörper einzuschließen.“ Diese pathologischen Vorgänge „erinnern uns sehr an das, womit im Menschen eine Asbestose anfängt“ - eine unheilbare, durch Asbestfasern ausgelöste Krankheit, die zumeist tödlich endet. Dass sich Menschen ahnungslos Mikroplastik einverleiben, wenn sie belastetes Fleisch essen, steht außer Frage. Die Menge kann stattlich sein, wie die Biologin Liesbeth van Cauwenberghe von der Universität Gent vorrechnet: „Wenn man zwölf Austern isst, dann nimmt man etwa hundert Mikroplastikpartikel auf; dasselbe gilt für 250 Gramm Muschelfleisch. Das scheint nicht sehr viel. Aber wenn man sich anschaut, was Europäer im Jahr an Schalentieren essen, dann schätzen wir, dass ein Topkonsument, der sehr viele Schalentiere isst, etwa 11.000 Mikroplastikpartikel pro Jahr aufnimmt. Das ist schockierend." Macht es auch krank? Weil sämtliche bisherigen Studien zur Bioverträglichkeit von Mikroplastik nur wenige Wochen dauerten, fehlen solide wissenschaftliche Erkenntnisse über langfristige gesundheitliche Folgen seines Verzehrs – bei Tieren, und erst recht beim Menschen. Immerhin häuften sich im vergangenen Jahrzehnt Beobachtungen von besorgniserregenden Zusammenhängen. Im September 2008 sorgten Mediziner der Universität Exeter für Aufsehen, als sie eine Studie an einem repräsentativen Querschnitt der US-Bevölkerung veröffentlichten, bestehend aus 1455 Erwachsenen zwischen 18 und 74 Jahren. Anhand der Blut- und Urinproben stellte sich heraus: Die 25 Prozent mit dem höchsten Anteil von Bisphenol A im Körper trugen ein doppelt so hohes Risiko für Herzleiden und Diabetes wie die 25 Prozent mit der niedrigsten BPA-Belastung. Ein australisches Forscherteam von der Universität Adelaide entdeckte Phthalate in 99,6 Prozent aller Urinproben, die sie von 1500 Männern über 35 Jahren genommen hatten. Mit höheren Plastikkonzentrationen stieg die Wahrscheinlichkeit von Koronarerkrankungen, Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck. Wie vorangegangene Studien ergeben hatten, treten hohe Phthalatspiegel vornehmlich bei Menschen auf, die besonders oft plastikverpackte und industriell verarbeitete Lebensmittel zu sich nehmen. Immer länger wird die Liste von Gesundheitsrisiken, die Mediziner mit Plastik in Verbindung bringen: Polyvinylchlorid (PVC): Krebs, Geburtsschäden, genetische Veränderungen, chronische Bronchitis, Geschwüre, Hautkrankheiten, Taubheit, Sehstörungen, Verdauungsstörungen, Funktionsstörungen der Leber. Phthalate: Hormonstörungen, Asthma, Entwicklungs- und Fortpflanzungsstörungen, Krebs, Geburtsschäden, Endometriose, Beeinträchtigungen des Immunsystems. Polycarbonat mit Bisphenol A: Krebs, Immunschwäche, vorzeitige Pubertät, Fettleibigkeit, Diabetes, Hyperaktivität. Styrene: Reizung von Augen, Nase und Hals, Benommenheit, Bewusstlosigkeit, Nieren-, Magen- und Leberschäden, Veränderungen der roten Blutkörperchen, Lyphome, Leukämie. Polyethylen: Krebs. Polyester: Reizung von Augen und Atemtrakt, Hautausschlag. Formaldehyd: Krebs, Geburtsschäden, genetische Veränderungen, Atemnot, Kopfschmerzen, Hautleiden, Müdigkeit. Polyurethan: Bronchitis, Haut-, Augen- und Lungenprobleme. Acryl: Atembeschwerden, Übelkeit mit Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen, Erschöpfung. Tetrafluoroethylen: Reizungen von Auge, Nase und Hals, Atembeschwerden. Experimentelle Forschungen am Menschen stehen bislang völlig aus – aber wie sollten sie denn aussehen? Wollen wir Probanden zu Testzwecken mutmasslich toxische Substanzen einflößen, um dann interessiert zu beobachten, wie sie unheilbar erkranken? Untersuchen lässt sich eine Plastikbelastung lediglich im nachhinein. Selbst wenn sich dann zeigt, dass sie mit bestimmten Gesundheitsproblemen einhergeht – ein ursächlicher Zusammenhang lässt sich damit nie beweisen. Stets wiegeln Skeptiker ab, verweisen auf mögliche andere krankmachende Faktoren. Zu den routinierten Verharmlosern zählt, ausgerechnet, die Bundesanstalt für Risiko- bewertung (BfR) – dieselbe staatliche Einrichtung, die sich kürzlich dabei ertappen ließ, aus einem Unbedenklichkeitsgutachten des Glyphosat-Herstellers Monsanto abzuschreiben. „Nach jetzigem Kenntnisstand ist ein gesundheitliches Risiko für Verbraucher unwahrscheinlich“, beschwichtigt sie in einer Stellungnahme von 2014, die bis heute unaktualisiert geblieben ist. Noch sei es zu früh, um irgendwelche Einschätzungen über die mögliche Gesundheitsgefährdung durch Mikroplastik abzugeben, erklärt sie – eine verquere Form der Verniedlichung. Solange kein Geld in Forschung fließt, kann es auch keine Forschungsergebnisse geben, die eine fundierte Risikoabschätzung erlauben. Klar scheint immerhin: Die meisten Kunststoffe wirken auch im menschlichen Körper als „endokrine Disruptoren“ - sie stören den Hormonhaushalt, weil ihre Struktur das Östrogen nachahmt. Phthalate und Polyethylen fördern höchstwahrscheinlich hormonbedingte Tumorerkrankungen wie Brust-, Prostata- und Hodenkrebs, Fettleibigkeit und Diabetes Typ 2, verminderte Spermienqualität, Endometriose, vorzeitige Pubertät und Fehlbildungen der Fortpflanzungsorgane, wie neuerdings sogar die US-Umweltschutzbehörde EPA einräumt. Das in Polystyrol enthaltene Styren gilt als krebserregend. Plastikflaschen als Massenvergifter Zu den tückischsten Plastikgiftquellen zählen Getränkebehälter. Drei von vier Mineral- wasserflaschen, die wir den Herstellern abkaufen, bestehen nicht mehr aus Glas, sondern bequemerweise aus Plastik, vornehmlich PET. Wie praktisch, wie bequem, es erleichtert uns das Herumtragen, erst recht das Wegwerfen. Aus den Plastikhüllen lösen sich jedoch hochgiftige Chemikalien, insbesondere Bisphenol A, neben Acetaldehyden, Weichmachern wie DEHP, das strukturähnliche DEHF (Diethyhexylfumarat) und Phthalate. Dieses „Auslaugen“ ist zeit- und wärmeabhängig: Je länger sich eine Flüssigkeit in der Kunststoffverpackung befindet, desto mehr geht in sie über. Die austretende Giftmenge steigt mit der Temperatur. Je wärmer sie werden, je länger Lebensmittel Kontakt mit ihnen haben, desto mehr Kunststoffbestandteile gehen darauf über. Wer einmal bei Sommerhitze eine Plastikwasserflasche im Auto liegen ließ und anschließend daraus trank, der weiß: Diese Flüssigkeit schmeckt seltsam chemisch. Dafür sorgen Acetaldehyde, die der Kunststoff freigesetzt hat. Wer damit unbedarft seinen Durst löscht, ignoriert den Forschungsstand. In neun von zehn Urinproben, die 190 Männer mit Fruchtbarkeitsproblemen ablieferten, fand sich BPA; bei jenen, die besonders hohe BPA-Konzentrationen aufwiesen, ließen sich unter anderem eine um 23 Prozent geringere Samenkonzentration sowie rund 10 Prozent mehr DNA-Schäden feststellen. Besonders auffällig waren Störungen der Sexualfunktion bei Fabrikarbeitern, die Bisphenol A laufend ausgesetzt sind. Neue Studien deuten auf Zusammenhänge zwischen einem erhöhten BPA-Spiegel im Blut und Diabetes, Herz-Kreislaufproblemen, fehlender Libido, Fettleibigkeit hin. Darüber hinaus fanden Mediziner Zusammenhänge zwischen einer frühzeitigen Bisphenol-A-Exposition und Ängsten, Depressionen sowie ADHS bei Jugendlichen. Auch an Funktionsstörungen der Schilddrüse, an Hashimoto-Thyreoditis und anderen Autoimmunerkrankungen, an Demenz und Alzheimer, an Fehlgeburten und Brustkrebs könnte BPA beteiligt sein. Ferner steht es im Verdacht, die Bildung von Zahnschmelz zu stören („Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation“, MIH). Es beeinträchtigt die Funktion von Proteinen, die entscheidend für Wachstumsprozesse in Zellen sind, und fördert so eine Tumor- entwicklung. Zudem entfaltet Bisphenol A hormonähnliche Wirkungen: Bei Versuchstieren stört es die Sexual- und Hirnentwicklung. Männliche Mäuse gingen nach Bisphenol-A-Gaben zu weiblichen Verhaltensweisen über, woraufhin Artgenossinnen sie mieden. Viele Verbraucher lassen sich von der Werbung für „Bispenol-A-freie“ Kunststoffflaschen beeindrucken. In dem neuartigen Ersatzmaterial Tritan fand ein amerikanisches Forscherteam allerdings ebenfalls östrogenartige Substanzen. Welche weiteren langfristigen Wirkungen von ihnen ausgehen, weiß bisher niemand. „Tickende Zeitbombe“ Giftig sind nicht bloß die Mikroplastikteilchen selbst, sondern auch die im Wasser schwebenden Schadstoffe, die an sie andocken: darunter Spuren von Brandschutzmitteln, Pestiziden aus der Landwirtschaft, Abrieb von bioziden Anstrichen, Medikamentenrückstände, organische Chlorverbindungen, Schwermetalle wie Blei, Cadmium, Chrom, Arsen, Zink, Quecksilber und Nickel. Auch vielerlei Mikroorganismen besiedeln die Kunststoffoberfläche. Darunter fand der Mikrobiologe Gunnar Gerdts vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) etliche Krankheitserreger – etwa das Bakterium Vibrio parahaemolyticus, das Magen-Darm-Entzündungen und Brechdurchfall auslösen kann. „Wer weiss“, sagt er, „vielleicht wird das massenweise im Meer vorhandene Mikroplastik künftig zur Verbreitung von Krankheiten beitragen.“ Geraten Kunststoffpartikel in unseren Organismus, haben sie solche blinden Passagiere häufig im Gepäck. Viele stehen im Verdacht, ihrerseits krebserregend oder hormonell wirksam zu sein. Die Fähigkeit der Mikropartikel, andere Stoffe zu binden, machen sich Pharmahersteller zunutze, um Arzneimittel zeitverzögert im Körper freizusetzen. Die Plastikteilchen, so versichern sie, würden anschließend wieder ausgeschieden. Woher wissen sie das? Kurzum, Mikroplastik ist „eine tickende Zeitbombe", warnt Rolf Buschmann vom Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND). „Im schlimmsten Fall müssen wir einige hundert Jahre mit diesem Zeugs leben“, schwant dem Oldenburger Biochemiker Gerd Liebezeit. Dementieren, verharmlosen, hinhalten Freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie, auf welche die Bundesregierung wie schon im Diesel-Skandal blauäugig setzt, sprechen dem Ernst der Lage Hohn. Soll es einer Müllschleuder überlassen bleiben, nach eigenem Gutdünken darüber zu entscheiden, ob sie weitermachen darf? Zumal einer, die so tut, als gäbe es kein Problem? „Nach eingehender Überprüfung der Sachlage“, so stellt sich etwa der Spitzenverband der Lebenswirtschaft (BLL) blind und taub, „ist für uns ein kausaler Zusammenhang zwischen potentiellen Mikropartikeln in einzelnen Lebensmitteln und durch Kosmetika oder Textilien freigesetzte Kunststoffpartikel jedoch nicht ersichtlich. Es ist auszuschließen, dass Partikel aus Gewässern und Meeren ins Grundwasser und folglich über das Trinkwasser in die Lebensmittelverarbeitung bzw. Nahrungskette gelangen.“ Notfalls lancieren sie, wie der Deutsche Brauer-Bund, flugs gekaufte Gegengutachten, die „beweisen“, dass ihr Produkt unbedenklich sei – ohne offenzulegen, welche Untersuchungsmethoden dabei zum Einsatz kamen. Beim Dementieren, Verharmlosen, Hinhalten helfen Bundesregierung, Ministerien und Kontrollbehörden skandalöserweise mit. Auf die Orb-Media-Studie angesprochen, wiegelte das Umweltbundesamt ab: Die Befunde seien „nicht besorgniserregend“, ein paar Plastikteilchen pro Liter „sehr wenig – das sagt nichts aus, das ist Grundrauschen“. Eine Gesundheitsgefahr sei „sehr unwahrscheinlich“. Wie kann eine Gesundheitsschutzbehörde die Konzentration einer einzelnen Substanzgruppe isoliert betrachten? Kleinste Mengen unterschiedlichster Herkunft können sich gewaltig summieren – ganz zu schweigen von ihren unerforschten Wechselwirkungen untereinander. Auf eine Anfrage der „Grünen“ zu Mikroplastik in Kosmetika hin verwies die Bundesregierung Ende 2016 lapidar auf die Kennzeichnungspflicht für Inhaltsstoffe auf der Verpackung – so als wüsste der durchschnittliche Verbraucher mit der chemischen Nomenklatur dort etwas anzufangen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Über das „Verbraucherwissen bezüglich des Einsatzes und der Auswirkungen von Mikroplastik“ liegen der Bundesregierung indes „keine Erkenntnisse vor“. Sowohl das Bundesumweltministerium als auch das Bundesministerium für Ernährung erklärten auf eine Journalistenanfrage, für das Problem von Mikroplastik in Brauwasser nicht zuständig zu sein – und verwiesen jeweils auf das andere Ressort. Massenhafter Protest und Konsumverzicht, von geschäftsschädigendem Medienecho begleitet, beeindrucken die Industrie erheblich mehr als noch so viele alarmierende Studien – denn sie bedrohen ihren Profit unmittelbar. Mitunter denken sie dann verblüffend zügig um: Firmen wie Unilever, Body Shop, Johnson & Johnson, Procter & Gamble kündigten schon 2013 an, Plastik „in naher Zukunft“ aus ihren Produkten vollständig zu verbannen. Der Hersteller AOK ersetzte Mikroplastik in seinem Peelingprodukt bereits durch Silica, eine Art Sand, wie auch Elmex in seiner Zahncreme. Immerhin. Trotzdem ist Kontrolle besser als Vertrauen: Schon im Oktober 2015 hatten sich die Mitglieder des Branchenverbands Cosmetics Europe feierlich dazu verpflichtet, Mikroplastik aus ihren Produkten zügig auszuschleichen. Trotzdem fand Öko-Test sie Anfang 2017 in den meisten von 22 untersuchten Körperpeelings. Eine Liste des BUND auf dem Stand vom Juli 2017 zeigt, wie weitverbreitet Kunststoff nach wie vor in Körperpflegemitteln ist. Von gehaltenen Versprechen sei „nicht viel zu merken“, resümierte Codecheck, der größte deutschsprachige Online-Konsumentenratgeber, nachdem er knapp 103.000 Kosmetikprodukte der Jahre 2014 und 2016 vergleichen ließ. In vielen Erzeugnissen hatte der Einsatz von Polyethylenen sogar leicht zugenommen. Erst Ende 2017, über ein Vierteljahrhundert nach den ersten eindringlichen Warnungen von Wissenschaftlern, bequemte sich das Umweltbundesamt, der EU-Kommission ein europaweites Verbot von Mikroplastik zu empfehlen – kurioserweise beschränkt auf den Einsatz von Festpartikeln in Kosmetika. Keine Rede von allen anderen Einsatzgebieten, von flüssigen, gel- oder wachsartigen Kunststoffen. Da sind Connecticut und Kalifornien längst weiter. Im Jahr 2015 ordneten beide US- Bundesstaaten ein radikales Verbot durch, das fragwürdige Ersatzstoffe vorsorglich mit einschloss. Und anderswo? Wie meistens, wenn Wirtschaftsinteressen auf dem Spiel stehen, leisten staatliche Stellen hanebüchene Beihilfe, die Beweislast umzudrehen: „Solange nicht zweifelsfrei feststeht, dass ein Produkt gefährlich ist“, so lautet die Devise, „bleibt es auf dem Markt.“ Müsste für Volksvertreter, die lieber ihr Volk schützen als mächtige Konzerne, nicht andersherum gelten: „Solange begründete Zweifel an der Ungefährlichkeit eines Produkts nicht vollständig ausgeräumt sind, hat es in unserer Lebenswelt nichts zu suchen“? Sich berechtigte Bedenken nicht ausreden zu lassen, mag „innovationsfeindlich“ aussehen, ist aber klug und verantwortungsbewusst – bei Kunststoffen nicht weniger als bei Pestiziden, gentechnisch veränderten Lebewesen, Nanomaterialien, Strahlungsquellen und Arzneimitteln. Der gesetzliche Rahmen, in dem chemische Stoffe bewertet und zugelassen werden, öffnet der Bürger- und Umweltvergiftung weiterhin Tür und Tor. Im Jahre 2007 trat von Lissabon bis Athen REACH in Kraft (Verordnung 1907/2006): die Europäische Chemikalienverordnung, die „ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt sicherstellen“ soll, wie das Umweltbundesamt versichert. Dieser Schutz besteht worin genau? Dank REACH genügt es nicht mehr, dass Hersteller ihre neuen Substanzen bloß registrieren – nein, nunmehr müssen sie auch „Daten vorlegen“ und „Risiken selbst bewerten“. Selbst? In der Tat. Was sie einreichen, prüft die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) in Helsinki lediglich auf formale „Vollständigkeit“. Ordnet die Behörde bestimmte Stoffe aufgrund der vorgelegten Unterlagen ausnahmsweise als „besonders besorgniserregend“ ein – etwa weil sie krebserregend, erbgutverändernd, fortpflanzungsgefährdend sind, sich in Organismen anreichern oder hormonell wirken -, so führt dies nicht etwa zu eigenen Studien und Kontrollen, zu Verboten und öffentlichen Warnungen, sondern lediglich dazu, die Einsatzbereiche zu „beschränken“ und „zeitlich zu befristen“. Da haben Lobbyisten in Brüssel mal wieder ganze Arbeit geleistet. Was Verbraucher tun können Wie werden wir Kunststoffbelastungen wieder los? Die Naturheilkunde kennt Ausleitungsverfahren für Schadstoffe aller Art – gegen Plastik scheint auch sie weitgehend machtlos. Ob ein „Anti-Plastik-Tee“ aus Königskerzen- und Olivenblättern, Zitronenmelisse und den Samen des Bockshornklees Abhilfe schafft, wie ein Heilerpaar aus Oberbayern in Aussicht stellt, harrt des Beweises. In Internetforen raten manche Heilpraktiker zu „regelmässigem Saunieren und Schwitzen“, zur Aminosäure Glycin als Kunststoffbinder, zu Fettsäuren mit möglichst hohem Omega-3-Anteil, zu Leber- und Gallenunterstützung, zu Bindemitteln im Darm. Wirksamkeitsstudien darüber stehen aus. Was ist dem Konsumenten in dieser vertrackten Lage zu raten? Zumindest dem Mikroplastik im Trinkwasser entkommt er weitgehend: Statt kistenweise PET-Flaschen aus dem Supermarkt heimzuschleppen, dreht er besser den häuslichen Wasserhahn auf. Sein Leitungswasser wird weitaus besser kontrolliert als die abgefüllten Durstlöscher der Getränkeindustrie, und billiger ist es allzumal. Will er noch mehr Sicherheit, so legt er sich eine hochwertige Filteranlage zu. Ansonsten bleibt ihm nur, mit gutem Beispiel voranzugehen: Weniger Fasern verliert Kleidung, wenn sie kürzer, bei niedrigeren Temperaturen und geringerer Drehzahl gewaschen wird. Für Plastikkosmetika bieten Bio-Supermärkte und Reformhäuser umweltfreundliche Alternativen. Farbpinsel sollten wir in Eimern reinigen, deren Inhalt zu einer Sammelstelle für Sondermüll gehört. Darüber hinaus kann jeder von uns beim Umwelt- und Selbstschutz ein wenig mithelfen. Machen wir aus unserem Haushalt, so gut es geht, eine plastikfreie Zone. Vermeiden wir aufwändig verpackte Waren, Plastiktüten und Kunststoffbehälter, eingeschweißtes Obst und Gemüse. Bevorzugen wir Mehrwegverpackungen aus Glas. Setzen wir unsere Kinder keinen Schnullern, Spielzeugen, Trinkflaschen, Essensbehältern aus Kunststoff aus. Verzichten wir auf Körperpflege mit Mikroplastik-Kügelchen, greifen wir zu Naturkosmetik; in zertifizierten Bio-Hautreinigern etwa schrubben zerkleinerte Nussschalen, Fruchtkerne, fein zerkleinertes Vulkangestein, Salze, gemahlene Aprikosen- oder Traubenkerne, Mandelkleie, Heilerde oder Kieselsäure abgestorbene Hautschüppchen vom Körper. Verwenden wir Flüssigwaschmittel statt Pulver, waschen wir möglichst kurz, bei möglichst niedriger Temperatur, mit möglichst wenig Umdrehungen – dann werden nicht so viele Fasern ausgewaschen. Entleeren wir das Flusensieb von Waschmaschine und Trockner niemals in den Abfluss. Verwenden wir keine Putztücher aus Mikrofasern. Bevorzugen wir beim Kleiderkauf Naturfasern wie Baumwolle, Wolle, Seide und Leinen, die sich abbauen können, verzichten wir auf Polyester, Acryl, Nylon, GoreTex und ähnliche Synthetikfasern. Zu Einweg-Rasierern gibt es langlebige Alternativen aus Holz und Metall. Bevorzugen wir Geschäfte, die Produkte unverpackt anbieten. Trennen und sammeln wir unseren Müll sorgfältig. Verlassen wir unsere Wohnung nur noch mit einem Stoffbeutel in der Hand- oder Aktentasche. Trinken wir Coffee to go nur noch aus dem mitgebrachten Glas- oder Keramikbecher. Greifen wir altmodisch zu Omas hölzernen Kochlöffeln und Pfannenwendern. Ersetzen wir Frischhaltefolien, Plastiktütchen und Plastikdosen durch Schraubgläser, Tupperdosen durch Brotboxen aus Edelstahl und Glas. Unterstützen wir Parteien und Initiativen, die das Problem tatkräftig angehen, statt bloß Worte zu machen. Das Plastik-Zeitalter hat uns zu ahnungslosen Versuchskaninchen eines einmaligen, unkontrollierten globalen Experiments gemacht: Wieviel halten unser Planet, und insbesondere unser Organismus, durch unentwegte Giftinfusionen in Minidosis aus? „Allein unsere Gleichgültigkeit hat das Plastikproblem erschaffen“, erklärt der bengalische Ökonom Muhammad Yunus, der als Begründer des Mikrokredit-Gedankens im Jahr 2006 den Friedensnobelpreis erhielt. „Was jetzt not tut, ist die feste Entschlossenheit, es zu beseitigen – ehe es uns beseitigt.“ Quellen Kanishka Bhunia u.a.: „Migration of Chemical Compounds from Packaging Polymers during Microwave, Conventional Heat Treatment, and Storage“ (Migration chemischer Verbindungen aus Verpackungspolymeren während der Mikrowellenbehandlung, der konventionellen Wärmebehandlung und Lagerung), Comprehensive Reviews in Food Science and Food Safety 12 (5) 2013, S. 523-545, DOI: 10.1111/1541-4337.12028, http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1541-4337.12028/abstract# Werner Boote: Plastic Planet, Dokumentarfilm, USA 2013, 95 Min., Trailer: www.youtube.com/watch?v=mlgmG4OrdyU BUND: Mikroplastik – Die unsichtbare Gefahr. 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- Medizin-Nobelpreis für Putin?
Covid? War da was? Seit Putin über die Ukraine herfiel, bewegen die Menschheit plötzlich ganz andere Sorgen und Ängste. Verdient der Kreml-Chef nicht den Medizin-Nobelpreis? Anscheinend befreite er die Welt schlagartig von Corona. Von Rotchina, Neuseeland und der Lauterbach-BRD abgesehen: Wen kümmert denn noch eine Virusinfektion, die ohnehin gerade dabei ist, auf ein immer harmloseres Erkältungs-Omikrönchen hinauszulaufen, wenn nicht gar auf ein symptomloses Nichts? Plötzlich Nebensache, mehr Alltag als Katastrophe. Seit Putin die Ukraine angreifen lässt, bewegen die Menschheit schlagartig ganz andere Sorgen und Ängste. Und so ätzen manche Internet-User: Ist Russlands Präsident nicht ein heißer Kandidat für den Medizin-Nobelpreis? Anscheinend heilte er die Welt von Corona, in geradezu biblischem Affenzahn. Einspruch: Gebührt Putin nicht eher der Friedensnobelpreis? Die ungeteilte mediale Aufmerksamkeit, die sein regionaler Angriffskrieg findet, beugt nämlich einem noch viel weiter reichenden Konflikt vor, indem er dringendst Notwendiges verhindert: die überfällige Aufarbeitung der absurdesten Seuche aller Zeiten. So viele drängende Fragen, jede hochexplosiv, warten auf unzensierte Erörterung: - Wie konnte der Pandemiebegriff derart verunstaltet werden, dass er selbst dann noch passen würde, wenn zwar alle infiziert, aber keiner ernstlich krank oder gar tot ist? Wer ließ diesen Irrwitz aushecken, wer profitiert davon? - Warum durfte ein Testverfahren, das selbst sein Erfinder für diagnostisch unbrauchbar erklärte, mit einer Falsch-Positiven-Rate bis zu 97 % beinahe jeden zum „Fall“ machen, der nicht bei Drei auf dem Baum ist? - Wie viele „Corona-Opfer“ starben wirklich an SARS-CoV-2? Wer zieht jene zur Rechenschaft, die den immer offenkundigeren Laborursprung des Virus vertuschten, Statistiken verheimlichten und fälschten, über Risiken und Schäden der neuartigen Impfstoffe hinwegtäuschten, Milliarden Menschen ohne informierte Zustimmung dazu nötigten, sich für ein unethisches Massenexperiment zur Verfügung zu stellen? - Wie konnte man weiterhin expertenhörig den Warnungen und Prophezeiungen von Leuten wie Ferguson und Drosten lauschen, die schon bei früheren Pandemien haarsträubend danebengelegen hatten? - Warum wurden bewährte, billige Alternativen zu Impfstoffen unterdrückt – von Ivermectin bis Vitamin D und andere Nahrungsergänzungsmittel bis zu vernebeltem Wasserstoffperoxid? - Warum versetzte man die Bevölkerung zwei Jahre lang in eine paranoide Panik, sie sei einem völlig neuartigen Virus „schutzlos ausgeliefert“, solange es keine Impfstoffe gibt? - Wieso hatten Virologen und Modellierer mehr zu sagen als Immunologen, Psychologen und Ökonomen? - Wie konnte man die globale Richtlinienkompetenz zur Seuchenbekämpfung über zwei Jahre lang einer der korruptesten Organisationen der Welt zutrauen: der WHO, an den Fäden eines stinkreichen Programmierers, von Big Pharma und der Kommunistischen Partei Chinas? - Welche Rolle spielten erpresserische Kredite und Schuldenmoratorien von IWF und Weltbank beim selbstzerstörerischen Pandemie-Management nach Pekings Vorbild? - Wie konnte Journalismus weltweit zu Regierungspropaganda verkommen, zu distanzloser Hofberichterstattung? Wer manipulierte die weltweiten Nachrichtenströme, mit welchen Mitteln? Wer legte die Big Three – Associated Press, AFP und Reuters – an die Leine, samt nationaler Marktführer wie dpa? Wer vergiftete Informationsquellen? - Wie konnte es gelingen, „Wissenschaft“ auf politisch genehme Handreichungen aus dem Drittmittelbordell zu reduzieren? - Welche Souffleure in Ministerien und Behörden verführten inkompetente Verantwortliche zu grotesk datenfernen Einschätzungen, Befürchtungen und Entscheidungen? - Wer sorgte dafür, dass Protestierende aus allen Bevölkerungsschichten als rechtsradikale Wirrköpfe dastanden, als dumme, verantwortungslose Sektierer aus einem anrüchigen „Milieu“? Wie konnte „Querdenker“ zum Synonym für „verachtenswerter Idiot“ werden? - War es eine gute Idee, Abertausende von kritischen Ärzten und Wissenschaftlern, Juristen und Journalisten zu diffamieren und mundtot zu machen? - Wo bleiben Faktenchecks der „Faktenchecker“? In wessen Auftrag spielen sie Wahrheitswächter, wer hat sie dafür gekauft? - Wie wären wir durch diese Pandemie gekommen mit Kristi Noem oder Ron DeSantis als Kanzler, mit Wolfgang Wodarg als Gesundheitsminister, Sucharit Bhakdi als Drosten-Ersatz und Anders Tegnell anstelle von Lothar Wieler an der Spitze des Robert-Koch-Instituts? - Wie arbeiteten das Weltwirtschaftsforum und sein Netzwerk von „Young Global Leaders“, elitäre Foren wie das Council on Foreign Relations, pseudo-philantropische Geldmaschinen wie die Rockefeller-, Gates- und Soros Foundation darauf hin, dass die Plandemie zum Türöffner für eine technokratische Neue Weltordnung wird? - Welche Rolle spielen weltweit agierende PR-Agenturen wie Edelman und Publicis? - Wer zieht Verfassungsrichter für ihre Untätigkeit zur Verantwortung? - Was taugt ein Verfassungsschutz, der Verfassungsbrüche am laufenden Band hinnimmt, sofern die Exekutive sie begeht? - Wie konnten Polizei und Justiz zu Vollzugshelfern eines wissenschaftsfernen Hygieneterrorismus werden? - Wer legt endlich den tatsächlichen Forschungsstand zu all den ineffektiven, zerstörerischen Lockdowns offen, zur weitgehend nutzlosen, schikanösen Zwangsmaskerade, zum wahren Nutzen und Schaden der Covid-Spritzen? Vor lauter Entsetzen über die russische Aggression bleiben all diese brennenden Fragen ungestellt. Sie gehen unter, verhallen ungehört im Bombendonner – zur klammheimlichen Freude aller Nutznießer dieser unsäglichen Plandemie und jeder künftigen. Ehrliche Antworten wären politischer Sprengstoff ohnegleichen. Wie könnte eine Bevölkerung reagieren, der allmählich dämmert, dass sie hinters Licht geführt wurde? Dass sie weitgehend umsonst gebangt, geschützt, verzichtet hat? Dass sie sich eher für die Katz pieksen ließ, mit sogenannten Impfstoffen, die diese Bezeichnung nicht verdienen und nur eines zuverlässig mit sich bringen: unkalkulierbare Risiken und Nebenwirkungen. Wenn wegzensierte Wahrheiten endlich ans Licht kämen, könnten sie von Washington über Paris und Berlin bis Melbourne und Wellington den sozialen Frieden gefährden, Vertrauen in Regierungen und Behörden, in Medien und Wissenschaft zutiefst erschüttern. Um den Globus ginge womöglich ein Aufschrei der Empörung, der erst verstummt, wenn Verantwortliche vor Gericht stehen - und Köpfe rollen. Insofern hat sich Putin um den Weltfrieden wahrlich verdient gemacht. Er entschärfte bis auf weiteres eine hochexplosive Bombe. Dafür ist ihm reichlich insgeheimer Applaus gewiss: von Pfizer und Konsorten, von Tedros, Xi Jinping, Gates und Schwab, von all den Fergusons, Drostens, den Brink-, Priese- und Brockmännern, die diese sonderbare Seuche ausgerufen, befeuert, alarmistisch begleitet, zum eigenen Vorteil genutzt haben. Nun stimmen sie uns bereits auf die nächste ein. Also blindlings auf zu Covid-27? (Harald Wiesendanger)
- Neurologe belegt: Alzheimer ist heilbar
Ein amerikanischer Neurologe hat eine Therapie gegen Morbus Alzheimer entwickelt: Sie bringt den geistigen Verfall zum Stillstand, macht ihn sogar rückgängig. Erst bei weit fortgeschrittener Krankheit versagt dieser Ansatz. Hunderte Betroffene hat er bereits gerettet. Big Pharma graut vor ihm, Wikipedia verschweigt ihn. Statt es weiterhin Pharmakonzernen zu überlassen, den Albtraum Alzheimer zu bannen, sollten wir den Tierschutz erweitern: Er muss auf ungefiederte Zweibeiner ausgedehnt werden. Denn wie bei allen Zivilisationskrankheiten, so bedarf es vor allem einer artgerechten Menschenhaltung, um der gefürchteten Neurodegeneration endlich beizukommen. Dazu hat ein US-Neurologe ein spektakulär erfolgreiches Behandlungskonzept entwickelt. Nicht nur Hunderte von Einzelfällen, auch klinische Studien bestätigen es inzwischen. Exemplarisch führt es vor Augen, wie dringend die Welt einer neuen Gesundheitskultur bedarf, die sie aus dem Klammergriff von Geschäftsinteressen befreit. Nein, man kann Wikipedia wahrlich nicht vorwerfen, es habe etwas gegen Bredesens. Es würdigt einen Skispringer, einen Fußballer, einen Nordischen Kombinierer, einen Pastor, einen Geschäftsmann mit diesem Familiennamen. Ausgerechnet einer jedoch fehlt: der US-amerikanische Neurologe Dale E. Bredesen. Ihm verdankt die Welt einen spektakulären, durchaus nobelpreiswürdigen Durchbruch bei der Behandlung des wohl gefürchtetsten Leidens: von Morbus Alzheimer, der schleichenden Neurodegeneration, die als unheilbar gilt. Die sonderbare Lücke im virtuellen „Weltgedächtnis“ lässt auf zweierlei schließen: Der Verschwiegene stört gewaltig die Geschäftsinteressen derer, die bei der Redaktion der Online-Enzyklopädie im Hintergrund die Fäden ziehen; und es lässt sich ihm nichts Rufschädigendes anhängen. Umgekehrt schadet dieser Bredesen dem Ruf der pharmalastigen Schulmedizin ungemein. Denn deren Grenzen treten bei kaum einer Krankheit offenkundiger zutage. 116 Jahre ist es inzwischen her, dass Alois Alzheimer (1864-1915), ein deutscher Psychiater und Neuropathologe, die nach ihm benannte Demenzerkrankung erstmals beschrieb. Schon er fand in den Gehirnen von Betroffenen, neben großflächig abgestorbenen Nervenzellen, ausgedehnte Ablagerungen, Plaques, von klebrigen Eiweißknäueln, vorwiegend aus Beta-Amyloiden. Seither herrscht in der Alzheimerforschung die Amyloid-Hypothese vor: Geradezu dogmatisch klammert sie sich an die Vermutung, diese Plaques seien es, die den schrecklichen geistigen Verfall verursachen. Folglich gelte es eine patentierbare pharmazeutische Maßnahme zu finden, welche diese Plaques auflöst oder an irgendeinem Punkt ihrer kausalen Vorgeschichte so dazwischenfunkt, dass sie erst gar nicht entstehen. Ein Armutszeugnis ohnegleichen Multimilliarden Forschungsgelder sind in diesen Ansatz geflossen, über 50.000 Fachartikel widmeten sich ihm. Wie viele Heilmittel hat er bisher hervorgebracht? Null. Ein Armutszeugnis ohnegleichen. Zwar kennt man eine Reihe von Substanzen, die im Reagenzglas, im Tierversuch ermutigende Ergebnisse liefern. Doch sobald sie am Menschen erprobt werden, enttäuschen sie. Bis Mitte 2021 scheiterten über 400 klinische Studien. 99,6 % aller Kandidaten erwiesen sich als Fehlschläge. „Die derzeit zugelassenen Medikamente“, so fasst die amerikanische Alzheimer-Gesellschaft zusammen, „können den Verlauf der Krankheit nicht aufhalten oder verlangsamen.“ Die wenigen vorhandenen Mittel könnten allenfalls „helfen, Symptome zu lindern, zum Beispiel Gedächtnisverlust und Verwirrung“, aber nur „für begrenzte Zeit“, zumeist begleitet von heftigen Nebenwirkungen. Weiterhin schreitet Alzheimer bei Millionen Betroffenen unerbittlich fort – und tötet jeden, statistisch zwischen 1,5 und 8,5 Jahre, nachdem erste Beeinträchtigungen aufgetreten sind. „Irgendetwas muss hier total falsch laufen“, dachte sich Bredesen. „Es ist, als würden unsere Weltraumraketen ausnahmslos jedes Mal auf der Startrampe explodieren.“ (1) Nicht eine Krankheit, sondern drei – mit 36 beteiligten Faktoren Dem Rätsel Alzheimer auf den Grund zu gehen, hat Bredesen, Professor für molekulare und medizinische Pharmakologie an der University of California, mittlerweile über drei Jahrzehnte seiner akademischen Laufbahn gewidmet. Seit 1989 forscht der Mediziner daran: zunächst mit sterbenden Gehirnzellen im Reagenzglas, wie auch mit gentechnisch manipulierten Versuchstieren, die alzheimerähnliche Symptome entwickeln. Er analysierte verwirrte Fruchtfliegen mit „Alzflymer“ und vergessliche transgene Mäuse mit „Mouzheimer“. Nach einem Jahrzehnt Grundlagenforschung begriff Bredesen, wie sehr bis dahin missverstanden worden war, was Alzheimer ist. Er entdeckte, wie diese tückische Krankheit entsteht. Er durchschaute, warum alle bisherigen Bemühungen, ihr beizukommen, so kläglich scheiterten. Und ihm wurde klar, wie sie zu vermeiden, zu stoppen, zu besiegen ist. Unser Gedächtnis, wie alles, was unseren Geist ausmacht, beruht auf einem gigantischen Netzwerk unter unserer Schädeldecke. Über 100 Milliarden Nervenzellen, Neuronen, bilden es. Jede einzelne ist über fast 10.000 Synapsen mit anderen verbunden. Das ergibt ein Geflecht von insgesamt knapp 1.000.000.000.000.000 Verbindungen – eine Billiarde. Jedes Neuron muss irgendwie registrieren und verarbeiten, was in seiner Umgebung los ist. Dazu besitzt es Tausende von Rezeptoren: Eiweißmoleküle, die es tief in seinem Inneren bildet und dann an die Oberfläche schafft. Die meisten Rezeptoren sind auf einen bestimmten Job spezialisiert: Manche spüren Sexualhormone auf, andere Vitamin D, wieder andere den Glücksbotenstoff Dopamin. Daraufhin weisen sie die Zelle an, angemessen zu reagieren. Dazu lösen sie vielerlei biochemische Reaktionen aus. Jeder Rezeptor tut das täglich viele Milliarden Male. Ein Rezeptor namens p75NTR erregte die besondere Aufmerksamkeit von Bredesens Team. Es stieß auf ihn im basalen Vorderhirn, einer Gehirnregion, die von Alzheimer besonders betroffen ist. Seine Funktion ist es, Neurotrophine an sich zu binden: „Nervennährstoffe“, nach der griechischen Wortbedeutung. Kommt eine solche Bindung zustande – was Neurotrophin zum „Liganden“ des Rezeptors macht, wie Biochemiker sagen -, signalisiert sie der Zelle, bestehende Verbindungen zu erhalten, zu stärken und neue zu knüpfen. Fehlt dieser Ligand jedoch, so startet ein regelrechtes Selbstmordprogramm: Die Synapsen lösen sich auf, die Zelle stirbt. Gibt es ein Molekül, das verhindern kann, dass Neurotrophine an ihre Rezeptoren binden – indem es ihren Platz einnimmt? Eben dies gelingt Amyloid-beta. Normalerweise ist dieser Sabotageakt nicht etwa schlimm, sondern sinnvoll und wünschenswert. Zellen müssen absterben, um neuen Platz zu machen – etwa wenn sie beschädigt und deshalb unfähig sind, ihre Aufgaben zu erfüllen - , und dieser Umbau im laufenden Betrieb findet unentwegt in uns statt. Bis Sie diesen einen Satz zu Ende gelesen haben, werden mehr als fünf Millionen Ihrer weißen Blutkörperchen Selbstmord begangen haben – und durch ebensoviele neue ersetzt worden sein. Ohne massenhaften zellulären Suizid, so gibt Bredesen zu bedenken, „hätten wir Schwimmhäute zwischen den Fingern (weil sie nicht abgebaut würden), ein Gehirn, das aus dem Schädel hinauswächst (weil bösartige Zellen überleben, anstatt Suizid zu begehen) und viele andere Probleme.“ (2) Insofern ist Amyloid-beta an sich kein Bösewicht, sondern dient normalerweise einem gesunden Zweck. Alzheimer entsteht folglich nicht, weil ein krankhafter biologischer Prozess abläuft – sondern weil ein lebensnotwendiger, eine Schutzreaktion, aus dem Ruder läuft. Der Abwehrmechanismus setzt ein, wenn Bedrohungen zu zahlreich, zu heftig, zu hartnäckig, chronisch werden: seien es anhaltende Entzündungen, Vergiftungen oder Nährstoffmängel. Dann „greift das Gehirn ebenfalls zu chronischen, zahlreichen, hartnäckigen und heftigen Verteidigungsstrategien – in einem so hohen Maße, dass eine Grenze überschritten wird und die Abwehr dem Körper schadet.“ (3) Das Wechselspiel von Ab- und Neubau, Verwüstung und Regeneration gerät aus dem Gleichgewicht, weil im Gehirn zuviel Amyloid-beta unterwegs ist und sich an Rezeptoren anlagert, wodurch es trophische, wachstumsfördernde Bindungen blockiert. Aber woher kommt der Amyloid-Überschuss? Die Spurensuche führte Bredesen zu einem Molekül, das passenderweise Amyloid-Vorläuferprotein, kurz APP heißt, von engl. amyloid precursor protein. Aus 695 Aminosäuren bestehend, perlenförmig aneinandergereiht, weist es eine recht stattliche Größe auf. Auch APP ist ein Rezeptor, allerdings in übergeordneter Stellung. Er reagiert nicht nur auf ein bestimmtes Molekül in der Zellumgebung, sondern auf Dutzende, darunter viele, die mit Alzheimer zusammenzuhängen scheinen: Östrogen, Testosteron, Schilddrüsenhormone, Insulin, Vitamin D, entzündungsfördernde Moleküle, Insulin, das „Langlebigkeitsmolekül“ Sirtuin SirTA. Bredesen vergleicht APP mit einem Finanzchef, dem spezialisierte Buchhalter – einfache Rezeptoren – ständig Statusberichte liefern: Wie oft, wovon sind sie aktiviert worden? Der APP-Chef zählt die Inputs zusammen und zieht Bilanz, um daraufhin zu entscheiden: Reichen die verfügbaren Ressourcen, um die weit verstreuten Synapsen zu ernähren, zu modellieren, neu zu bilden? Wenn ja, so dockt der APP-Rezeptor an ein Molekül namens Netrin-1 an, das an den Zellen vorbeitreibt. Daraufhin schickt er dem Neuron ein Signal, das bewirkt, dass es seine Aufgaben weiterhin erfüllt. Molekulare Scheren, Proteasen genannt, zerteilen APP nun an einer bestimmten Stelle. Die Schnitte erzeugen zwei Peptide: sAPPα und αCTF. Bredesen nennt sie „das konstruktive Duo“: Sie tragen dazu bei, dass die synaptischen Verbindungen beibehalten werden, fördern das Wachstum der Neuronen-„Finger“, die nach außen greifen, und blockieren das Selbstmordprogramm. Kurzum, es sind Anti-Alzheimer-Akteure. Aber wenn sich der APP-Rezeptor weder Netrin-1 noch andere trophische Moleküle schnappt – und stattdessen nach Amyloid-beta greift? Dann zerschneiden die Proteasen ihn an drei bestimmten Stellen, und es entstehen vier Peptide: sAPPβ, Jcasp, C31 – und, 40 bis 42 Aminosäuren lang, Amyloid-beta. Sie bilden das „destruktive Quartett“. Es wirkt entscheidend an dem Verfallsprozess mit, der Alzheimer zugrunde liegt: Gehirnsynapsen gehen verloren, der Verbindungsteil der Neuronen schrumpft, der zelluläre Suizid setzt ein. So kommt ein tückischer Kreislauf in Gang: Bei der Spaltung von APP entsteht Amyloid-beta, das sich an APP bindet und es veranlasst, mehr Amyloid-beta zu produzieren. Bredesen vergleicht: „Wie ein winziger Vampir beißt Amyloid-beta den APP-Rezeptor und erzeugt dadurch einen weiteren winzigen Vampir.“ (4) „Ich wette, Sie haben die Pointe erfasst“, schreibt Bredesen: „Um Ihr Alzheimer-Risiko zu senken, müssen Sie die Produktion des Alzheimer verursachenden Quartetts minimieren und die Produktion des Alzheimer hemmenden Duos maximieren.“ Wovon hängt es ab, welches innere Programm abläuft – das erhaltende, aufbauende oder das zerstörerische? Nach der einen ausschlaggebenden Ursache zu fahnden, um ein darauf zugeschnittenes Pharmaprodukt zu synthetisieren, betrachtet Bredesen als Irrweg. In seinem Buch The End of Alzheimer's - 2017 erschienen, ein Jahr später auch in deutscher Übersetzung - identifiziert er nicht weniger als 36 Faktoren, die daran beteiligt sein können, dass die verhängnisvolle APP-Schnipselei einsetzt und nicht mehr aufhört: von hormonellen Ungleichgewichten und oxidativen Schäden über gestörte Darmmikrobiota, überhöhten Blutzuckerwerten, Vitamin-D-Mangel und einer Gliose, Vernarbungen im Gehirn durch Gliazelle, bis hin zu hohem hs-CRP-Wert, einem Entzündungsmarker. Die 36 Alzheimer-„Löcher“ im neuronalen „Dach“ rühren von Einschlägen aus drei Richtungen her. Und so betrachtet Bredesen Alzheimer nicht als eine Krankheit - für ihn sind es drei. (5) Auch wenn sie oft gemeinsam auftreten und sich ihre Symptome gleichen, beruhen sie auf unterschiedlichen biochemischen Vorgängen: (1.) Entzündung; (2.) Vergiftung, zum Beispiel durch Schwermetalle oder Toxine aus Schimmel und Bakterien; (3.) ungünstige Versorgung mit Nährstoffen und anderen Molekülen, welche die Synapsen unterstützen. Warum versagt die Schulmedizin hier kläglich? Weil sie, wie üblich, bestenfalls typische Anzeichen der Krankheit zeitweilig ein wenig lindert. Aber sie behebt nicht die eigentliche Ursache. Es ist mehr als eine, mindestens 36 wirken mit. „Pharmaunternehmer gleichen Dachdeckern, die zu einem Haus gerufen werden, welches von baseballgroßen Hagelkörnern verwüstet wurde“, meint Bredesen. „Der Sturm schlug Dutzende von Löchern ins Dach, das die Eigentümer reparieren lassen wollen. Aber die Dachdecker waren auf ein einziges Loch fixiert. Vielleicht haben sie dieses Loch mit Teer sorgfältig abgedichtet, so dass es nicht mehr durchregnet. Leider kümmerten sie sich jedoch nicht um die anderen 35 Löcher.“ (6) Und deshalb füllt sich das Haus weiterhin mit zuviel Regenwasser. Personalisiert, den ganzen Menschen einbeziehend: Nur so ist Heilung möglich Als ausgebildeter Facharzt für Innere Medizin und Neurologie gab sich Bredesen mit Laborforschung nicht zufrieden. Von Anfang an ging es ihm um nichts Geringeres als ein umfassendes Konzept, mit dem sich das gefürchtetste Leiden unserer Zeit erfolgreich behandeln, besser noch vermeiden lässt. „Nichts ist wichtiger, als das Leben von Patienten zu verbessern“, sagt er. (7) Die Messlatte legt er dabei hoch: „Erfolg“ bedeutet für ihn nicht bloß lindern, verlangsamen, hinauszögern – sondern zum Stillstand bringen, rückgängig machen, dauerhaft heilen. Wenn Dutzende Faktoren mit unterschiedlichem Gewicht beteiligt sein können, bedarf es zuallererst eines persönlichen Risikoprofils. Für jeden Patienten muss zunächst ermittelt werden, welche physiologischen Parameter in seinem Fall eine ausschlaggebende Rolle spielen. „Kognoskopie“ nennt Bredesen die Gesamtheit der Untersuchungen, die dazu stattfinden müssen. Sie schließt Blutuntersuchungen, ein Stoffwechselprofil und ein MRT des Gehirns ebenso ein wie Gentests. Sie sucht nach Entzündungen und Infektionen, Vitaminmangel und hormonellen Ungleichgewichten. Sie checkt Parameter wie Insulinspiegel, Body-Mass-Index, Immunstatus; sie untersucht das Mikrobiom und die Durchlässigkeit des Darms („Leaky Gut“), die Mundflora, die Blut-Hirn-Schranke. „Bei Menschen mit kognitiven Symptomen wie Gedächtnisstörungen sind oft zehn bis 25 Laborwerte, die mit der Gehirnfunktion zusammenhängen, nicht optimal“, stellte Bredesen fest. „Wer noch keine Symptome hat, aber gefährdet ist, hat meist drei bis fünf suboptimale Werte.“ (8) Daraus ergibt sich ein ausgeklügeltes personalisiertes Therapiekonzept, auf jeden Hilfesuchenden individuell zugeschnitten. Bredesen nennt es „ReCODE“, eine Abkürzung für reversal of cognitive decline, „Umkehrung des geistigen Abbaus“. (9) Keine Behandlung gleicht der anderen. Um im Bild zu bleiben: Jedes hagelgeschädigte Dach weist unterschiedlich viele, unterschiedlich große Löcher auf, an unterschiedlichen Stellen. Danach richten sich Art und Aufwand der Reparaturarbeiten. Ein Loch ist dicht, wenn der betreffende Laborwert in den Normbereich zurückkehrt. Die Sanierung zielt auf nichts Geringeres, als „den kognitiven Verfall umzukehren“. (10) Was kann, was muss geschehen, um die 36 „Alzheimer-Löcher“ abzudichten? Benötigen Betroffene und Gefährdete 36 verschiedene Pharma-Kreationen, gleichzeitig einzunehmen ungeachtet fraglicher Wechsel- und Nebenwirkungen? Es geht viel einfacher, risikoloser, aussichtsreicher – und preiswerter. Dazu empfiehlt Bredesen sieben „Kernstrategien“, die Alzheimer-Risiken verringern, die Widerstandsfähigkeit steigern, und Hirnfunktionen optimieren. (11) Sie umfassen - eine überwiegend pflanzliche ketogene Ernährung, mit hohem Fettanteil, mäßigem Proteingehalt und wenig Kohlenhydraten. Im Vordergrund sollten wild gefangene Meeresfrüchte und Eier aus Weidehaltung stehen. Zu meiden sind Gluten, verarbeitete Lebensmittel und mehrfach ungesättigte Fettsäuren, auch PUFAs genannt, die in minderwertigen Speiseölen und Transfetten stecken. Jeder Tag sollte ein langes Fastenintervall von mindestens 12 Stunden einschließen, besser 16 bis 18. Auch rät Bredesen dazu, gezielt Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen, auf der Grundlage der jeweiligen Laborwerte; - ein Bewegungsprogramm für draußen und drinnen; langes Sitzen vermeiden; - ausreichend erholsamer Schlaf; - Stressbewältigung, mit Meditation und regelmäßigen Pausen zur bewussten Tiefenatmung; - regelmäßiges Gehirntraining; - sozialer Kontakte pflegen; - Giftstoffe vermeiden. Das alles klingt kompliziert, läuft im Kern aber auf eine simple Botschaft hinaus: Alzheimer verhindern und besiegen können wir auf dieselbe Weise wie jede sonstige Zivilisationskrankheit – durch eine umfassend gesunde Lebensweise. Vom Labor in die Praxis: Funktioniert ReCODE? Nach zwei Jahrzehnten Forschung wollte Bredesen endlich in klinischen Studien nachweisen, dass seine Konzepte tatsächlich bei Patienten wirksam sind. Doch zwei Mal, 2011 und erneut 2018, lehnten Prüfungskommissionen seine Anträge als „unwissenschaftlich“ ab. (12) Schließlich müsse das Design einer Studie schon feststehen, ehe sie beginnt; man könne nicht erst währenddessen entscheiden, wie die Versuchspersonen behandelt werden. Außerdem dürfe immer bloß eine einzelne Variable auf dem Prüfstand stehen – nicht ein ganzes Bündel von Komponenten gleichzeitig. Ein Unglück kommt selten allein: Die verweigerte Genehmigung veranlasste einen millionenschweren Philanthropen, den Geldhahn zuzudrehen; und auch eine Alzheimer-Stiftung stellte ihre Förderung ein. Damit wurde das Studienprojekt unfinanzierbar. Und so musste sich Bredesen jahrelang auf Fallberichte über Alzheimer-Patienten beschränken; 2014, 2016 und 2018 veröffentlichte er Behandlungsergebnisse. Und die hatten es in sich. Seine „Patientin Null“ (13), Kristin hieß sie, war 65, als kognitive Störungen einsetzten. Wenn sie auf der Autobahn fuhr, verirrte sie sich. Sie wusste nicht mehr, welche Ein- und Ausfahrten sie benutzen sollte, nicht einmal auf Strecken, die sie bestens kannte. Informationen, die für ihre Arbeit wichtig waren, begriff sie nicht mehr. Berichte zu verfassen und termingerecht abzugeben, überforderte sie. Telefonnummern konnte sie sich nicht mehr merken, auch einfache Zahlen nicht, wie etwa Hausnummern oder die Ziffern auf ihrem Autokennzeichen. Es fiel ihr zunehmend schwerer, sich zu merken, was sie soeben gelesen hatte; war sie auf einer Seite unten angelangt, musste sie wieder oben anfangen. Ihre Haustiere rief sie beim falschen Namen. In ihrem eigenen Zuhause musste sie Lichtschalter suchen, die sie jahrelang ein- und ausgeschaltet hatte. Zwei Jahre lang versuchte Kristin, diese Symptome zu ignorieren, obwohl sie immer schlimmer wurden. Schließlich konsultierte sie einen Arzt. Der diagnostizierte Demenz und erklärte, er könne nichts für sie tun. Auf Empfehlung einer Freundin fand Kristin im Jahr 2012 zu Bredesen. Stundenlange Gespräche überzeugten sie davon, sich auf sein ReCODE-Programm einzulassen. Drei Monate später rief sie ihn an, geradezu euphorisch: Sie könne kaum glauben, wie ihre geistigen Fähigkeiten sich entwickelt hätten. „Sie konnte wieder ganztags arbeiten“, berichtet Bredesen. (14) „Auto fahren, ohne sich zu verirren, und sich mühelos Telefonnummern merken. So gut wie jetzt sei es ihr seit Jahren nicht mehr gegangen, versicherte sie.“ Fünf Jahre später, inzwischen 73, befolgte Kristin ReCODE immer noch. Weiterhin bewältigte sie einen Vollzeitjob, reiste um die Welt - und war nach wie vor frei von Symptomen. Klinische Studie bestätigt Hunderte von Fallberichten Kristin blieb kein Einzelfall. Im Jahr 2014 berichtete Bredesen in Aging, der führenden Fachzeitschrift für Alternsforschung: Bei 9 von 10 Alzheimer-Patienten, die sich 5 bis 24 Monate lang ReCODE unterzogen, habe er den Gedächtnisverlust rückgängig machen können. (Beim Zehnten war die Erkrankung zu weit fortgeschritten.) (15) Zwei Jahre später, im Juni 2016, berichtete Bredesens Team im selben Fachjournal über zehn weitere erfolgreich behandelte Alzheimer-Patienten. (16) Im Mai 2018 präsentierte es eine Sammlung von 100 derart erfreulichen Fällen. (17) Hoffnung kann Bredesen selbst Besorgten machen, über denen das Damoklesschwert einer erblichen Vorbelastung schwebt. Wer eine Genvariante namens ApoE4 in sich trägt, für den steigt das Alzheimerrisiko drastisch an, von gewöhnlich 9 % auf 30 bis weit über 50 %. (18) Doch selbst wenn eine DNA-Analyse den Verdacht bestätigt, besteht kein Grund zu verzweifeln. Das Schicksal lässt sich abwenden, je früher, je länger, je konsequenter man Bredesens Empfehlungen folgt. Mehrere hundert Patienten haben mittlerweile das ReCODE-Programm durchlaufen. Die Zischenbilanz bestätigt Bredesens Optimismus. Nur in wenigen Ausnahmen – in einem sehr späten Stadium, wenn schon zu viele Neuronen und Synapsen verlorengegangen sind - bleibt der kognitive Abbau unumkehrbar, nachdem die Ursachen beseitigt sind. Ansonsten lässt sich Alzheimer verhindern, ja sogar heilen: während der symptomfreien Phase, die ein Jahrzehnt dauern kann; während der Zeit, die Neurologen „subjektive kognitive Beeinträchtigung nennen“ – sie kann mehrere Jahre dauern; und sogar während der milden bis moderaten Phase, wenn schon mehr oder minder deutliche Einschränkungen vorliegen, die sich bereits in neuropsychiatrischen Tests niederschlagen. ReCODE hundertprozentig umzusetzen, erfordert eiserne Disziplin, daraus macht Bredesen keinen Hehl. Konsequente Alzheimer-Therapie schließt etwa ein, „nie Zucker und andere einfache Kohlenhydrate zu essen, einschließlich Brot, Nudeln, Reis, Kekse, Kuchen, Süßigkeiten; Getreide, Milchprodukte, Fabriknahrungsmittel.“ (19) Andererseits: Wie schwer wiegt der Verzicht auf ungesunde Leckereien, wenn die Alternative darin besteht, tatenlos die geistige Selbstauflösung hinzunehmen? Wie streng man mit sich selbst sein sollte, hängt im übrigen vom Krankheitsstadium ab. Bei bloß leichten, gelegentlichen Aussetzern wäre permanente, größtmögliche Selbstkontrolle noch unnötig masochistisch – und als Stressquelle sogar kontraproduktiv. Im Jahre 2019 bekam Bredesen endlich grünes Licht, eine prospektive Studie durchzuführen (lat. prospectivus: vorausschauend), also eine, bei der – im Gegensatz zum Fallbericht, der Vergangenes zusammenfasst – das Ergebnis nicht schon eingetreten ist, sondern in der Zukunft liegt. Wie die Untersuchung ablief und was dabei herauskam, wurde im Mai 2021 zunächst als Preprint publik. (20) 25 Teilnehmer umfasste sie, zwischen 50 und 76 Jahre alt. Bei ihnen allen war ein „Prä-Alzheimer“ – leichte kognitive Einschränkungen – oder ein Frühstadium diagnostiziert worden. Jeden Patienten testete Bredesens Team auf vorliegende Risikofaktoren wie Entzündungen, Insulinresistenz, Nährstoff- und Hormonmangel, Cholesterin, spezifische Krankheitserreger, Belastung mit (Bio-)Toxinen sowie auf genetische Anomalien. Die anschließende Behandlung dauerte neun Monate. Sie folgte personalisierten Protokollen. Das äußerst vielversprechende Ergebnis: Bei 21 Studienteilnehmern, also 84%, besserte sich die Demenz signifikant; einer zeigte keine Veränderung, nur bei dreien verschlechterte sich die geistige Verfassung. Mehrere kognitive Tests belegten die Verbesserungen. Bildgebende Verfahren wie MRT zeigten, dass die Schrumpfung des Gehirns, die typischerweise bei Demenz auftritt, ausblieb. Eine noch umfangreichere Folgestudie, diesmal mit 255 Patienten, veröffentlichte Bredesen kurz darauf, im September 2021. (21) Dabei verglich er die Werte von dreimaligen Blutanalysen und kognitiven Tests, die vor Beginn sowie zwei Monate und ein Jahr nach Studienende stattfanden. Diesmal fiel die Erfolgsquote etwas niedriger aus: „Weder das Ausmaß der Verbesserungen noch der Anteil der Patienten, die Fortschritte machten, entsprachen den Ergebnissen der vorherigen Studie“, räumt Bredesen ein. (22) Er führt dies darauf zurück, dass die Ärzte, welche die Versuchspersonen berieten und anleiteten, diesmal unerfahrener und mit ReCODE weniger vertraut waren. In seinem jüngsten Buch The First Survivors of Alzheimer´s, im August 2021 erschienen, erzählt Bredesen die wundersame Geschichte von sieben Menschen, die ihren geistigen Verfall rückgängig machten, indem sie das ReCODE-Protokoll befolgten. Sie überlebten nicht nur – sie gewannen ein erfülltes Leben, tiefe Beziehungen, eine sinnvolle Arbeit zurück. Fingerzeige für Betroffene und Angehörige Detaillierte Anleitungen bietet Bredesen Betroffenen und ihren Angehörigen in einem 2021 erschienenen „Praxisbuch“. Einen ähnlichen Ansatz wie der amerikanische Neurologe verfolgt der deutsche Arzt und Molekulargenetiker Dr. Michael Nehls. Seit 2011 hat der ehemalige Genomforscher und Biotech-Unternehmer mehrere Bücher (23) über notwendige Verhaltensänderungen für ein gesundes Altern veröffentlicht; darin legt er seine eigene Theorie der Alzheimer-Entstehung dar und entwickelt, darauf aufbauend, eine Präventionsstrategie. Eine Liste mit 16 Ärzten, Heilpraktikern, Ernährungstherapeuten, Gesundheitsberatern und Coaches, die sich an Bredesens Behandlungsprotokoll orientieren, finden Sie hier. Weitere 60 Ärzte und Therapeuten, die Alzheimer-Therapie nach Dr. Nehls anbieten, sind hier verzeichnet. Mehrere hundert ReCODE-Practicioner, von den USA bis Australien, hat Bredesen persönlich ausgebildet; bis 2017 waren es bereits rund 450. (24) Eine Google-Suche nach „Bredesen Certified Practitioner“ liefert momentan über 34.000 Einträge. Dementes „Weltgedächtnis“ Stattliche 35 bzw. 54 Seiten lang sind die Ausdrucke der Einträge, welche die deutschsprachige und die englische Wikipedia-Ausgabe der Alzheimer-Krankheit widmen. (25) Wie viele Worte haben sie darin für Bredesen übrig? Kein einziges. Wie im Wiki-„Talk“nachzulesen, regte ein User schon vor sechs Jahren an, im Alzheimer-Artikel endlich einen Hinweis auf Bredesens Pionierarbeit zu ergänzen: „Soweit mir bekannt ist, hat niemand einen Versuch unternommen, ihr zu widersprechen, sie umzustoßen oder auch nur sinnvolle Kritik an ihr zu üben." (26) Diesen Vorschlag ließen Wiki-Administratoren leerlaufen, ohne Begründung. Wenn schon unser virtuelles „Weltgedächtnis“ an derart fortgeschrittener Demenz krankt, muss einem um die geistige Zukunft der Menschheit angst und bange werden. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) Dale E. Bredesen: Die Alzheimer-Revolution: Das erste Programm, um Demenz vorzubeugen und zu heilen, mvg Verlag. München 2018, 336 Seiten, S. 15 (2) a.a.O.,S. 75 (3) a.a.O., S. 34 (4) a.a.O., S. 89 (5) a.a.O., S. 113 ff. (6) a.a.O., S. 95 (7) a.a.O., S. 23 (8) a.a.O., S. 132 (9) Rao RV, Kumar S, Gregory J, Coward C, Okada S, Lipa W, Kelly L, Bredesen DE: „ReCODE: A Personalized, Targeted, Multi-Factorial Therapeutic Program for Reversal of Cognitive Decline“, Biomedicines 9 (10) 2021, PMID: 34680464; PMCID: PMC8533598, https://doi.org/10.3390/biomedicines9101348 (10) ebda., PDF S. 1 (11) ebda., PDF S. 4, 10 f. (12) Bredesen: Die Alzheimer-Revolution, s. Anm. 1, S. 102 ff. (13) a.a.O., S. 22, 29 ff. (14) a.a.O., S. 31 f. (15) Bredesen DE u.a.:„Reversal of cognitive decline: a novel therapeutic program“, Aging 6 (9) 2014, S. 707-17, PMID: 25324467; PMCID: PMC4221920, http://www.impactaging.com/papers/v6/n9/full/100690.html (16) Bredesen, D.E.; Amos, E.C.; Canick, J.; Ackerley, M.; Raji, C.; Fiala, M.; Ahdidan, J. „Reversal of cognitive decline in Alzheimer’s disease“, Aging (Albany NY) 8/2016, S. 1250–1258, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4931830/ (17) Bredesen, D.E.; Sharlin, K.; Jenkins, D.; Okuno, M.; Youngberg,W.; Cohen, S.H.; Stefani, A.; Brown, R.L.; Conger, S.; Tanio, C.; et al. „Reversal of Cognitive Decline: 100 Patients“, Journal of Alzheimers Disease & Parkinsonism 8 (5) 2018, S. 1–6, https://www.omicsonline.org/open-access/reversal-of-cognitive-decline-100-patients-2161-0460-1000450-105387.html (18) Bredesen: Die Alzheimer-Revolution, s. Anm. 1, S. 19 ff. (19) a.a.O., S. 300 (20) K Toups, A Hathaway, D Gordon, H Chung, C Raji, A Boyd, BD. Hill, S Hausman-Cohen, M Attarha, WJ Chwa, M Jarrett, DE Bredesen (2021): „Precision Medicine Approach to Alzheimer’s Disease: Successful Proof-of-Concept Trial“, medRxiv preprint 11. Mai 2021, https://doi.org/10.1101/2021.05.10.21256982 (21) Rao RV, Kumar S, Gregory J, Coward C, Okada S, Lipa W, Kelly L, Bredesen DE: „ReCODE: A Personalized, Targeted, Multi-Factorial Therapeutic Program for Reversal of Cognitive Decline“, Biomedicines 9 (10) 2021, PMID: 34680464; PMCID: PMC8533598, https://doi.org/10.3390/biomedicines9101348 (22) ebda. S. 12. (23) Die Alzheimer-Lüge: Die Wahrheit über eine vermeidbare Krankheit (2017), Alzheimer ist heilbar: Rechtzeitig zurück in ein gesundes Leben (2017), Die Formel gegen Alzheimer: Die Gebrauchsanweisung für ein gesundes Leben - Ganz einfach vorbeugen und rechtzeitig heilen (2018) (24) Bredesen: Die Alzheimer-Revolution, s. Anm. 1, S. 33. (25) Abgerufen am 27.1.2022. (26) „17 Propose inclusion of Bredesen research on reversing Alzheimer's/MCI and dividing Alzheimer's in subtypes“, https://en.wikipedia.org/wiki/Talk%3AAlzheimer%27s_disease%2FArchive_12#Propose_inclusion_of_Bredesen_research_on_reversing_Alzheimer's/MCI_and_dividing_Alzheimer's_in_subtypes
- Impfmuffel umstimmen – in nur 3 Stunden
Soziale Ächtung, 2G, drohende Impfpflicht mit 3B (Berufsverbot, Bußgeld, Beugehaft): Nichts davon scheint Abermillionen verblendete, unsolidarische Mitbürger davon abzubringen, sich dem erlösenden, alternativlosen Covid-„Pieks“ halsstarrig zu verweigern. Was tun? Dabei ließe sich Impfskepsis doch im Nu auf nahe Null schrumpfen: durch öffentliche Zurschaustellung führender Covidioten in all ihrer Erbärmlichkeit. Überführt sie gnadenlos als wissenschaftsferne Schwurbler, als hirnrissige Verschwörungsschwafler. Macht sie lächerlich. Live. Vor der gesamten Fernsehnation. Zur besten Sendezeit. Drei Stunden Studiodiskussion dürften ausreichen, übertragen auf allen TV-Kanälen. Vor die Kamera zerren sollte man die berüchtigten Ikonen der bekloppten Querdenker: den Arzt und ehemaligen Bundestagsabgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, den Mikrobiologen Prof. Sucharit Bhakdi, den Pathologen Prof. Arne Burkhardt, den Anwalt Reiner Füllmich, den Finanzwissenschaftler Prof. Stefan Homburg, die Psychologieprofessoren Christof Kuhbandner und Harald Walach. Für simultan übersetzte Zuschaltungen der berüchtigsten englischsprachigen Desinformationsquellen bieten sich an: der Rechtsanwalt Robert F. Kennedy jr., Michael Yeadon - Ex-Forschungsleiter bei Pfizer -, Dr. Robert Malone – Miterfinder der mRNA-Technologie -, der Internist und Epidemiologe Dr. Peter McCullough, der belgische Virologe Geert Vanden Bossche, der Ganzheitsmediziner Dr. Joseph Mercola, die Initiatoren der „Great Barrington Declaration“ sowie Dr. Pierre Kory, Mitbegründer einer US-Ärztegruppe, die seit Pandemiebeginn auf ein spritzenfreies Programm zur Prävention, ambulanten und stationären Behandlung von Covid-19 setzt. Endlich Schluss mit Pieks-Verweigerung Die telemediale Entlarvung all dieser üblen Fake-News-Verbreiter sollten gewohnt kompetent erledigen: der doppelt verdienstkreuzbehängte Topvirologe Prof. Christian Drosten, RKI-Chef Lothar Wieler, der STIKO-Vorsitzende Prof. Thomas Mertens, Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, Gesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach und sein Amtsvorgänger Jens Spahn. Die ausgewogene Moderation könnten, Hand in Hand, Anne Will und Boris Reitschuster übernehmen. Einschaltquoten wie sonst nur bei Fußballländerspielen wären garantiert. Eingeladene, die kneifen, sollten sich damit die schlimmstmögliche Sanktion einhandeln: eine einjährige Talkshow-Sperre. Falls ein einmaliges Studioduell in der vorgeschlagenen Besetzung noch nicht zum Ziel führt, sollte sie allwöchentlich mindestens einmal wiederholt werden - bis zum Endsieg kritischer Vernunft, versteht sich. Prognosen zum Ausgang einer solchen überfälligen Debatte hinterlegen Sie bitte bei der KLARTEXT-Redaktion: redaktion@klartext-online.info. Falls Sie Klärungsbedarf verspüren, was Satire ist, so ist sie Ihnen gerne behilflich. (Harald Wiesendanger)
- Pandemie der vertuschten Impfschäden
„Äußerst selten“ seien schwere Nebenwirkungen der Covid-Impfungen, so versichern Regierungen, Behörden und Medien der gutgläubigen Bevölkerung. Die lässt sich mit großer Mehrheit impfen, statt nachzuforschen. Über Abermillionen tragischer Einzelfälle herrscht Stillschweigen. Versuchen Betroffene und Angehörige darüber in sozialen Medien zu berichten, trifft sie das Fallbeil der Zensur. Richtig ist: Äußerst selten machen Covid-Impfschäden öffentlich von sich reden. Presse und Fernsehen schweigen darüber, in sozialen Medien herrscht Zensur. In Wahrheit haben die "Piekse" massenhaft schlimme Folgen. Einen erschütternden Eindruck davon vermitteln Internetforen, die Betroffene und Zeugen zu Wort kommen lassen: beispielsweise Impfopfer.info (71.000 Mitglieder), Impfschäden Schweiz Coronaimpfung (36.200 Mitglieder), Corona Impfschäden Deutschland (29.000 Mitglieder), Impfschaden Coronaimpfstoffe (13.200 Mitglieder). Der Corona-Blog hat bis Anfang Dezember 2021 rund 650 Meldungen gesammelt. Aus dem Ausland berichten unter anderem CovidVaccineVictims (144.000 Mitglieder), CovidVaccineInjuries (85.000 Mitglieder), CovidVaccVictims (rund 7.000 Mitglieder), No More Silence sowie der „CovidBlog“. Was nützt Impfgeschädigten eine angebliche statistische Unwahrscheinlichkeit? Drei Stimmen aus Hunderttausenden "Ich traue mich heute auch mal. Mein Name darf bei Veröffentlichung erst später genannt werden, da ich mein Kind schützen muss. Ich bin 55. Seit der Impfung habe ich eine Herzmuskelentzündung mit anschließender Herzschwäche. Mein Lunge bildet ständig Wasser. In meiner Familie sind nach den Impfungen aufgetreten: 1x Hashimoto (w. 33 Jahre) und Schlafapnoe; 1x Schlaganfall, anschließend Epilepsie (m, 48); 1x Spastik mit starken Schmerzen (m, 28). Im Bekanntenkreis ist ein Mädchen (15) in der Schule zusammengebrochen. Alle Körperfunktionen haben plötzlich nachgelassen. Das Kind konnte gerettet werden. (...) Ein junger Mann Mitte 30 verstarb wenige Tage nach 2. Spritze. Ältere Frau, ca. 84: wenige Tage nach Booster tot. Alle Biontech.“ (Rina W.) „Das ist ja ein Wahnsinn, was da abgeht. Ich kenne 30 Impfgeschädigte. Eine davon ist meine Mutter. Sie ist zwei Wochen nach dem 2. Schuss gestorben. Ich Depp hab, trotz meiner großen Skepsis, den Ärzten vertraut. So werden wir angelogen! Der Impfzwang ist blanker Mord.“ (Michael H.) „Ich bin Bestatter. NRW“, so beginnt ein Kurzbeitrag bei www.impfopfer.info. „Mittlerweile hole ich jede Woche jemanden ab, der nicht mehr weiterleben wollte. Vor einem Jahr kam das höchstens einmal im Monat vor. In den Abschiedsbriefen steht oft, dass man mit dem wochen- oder monatelangen reduzierten Allgemeinzustand nach der Impfe und dem enormen Gesellschaftsdruck nicht mehr weiterleben möchte. Alles gestandene Menschen über 50. Für mich sind das ganz klar auch Impfopfer.“ (Harald Wiesendanger)
- Für die Katz.
Schallende Ohrfeige für Spritzenfetischisten: Höhere Impfquoten sorgen keineswegs für weniger Infektionen – eher produzieren sie noch mehr „Fälle“. Das zeigt eine neue Vergleichsstudie der Elite-Uni Harvard, die 68 Länder weltweit und 2947 US-Bezirke einbezog. Privilegien für Geimpfte erweist sie als irrational. Einzig und allein Impfstoffe können die Pandemie beenden, so machen Regierungen, Behörden und Medien der verängstigten Bevölkerung seit Frühjahr 2020 weis. Die ließ sich daraufhin massenhaft spritzen. Nach anderthalb Seuchenjahren zeigt sich jedoch: Eher verlängert und verschlimmert die Piekserei den Notstand. Im Jahr 2020, bei einer Impfquote von nullkommanull Prozent, lagen die Spitzenwerte der Inzidenz weit unter jenen ständig neuen Höchstständen, die Deutschland im Spätherbst 2021 verzeichnen muss - trotz mindestens 80 Prozent vollständig Geimpften (1), in der Hauptrisikogruppe der Senioren sogar über 90 Prozent. Weit und breit keine Spur von „impfstoffinduzierter Herdenimmunität“, wie pharmanahe Experten sie in Aussicht stellten. Stattdessen betätigen sich Vollgeimpfte ahnungslos als Superspreader. „Was hat Impfen eigentlich gebracht?“, traut sich jetzt zumindest die Bild-Zeitung endlich zu fragen. Sie fragt zurecht, wie S. V. Subramanian vom Harvard Center for Population and Development Studies in Cambridge, Massachusetts, und sein Kollege Akhil Kumar im European Journal of Epidemiology belegen. Die beiden untersuchten die Beziehung zwischen neuen Covid-19-Fällen – mit positiven PCR-Tests als Maßstab – und dem prozentualen Anteil der Bevölkerung, der vollständig geimpft war, anhand der Daten, die bis zum 3. September 2021 der Online-Datenbank Our World in Data zu entnehmen waren. 68 Länder wurden einbezogen. Für jedes ermittelten die Wissenschaftler die Covid-19-Fälle pro 1 Million Einwohner sowie den Prozentsatz der Bevölkerung, der vollständig geimpft war. Dabei berücksichtigte das Forscherteam sogar eine einmonatige Verzögerung, die bei vollständig Geimpften auftreten könnte, da es angeblich bis zu zwei Wochen nach der letzten Dosis dauert, ehe der „volle Impfschutz“ einsetzt. Trotzdem fanden die Wissenschaftler „keine signifikanten Anzeichen dafür, dass die Covid-19-Fälle mit einem höheren Prozentsatz der vollständig geimpften Bevölkerung abnehmen", schreiben sie. Im Gegenteil, höhere Impfraten gingen sogar mit einem leichten Anstieg der Fälle einher. Diese katastrophale Zuspitzung haben mundtot gemachte Kritiker der Impfkampagne seit langem kommen sehen: Die Vakzine schwächen das Immunsystem, machen anfälliger für Infektionen. Zudem üben sie auf SARS-CoV-2 womöglich einen Selektionsdruck aus, der rascher neue, hochansteckende Varianten entstehen lässt. Sie verwandeln Geimpfte in schnelle Brüter von Mutanten. In Island und Portugal beispielsweise, wo jeweils mehr als 75 % der Bevölkerung vollständig geimpft sind, gibt es mehr Covid-19-Fälle pro 1 Million Einwohner als in Vietnam und Südafrika, wo nur etwa 10 % der Bevölkerung vollständig geimpft sind. Israel, mit mehr als 60 % vollständig geimpfter Bevölkerung, wies in den sieben Tagen vor dem 3. September 2021 die höchste Zahl von Covid-19-Fällen pro 1 Million Einwohner auf. Impf-Europameister Gibraltar kommt trotz einer nahezu 100-prozentigen Pieksquote auf eine jämmerliche Corona-Infektionsrate von 490 pro 100.000 Einwohner. Österreich kann mit 67,6 % einfach und 64,1 % doppelt Geimpften nicht verhindern, dass die Inzidenz bis Mitte November auf 754 stieg. Dieser Wert liegt in Bulgarien bloß bei 394, in Bosnien-Herzegowina sogar nur bei 167 – und das, obwohl sich in beiden Ländern kaum mehr als jeder Fünfte schon vollständig spritzen ließ. (2) Wie zur Bestätigung der Harvard-Ergebnisse stellen die jüngsten Reisewarnungen allen Impfpropagandisten ein Armutszeugnis aus. Zu den „Hochrisikogebieten“ zählen die Bundesregierung und das Robert-Koch-Institut ausgerechnet Singapur, den Asienmeister in Sachen Covid-Impfung, der mit 86,8 % einfach und 82,5 % doppelt Geimpften selbst die Volksrepublik China weit hinter sich lässt. Als „hochriskant“ gilt auch ein Urlaub auf den Seychellen, ungeachtet einer Impfquote von 85 %, und in Malaysia, trotz 78,4 % einfach und 75,6 % doppelt Geimpfter. Auf dieselben Trends wie in der Länderstatistik stieß die Harvard-Studie, als sie 2947 US-Bezirke unter die Lupe nahm. Dazu zog sie die offizielle Datenbank des „Covid-19-Teams“ des Weißen Hauses heran. Von den fünf Counties mit den höchsten Impfraten - zwischen 84,3 % und 99,9 % – standen vier auf der Liste der US-Zentren für Seuchenkontrolle und –prävention (CDC) für "hohe Übertragungsraten". In 26,3 % der 57 Bezirke mit "niedriger Übertragung" lag die Impfquote unter 20 %. Folglich „sollte das alleinige Vertrauen auf die Impfung als primäre Strategie zur Eindämmung von COVID-19 überdacht“ werden, so schlussfolgern die Studienautoren. Stattdessen hauptsächlich auf natürlich erworbene Immunität zu setzen, wäre von vornherein die bessere Idee gewesen. (Harald Wiesendanger) P.S.: Falls Sie selbst vergleichen möchten: Länderlisten mit Impfquoten und Infektionsraten bietet Statista. Anmerkungen (1) Weiterhin streuen Mainstream-Medien die Fake News, Deutschlands Impfquote liege noch unter 70 Prozent. Dabei weiß das Robert-Koch-Institut aufgrund eigener laufender Erhebungen, im Rahmen der sogenannten „Covimo-Studie“, spätestens seit Sommer 2021, dass die tatsächlichen Zahlen weitaus höher liegen: Stand 18. August betrug die Differenz zwischen Umfrage und offizieller Statistik 13 Prozentpunkte bei den mindestens einmal Geimpften, 12 Prozentpunkte bei den vollständig Geimpften. Bei den 18- bis 59-Jährigen lagen die Erstimpfúngen sogar 20 Prozentpunkte über den offiziellen Zahlen. Näheres hier. (2) Stand Mitte November 2021, nach https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1203308/umfrage/impfstoffabdeckung-der-bevoelkerung-gegen-das-coronavirus-nach-laendern/ und https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1249197/umfrage/laender-mit-der-hoechsten-corona-7-tage-inzidenz-weltweit/ Tielbild: Pete Linforth/Pixabay
- Bist du ein „Vor-Verbrecher“?
Ein amerikanisches IT-Unternehmen hat eine Software entwickelt, die Verbrecher aufspüren soll, ehe sie es werden. Dazu analysiert sie, was Menschen im Internet tun – ein perfektes Kontrollwerkzeug der näherrückenden „Neuen Weltordnung“. Polizei, Geheimdienste und Militär testen es bereits. Das Tech-Startup Voyager Labs unterstützt Strafverfolgungsbehörden dabei, anhand unserer Posts, Interaktionen und Zugehörigkeiten in sozialen Medien festzustellen, ob wir uns eines pre-crime schuldig machen, eines „Vorverbrechens“ - indem wir etwas Kriminelles "planen" oder zumindest dazu neigen. Die Softwareschmiede gehört zu einer wachsenden Zahl von Unternehmen, die behaupten, mittels Analysen des Nutzerverhaltens im Internet strafbare Delikte vorhersagen und aufklären zu können. Das Brennan Center for Justice, eine gemeinnützige Organisation in New York, erreichte die Herausgabe von brisanten Unterlagen über Voyagers Kundenkreis. Diesen zufolge nutzt die US-Polizei die Software bereits seit Jahren, um Personen zu ermitteln und zu überwachen, deren Aktivitäten in sozialen Medien auf mögliche Straftaten schließen lassen. Dazu genügt es, einen Instagram-Namen zu verwenden, der arabischen Stolz zeigt, oder Tweets über den Islam abzusetzen; Voyager wertet sie als Anzeichen für eine „mögliche Neigung zum Extremismus“. Auch kann sie dazu dienen, eine beliebige Gruppe, die als verdächtig, gewaltbereit und staatsgefährdend gilt, ins Visier zu nehmen. Strafverfolgungsbehörden ermöglicht sie sogar, Gruppen und private Konten mittels gefälschter Identitäten zu infiltrieren. Voyager erlaubt es, anhand öffentlich zugänglicher Informationen „Profile“ zu rekonstruieren. Das schließt ein, Häufigkeit, Art und Stärke der Verbindungen von Menschen in sozialen Medien „aufzudecken“. Das Tool soll Personen identifizieren, die „am stärksten in eine gewisse Haltung investiert sind: emotional, ideologisch und persönlich". Das Ausspähen hinterlasse keinerlei Spuren, so versichert der Hersteller. Vor neun Jahren gegründet, residiert Voyager Labs in New York, nur ein paar Schritte vom Central Park entfernt. Inzwischen unterhält das Unternehmen Niederlassungen in der ganzen Welt, darunter in Washington, Singapur, Großbritannien und Israel. Es gehört zu einer wachsenden Zahl von Technologiefirmen, die sich mit der Analyse sozialer Medien für die Strafverfolgung befassen. Die Voyager Labs sind ein kleiner Fisch in einem großen Teich. Zu ihren rührigen Wettbewerbern zählen Babel Street, Digital Stakeout, Cobwebs, Palantir, Media Sonar, Dataminr, Palantir, PredPol, Snaptrends und Geofeedia. Auf ihren Kundenlisten stehen unter anderem das US-Heimatschutz- und Justizministerium; das US-Militär, Geheimdienste und FBI; die Polizei von New York, Chicago, Seattle und mehreren weiteren Städten. Kein soziales Medium ist vor ihnen sicher: Von Facebook über Twitter und Instagram bis YouTube, Google+, Flickr, Snap, TikTok, VK, Reddit, 4chan und 8chan durchleuchten sie jedes, wie auch “Nischenblogs und Foren”. Die Technologie, die diese Firmen anbieten, sind für Strafverfolger verlockend, weil sie die Verbrechensbekämpfung automatisieren und beschleunigen kann. Das ist kein dystopischer Zukunftstraum – es geschieht bereits. Aus den Unterlagen, die sich das Brennan Center beschaffen konnte, geht hervor, dass die Polizei von Los Angeles (LAPD) zwischen Juli und November 2019 bereits einen viermonatigen Test der Voyager-Tools durchführte. Anschließend verhandelte es mit den Labs über einen dauerhaften Vertrag. Daraufhin bot Voyager ihr zum Vorzugspreis von 453.560 US-Dollar, incl. 50 % Rabatt, eine dreijährige Software-Lizenz an, die 25 Usern unter anderem bis zu 31.500 personenbezogene Einsätze pro Jahr erlaubt. Die LAPD hat auch schon mit anderen Unternehmen dieser Art zusammengearbeitet oder eine Kooperation zumindest in Erwägung gezogen. Muslimbruder als Vorzeigefall Was Voyager kann, führen seine Entwickler gerne am Beispiel (1) eines New Yorker Aktivisten einer Muslim-Bruderschaft vor. Im März 2020 hatte er ein Video gepostet, in dem er Follower aufforderte, Mitglieder der ägyptischen Regierung mit dem Covid-19-Erreger zu infizieren. Daraufhin nahm Voyager all seine Freunde ins Visier. Es spürte seine closest connections auf - Accounts, die mit seinem Profil besonders ausgiebig interagierten -, wie auch mediators, eng Verbundene, die auch in starker Beziehung zu seinen anderen Freunden standen. Darüber hinaus ermittelte Voyager alle friends of friends, auf der Suche nach indirect connections zu Leuten, die eine „extremistische Bedrohung“ darstellen könnten. Innerhalb dieses Netzwerks machte Voyager tatsächlich Personen ausfindig, die im Regierungsapparat tätig waren, weshalb sie leichteren Zugang zu Offiziellen hatten. Das Prinzip: „Schuldig-durch-Verbindung“ Laut Dokumenten, welche die britische Tageszeitung The Guardian aus dem Brennan-Material veröffentlichte, verwendet Voyager ein "Schuldig-durch-Assoziation"-Modell.„Die Software sammelt alle öffentlichen Informationen über eine Person oder ein Thema - einschließlich Beiträgen, Kontakten und sogar Emojis -, analysiert und indexiert sie und vergleicht sie dann in einigen Fällen mit nicht-öffentlichen Informationen“. Daraus erstellt sie „eine Topografie der gesamten Social-Media-Existenz einer Person“. "Die Software zeigt an, wie jemand mit anderen verbunden ist, wie stark diese Beziehungen sind und welche ‚indirekten Verbindungen‘ bestehen, etwa bei Personen mit mindestens vier gemeinsamen Freunden.“ Das System katalogisiert nicht nur die Kontakte einer Person, sondern auch alle Inhalte oder Medien, die diese Kontakte gepostet haben, einschließlich Statusaktualisierungen, Bilder und Geotags. Auch Freundschaften zweiten und dritten Grades bezieht es mit ein, um "bisher unbekannte Mittelsmänner oder Fälle unzulässiger Verbindungen aufzudecken". Selbst wenn jemand, der mittels Voyager-Software verfolgt wird, einen Freund oder einen Beitrag aus seinem eigenen Account löscht, bleibt dies in seinem Voyager-Profil archiviert. „Ideologische Solidarität“ wird verdächtig Die Firma behauptet, sie könne "Stimmungsanalysen" in Echtzeit durchführen, jemandes sozialen Aufenthaltsort“ bestimmen und neue Hinweise bei der Untersuchung "ideologischer Solidarität" liefern. "Wir verbinden nicht nur bestehende Punkte", so heißt es in einem Werbedokument von Voyager. "Wir schaffen neue Punkte. Was wie zufällige und belanglose Interaktionen, Verhaltensweisen oder Interessen erscheint, wird plötzlich klar und verständlich." Ein Dienst, den das Unternehmen VoyagerDiscover nennt, präsentiert soziale Profile von Menschen, die sich "in ihrem Herzen am stärksten mit einer Haltung oder einem bestimmten Thema identifizieren". Dem Unternehmen zufolge berücksichtigt das System persönliches Engagement, emotionale Beteiligung, Wissen und Aufforderungen zum Handeln, so heißt es in den Unterlagen. Meredith Broussard, Professorin für Datenjournalismus an der New York University und Autorin des Bestsellers Artificial Intelligence: How Computers Misunderstand the World, verglich Voyager mit Systemen, die für das Online-Ad-Targeting verwendet werden. Sie ordnen uns auf der Grundlage gemeinsamer Interessen bestimmten "Affinitätsgruppen" zu: "Anstatt Menschen in Gruppen wie 'Haustierbesitzer' einzuteilen, steckt Voyager sie in 'Gruppen' von wahrscheinlichen Kriminellen", erklärte Broussard. "Es ist ein 'Schuld durch Assoziation'-System". Zusammenarbeit mit der Polizei Öffentlich zugängliche Daten ergänzt die Voyager-Software mit Informationen, die das Unternehmen von Strafverfolgungsbehörden durch Durchsuchungs-, Haftbefehle und Vorladungen. Hinzu kommen Analysen von privaten Textnachrichten und Daten über die geolokalisierten Aufenthaltsorte einer Person. Laut Hersteller kann die Software auch auf verschlüsselte Informationen bei Telegram zugreifen. Ein sogenannter „Premium-Dienst“ namens Active Persona bietet Kunden die Möglichkeit, „Avatare“ zu verwenden, um "Informationen zu sammeln und zu analysieren, die sonst nicht zugänglich sind". Dem Guardian zufolge „sind die Polizeidienststellen oft nicht bereit, auf den Einsatz dieser Instrumente zu verzichten, selbst angesichts eines öffentlichen Aufschreis der Empörung und obwohl es kaum Beweise dafür gibt, dass sie zur Verringerung der Kriminalität beitragen“. Die Behauptungen von Voyager, es verwende "hochmoderne KI-basierte Technologien" wie "maschinelles Lernen", "kognitives Computing" und "kombinatorische und statistische Algorithmen", seien im Grunde nur "Wortsalat", meint Cathy O'Neil, eine Datenwissenschaftlerin und CEO von Orcaa, einer Firma, die Algorithmen prüft. "Sie sagen: 'Wir verwenden große Mathematik'. Das sagt eigentlich nichts darüber aus, was sie tun." Tatsächlich, so O'Neil, lieferten Unternehmen wie Voyager im allgemeinen kaum Beweise dafür, dass ihre Algorithmen die von ihnen behaupteten Fähigkeiten tatsächlich besäßen. Das Problem bei dieser Art von Marketing sei, so O'Neil weiter, dass es als Deckmantel für voreingenommene Polizeipraktiken dienen könne: "Wenn es ihnen gelingt, die Menschen dazu zu bringen, ihrem Algorithmus zu vertrauen, ohne dass es einen Beweis dafür gibt, dass er funktioniert, dann kann er als Waffe eingesetzt werden.“ Datenschutz war gestern, rechtmäßiges Verhalten wird kriminalisiert Diese Art von Software verletzt die Privatsphäre und kriminalisiert ansonsten rechtmäßiges Verhalten wie den Umgang mit bestimmten Personen. Für den Strafverteidiger John Hamasaki, Mitglied der Polizeikommission in San Francisco, ist „das Ausmaß, in dem sich Voyager private Informationen beschafft, einfach viel zu weit gefasst." Dass die Polizei nun persönliche Daten mit Hilfe von KI-Technologie analysieren kann, die Unternehmen wie Voyager bereitstellen, werfe massive Bedenken hinsichtlich der bürgerlichen Freiheiten und des Datenschutzes auf. "Ich mache mir Sorgen darüber, wie niedrig die Schwelle für Tech-Unternehmen ist, die explizit die Überwachung durch die Polizei ermöglichen", sagt Chris Gilliard, Professor am Macomb Community College und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Shorenstein Center der Harvard Kennedy School. "Es gibt eine lange Geschichte von Strafverfolgungsbehörden, die Aktivisten ausspionieren - die völlig legalen Aktivitäten nachgehen -, um Menschen einzuschüchtern oder Bewegungen zu stören. Aus diesem Grund sollte die Messlatte für Unternehmen, die die Überwachung durch die Polizei unterstützen, sehr hoch liegen." Perfektes Kontrollwerkzeug Technokratischen Wahrheitswächtern der „Neuen Weltordnung“ bietet Software wie „Voyager“ ein perfektes Kontrollinstrument. Ihr Potenzial könnte sie spätestens beim nächsten echten oder angeblichen Notstand entfalten – bei einer P(l)andemie beispielsweise. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich auszumalen, wie ein derartiges Tool die polizeiliche Überwachung in Pandemiezeiten „optimieren“ kann. Du glaubst das gleiche wie einer, der eure Überzeugung mit jemandem teilt, der als Maskenverweigerer, als Teilnehmer einer verbotenen Anti-Corpona-Demo, als Benutzer eines gefälschten Impfpasses aufgefallen ist? Du bist Mitglied einer Online-Gruppe, in der irgendwer zum Widerstand gegen die Staatsgewalt aufgerufen hat? Deine Posts „liked“ hin und wieder jemand, der mit „Querdenkern“ sympathisiert, welche bekanntlich der Verfassungsschutz beobachtet? All das macht dich verdächtig – erst recht, wenn dir alle drei „Vor-Verbrechen“ zur Last gelegt werden können. Übertrieben? Die Coronakrise lehrt: Wer abweichende Meinungen unterstützt und vertritt, staatliche Maßnahmen wie Ausgangssperren, Reiseverbote und Lockdowns kritisiert, Regierenden den Gehorsam verweigert, die Aussagekraft von Tests und die Wirksamkeit von Masken bezweifelt oder gar Impfungen für unnötig, unwirksam und unsicher erklärt, der sieht sich nicht nur in immer stärkerem Maß geächtet und zensiert – er wird geradezu kriminalisiert. „Die bringen Menschen um“, wetterte US-Präsident Joe Biden kürzlich über Leute, die im Internet „Lügen“ über die Pandemie verbreiten; damit stellt er „Desinformanten“ auf eine Stufe mit Mördern. Eltern, die gegen Covid-Restriktionen in Schulen demonstrieren, müssen sich zu „inländischen Terroristen“, domestic terrorists, stempeln lassen. Ein Medizinprofessor plädiert dafür, Kritik an dem umstrittenen Regierungsberater Anthony Fauci und anderen Experten als „hate crime“ und „antiscience aggression“ zu verfolgen. (2) Die WHO erklärt Impfgegner zu einer der „zehn größten globalen Gesundheitsbedrohungen“. (3) Bereits in der Frühphase der Pandemie, Mitte März 2020, hatte Niedersachsens SPD-Innenminister Boris Pistorius gefordert, „Falschnachrichten“ unter Strafe zu stellen. Es müsse verboten werden, öffentlich „unwahre“ Behauptungen über die Versorgungslage der Bevölkerung, die medizinische Versorgung oder Ursache, Ansteckungswege, Diagnose und Therapie der Erkrankung Covid-19 zu verbreiten. (4) Hier müsse die Meinungsfreiheit enden, meint auch Bill Gates. Alle Regierungen der Welt fordert er auf, jeden zu bestrafen, der sich online gegen Masken und Impfstoffe ausspricht. Es sei wichtig, "falsche Informationen" über das neuartige Coronavirus und die staatlich zugelassenen "Impfstoffe" konsequent zu unterdrücken. Staatliche Organe sollten endlich die Kontrolle über die Internetdiskussionen übernehmen. (5) Dabei ist Gates gerne behilflich. Um „Desinformation“ weltweit noch wirksamer zu bekämpfen, hat er vor kurzem ein neues Bündnis großer Medien- und Tech-Unternehmen geschmiedet. Die Coalition for Content Provenance and Authenticity (C2PA) soll die technischen Voraussetzungen dafür schaffen, das Internet von „Fake News“ und „Verschwörungstheorien“ zu säubern – umfassend und ein für allemal: „Dieses Zeug muss weg.“ (Näheres hier.) Gates vergaß zu erwähnen, dass die geforderte Kontrolle längst stattfindet. Von der Zensur zur Verfolgung Vom öffentlichen Pranger über Zensur bis bis zur strafrechtlichen, per Gesetz abgesegneten Verfolgung ist es erfahrungsgemäß ein kleiner Schritt. Am 20. Mai 2021 unterzeichnete Joe Biden einen Covid-19 Hate Crime Act, der sich zu einem gesetzlichen Totschläger für jegliche Kritiker des Hygieneregimes ausbauen lässt. In Australien verabschiedete der Senat Ende August 2021 ein weitreichendes Gesetz zur Internetüberwachung. Das "Surveillance Legislation Amendment (Identity and Disrupt) Bill 2020" verschafft der Australian Criminal Intelligence Commission (ACIC) sowie der Australian Federal Police (AFP) neue umstrittene Befugnisse. Beide Strafverfolgungsbehörden dürfen jetzt "Datenunterbrechungen“ vornehmen, um "die Fortsetzung krimineller Aktivitäten durch Teilnehmer zu verhindern“, insbesondere solcher, die sich „an unbekannten Orten befinden oder unter anonymen oder falschen Identitäten handeln". Ein "Network Activity Warrant" erlaubt es Ermittlern, die Internetaktivitäten eines Verdächtigen zu überwachen, um Informationen zu sammeln. Angeblich dient das neue Gesetz bloß dazu, um schwere, organisierte Cyberkriminalität zu bekämpfen. Doch ab September häuften sich in sozialen Medien erschreckende Berichte und Filmaufnahmen von Bürgern, die wegen missliebiger Posts in sozialen Medien Hausbesuche von der Polizei bekamen. Australische Strafverfolger scheinen Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter systematisch zu durchsuchen und nach Nutzern zu fahnden, die corona-maßnahmenkritische Proteste unterstützen könnten. "Wir möchten uns mit Ihnen zu unterhalten, weil wir Hinweise darauf haben, dass Sie einige Dinge in den sozialen Medien gepostet haben", sagt der Polizist in Zivil in einem TikTok-Video, das viral ging. „Ich bin hier, um Sie daran zu erinnern, dass Sie in Bezug auf COVID und die Anweisung, zu Hause zu bleiben, zu Hause bleiben müssen." In einem anderen weitverbreiteten Video fragt ein Beamter einen Mann vor dessen Haustür: "Sind Sie sich bewusst, dass gewisse Mitteilungen über bevorstehende Proteste unter den Leuten kursieren? (…) Nutzen Sie irgendeine Plattform zur Kommunikation“ (mit Protestlern)? In Griechenland ist die Leugnung der Pandemie, die Verbreitung von Verschwörungstheorien und der Aufruf, Pandemieregeln zu brechen, seit August 2020 strafbar. (6) Auf Anordnung von Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis verfolgt die Staatsanwaltschaft solche Gedankenerbrechen unerbittlich. Eine Cyber Crime-Einheit der griechischen Polizei überwacht Blogs, Internetmagazine und soziale Netzwerke. „Wir werden alle rechtlichen Maßnahmen ergreifen, damit die öffentliche Gesundheit nicht durch Fehlinformationen oder Verschwörungstheorien bedroht wird, die im Internet in Umlauf gebracht werden“, erklärt der Minister. „Das Coronavirus ist nicht für Aufrufe zum Ungehorsam oder Verschwörungsszenarien geeignet. Bei jeder Tat, bei jeder unserer Handlungen müssen die Verantwortung und das Bewusstsein über die Konsequenzen für unsere Mitbürger überwiegen. Der Staat wird die Schaffung von Brutstätten für die öffentliche Gesundheit durch sozial unverantwortliche Verhaltensweisen nicht zulassen.“ Amnesty International beklagt ein „Klima der Angst“ „Staatsfeindliche Bewegungen“ heißt eine Richtlinie von Niederösterreichs Landesgesundheitsagentur, die am 1. November 2020 in Kraft trat. „Anhänger staatsfeindlicher Bewegungen“, so wird der Feind einleitend definiert, „ erkennen – vereinfacht gesagt – den Staat sowie dessen Institutionen nicht an, lehnen behördliche Maßnahmen (Bescheide, Urteile, etc.) ab“ - wie etwa die Masken- und Testpflicht, Ausgangssperren, Zutrittsverbote für Ungeimpfte – „und/oder versuchen den Vollzug von Maßnahmen zu verhindern. (…) Die Staatsfeinde treten unter anderem mittels (…) Nichtanerkennungen von Verfahrensmaßnahmen (---) an die staatlichen Organe heran.“ Wie umgehen mit solchem Gesindel? Ihr Vorgehen „darf nicht nicht ignoriert werden. So ist auf eine konsequente Durchführung der nötigen Handlungen zu achten und sind die dienstlichen Tätigkeiten zielstrebig zu Ende zu führen. Grundsätzlich gilt: Diskussionen über unhaltbare Rechtsansichten, fehlende „Legitimierungen“ etc. sind nicht zu führen und jeder Schriftwechsel ist auf das Nötigste zu beschränken.“ In Deutschland existiert inzwischen ein „Nationaler Cyber-Sicherheitsrat“, der seine Aufgaben wie folgt umreißt: „Zu erforschen ist, wie Desinformation, Deepfakes, Malicious Social Bots und ihre Verbreitungswege erkannt, gekennzeichnet, gesperrt und gelöscht werden können. Zu untersuchen sind Charakteristika von Desinformation und ihre Wirkungen auf Einzelne und die Gesellschaft sowie politische und rechtliche Gegenmaßnahmen, die eine effektive Bekämpfung bewirken, ohne Meinungsfreiheit zu behindern.“ Es geht also zumindest um ein von „schädlichen Informationen“ gereinigtes Internet. Dafür sorgen immer öfter, immer rigoroser Landesmedienanstalten. Reihenweise versenden sie an Betreiber coronakritischer Internetplattformen Mahnbriefe, in denen sie Löschungen oder Korrekturen bestimmter Beiträge fordern. Dabei verhängen sie heftige Bußgelder und drohen mit dem Entzug der „Rundfunklizenz“. (7) Die Rechtsgrundlage dafür, Spähsoftware wie Voyager europaweit einzusetzen, schuf die EU am 6. Juli 2021: Da stimmte das Europäische Parlament einer Verordnung zu, die es Chat- und Messenger-Providern erlaubt, private Chats, Nachrichten und E-Mails massenhaft, anlass- und unterschiedslos auf verdächtige Inhalte durchsuchen. Die offizielle Begründung: Strafverfolgung von Kinderpornographie. Die Konsequenz: Massenüberwachung durch vollautomatisierte Echtzeit-Chatkontrolle, durch Künstliche Intelligenz - und damit die Abschaffung des digitalen Briefgeheimnisses. Kurz darauf kündigte die Europäische Kommission eine Folgeverordnung an, die solche Chatkontrolle verpflichtend machen soll. Indizien dafür, dass wir im Sinne von Wahrheitswächtern zu „verbrecherischen“ Sozialschädlingen, zu Gedankenterroristen werden, kann eine Spähsoftware vollautomatisch sammeln. Was für Beiträge posten, liken, teilen wir? Wie intensiv tun wir das? Was kommentieren wir zustimmend, was eher negativ? Welche Emojis verwenden wir? Wem folgen wir, welchen Gruppen gehören wir an? Welche Newsletter abonnieren wir? Für welche Veranstaltungen melden wir uns online an? Rufen wir berüchtigte Fake-News-Seiten wie KLARTEXT auf? Wie häufig tun wir das? Was für Texte lesen wir dort wie lange? Mit jedem Klick werden wir virtuell Teil einer Gruppe: Wir tun dasselbe wie jemand, der womöglich bereits durch Gesetzesverstöße aufgefallen ist – oder dazu neigt, wie sein Surfverhalten nahelegt. Die pure Assoziation macht uns verdächtig. Wir laden Kontaktschuld auf uns. In den meisten westlichen Ländern erschöpfen sich Sanktionen dafür vorerst noch in sozialer Ächtung und öffentlicher Denunziation. Wie sie sich „weiterentwickeln“ lassen, führt das rotchinesische Sozialpunktesystem vor Augen. Die Strafenskala reicht von Geldbußen über Einschränkungen der Bewegungsfreiheit bis hin zu Haft. Zensur, Schikane und Kriminalisierung von Corona-Maßnahmen-Kritikern beklagt Amnesty International. „Ein Klima der Angst entsteht“, warnt die Menschenrechtsprganisation in ihrem jüngsten Bericht. (8) „Weite Teile der Weltbevölkerung leiden unter den Einschränkungen der Meinungsfreiheit. (…) "Der Begriff "Fake News" wurde auch von einer Reihe von Beamten und Politikern verwendet, um echte Informationen und legitime Kommentare und Meinungen zu bezeichnen, um Geschichten, Meinungen und Berichte zu untergraben und zu diskreditieren, die kritisch oder unabhängig von ihnen sind. (…) Die Meinungsfreiheit ist der Schlüssel, um Regierungen für ihre politischen Reaktionen auf die Gesundheitskrise zur Rechenschaft zu ziehen.“ „Dramatischer Verfall“ der Meinungsfreiheit Die Corona-Pandemie habe zu einem "dramatischen Verfall" der Freiheit im Internet geführt: Zu diesem Ergebnis kommt auch die nichtstaatliche US-Organisation Freedom House in ihrem jährlichen "Freedom on the Net Report", der untersucht, wie es international um die digitale Redefreiheit und das Recht auf die eigenen Daten steht. Seit Beginn der Coronakrise zeige sich ein "besonders düsteres" Bild. Staatliche und private Akteure in zahlreichen Ländern hätten die Krise genutzt, um online veröffentlichte Informationen zu steuern, kritische Berichte zu unterdrücken und neue Technologien zur sozialen Kontrolle zu installieren. In mindestens 28 von 65 untersuchten Ländern seien Websites gesperrt oder einzelne Nutzer, Plattformen oder Online-Publikationen gezwungen, Informationen über die Ausbreitung der Pandemie zu löschen. Neue Gesetze zur Eindämmung vermeintlich falscher Nachrichten über das Infektionsgeschehen oder zum Erhalt der öffentlichen Ordnung würden vielfach missbraucht. In mindestens 30 Ländern finden laut dem Bericht Überwachungsmaßnahmen in direkter Partnerschaft mit Telekommunikationsanbietern und anderen Unternehmen statt. Dem Bericht zufolge werde es "schwierig, wenn nicht unmöglich" sein, solche Instrumente zur Überwachung wieder außer Betrieb zu nehmen, nachdem das Virus bezwungen ist. Die Geschichte zeige, "dass neue staatliche Vollmachten für gewöhnlich die ursprüngliche Bedrohung überdauern". Wie entziehen wir uns der Kontrollwut, wenn nicht durch Totalausstieg aus sozialen Medien? Entweder wir posten und klicken ab sofort nur noch ganz brav systemkonform, um bloß keinen Verdacht zu erregen. Oder wir beschränken unsere potenziellen „Vor-Verbrechen“ auf jene Nischen des Cyberspace, in denen wir noch anonym agieren können. Die eigene IP-Adresse verschleiern lässt sich mittels Tor, einem Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten. Im Internet ist Tor gratis erhältlich. Dass erst 2,4 Millionen User es täglich verwenden, verdeutlicht, wie unterentwickelt das allgemeine Bewusstsein für technokratische Bedrohungen immer noch ist. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) https://www.brennancenter.org/our-work/analysis-opinion/lapd-documents-show-what-one-social-media-surveillance-firm-promises; https://www.theguardian.com/us-news/2021/nov/17/police-surveillance-technology-voyager (2) https://www.infowars.com/posts/baylor-prof-says-it-should-be-a-hate-crime-to-criticize-fauci-other-scientists/; https://reclaimthenet.org/hate-crime-protections-extend-to-criticism-of-dr-fauci/ (3) https://www.who.int/news-room/spotlight/ten-threats-to-global-health-in-2019; https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/impfen-who-erklaert-impfgegner-zur-globalen-bedrohung-fuer-die-gesundheit-a-1248913.html (4) https://www.spiegel.de/politik/deutschland/coronavirus-boris-pistorius-fordert-strafen-gegen-fake-news-a-ed5050b5-c194-4890-a4c3-c713290134f3; https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-kritik-an-forderung-nach-strafen-fuer-100.html; https://www.haz.de/Nachrichten/Der-Norden/Pistorius-fordert-Strafen-fuer-Verbreitung-von-Corona-Fake-News (5) https://youtu.be/CZplF4qdwII ; https://telegra.ph/Bill-Gates-fordert-die-Regierungen-der-Welt-auf-jeden-zu-bestrafen-der-sich-online-gegen-Masken-und-Impfstoffe-ausspricht-11-12 (6) https://www.heise.de/tp/features/Corona-Leugnung-in-Griechenland-strafbar-4881977.html, http://www.topontiki.gr/article/401402/i-dioxi-ilektronikoy-egklimatos-esteile-ston-eisaggelea-21-periptoseis-gia-theories (7) http://blauerbote.com/2021/02/19/zensur-durch-landesmedienanstalten-schon-lange-angekuendigt/; http://blauerbote.com/2018/08/23/bloggen-nur-noch-mit-staatlicher-rundfunklizenz/ (8) https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/covid-19-angriffe-meinungsfreiheit; https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-10/Amnesty-Bericht-Global-Covid19-Meinungsfreiheit-Silenced-and-misinformed-Oktober-2021.pdf
- Wer gesundes Wasser will, muss filtern
Wer auf reines, vitales, gesundheitlich unbedenkliches Trinkwasser Wert legt, sollte sich einen hochwertigen Filter zulegen. Die besten Anlagen beruhen auf dem Prinzip der Umkehr-Osmose: Sie entfernen zuverlässig über 99 Prozent aller Schadstoffe – sogar Viren und Mikroplastik, Rückstände von Pestiziden und Arzneimitteln. Wasser ist unersetzlich, das Lebenselixier schlechthin. Ohne es hätte auf unserem Planeten keine biologische Evolution stattfinden können. Unser Körper besteht zu 70 Prozent daraus, Gehirn und Blut sogar zu 80 Prozent. Rund zwei Liter davon benötigen wir täglich, um auszugleichen, was mit Schweiß und Atmung, Urin und Kot verlorengeht. Schon ab einem Flüssigkeitsverlust von zehn Prozent setzen Konzentrations- und Sprachstörungen ein; uns wird schwindlig, wir fühlen uns schwach, der Gang wird unsicher. Weiterer Wasserentzug macht lethargisch, der Blutdruck sinkt. Weil die Nieren weniger Urin ausscheiden, reichern sich Harnsäure und andere Abbauprodukte des Stoffwechsels im Blut an. Eine innere Vergiftung setzt ein. Schon nach kurzer Zeit schädigen die Toxine Muskelgewebe und Nervenzellen. Bald versagen die Nieren, wir fallen ins Koma, das Herz bleibt stehen. Nach spätestens zwölf Tagen Wasserentzug wären wir tot, in der Regel schon nach zwei bis sechs. (1) Aber nicht nur zuwenig Wasser, auch verunreinigtes kann uns krank machen - und auf die Dauer umbringen. Wie vermeiden wir gefährliche Schadstoffbelastungen, wenn wir unseren Durst stillen? Am falschen Ende gespart Die vermeintlich billigsten Optionen – Niederschläge auffangen, Quellen anzapfen – scheinen zugleich die natürlichsten. Garantiert gesund sind sie aber keineswegs. Das Regenwasser, das viele Hausbesitzer in einer Tonne unter dem Fallrohr der Dachrinne auffangen, hat auf seinem langen Weg aus der Wolke zur Erde reichlich Schadstoffe und Bakterien an sich gebunden. Diese Verunreinigungen zu beseitigen, erfordert aufwändiges Filtern. Und Quellwasser? Frei von Schadstoffen ist es üblicherweise nur, sofern es aus Höhenlagen stammt. Dort hat es seinen Weg durch zahlreiche Gesteinsschichten gebahnt, die es filterten, mit Mineralien und Sauerstoff anreicherten. Wasser aus Quellen im Flachland oder in niedriger Höhe ist hingegen häufig mit Pestiziden und Fungiziden, Fäkalkeimen und Schwermetallen verunreinigt. (2) Wer sich eine solche Giftbrühe in Kanister abfüllt, spart am falschen Ende. Was er heimschleppt, eignet sich allenfalls für den Garten, aber nicht für die Küche. Das spricht dafür, Trinkwasser fertig abgefüllt zu kaufen. Aber verdienen die Anbieter unser Vertrauen? Wie „rein“ ist Flaschenwasser? Wer im Supermarkt in Einkaufswägen, in Restaurants auf die Nachbartische guckt, dem wird klar: Deutsche stehen auf „natürliches“, trinkfertig abgefülltes Mineralwasser. Es unterliegt staatlicher Kontrolle und heißt so, weil es reich an Mineralstoffen ist. Seit langem ist es das mit Abstand beliebteste alkoholfreie Kaltgetränk. 161 Liter konsumierte jeder Bundesbürger im Jahre 2018 – Anfang der siebziger Jahre waren es noch bescheidene 13 Liter gewesen. (3) 189 Betriebe der deutschen Mineralbrunnenindustrie bieten über 500 verschiedene Mineralwässer und 35 „Heilwässer“ an. Pro Jahr verdienen sie über eine Milliarde Euro an 10,4 Milliarden verkauften Litern. Einen gewaltigen Marketingaufwand betreiben sie hierfür, damit auch dem letzten Konsumenten die frohe Botschaft ins Hirn sickert: Flaschenwasser ist „pure Natur“, von „reinster“ Qualität, abgezapft aus besten Quellen in unberührter Landschaft. Wie kommen wir an das Abgezapfte? Drei von vier Flaschen, die wir den Herstellern abkaufen, bestehen nicht mehr aus Glas, sondern bequemerweise aus Plastik, vornehmlich PET. Wie praktisch, wie bequem, solche Behältnisse erleichtern uns das Tragen, und zu Bruch gehen sie nie. Aus den Plastikhüllen lösen sich jedoch hochgiftige Chemikalien, insbesondere Bisphenol A (BPA), neben Acetaldehyden, Weichmachern wie DEHP und Phthalaten. Dieses „Auslaugen“ geschieht zeit- und wärmeabhängig: Je länger sich eine Flüssigkeit in der Kunststoffverpackung befindet, desto mehr geht in sie über. Die austretende Menge nimmt mit der Temperatur zu. Wer so einen Giftcocktail bedenkenlos zu sich nimmt, kennt den Forschungsstand nicht. In neun von zehn Urinproben, die 190 Männer mit Fruchtbarkeitsproblemen ablieferten, fand sich BPA; bei jenen, die besonders hohe BPA-Konzentrationen aufwiesen, ließen sich unter anderem eine um 23 % geringere Samenkonzentration sowie rund 10 % mehr DNA-Schäden feststellen. Neue Studien deuten darauf hin, dass einem erhöhter BPA-Spiegel im Blut mit Diabetes, Herz-Kreislaufproblemen, fehlender Libido und Fettleibigkeit zusammenhängt. Darüber hinaus steht Bisphenol im Verdacht, die Bildung von Zahnschmelz zu stören. Es fördert die Entwicklung von Tumoren. Zudem entfaltet Bisphenol hormonähnliche Wirkungen: Bei Versuchstieren stört es die Sexual- und Hirnentwicklung. Männliche Mäuse zeigten nach BPA-Gaben weibliche Verhaltensweisen; Artgenossinnen mieden sie daraufhin. Viele Verbraucher lassen sich von der Werbung für „Bisphenol-A-freie“ Kunststoffflaschen beeindrucken. Sie bestehen aus dem neuartigen Ersatzmaterial Tritan: einem thermoplastischen Kunststoff, der geschmacksneutral, lebensmittelecht, wärmebeständig, bruchsicher und spülmaschinenfest bis 80 Grad ist. Allerdings fand ein amerikanisches Forscherteam darin ebenfalls östrogenartige Substanzen. Was sie langfristig in uns anrichten, weiß bisher niemand. Also sind wir auf der sicheren Seite, wenn wir unser Mineralwasser vorsichtshalber aus altmodischen Glasflaschen trinken? Toxikologen der Goethe-Universität Frankfurt fanden in 12 von 20 untersuchten Mineralwässern hormonähnliche Stoffe – auch in Glasbehältern, wenngleich seltener und niedriger konzentriert als in Plastikflaschen. (4) Darüber hinaus stieß die Stiftung Warentest in Flaschenwasser auf Pestizidrückstände. Auch zu hohe Bor- und Uranwerte sowie Spülmittelreste, Süßstoffe, Korrosionsschutzmittel sowie ein Pilz kamen bei Stichproben zum Vorschein. Zu diesem Skandal trägt bei, dass die deutsche Mineralwasserverordnung zum Teil erheblich höhere Grenzwerte erlaubt, als sie für Trinkwasser gelten. Dieses darf beispielsweise höchstens 10 Mikrogramm (µg) Blei und Arsen pro Liter enthalten – Mineralwasser hingegen bis zu 50 µg Arsen und 40 µg Blei pro Liter. (5) Der Stiftung Warentest zufolge enthält Leitungswasser oft mehr Mineralstoffe und weniger bedenkliche Rückstände als Flaschenwasser. Öko-Test fand 2020 und 2021 in einem Großteil der insgesamt 150 untersuchten Mineralwässer Problemstoffe wie krebserregendes Chromat und Pestizidreste, Nitrat, Bor und Uran. „Leitungswasser ist die bessere Wahl“, folgerten die Tester. Zudem löst sich ein Hauptargument für teures Mineralwasser – die Versorgung mit wertvollen Mineralien – bei näherer Betrachtung in Luft auf. Wie viele Käufer wissen, dass ihr Körper organisch gebundene Mineralstoffe wesentlich einfacher verwerten kann als anorganische? Zuallererst greift er auf Mineralstoffe und Spurenelemente zu, die bereits andere lebende Organismen – Pflanzen oder Tieren – verstoffwechselt haben. Nur wenn diese aufgrund von Ernährungsfehlern nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen, baut er auch die im Wasser enthaltenen Stoffe ab. Warum schleppen wir unser Trinkwasser überhaupt von irgendwoher mühsam nach Hause, anstatt es viel bequemer und billiger einfach aus dem heimischen Wasserhahn abzuzapfen? Im Hinblick auf den Umweltschutz ist abgefülltes H2O aus dem Supermarkt hirnrissig: Die Transporte von Fabriken zum Einzelhandel, von Verkaufsstellen zu Haushalten kosten viel Energie; das Flaschenreinigen verbraucht Wasser; übliche Plastikflaschen werden bloß einmal benutzt; ihr Material ist biologisch nicht abbaubar. Wer auf Flaschenwasser verzichtet, gibt nebenbei ein angebrachtes wirtschaftspolitisches Statement ab; er macht Branchenmultis wie Nestlé, Coca-Cola und Pepsi einen Strich durch die Rechnung. Sie sacken Milliardengewinne ein, indem sie rund um den Globus örtliche Quellen und Grundwasserreservoirs anzapfen, Einheimische damit ihrer Lebensgrundlage berauben – und das abgepumpte Nass dann mit abertausendfachem Profit weiterverhökern. Im übrigen überprüfen staatliche Stellen die angebliche „Reinheit“ von Flaschenwasser allenfalls stichprobenartig, während die Qualität von Leitungswasser zumindest in der Bundesrepublik laufend überwacht wird. Bis zu mehrere Male pro Tag wird es auf über 100 verschiedene Problemstoffe getestet, die hochtechnisierte Kläranlagen weitgehend herausfiltern. Insofern gilt deutsches Leitungswasser zurecht als „das am intensivsten kontrollierte Lebensmittel“, wie das Umweltbundesamt versichert. Aber ist es deswegen „zum Verzehr uneingeschränkt geeignet“, wie uns die Online-Enzyklopädie Wikipedia weismachen will? Bedenkliches Leitungswasser Eine „gute bis sehr gute Qualität“ bescheinigt unserem Trinkwasser zumindest das Umweltbundesamt regelmäßig, zuletzt im Mai 2021. „Bis zu 120.000 Messungen pro Parameter und Jahr (…) zeigen, dass nahezu alle mikrobiologischen und chemischen Qualitätsparameter mit Ausnahme weniger Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffe zu mehr als 99 Prozent eingehalten wurden. Grenzwerte wurden nur vereinzelt überschritten.“ Entsprechend großes Vertrauen hat der Verbraucher in die Qualität des Leitungswassers, das ihm Versorger liefern. In einer seit 2007 laufenden Langzeitstudie, an der zuletzt rund 10.000 Personen teilnahmen, beurteilen rund 85 % es als „gut“ oder „sehr gut“; über 90 % sind der Ansicht, man könne es „ohne Bedenken“ trinken. Aber können wir dem öffentlichen Versorgungssystem wirklich vertrauen? Stellen Verordnungen, Grenzwerte und Kontrollen sicher, dass aus dem Hahn nichts fließt, was unsere Gesundheit gefährdet? Seit langem bemängeln Experten, dass die deutsche Trinkwasserverordnung die Grenzwerte für „unbedenkliche“ Schadstoffkonzentration viel zu hoch ansetzt; damit verharmlost sie festgestellte Verunreinigungen, unter anderem durch Aluminium, Arsen, Cadmium, Chlorid, Eisen, Nitrat, Phosphat, Uran und Zink. Sie klammert Risiken der Chloridierung aus, die Wasserwerke routinemäßig zur Desinfektion einsetzen. Und sie übergeht viele weitere Stoffe, auf die Leitungswasser erst gar nicht untersucht wird: von Bakterien und Keimen über Pestizide, Desinfektionsmittel, Mikroplastik, Nanopartikel aus Kosmetika bis hin zu Arzneimittelrückständen, etwa Röntgenkontrastmittel, Blutdruck- und Blutfettsenker, Antibiotika, Antirheumatika, Krebsmedikamente, Schmerzmittel wie Ibuprofen, Sexualhormone aus Anti-Baby-Pillen, Antibiotika aus der Tierhaltung. Ob wir wollen oder nicht: Mit unserem Trinkwasser schlucken wir täglich Produkte aus der Giftküche der pharmazeutischen Industrie. Was bringen demnach rund 50 Grenzwerte, wenn im Leitungswasser Abertausende mögliche Schadstoffe schwimmen können? Wie viele es tatsächlich sind, in welchen Mengen sie vorkommen, weiß in Wahrheit niemand, wie der Toxikologe Hermann Dieter vom Umweltbundesamt einräumt: «Das ist schwer abzuschätzen, wissenschaftliche Aussagen kann man dazu nicht machen.» (6) Und wie beruhigend sind Grenzwerte, die der Gesetzgeber kurzerhand anhebt, sobald sie überschritten werden? Wie glaubhaft schützt er seine Bürger, wenn er, unter dem Lobbydruck mächtiger Industrien, die Zahl der zu untersuchenden Substanzen reduziert, anstatt sie zu erweitern? „Unbedenklich“ ist im übrigen relativ. Grenzwerte unterscheiden nicht. Was ein kerngesunder Twen ohne weiteres wegsteckt, kann dem viel empfindlicheren Organismus eines Ungeborenen, eines Säuglings, eines Allergikers, eines durch chronische Krankheiten und Medikamente vorgeschädigten Seniors erheblich zusetzen. So kann ein mit Tetrachlorethylen verseuchtes Trinkwasser bei Kleinkindern neurotoxische Langzeitschäden verursachen. Gemäß Trinkwasserverordnung darf ein Liter Leitungswasser bis zu 0,3 Milligramm freies Chlor enthalten. (7) Unterhalb dieser Schwelle sei es völlig unbedenklich. (8) Doch dieser Wert ist umstritten. Ein von Greenpeace zusammengestellter Forschungsüberblick kommt zu ganz anderen Schlüssen: Sowohl das beigemengte Chor selbst als auch die Verbindungen, die es mit anderen Substanzen eingeht, können auf längere Sicht krank machen. Unter anderem erhöhen sie das Krebsrisiko. (9) Wie eine Studie der Universität Texas nachweist, geben Duschwasser sowie das Wasser in Geschirrspülern ständig Spuren von Chemikalien aus dem Leitungswasser in die Luft ab. Denn sobald heißes Wasser von einer Düse verspritzt wird, vergrößert sich seine Oberfläche. Ein als „Strippen“ bezeichneter Vorgang setzt dabei gelöste chemische Stoffe frei. Für den Umweltmediziner David Ozonoff steht fest: Wer auf diese Substanzen empfindlich reagiert, müsste im Grunde eine Gasmaske tragen, während er duscht oder die Spülmaschine ausräumt. Aber selbst dann geraten die Chemikalien über die Atmung und die Haut in den Körper. Einwandfreies, bedenkenlos trinkbares Wasser müssen unsere Wasserwerke obendrein nur bis zum Hausanschluss liefern. Von dort bis zum Hahn kann es aber durch veraltete Rohre, kaputte Dichtungen und ungeeignete Armaturen fließen, aus denen sich giftige Schwermetalle wie Blei, Kupfer und Cadmium lösen, neben weiteren gefährlichen Substanzen. Ein erhöhter Bleigehalt kann die körperliche und geistige Entwicklung verzögern, Aufmerksamkeitsstörungen und Lernschwierigkeiten hervorrufen. Über einen längeren Zeitraum getrunken, kann bleihaltiges Wasser Bluthochdruck und Nierenprobleme begünstigen. An einem Wasserfilter führt nichts vorbei Einfache Tischfilter bestehen aus einer Wasserkanne, in die eine Filterkartusche eingesetzt wird. Eingefülltes Wasser tropft durch den Filter in einen Vorratsbehälter. Im Filter stecken hauptsächlich zwei Bestandteile: Kunststoffharz entzieht dem Wasser mittels Ionenaustausch die kalkbildenden Mineralien Kalzium und Magnesium und ersetzt sie durch Natrium; das Wasser wird dadurch weicher, der pH-Wert sinkt zum sauren Bereich hin. Loses Aktivkohlegranulat soll Chlor und organische Verunreinigungen binden, wodurch das Trinkwasser neutraler schmeckt und riecht. Solche Kannenfilter sind schon ab 20 Euro zu haben – aber diese Investition ist eher rausgeschmissenes Geld, warnt die Verbraucherzentrale. "Aus hygienischer Sicht ist davon abzuraten. Trinkwasser ist ein verderbliches Lebensmittel, das schnell verkeimt, wenn es zu lange im Behälter steht oder mit alten Filtern in Kontakt kommt." Oft sei das Wasser nach dem Filtern mit mehr Keimen belastet als davor. Außerdem filtern die Filter für den Hausgebrauch wertvolle Mineralstoffe heraus. Massive Bedenken äußerte auch die Stiftung Warentest, nachdem sie im April 2015 neun derartige Produkte geprüft hatte. Zwar verbessern sie Geschmack und Geruch, sie verringern den Kalkgehalt, zumindest teilweise filtern sie Schwermetalle wie Blei und Kupfer heraus. Wird die Kanne aber nicht ständig im Kühlschrank gelagert, das Wasser nicht täglich gewechselt, die Filterkartusche nicht regelmäßig ausgetauscht, so verwandelt sich das Gerät rasch in eine Keimschleuder. Aus der Aktivkohle tritt das häufig beigegebene Silber in das gefilterte Wasser aus. Chemikalien, Keime und Bakterien verbleiben im Filtrat. „Gut“ filterte im Test keine einzige Kanne. Die beste schaffte die Note 3,2, vier funktionierten „ausreichend“, „zwei“ sogar nur mangelhaft, darunter die teuerste mit 185 Euro. Aber warum beschränkten sich die Warentester auf so simple Vorrichtungen? Hochwertige Filtersysteme verhalten sich zum Kannenfilter wie das Dreirad zum Mercedes. Dabei setzen Hersteller auf unterschiedliche Verfahren: - Anstelle von loser Aktivkohle kommt ein fester, äußerst feinporiger Carbonblock zum Einsatz. Er wird nicht bloß umspült, sondern mittels Wasserdruck durchdrungen - das steigert die Filterleistung enorm. Nachteile: Solche Geräte müssen regelmäßig gewartet, die Filtereinsätze spätestens alle sechs Monate ausgetauscht werden. - Dampfdestillierer erhitzen das Wasser. Die H2O-Moleküle verdampfen, ein Vorratsbehälter fängt das Kondensat auf. Andere Inhaltsstoffe bleiben zurück. Nachteile: Solche Geräte verbrauchen viel Energie, der Reinigungsaufwand ist hoch. Umkehr-Osmose – Aus dem Raumschiff in die Küche Wer keine faulen Kompromisse eingehen will, kommt nicht an einer Filteranlage vorbei, die auf Umkehr-Osmose beruht. Sie bietet das Nonplusultra der Trinkwasseraufbereitung: klares, reines, schadstofffreies H2O. Osmose, vom altgriechischen Wort ὠσμός ōsmós, „Eindringen“, bezeichnet den gerichteten Fluss von Teilchen durch eine Trennschicht; ein Lösungsmittel kann sie passieren, aber kein darin gelöstes Teilchen. In der belebten Natur hat Osmose eine überragende Bedeutung. Jede Zelle ist von einer Membran umgeben, die zahlreiche Stoffe selektiv durchlässt. Dieses Prinzip macht sich die Raumfahrttechnologie zunutze, um alles in einem Raumschiff befindliche Wasser in einem Kreislaufverfahren immer wieder zu reinstem H2O aufzubereiten. Gesundheit und Leben der Astronauten hängen davon ab. Auch beim Entsalzen von Meerwasser bewährt sich Osmosetechnik seit langem. Herzstück jeder Osmose-Filteranlage ist eine Membran mit ultrafeinen Poren. Ein Laser hat winzigste Löcher in sie gebrannt. Jedes weist einen Durchmesser von nicht mehr als 0,0005 Mikrometer (µm) auf: fünf Millionstel eines Millimeters. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist 20.000 Mal dicker, eine Blutzelle 10.000 Mal. 0,0005 µm: das ist gerade groß genug, um ein einzelnes Wassermolekül durchzulassen – es misst 0,0001 µm. Doch keinem Bakterium gelingt die Passage, seine 0,1 bis 0,2 µm sind voluminös dafür. Auch zehn Mal kleinere Viren bleiben ausgesperrt. Selbst geringste Spuren von Pestiziden, mit 0,001 µm, haben keine Chance. Damit gröbere Partikel die hochempfindliche Membran nicht unnötig strapazieren und womöglich beschädigen, sind mehrere Reinigungsstufen vorgeschaltet. Im ersten Schritt entfernt ein Vorfilter Sand, Rost und Schmutz. Anschließend reinigt ein Aktivkohle-Filter das Wasser von feineren organischen und anorganischen Verunreinigungen, von Chlorteilchen über Phenol und Benzol bis zu Geruchsstoffen und Pestiziden. Auf der dritten Stufe entfernt ein Mikrosediment-Filter jegliche Teilchen bis zu einer Größe von einem Tausendstel Millimeter. Dann erst beginnt der eigentliche Vorgang der Umkehrosmose. (Siehe Schaubild.) Osmose kann stattfinden, wenn eine halbdurchlässige Membran zwei Medien voneinander trennt, die unterschiedliche Konzentrationen von Stoffen aufweisen: auf der rechten Seite das zugeleitete Abwasser, links das reine Wasser. Osmotischer Druck entsteht, weil die einander gegenüberstehenden, von der Membran getrennten Medien immer wieder versuchen, sich aneinander anzugleichen. Ohne Filtersperre und ohne äußere Einwirkung geschähe dies, indem die Flüssigkeit rechts sich mit der linksseitigen so lange durchmischt, bis sich die Verunreinigungen gleichmäßig verteilt haben. Doch dies verhindert die Membran. Deshalb kann sich die rechte Seite dem Ausgleich nur annähern, indem sie Wassermoleküle von links zu sich herüberzieht. Diese einseitige Passage führt dazu, dass rechts der Flüssigkeitspegel ansteigt. „Umkehrosmose“ heißt so, weil sie diesen Vorgang umdreht: Auf das verunreinigte Wasser rechts wird Gegendruck ausgeübt. Dadurch wird es gegen die Membran gepresst, und Wassermoleküle passieren sie nach links – aber nichts außer ihnen. Dieses Verfahren entzieht dem eingeleiteten Wasser sämtliche Moleküle, die größer als 0,0001 Mikrometer sind. Das sorgt für eine phänomenale Filterleistung: Keime, Schwermetalle und Nitrate, radioaktive Substanzen, Lösungs- und Pflanzenschutzmittel, Arzneimittelrückstände, Mikroplastik und alle sonstigen Verunreinigungen werden zuverlässig zurückgehalten. Übrig bleibt sauberes, frisches Wasser. Mit „gut“ und „sehr gut“ getestete Osmoseanlagen liefern davon rund 25 bis 100 Liter pro Stunde. Sinnvolles Zubehör Allerdings fängt die Membran auch wertvolle Mineralien ab; das beeinträchtigt nicht nur den Wassergeschmack, sondern auch den biologischen Wert. In einem zweiten Schritt „remineralisieren“ deshalb die meisten Geräte das Filtrat, d.h. sie fügen ihm die entzogenen Mineralstoffe wieder hinzu. Im Idealfall dosieren sie nach individuellem Bedarf: Für Sportler ist Mineralwasser mit besonders viel Natrium, Magnesium und Kalium empfehlenswert. Wer auf Milch verzichten will oder muss, kann mit kalziumreichem Wasser seinen Bedarf bis zur Hälfte decken. Darüber hinaus bringen hochwertige Filteranlagen buchstäblich Bewegung ins Leitungswasser, das oft abgestanden schmeckt: Sie „verwirbeln“ es, teils in speziellen Wirbelkammern, teils mittels dicht übereinanderliegender Kaskadenschichten. Das soll die innere Wasserstruktur auflockern. Wie in einem natürlich fließenden Bach verkleinern sich die Cluster der Wassermoleküle an den Außenflächen der Mikrowirbel. Zusätzlich vergrößert sich die innere Oberfläche des Wassers, wodurch es lösungsfähiger und vitaler wird. Versuchspersonen, die in Blindtests solches Wasser erhalten, beschreiben es als besonders frisch und weich. Um das Nass aus der Leitung natürlichem Quellwasser noch weiter anzunähern, entscheiden sich viele Gesundheitsbewusste für Anlagen, die es „energetisieren“: mit starken Magneten, mit glasklaren Bergkristallen, mit keramischen Kugeln, mit Lichtstrahlern oder mit „aktivierter“ Mineralerde, besonders reinem, unbehandeltem Siliziumoxid. Die Grenze zwischen bahnbrechender Innovation und esoterischem Spleen ist dabei für Laien alles andere als leicht zu ziehen. Vor dreister Geschäftemacherei müssen Gesundheitsbewusste auf der Hut sein. Schon vor Jahrhunderten drehten fahrende Händler ihrem gutgläubigen Publikum zu Mondpreisen allerlei wundervoll heilsame bis heilige Wässerchen an. Die Esoterikwelle hat einen neuen Hype um besonders „natürliches“, „lebendiges“ Wasser ausgelöst, an dem sich viele dubiose Anbieter eine goldene Nase verdienen – sei es mit „Energie-Flachmännern“, mit Rührstäben aus Edelstahl, mit teurem „Energetisieren“ per Handauflegen und beschrifteten Zettelchen, oder mit Gerätschaften, die sie angeblich an einem geheimgehaltenen Ort in einem zwölf Meter hohen Turm „vitalisieren“. Mangels wissenschaftlich anerkannter Messverfahren, die behauptete Veränderungen objektiv nachweisen, sollten Interessenten zumindest die subjektive Probe aufs Exempel machen, ehe in eine hochwertige Filteranlage investieren: Wie schmeckt das aufbereitete Wasser? Wie sieht damit gebrühter Tee aus, im Vergleich zu einem Aufguss mit gewöhnlichem Leitungswasser? Schmeckt Kaffee anders? Wachsen und blühen Pflanzen besser, die mit Osmosewasser gegossen werden? Bevorzugen Haustiere das Filtrat gegenüber gewöhnlichem Leitungs- und Mineralwasser? Fühlt es sich auf der Haut weicher an? Hinzu kommt das Kostenargument. Eine Kleinfamilie – zwei Erwachsene, ein Kind -, die jeden Tag 5 Liter Trinkwasser verbraucht, gibt pro Monat im Schnitt 76,50 Euro aus, falls sie diesen Bedarf aus Flaschen vom Getränkemarkt deckt. Deutlich unter 10 Euro könnten es sein, falls sie ihr Wasser filtert. Ein Liter Flaschenwasser kostet sie 48 Cent – dieselbe Menge Osmosewasser bloß sieben Cent. (10) Billiger ist nur Leitungswasser, mit durchschnittlich 0,2 Cent pro Liter. Entscheidungshilfen für den Kauf Eine hochwertige Filteranlage samt Zubehör ist selten unter tausend Euro zu haben; die Preispanne reicht bis über 4000 Euro. Extra kosten Austauschfilter und andere Ersatzelemente, aber auch Zubehör wie Anschluss, Kalkvorfilter, Keimsperre, Pumpe und Vorratstank. Ehe jemand so viel Geld locker macht, will er Beweise, dass die Investition wirklich not tut. In einem Bergdorf fließt aus dem Wasserhahn schließlich nicht das gleiche Nass wie in einer Großstadt. Wie steht es um die Wasserqualität im eigenen Haushalt? Herausfinden lässt sich dies mit verhältnismäßig geringem Aufwand, den man nicht scheuen sollte. Schon für rund 20 Euro ist ein sogenanntes TDS-Meter erhältlich, auch bekannt als PPM-Stift. TDS steht für „total gelöste Feststoffe“ (total dissolved solids) wie Salze, Metalle oder Mineralien. Auf Knopfdruck zeigt das Gerät die Wasserreinheit an, ausgedrückt in „ppm“ (parts per million), Milligramm pro Liter. Je niedriger der TDS-Wert, desto reiner das Wasser. Dieses YouTube-Video erläutert die Anwendung. Die Grenze für noch gesundes, entschlackend wirkendes Wasser zog schon der französische Hydrologe und Ingenieur Prof. Louis-Claude Vincent (1906-1988) bei 55 bis 65 ppm. Zwischen 100 und 150 ppm konnte er keine Wirkung auf den Organismus mehr feststellen. Je höher der Wert über 150 liegt, desto belasteter ist das Wasser. Allerdings signalisiert ein TDS-Meter lediglich das Ausmaß der Verunreinigung; es verrät nicht, wodurch. Feststellen lässt sich dies mit einfach zu handhabenden Wassertests, die ein mehr oder minder großes Schadstoffspektrum abdecken, zu Preisen ab 11 Euro. Bereits für unter 20 Euro sind 100 Teststreifen für den Hausgebrauch erhältlich. Mit ihnen kann man binnen einer Minute das Wasser auf neun verschiedene Parameter überprüfen: von Blei, Eisen und Kupfer über Nitrat und Nitrit bis zu freiem Clor, außerdem Wasserhärte, pH-Wert und Alkalinität, d.h. die Fähigkeit von Wasser, Säuren zu neutralisieren. Wie steht es speziell mit dem pH-Wert, der sich aus der Konzentration von Wasserstoff-Ionen im Trinkwasser ergibt? Neutralpunkt ist 7,0. Höhere pH-Werte stehen für basische bzw. alkalische Lösungen, niedrigere für „saure“. Die Trinkwasserverordnung erlaubt eine Spanne zwischen 6,5 und 9,5. Für ideal befand Vincent hingegen eine erheblich niedrigere Obergrenze: 6,8, also leicht im sauren Bereich. Nur bei dieser Qualität regt Trinkwasser die Funktion der Nieren an und optimiert den Ablauf von Stoffwechselprozessen. Aufwändigere Trinkwasseruntersuchungen bieten viele Apotheken an. Eine „Multielement-Analyse“ auf 28 verschiedene Mineralstoffe und Schwermetalle, einschließlich einer Bewertung der Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, könnte ich über die Apotheke meiner Heimatstadt für 75 Euro bestellen. Mikrobiologische Wassertests auf Keime wie Legionellen und Escherichia coli, wie auch Analysen auf Ammonium, ölige Verunreinigungen oder Uran kosten dort zwischen 33 und 139 Euro. Nichtstoffliche, energetische Eigenschaften blendet die Trinkwasserverordnung aus. Das ist töricht, denn sie entscheiden mit darüber, wie gesund Trinkwasser ist. Zu den wichtigsten Faktoren zählte Prof. Vincent den elektrischen Leitwert (11): ein Maß für alle im Wasser gelösten Ionen bzw. leitfähigen Teilchen, darunter Magnesium, Calcium, Chlor, Stickstoff und Schwefelsalze. Um ihn zu bestimmen, misst man in der Wasserprobe den Strom, der zwischen zwei Polen fließt. Eine deutlich erhöhte Leitfähigkeit spricht für Kontaminationen: Je verunreinigter Wasser ist, desto besser leitet es Strom. In dieser Hinsicht schneidet weiches Quellwasser, das wenig gelöste Feststoffe enthält, mit 80 bis 130 Mikrosiemens am besten ab. Wasser aus einer guten Osmoseanlage liegt innerhalb dieser Spanne. Demgegenüber bewegt sich deutsches Trinkwasser zwischen 300 und 800 MicroSiemens (μS). Die Trinkwasserverordnung erlaubt sogar eine Obergrenze von 2790 μS. Dem sogenannten Redoxpotential – auch Oxidationsgrad, angegeben durch den rH2-Wert – maß Vincent ebenfalls große Bedeutung bei. Dieser Parameter steht für die Anzahl von Elektronen im Wasser. (12) Das Wort „Redox“ setzt sich aus „Reduktion“ und „Oxidation“ zusammen: Bezeichnungen für zwei chemische Prozesse, die sich gegenseitig bedingen und zusammen die „Redox-Reaktion“ bilden. Das „Redox-Potenzial“ bezeichnet die Bereitschaft eines Moleküls, Elektronen abzugeben oder aufzunehmen. Ein negatives Redoxpotenzial bedeutet, dass das Molekül mehr Elektronen und somit mehr Energie enthält. Die Maßeinheit des Redoxpotenzials ist der rH2-Wert. Je höher er ausfällt, desto weniger Elektronen sind vorhanden. Umso mehr sogenannte „freie Radikale“ tummeln sich im Wasser – aggressive Verbindungen, die chronisch krank machen können, denn sie „stehlen“ die fehlenden Elektronen von umliegenden Zellen, womit sie das Gewebe schädigen. Umgekehrt hat Wasser mit einem niedrigen rH2-Wert - somit vielen Elektronen - eine stark antioxidative Wirkung: Es neutralisiert die freien Radikale, beugt somit Entzündungen vor. Aus diesem Grund stellt das Redox-Potenzial eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale für Wasser dar. (13) Der rH2-Wert gesunden Trinkwassers sollte etwa zwischen 22 und 26 rH2 liegen. Leitungswasser und handelsübliches Mineralwasser weisen jedoch häufig einen Redox-Wert zwischen 30 und 34 rH2 auf. Ein Umkehrosmose-Anlage ist seit vielen Jahren in der Geschäftsstelle meiner Stiftung Auswege im Einsatz, wie auch im Haushalt der Leiterin Katrin Lindenmayr. „Wir sind hochzufrieden damit“, erklärt sie. Woher beziehen? Meine Stiftung Auswege empfiehlt hochwertige Filteranlagen der Firma Aquasafe, die über 25 Jahre Erfahrung mit Wasseraufbereitung nach dem Prinzip der Umkehrosmose vorweisen kann. Ihre Produkte bieten ein ausgezeichnetes Preis-/Leistungsverhältnis. Zusätzlich punktet Aquasafe mit einem flächendeckenden Einbau- und Wartungsservice in ganz Deutschland. Eine Hotline bietet freundliche und kompetente Ansprechpartner. Wenn Sie bei Ihrer Online-Bestellung auf der Aquasafe-Website den Gutscheincode WASSERWEG angeben, sparen Sie 10 % auf die Filteranlage Ihrer Wahl. Beim Filtern darf Wasserhygiene allerdings nicht enden. Reichlich absurd ist es beispielsweise, sein Teewasser aus einer hochwertigen Osmoseanlage abzuzapfen – und es anschließend in einen Wasserkocher aus Kunststoff zu füllen. Aus der Umwandung lösen sich bei jedem Erhitzen rund 30.000 Mikroplastikteilchen – pro Milliliter, wohlgemerkt. (Harald Wiesendanger) Dieser Artikel ist die aktualisierte und erweiterte Fassung eines Textes, den ich zuerst auf der Homepage meiner Stiftung Auswege veröffentlichte. Anmerkungen (1) Ursula Schersch: Wie lange überlebt ein Mensch ohne Wasser? Auf derstandard.at vom 7. September 2011; Johanna Bayer: Richtig trinken! Was macht Wasser im Körper? Stand: 13.06.2014; auf www.daserste.de (2) https://www.test-wasser.de/quellwasser; https://www.fitbook.de/food/kann-man-quellwasser-bedenkenlos-trinken (3) Nach https://www.badenova.de/blog/mineralwasser-oder-leitungswasser/ (4) https://medizinarium.de/artikel/gesund/Tipps/13_03_mineralwasser_umwelthormone.php, https://www.ernaehrungs-umschau.de/fileadmin/Ernaehrungs-Umschau/pdfs/pdf_2011/02_11/EU02_2011_083_085.qxd.pdf, https://www.provitec.com/weichmacher-pet-flaschen.htm (5) Nach https://www.zentrum-der-gesundheit.de/ernaehrung/lebensmittel/wasser-uebersicht/trinkwasser (6) Zit. nach https://www.zentrum-der-gesundheit.de/ernaehrung/lebensmittel/wasser-uebersicht/trinkwasser (7) Umweltbundesamt (2012): Bekanntmachung der Liste der Aufbereitungsstoffe und Desinfektionsverfahren gemäß § 11 der Trinkwasserverordnung. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/481/dokumente/17_aenderung_aufbereitungsstoffe_desinfektionsverfahren_11_trinkwv_11_2012.pdf (8) OEWA Wasser und Abwasser GmbH: Desinfektion des Trinkwassers mit Chlor. https://www.vvgg.de/uploads/media/291112_VEOL_Desinfektion_Grimma_Druck.pdf (9) Greenpeace: Chlor macht krank (1995). https://oekorecherche.de/sites/default/files/publikationen/vollchlor.pdf (10) Nach https://www.filterzentrale.com/wasserwelten/umkehrosmose/osmosewasser-herstellung (11) https://libertarian.ch/wp-content/uploads/FAQ-dr_louis_claude_vincent.pdf; https://haefnerwelt.de/blog/microsiemens-wasser/ (12) „Was bedeutet das Redoxpotenzial?“, https://www.dkh-wasserionisierer.de/WasserIonisierung/Ionisierung_Redoxpotential/wasserionisierung_redox.php (13) Helmut Seifert: "Wasser - Biotransmitter für Lebensenergie", https://www.paracelsus-magazin.de/alle-ausgaben/19-heft-041998/62-wasser-biotransmitter-fuer-lebensenergie.html; Peter Janz: „So muss gesundes Wasser sein (1): Redox-Potenzial“, https://www.wasser-macht-gesund.de/muss-gesundes-wasser-sein-1-redox-potential/#
- Ein Albtraum namens Litauen – Wohin Covid-Pässe führen können
Der Immunitätsausweis als Ticket zur Freiheit? In Litauen gilt das strikteste Covid-Passwesen Europas. Gebracht hat es der Baltenrepublik ein gnadenloses Hygieneterror-Regime, das grundlegendste Menschenrechte mit Füßen tritt. Es schikaniert und erpresst Ungeimpfte, stellt sie an den Pranger, schließt sie vom öffentlichen Leben so gut wie vollständig aus, hetzt die übrige Bevölkerung gegen sie auf. Kritiker werden verleumdet und mundtot gemacht. Ein verzweifelter Familienvater berichtet von dort. In Litauen, dem südlichsten der drei baltischen Staaten, läuft inzwischen die neunte Woche des strengsten Covidpass-Regimes in Europa. Kein Ende ist in Sicht. Im Gegenteil, bald soll es noch strenger zugehen. In welch verzweifelter Lage sich Litauer befinden, die sich dem staatlichen Hygieneterror partout nicht fügen und „pieksen“ lassen wollen, schildert ein Familienvater, Gluboco Lietuva heißt er, auf Twitter in einem akut löschungsgefährdeten Thread. „Ohne Pass dürfen meine Frau und ich nur noch kleine Geschäfte betreten, in denen hauptsächlich Lebens- und Arzneimittel verkauft werden. Alles andere ist uns verboten.“ „Ohne Pass sind wir per Gesetz auch aus allen Bekleidungsgeschäften verbannt. Sogar Second-Hand-Läden müssen das Verbot durchsetzen. Niemand darf ohne den Pass kaufen oder verkaufen.“ Auch in Buchhandlungen, Drogerien, Gemischtwarenläden „dürfen wir ohne Pass nicht rein. Wir sind verbannt.“ Bis Mitte Oktober durfte sich die Famiilie zumindest noch Lebensmittel und Medikamente in kleinen Geschäften besorgen. Doch dann „beschlossen die Bürokraten, dass dies zu lasch sei: Sie verhängten eine neue Beschränkung“, derzufolge kleine Läden entweder maximal einen Käufer pro 30 Quadratmeter Verkaufsfläche einlassen dürfen – oder Personen ohne Pass den Zutritt verwehren müssen. Aber „ein Kunde pro 30 qm ist für viele Geschäfte zu wenig, um zu überleben. Und so entschieden sich viele – sowohl einzelne Händler als auch ganze Ketten - für die Option, uns auszusperren. Nach dem Motto: Kill or be killed. Auch Lidl macht mit: Infolgedessen „besteht ohne Pass in vielen Gegenden gar keine Möglichkeit mehr, Essen zu kaufen. Die Supermärkte haben uns schon seit September ausgeschlossen, nun sperren uns auch kleine Geschäfte aus.“ Wie kommt man dann überhaupt noch an Lebensmittel? „Online. Auf Märkten im Freien. Oder man findet irgendeines der wenigen Läden, die uns den Zutritt noch nicht verbieten.“ Die meisten Apotheken unterwerfen sich ebenfalls den biofaschistischen Exzessen. Weil auch sie in der Regel nur einen einzigen Kunden pro 30 Quadratmeter einlassen dürfen, sofern sie keinen Immunittsausweis verlangen, bilden sich vor den Eingangstüren oft lange Schlangen. Patienten, die auf Arzneimittel angewiesen sind, müssen draußen bei Wind und Wetter ausharren, oft frierend und durchnässt. Zwei von fünf Tankstellen sperren Kunden ohne Pass vollständig aus. Nur jede fünfte lässt sie weiterhin eintreten. Die übrigen gestatten lediglich zu tanken und dann draußen zu bezahlen. Banken bieten nur Passbesitzern nach wie vor alle gewohnten Dienstleistungen. Für jeden Besucher ohne Ausweis sind bloß noch "wesentliche Finanzdienstleistungen" wie Überweisungen oder Auszahlungen erlaubt - für maximal 15 Minuten. Auch Bibliotheken stehen nur noch Covid-Passinhabern uneingeschränkt zur Verfügung. „Ohne Pass“, berichtet Gluboco Lietuva, „darf meine Familie die Einrichtungen nicht betreten oder benutzen. Bloß ein vorbestelltes Buch können wir abholen. Getrennte Eingänge verstärken die Segregation.“ Polizisten in Zivil führen Razzien in Geschäften, Supermärkten und Einkaufszentren durch. Wahllos halten sie Menschen an und überprüfen deren Covid-Pass und Ausweis, um sicherzustellen, dass es sich um ein gültiges Zertifikat handelt, das tatsächlich dieser Person gehört. An einem einzigen Tag, dem 22. Oktober, kontrollierten fast 200 Beamte – immerhin 2,5 % aller Polizisten des kleinen Landes – 11.700 Personen, 0,4 % der litauischen Gesamtbevölkerung. Wer mit einem gefälschten Ausweis erwischt wird oder den einer anderen Person verwendet, dem droht ein Bußgeld bis zu 5000 Euro, im Wiederholungsfall bis zu sechs Jahre Gefängnis. Tag für Tag veröffentlichen litauische Medien Polizeiberichte über Personen, die sich des Hygieneverbrechens schuldig machten, mit einem fremden Ausweis Geschäfte zu betreten. „Das ist keine ‚Aufklärung zur Förderung der Impfung‘. So agiert ein Polizeistaat.“ „Wir gegen die“: Hass vergiftet das soziale Klima auch in Litauen. „Meinungen, die 2019 noch als verwerflich galten, sind 2021 zum Mainstream geworden. Das Covid-Pass-Regime hat die Bande, die uns alle in einer Gesellschaft zusammenhalten, Stück für Stück zerfetzt“, stellt der Twitter-Autor fest. Regierung, Behörden und handverlesene regimetreue „Experten“ betreiben Volksverhetzung gegen Pieks-Phobiker. „Die Ungeimpften handeln unverantwortlich“, so äußert sich Zivile Gudleviciene, Chefberater von Premierministerin Ingrida Simonyte. Die Geduld geht zur Neige. Zwar müssen wir jedermann medizinische Dienste anbieten. Aber wir könnten ihren Zugang zu Krankenhäusern einschränken und sagen, dass sie zu Hause behandelt werden.“ (1) Außenminister Gabrielus Landsbergis ließ sich zu folgendem Statement hinreißen: „Wer es in Ordnung findet, nicht geimpft zu sein, trägt einen Großteil der Verantwortung für Kinder, deren Eltern tot sind. Ich weiß, dass über solche Leute wahrscheinlich kein irdisches Gericht urteilen wird. Aber ich hoffe, dass sie sich irgendwo vor etwas Höherem verantworten werden müssen. Wenn man ein solches Spiel spielt, sollte man nicht versäumen, sich die Hände zu waschen. Denn an ihnen klebt Blut.“ (2) Die Sozial- und Arbeitsministerin Monika Navickiene forderte: „Wir müssen Anti-Vaxxer dafür zur Verantwortung ziehen, dass sie für den Verlust so vieler Menschenleben mitschuld sind.“ (3) Der Bürgermeister von Litauens Hauptstadt Vilnius, Remigijus Simasius, von 2008 bis 2012 Justizminister, drohte unverhohlen: „Wir müssen den Bewegungsspielraum von Ungeimpften einschränken. Wenn du Weihnachten mit deiner Familie verbringen willst, dann lass dich jetzt impfen.“ (4) Auch in Litauen „Medien und Regierung zusammen, um die freie Meinungsäußerung zu verhindern und Proteste gegen die Covid-Politik zu unterdrücken“. Der journalistische Mainstream fordert und begrüßt die Zensur von „Desinformation“ – ein Synonym für Zweifel am offiziellen Seuchennarrativ: „Auf diese Weise“, beklagt Lietuva, „versuchen Politiker und Medien hier und auf der ganzen Welt, das zu normalisieren, was nicht normal ist: ein autoritäres Regime der Ausgrenzung und Kontrolle, in dem unerwünschtes Verhalten mit der Verbannung aus der Gesellschaft bestraft wird.“ „Der Covid-Pass hat Litauen bereits in ein Regime des Autoritarismus und der Segregation verwandelt. Andere Länder sehen sich jetzt mit der gleichen unausweichlichen Realität konfrontiert. Wir Litauer sind bloß schon ein paar Monate weiter.“ Zu Ende gedacht Bleibt der Covid-Pass ein Provisorium, das verschwinden wird, sobald die Pandemie abgeebt ist? Nur wenige Schritte sind nötig, um daraus eine dauerhafte Einrichtung zu machen: einen Berechtigungsschein für die Teilhabe am sozialen Leben, an der Wahrnehmung von Grundrechten. Einmal eingeführt, ist dieses System mühelos ausbaubar, um Angepasste und Aufmüpfige zu trennen, Mitläufer und Kritiker, „gute“ und „böse“ Staatsbürger. Am Horizont erscheint ein weltweites Sozialpunktesystem nach rotchinesischem Vorbild – wenn nicht schon mit Covid-19, dann spätestens mit Covid-31. Oder schon mit Covid-24? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) Am 31. Oktober 2021: https://www.lrt.lt/naujienos/lietuvoje/2/1532592/simonytes-patareja-apie-nepasiskiepijusius-asmenis-jie-galetu-buti-gydomi-namuose; am 4. Oktober: [https://www.delfi.lt/news/daily/lithuania/premjeres-patareja-svarstoma-kad-galimybiu-pasas-nebutu-isduodamas-atlikus-testa.d?id=88342721] (https://www.delfi.lt/news/daily/lithuania/premjeres-patareja-svarstoma-kad-galimybiu-pasas-nebutu-isduodamas-atlikus-testa.d?id=88342721) (2) Am 28. Oktober: https://www.alytausnaujienos.lt/glandsbergis-atmeta-oponentu-kritika-del-uzsienio-politikos-mes-sieksime-teisingumo; am 20. Oktober: https://www.15min.lt/naujiena/aktualu/lietuva/g-landsbergis-uz-mirusius-kurie-nepasiskiepijo-is-dalies-atsakinga-opozicija-56-1584392 (3) Am 16. Oktober: https://www.delfi.lt/news/daily/lithuania/navickiene-antivakseriniai-judejimai-turetu-prisiimti-dali-atsakomybes-uz-zmoniu-netektis.d?id=88422275 (4) Am 21. Oktober: https://www.facebook.com/SimasiusRemigijus/posts/412448656919844
- Wie selbstverständlich ist Psycho-Professionalismus?
Was veranlasst Menschen, ihr Seelenheil bei Experten zu suchen? Wie konnte es zur Enteignung ihrer psychischen Gesundheit kommen? Neben der Trauerfeier und dem Flüssiggas, der Holzeisenbahn und dem Minuswachstum, Ostwestfalen und dem vorläufigen Endergebnis gebührt der Selbstverständlichkeit sicherlich ein Spitzenplatz in einer Hitliste der sonderbarsten Begriffe. Wer hat dabei eigentlich verstanden, was und wieviel? Wohl kaum derjenige, der sie dafür hält. Etwas als fraglos und zweifelsohne hinzunehmen, als keiner Begründung bedürftig, ist kein Verstehen, sondern ersetzt es. Dazu neigen wir, wenn wir meinen, maßgebliche Andere hätten verstanden – Leute, die schon alle nötigen Fragen gestellt und beantwortet, jegliche Zweifel ausgeräumt haben. Auf deren Urteil bauen wir. Unser modernes Gesundheitswesen lebt von solch blindem Vertrauen, und darin kommt im Einzelfall ein Charakter, in der Masse der Zeitgeist zum Vorschein: „Charakteristisch für einen Menschen“, stellte Kurt Tucholsky fest, „ist das, was ihm selbstverständlich ist.“ Wer länger als ein paar Tage krank ist, sollte zum Arzt; ist die Erkrankung seelischer Art, so sind entsprechend spezialisierte Ärzte zuständig: Psychiater, in leichteren Fällen auch Psychologen und Psychotherapeuten, in allerschwersten eine Fachklinik. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit scheint sich zwingend aus weiteren zu ergeben: Neben körperlichen Erkrankungen gibt es auch psychische, und diese liegen vor, wenn seelische Belastungen eine Weile andauern. Sie als Krankheit zu erkennen, zutreffend zu diagnostizieren und angemessen zu behandeln, ist Sache von Experten. Diese ziehen dazu wissenschaftliche Erkenntnisse heran Laien hingegen können bloß aus einer minderwertigen Alltagspsychologie voller Wissensdefizite, Vorurteile und Kurzschlüsse schöpfen. Dieses stillschweigende, unhinterfragte Einvernehmen bestärkt professionelle Helfer in ihrem Standesdünkel, Hilfesuchende in ihrem Zutrauen – und schafft ein Tabu. Dass daraus ein Machtverhältnis erwächst, ahnte der österreichische Philosoph und Schriftsteller Günther Anders (1902-1992): „Je stummer ein Kommando, umso selbstverständlicher unser Gehorsam.“ (1) Seit über einem Jahrhundert pflegen Gebildete „Psychologie“ gleichzusetzen mit „dem, was Akademiker an unseren Universitäten betreiben, wenn sie sich mit jenen Erscheinungen beschäftigen, die wir als ‚‘seelisch’ und ’geistig’ bezeichnen“. Dieses Tun folgt naturwissenschaftlichen Leitbildern: Mit objektiver Beobachtung, Tests, Experimenten und Statistik ahmt es Methoden des Erkenntnisgewinns nach, die sich in Fächern wie Physik, Chemie und Biologie bewährt haben. Um Psychisches zu erklären, vorauszusagen und günstig zu beeinflussen, haben wir von Daten und Theorien auszugehen, die sich aus Anwendungen dieser Methoden ergeben. Weil die Endung „-logie“ vom griechischen logos stammt („Vernunft“, „Sinn“), schwingt darin der Anspruch mit, diese Vorgehensweise sei die einzig sinnvolle und vernünftige. Dagegen Einspruch zu erheben, fällt nicht leicht. Denn besonders schwierig zu verteidigen sind Besitztümer, die so selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens sind, dass wir uns kaum je vergegenwärtigen, wie sehr sie zu uns gehören. Unsere Wohnungstür sichern wir mit Vorhängeschlössern, unsere Gärten mit Bewegungsmeldern, unsere Autos mit Alarmanlagen. Aber wir sind nicht gefasst darauf, dass unser jahrzehntelanger Partner plötzlich sterben, unser Kind entführt werden, unsere Gesundheit verlorengehen könnte. Geschieht es, sind wir wie vom Donner gerührt, wir verfallen in Schockstarre, uns fehlen die Worte. Ebensowenig haben Menschen jahrtausendelang damit gerechnet, dass ihnen jemals ein besonderer Expertenstatus abhanden kommen könnte: jener, den sie hinsichtlich ihres seelisch-geistigen Innenlebens und dem ihrer Nächsten haben. Der Angriff darauf, vorgetragen von akademischen Psychologen, erwischt sie unvorbereitet, und statt ihn entschieden abzuwehren oder auch nur besonnen zu bedenken, was sie ihm entgegenzusetzen hätten, beugen sich die meisten widerstandslos der Wissenschaft, auf die sich die Eindringlinge berufen. Denn deren Autorität mutet unantastbar an, fast so wie einst jene des Heiligen Stuhls. Nun scheint es bloß noch darum zu gehen, sich mit einem übermächtigen Schicksal abzufinden und möglichst behaglich darin einzurichten: Wer den wahren Experten andächtig lauscht, ihre Dienste in Anspruch nimmt und honoriert, sich ihre Begriffe und Theorien zu eigen macht, seiner Intuition abschwört und auf respektlose, inkompetente Fragen verzichtet, der erntet Lob für seine Einsichtigkeit. Jetzt endlich ist er zum vollwertigen Mitglied einer wahrhaft aufgeklärten Gesellschaft geworden, der die Wissenschaft das strahlende Licht der objektiven Erkenntnis schenkt und großartige neue Horizonte eröffnet. Tut sie das etwa nicht? Hartnäckig hält sich das Gerücht, psychologische Lehrbücher und Fachzeitschriften seien voll von enthüllten Gesetzmäßigkeiten aller Art, bestätigt durch Tests und Experimente. Damit aufwarten können in Wahrheit aber nur zwei Teilbereiche, nämlich die Psychophysiologie und die Wahrnehmungspsychologie, soweit sie sich mit messbaren Reaktionen auf einfache Stimuli befassen. Wie hängen Reiz- und Erlebnisintensität zusammen, oder Aktivierungszustände wie Erregung, Anspannung und Anstrengung mit körperlichen Vorgängen? Wo liegen die Bewusstseinsschwellen für optische und akustische Reize? Sobald Psychologie über die Ebene von elementaren Sinneseindrücken, körperlichen Empfindungen und unwillkürlichem Verhalten hinausgreift, liefert sie bloß mehr oder minder ausgeprägte Wahrscheinlichkeiten. Statistische Ergebnisse können von Nutzen sein, wenn es um Häufigkeitsverteilungen gewisser Merkmale innerhalb größerer Gruppen geht, etwa bei Konsumenten, Wählern und Steuerzahlern, Mietern und Hausbesitzern, Geschlechtern, Altersklassen und Konfessionen, der Bevölkerung insgesamt. Das sind brauchbare Orientierungshilfen fürs Generelle. Sie nützen, wenn es darum geht, das Große und Ganze im Blick zu behalten. Sie nützen, wann immer man das Seltene, Außergewöhnliche und Einmalige eher vernachlässigen kann: etwa bei Entscheidungen im Verkehrswesen, beim Design von Gebrauchsgegenständen, im Städte- und Wohnungsbau, in der Organisation von Ausbildungseinrichtungen und Betrieben, in der Touristik, bei Werbung, Marketing und politischer Propaganda. Für all diese Zwecke kann es hilfreich sein zu wissen, was ein mehr oder minder großer Prozentsatz von Menschen, die bestimmte Merkmale aufweisen, voraussichtlich tun wird, und welche Motive recht häufig dahinterstecken. Entsprechende Befunde können grundsätzliche Einschätzungen auf festeren Boden stellen, verbreitete Vorurteile zurechtrücken, ungefähre Erwartungen präzisieren, Planungen erleichtern. Insoweit sind sie überaus wertvoll. Doch stets lassen sie offen, was im Einzelfall geschieht. Psychologie, und erst recht all jene, die ihre Erkenntnisse im Alltag in konkreten Situationen auf konkrete Menschen anwenden sollen, haben es letztlich nie mit statistischem Durchschnitt zu tun. Immer treffen sie auf Individuen, mit einmaligen Geschichten, in unwiederholbaren Umständen, mit einer einzigartigen Erlebnisperspektive. Weil das so ist, sollten Laien aufmüpfig, widerspenstig, uneinsichtig sein, sobald es um Einzelschicksale geht – überall dort, wo sie als Individuen mit wissenschaftlicher Psychologie, ihren Erkenntnisansprüchen und Handlungsempfehlungen zu tun bekommen: sei es in der psychologischen Beratungsstelle, in der psychotherapeutischen Praxis, in der psychiatrischen Klinik, im Gerichtssaal, im Jugendamt, in der Personalabteilung beim Eignungstest, am Redaktionstisch, im Fernsehstudio. Meine Schriftenreihe Psycholügen ermutigt hoffentlich viele dazu, eine angemaßte Autorität unbeirrt zu hinterfragen. Wenn es um ein ganz bestimmtes, ihnen vertrautes Subjekt geht, könnte ein Großteil von ihnen die besseren Experten sein. Vorausgesetzt, sie trauen es sich zu. Warum tun es die wenigsten? Wie konnte entstehen, was der amerikanische Kulturkritiker Martin L. Gross „die psychologische Gesellschaft“, der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp „Psychokultur“ nennt: (2) ein Gemeinwesen, in dem es geboten erscheint, sich von Experten sagen lassen, wer man ist, warum man so ist und was man tun sollte? Zu den Hauptgründen führen zwei Fragen: Warum begann der Aufstieg des Psycho-Expertentums erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht schon hundert Jahre früher? „Psychotherapie ist heute zu einer Sache fast aller Menschen geworden“, fiel dem Philosophen Karl Jaspers Mitte der fünfziger Jahre auf. „Zwar ist sie erwachsen auf ärztlichem Boden. Aber sie hat sich von ihrem Ursprung gelöst.“ (3) Weshalb geschah dies ausgerechnet in Westeuropa und den Vereinigten Staaten, nicht in Afrika, Asien und Lateinamerika? Unterwegs zum Selbst Ausgangspunkt war - erstens - eine Orientierungskrise, ausgelöst durch den Bedeutungsverlust von Traditionen und dem Autoritätsverfall der christlichen Kirchen in den westlichen Industrieländern. Wie sie leben, was sie anstreben sollen, ließen sich dort immer größere Teile der Bevölkerung nicht mehr von der Religion ihrer Vorfahren diktieren. Ebensowenig mochten sie sich weiterhin überkommenen Werten beugen und in vorgegebene Rollen fügen; emanzipierte Ichs drängt es nach Freiheit und Selbstverwirklichung, kulturelle Normen und Leitbilder empfinden sie eher als Zumutung. Damit verloren überkommene Verpflichtungen an Gewicht, lockerten sich bisherige Bindungen, verflüchtigten sich Daseinszwecke. Was freilich nicht verschwand, ist das menschliche Grundbedürfnis nach Halt und Sinn. Bleibt es unbefriedigt, kommen chronische Verunsicherung und Besorgnis auf. Nachdem es im Himmel und auf Erden nichts Letztgültiges mehr ausfindig zu machen gab, richtete sich der Blick nach innen, aufs eigene Selbst. Das entfesselte Individuum fahndet nach dem wahren Ich - wenn es bloß wüsste, wo und wie. Die Identitätskrise droht sich von einer Pubertätserscheinung in eine Dauerbefindlichkeit zu verwandeln. Die moderne Psychowissenschaft verhieß, den Hunger zu stillen: sie stellte neue Deutungsmuster, Alltagshilfen und Lebensziele in Aussicht. Dazu erweiterte sie ihren Zuständigkeitsbereich größtmöglich: Nicht mehr nur für Irre und Wahnsinnige, für jeden von uns sind sie da. Diesen Bedeutungszuwachs bereiteten zwei Schritte vor. Der eine bestand in der Erfindung des Unbewussten, des unkirchlichen Gegenstücks zur unsterblichen Seele, als einer geheimnisumwitterten Innenwelt, die zu uns gehört, uns aber verborgen bleibt. Der andere bestand in der Abschaffung des Normalen: Die Grenze zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit verschwamm. Sie sei „nicht scharf gezogen“ (4), so machte uns die psychoanalytische Revolution glauben. Normalität sei „eine Idealfiktion, jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß“. (5) Es gebe „nur quantitative und nicht qualitative Unterschiede zwischen dem Normalen und dem Neurotischen“ (6), die „Abgrenzung der psychischen Norm von der Abnormalität“ sei „wissenschaftlich nicht durchführbar.“ (7) Was einst als unangenehme, aber natürliche Reaktionen auf das gewöhnliche Auf und Ab des Lebens mit all seinen unschönen Schicksalswendungen, Nackenschlägen und Krisenzeiten galt – seien es Traurigkeit, Verzweiflung, Ärger, Verbitterung, Wut, Unruhe, Enttäuschung, Erschöpfung, Angst oder Selbstzweifel -, wurde nun zu allgegenwärtigen „Fehlanpassungen“. So büßten wir das Recht ein, zugleich normal und seelisch belastet zu sein. Vielmehr sind wir alle irgendwie schon psychisch krank oder stehen kurz davor. Dieser Befund irritiert, er macht verkrampft und ängstlich, als Massenphänomen beschwört er die psychisch labilste Kultur der Geschichte herauf. Bildungswesen und massenmediale Dauerberieselung sorgten dafür, dass die aufrüttelnden Botschaften moderner Seelenkunde immer tiefer ins öffentliche Bewusstsein sickerten. Sie verschmolzen zur ersehnten neuen Glücksformel, die uns eine erfüllte Gegenwart und eine glänzende Zukunft verheißt - und unser drängendes Verlangen, Vollkommenheit zu erlangen, neu ausrichtet. Jahrhundertelang galt ein Heilsversprechen, welches das Entwicklungsziel in ein nachtodliches Jenseits verlagerte: „Vervollkommne dich, indem du dich von Sünde reinwäschst und gottgefällige Werke tust. Nur so wirst du eines ewigen Lebens im Himmel würdig, mit dem dir jenes wahre Glück zuteil wird, das dir im Diesseits versagt bleibt.“ In der psychologischen Gesellschaft, wie auch im „Neuen Zeitalter“ von esoterisch Bewegten, wird das Ziel diesseits erreichbar: „Vervollkommne dich, indem du erkennst, was dich unbewusst ausmacht, psychische Normalität anstrebst und vor ihrer ständigen Bedrohung auf der Hut bist. Nur so erlangst du wahres Glück.“ Statt „psychische Normalität“ betont die Esoterikwelle „spirituelle Entwicklung“ - um Selbstfindung geht es hier wie dort. Den Hauptunterschied macht das bevorzugte Bild von diesem ungreifbaren Selbst: Ist es in erster Linie unbewusst oder göttlich? In beiden Fällen gilt die Verheißung einem Idealzustand, der Erfolg, Liebe und Angstfreiheit vereint. Einst wie heute bedürfen Menschen dazu sachkundigen Beistands, die Rolle des Priesters übernimmt der psychologische Experte. Wir haben Gott verabschiedet, wie er sich womöglich von uns. Nicht losgeworden sind wir allerdings eine tiefe Sehnsucht: Jemand, der annähernd so allwissend, zuverlässig und fürsorglich ist, wie Ihm unsere Großeltern zutrauten, möge uns an die Hand nehmen und sicher führen, wenn wir uns ahnungslos, schwach und überfordert fühlen. Expertokratie lebt vom Versprechen, das Verlangen zu stillen – zu einem hohen Preis. Es ist ebenso komisch wie tragisch: Im Bestreben, wahrhaft frei zu werden, und der Ansicht, dazu bedürfe es unbedingt der höheren Einsichten einer Elite, begeben wir uns in deren Gefangenschaft, wohlgemut und widerstandslos. Wir nicken ab, was ihr richtig scheint. Wir befolgen ihre sachkundigen Ratschläge. Wir setzen ihre Leitlinien um. Wir beugen uns dem, was sie zu Sachzwängen erklärt. Wir übernehmen ihre Maßstäbe für Erfahrung, Wahrheit und Wissen. Wir misstrauen allem, was sie als unwissenschaftlich abtut. Wir messen uns an ihren Leistungsnormen. Wir definieren uns durch ihr Bild von uns. Schleichend verkehrt sich die Emanzipation des Individuums währenddessen in ihr Gegenteil. In hellen Scharen fallen Menschen in jene selbstverschuldete Unmündigkeit zurück, aus der ihnen, mit Immanuel Kants berühmtem Satz, die neuzeitliche Aufklärung doch eigentlich einen Ausgang weisen sollte. Wie die Prinzessin auf der Erbse Der zweite Entstehungsgrund der psychologischen Gesellschaft: Es geht ihr zu gut. In ihr wähnt man sich krank oder kurz davor, gerade weil man so gesund ist. Man leidet in Lebensverhältnissen, wie sie im Großen und Ganzen noch nie in der Menschheitsgeschichte vorzüglicher waren. Noch Ende des 19. Jahrhunderts lag im Deutschen Reich die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen bei 38,5 Jahren, von Männern bei 35,6 (8); sie starben an Infektionskrankheiten wie Typhus, Cholera, Tuberkulose, Ruhr, Pocken und Lungenentzündung, an Auszehrung und anderen Mangelerscheinungen. Von ihren Kindern erreichte jedes dritte nicht seinen ersten Geburtstag. Bei mehr als drei Viertel der Bevölkerung galt die Hauptsorge dem nackten Überleben, der Mühsal des Kampfs ums tägliche Brot. Obwohl sie bis zur Erschöpfung schufteten, hungerten viele, wussten nicht, wie sie ihre Familie sattbekommen sollten, litten unter Entrechtung, Ausbeutung, Kriegen. Sie froren, wenn der Vorrat an Holz oder Kohle zur Neige gegangen war. Sie schätzten sich glücklich für sauberes Wasser und ein Dach über dem Kopf. Wo sie der Schuh drücken könnte, war vielen schon deswegen schnurz, weil sie keinen besaßen. Verloren sie ihre Arbeit oder ihre Gesundheit, standen sie ohne Kranken- und Rentenversicherung vor dem Aus, sofern nicht Kinder, Freunde, Nachbarn, der Pfandleiher oder ein Darlehen des Krämers halfen, nachdem kümmerliche Ersparnisse aufgebraucht waren. Da war schlicht keine Muße, ausgiebige Befindlichkeitschecks vorzunehmen, sich seelischen Erschütterungen hinzugeben, anderer Leute Psychotiefs gesteigerte Aufmerksamkeit zu widmen. Wir Heutigen leben bei weitem komfortabler und länger, und das bei besserer Gesundheit als je zuvor. Trotzdem veranstalten wir um unser körperliches und psychisches Wohlergehen ein Aufhebens ohnegleichen. Nie waren Gesundheitsängste verbreiteter, nie reagierten Menschen empfindlicher auf die kleinsten Unpässlichkeiten und Verhaltensauffälligkeiten. Keine Generation fühlte sich jemals kranker. Die geringste Abweichung von der Norm erscheint ihr, kaum dass sie auftritt, als Vorbote einer ernsthaften Erkrankung. In diesem Zeitgeistphänomen sah der Philosoph Odo Marquard einen Anwendungsfall des „Gesetzes der zunehmenden Penetranz der negativen Reste“. (9) Man könnte es auch als das „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“ bezeichnen: Je höher die Lebensqualität, desto lauter das Jammern und Wehklagen. Rund um den Globus finden Wohlstandsforscher bestätigt: Je weniger Not und Elend herrschen, desto lästiger drückt der „negative Rest“: die Erbse unter der thermoplastischen, wirbelsäulenfreundlich punktelastischen Allergiker-Matratze. Es ist, als lägen wir schlaflos mit gespitzten Ohren im Bett: Erst wenn kein Lärm mehr unsere Nachtruhe stört, beginnt das Ticken des Weckers, das Brummen des Kühlschranks, das Knarzen des Lattenrosts uns zu nerven. Eine wohlwollende Bewertung könnte lauten: Es spricht für das Entwicklungsniveau unseres Gemeinwesens, dass wir für Belastungen empfindsam geworden sind, über die man früher acht- und lieblos hinwegging. Man könnte aber auch sagen: Rundum versorgt und beschützt, sind wir zu wehleidigen Hypersensibelchen geworden. (10) Anhaltspunkte für diesen Befund finden sich allerorten. Im Frühjahr 2016 beschmierten unbekannte Vandalen eines Nachts in der altehrwürdigen Emory-Universität in Atlanta Treppen, Wände und Böden mit Wahlkampfparolen des republikanischen Rumpelstilzchens Donald Trump. Prompt versammelten sich Dutzende aufgewühlter Studenten zur Demonstration: Ob dieser „rassistischen Mikroaggression“ hätten sie nun ganz arg Angst; an ihrer Uni fühlten sie sich fortan nicht mehr sicher, befänden sich „in pain“. Daraufhin bot die vorbildlich einfühlsame Hochschuldirektion umgehend „psychologischen Beistand“ an (11) – so als würden Abscheu und Empörung andernfalls schnurstracks in eine posttraumatische Belastungsstörung münden. „Woran merkst du am Strand, dass du zu dick bist?“, witzelte ich während einer Veranstaltung und reichte die Antwort sogleich nach: „Greenpeace-Aktivisten versuchen dich ins Meer zurückzurollen.“ Darüber empörten sich mehrere - übrigens vollschlanke - Zuhörer: So etwas flapsig Dahergesagtes müsse übergewichtige Anwesende doch ganz arg verletzen, das gehe entschieden zu weit. Um einen pfiffigen Einstieg in das Thema „Liebe“ bemüht, führte ich ein andermal ein kurzes You-Tube-Video vor, das einen höchstens vierjährigen Knirps beim ebenso bemühten wie vergeblichen Werben um eine angebetete Prinzessin aus derselben Altersgruppe zeigt: Immer wieder versucht er ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken, doch jedesmal wird er heftig weggeschubst, so dass er mehrfach rücklings auf dem Hosenboden landet. Auch hiergegen protestierten Feinfühlige: So ein Clip könne bei weiblichen Zuschauern, die in ihrer Kindheit sexuellem Missbrauch zum Opfer fielen, schreckliche Erinnerungen „triggern“ und sie „retraumatisieren“. Der Journalist Sebastian Herrmann berichtet von einem Fünfjährigen, der im Kindergarten versehentlich eine Nacktschnecke anfasste. Prompt spiegelte er die Gesundheitshysterie seines Eltern- hauses wider, indem er seinen Ekel vor diesem schleimig- glitschigen Etwas zu einer „Schnecken-Allergie“ erklärte. (12) Falls derselbe Junge auf der Schulbank, die er in Kürze drücken wird, nicht stundenlang stillsitzen kann, wird er zum glasklaren ADHS-Fall werden. Wenn er, eher zurückhaltend, versonnen und in sich gekehrt, stundenlang in Beschäftigungen versinkt, von denen Gleichaltrige rasch genug haben, hat er „Autismus“ entwickelt. Sollte er wiederholt eine Weile traurig und lustlos sein, hat ihn eine „rezidivierende depressive Störung“ im Griff. Die kann „bipolar“ ausarten, falls er zwischendurch plötzlich allerbester Laune ist. Sobald er sich anhaltend erschöpft und überfordert fühlt, ereilt ihn ein „Burn-out“-Syndrom. Die Erbse unter der ziemlich komfortablen Matratze unseres alles in allem ungefährdeten, von Existenzängsten freien Daseins mag sich nicht beseitigen oder ignorieren lassen. Doch kann es nicht schaden, sich hin und wieder vor Augen zu führen: Es handelt sich um eine Erbse. Am anfälligsten für die Erlösungsversprechen von Psycho-Dienstleistern sind Zartestbesaitete, die aus ihr einen Felsbrocken machen, wie der Vorschulpimpf die „Igitt-Bäh“-Schnecke zum allergenen Ungetüm. Dieser Text stammt aus der 10-bändigen Schriftenreihe von Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 1: Neue Heimat Psycholand – Woher unser Vertrauen in Seelenprofis rührt (2017). Anmerkungen (1) Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Band 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980. (2) Martin L. Gross: Die psychologische Gesellschaft. Kritische Analyse der Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse und der psychologischen Revolution, Frankfurt a. M. 1984; Or.: The Psychological Society (1978). Heiner Keupp: Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation, Heidelberg 188; ders. mit Helga Bilden (Hrsg.): Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel, Göttingen 1989. (3) Karl Jaspers: Wesen und Kritik der Psychotherapie, Frankfurt a. M. 1953. (4) Sigmund Freud: „Der Mann Moses und die monotheistische Revolution“, Gesammelte Werke, Nachdruck Frankfurt a. M. 1999, Band XVI, S. 233. (5) ebda. (6) Sigmund Freud in „Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“, Gesammelte Werke, Bd. IV, S. 35. (7) Sigmund Freud: „Abriss der Psychoanalyse“, Gesammelte Werke, Bd. XVII, S. 125. (8) Nach Reinhard Spree: „„Gesundheitswesen“, in Thomas Rahlf (Hrsg.): Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 74-87. (9) Zit. nach Gerwin Klinger: „Vom Restrisiko der Prinzessin ohne Erbse“, Der Tagesspiegel, 26.6.1998. (10) Sebastian Herrmann: Der Krankheitswahn - Wir sind gesünder, als wir uns fühlen und die Industrie uns glauben lässt, Gütersloh 2015. (11) Washington Post, 24.3.2016: „Someone wrote ‘Trump 2016’ on Emory’s campus in chalk. Some students said they no longer feel safe“; New York Times, 1.4.2016: „Pro-Trump Chalk Messages Cause Conflicts on College Campuses“. (12) Der Journalist Sebastian Herrmann schildert diese Episode in seinem Essay „Leben auf der Erbse“, Süddeutsche Zeitung Nr. 151/2.7.2016, S. 49.
- „Auf Dauer krank“ - Hoeneß geht auf Veganer los
Als „Freund deutlicher Worte“ verehren ihn nicht nur Fans des FC Bayern München: Uli Hoeneß. Auf Stammtischniveau hat der 69-jährige Starpolemiker soeben erneut zugeschlagen, diesmal gegen Fleischverächter. Beim Radiosender Antenne Bayern erklärte Hoeneß wie gewohnt meinungsstark, zwar habe er veganes Essen schon mal probiert. Aber „mir schmeckt das Zeug nicht, weil da überall das drin ist, was in einer Nürnberger Bratwurst nicht drin sein darf, nämlich Stabilisatoren und Geschmacksverstärker. (…) Vegetarisch akzeptiere ich noch ein bisschen, vegan aber gar nicht, weil die Menschen nur krank werden." Dass jemand, der jahrzehntelang eine Wurstfabrik betrieb, zu einer gewissen Vorliebe für Wurst neigt, besitzt ähnlich überschaubaren Nachrichtenwert wie das Bekenntnis eines Alkoholikers, er möge kein Null-Prozent-Bier. Dass Hoeneß bei fleischloser Kost bisher bloß auf lebensmittelchemisch verseuchtes „Zeug“ gestoßen ist, deutet darauf hin, dass er noch nie bei einem veganen Gastgeber frisch Zubereitetes auf den Teller bekam oder sich am Buffet eines gut geführten veganen Restaurants bediente. Eher griff er beim Billigstdiscounter zu industrieller Fertignahrung voller Industriezucker, Kochsalz und versteckten Fetten. Werden Veganer zwangsläufig krank? Ab einem gewissen Prominenzgrad ist offenbar keine Bildungslücke zu groß, um sich damit nicht mehr vor einem Millionenpublikum blamieren zu dürfen. Obendrein missfällt Hoeneß eine aggressive Grundhaltung, die er bei Veganern festgestellt haben will. „Die sind ja militant. Wenn du die kritisierst, greifen sie dich an.“ Er bestehe aber auf seinem Recht zu essen, was er mag. Verwechselt die durchaus militante Fußballikone, die sich alle Jahre wieder als mediales Rumpelstilzchen inszeniert, da nicht Ursache und Wirkung? Eher sind es doch Veganer, die sich allenthalben verächtlich gemacht sehen. Nicht jeder lässt sich das gefallen. Abgesehen von Schwulen und Juden, von Querdenkern, Maskenverweigerern und Ungeimpften fällt mir keine Minderheit ein, der die breite Öffentlichkeit mehr Vorurteile entgegenbringt als Vegetariern oder gar Veganern. Stets aufs Neue befremdet mich dabei, wie herablassend, geradezu verächtlich die üble Nachrede mitunter daherkommt. Dass manche medizinischen Fachgesellschaften und Gesundheitsbehörden sie sogar noch mittragen und schlampig recherchierende Journalisten sie unters Volk bringen, angeblich gestützt auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“, macht die infamen Gerüchte umso glaubhafter und zählebiger. „Die gefährden sich selbst“ - Das Argument der Mangelernährung „Die essen sich krank“: Was Fleischesser schon immer über Pflanzenköstler zu wissen meinten, schien Anfang 2014 einen wissenschaftlichen Segen zu finden, der in der Medienlandschaft mächtig Staub aufwirbelte. Seither erhitzt er die Gemüter. Im Fachjournal PLoS One veröffentlichten Mediziner der Universität Graz, was sie an 1320 Erwachsenen herausgefunden haben wollten. (1) Dabei hatten sie vier gleich große Gruppen verglichen: je 330 Vegetarier, Fleischesser mit viel Obst und Gemüse, Wenig- und Viel-Fleischesser. Hinsichtlich Geschlecht, Alter, Tabakkonsum, Fitness, Sozialstatus und wirtschaftlichen Verhältnissen waren die Gruppen vergleichbar zusammengesetzt; in jeder lag der durchschnittliche Body Mass Index (BMI) im Normalbereich. Die Daten stammten aus dem „Austrian Health Survey“ (AT-HIS), einer Stichprobe der erwachsenen Bevölkerung Österreichs, im Rahmen einer EU-weiten Umfrage „European Health Interview Survey“. Bekennenden Fleischessern bescherten die Grazer Ergebnisse wahrlich ein gefundenes Fressen. 14 von 18 berücksichtigten Erkrankungen traten bei Vegetariern angeblich häufiger auf (78 %) – unter anderem Asthma, Diabetes, Migräne und Osteoporose. Von Allergien waren sie fast doppelt so häufig betroffen wie Viel-Fleischesser (30,6 zu 16,7 %), von Krebserkrankungen anderthalb mal öfter (4,8 zu 1,8 %). Dreimal häufiger erlitten sie Herzinfarkte (1,5 zu 0,6 %). Auch psychisch ging es ihnen schlechter: Doppelt so oft wie bei Viel-Fleischessern lagen bei ihnen Depressionen und Angststörungen vor. Sie gingen häufiger zum Arzt und benötigten mehr medizinische Therapien. Ihre Lebensqualität lag deutlich niedriger: sowohl hinsichtlich der körperlichen und seelischen Gesundheit als auch in puncto Sozialbeziehungen und Umwelt. Medien griffen die Zahlen begierig auf – und verarbeiteten sie zu hanebüchenen Schlagzeilen. „Gesundheitsrisiko Fleischverzicht“, titelte das Nachrichtenmagazin Focus. Ausgiebig kamen sogenannte Experten zu Wort, die es immer schon gewusst hatten. Im Lichte der Grazer Befunde „wirken die unhaltbaren Gesundheitsversprechen von Vegetarierlobbyisten noch weitaus fragwürdiger“, erklärte der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop. (2) Professorin Gabriele Meyer, Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DEGIM), beeilte sich klarzustellen: Entlarvt worden seien hiermit „die gleichen Mythen und Märchen wie bei allen Ernährungsversprechen zur Gesundheit.“ Professor Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön-Klinik Roseneck, sah sich veranlasst, „ideologische Aussagen“ anzuprangern, „die falsche Versprechen suggerieren“. Speziell zum Thema Krebsschutz durch Obst und Gemüse pflichtete Professor Rudolf Kaaks vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) den Grazern bei: „Keinerlei Beziehung, nullkommanull.“(3) Können Carnivoren also aufatmen? Kaum eine Redaktion erachtete es für nötig, ihre Leser, ihre Zuschauer darauf hinzuweisen, dass die vermeintlichen Grazer „Entdeckungen“ in krassem Gegensatz zu mindestens vier Jahrzehnten Ernährungsforschung standen. Und kaum eine gab eine entscheidende Einschränkung wieder, welche die Autoren am Ende ihres Studienberichts selber anbrachten: Die Gretchenfrage „Henne oder Ei?“ bleibt notgedrungen offen. Was sie feststellten, waren nichts weiter als Korrelationen, keine ursächlichen Zusammenhänge. Macht Fleischverzicht krank? Oder verhält es sich andersherum: Neigen Kranke eher dazu, ihren Fleischkonsum zu reduzieren – in der Hoffnung, damit wieder gesund zu werden? Und hätten die Grazer nicht unbedingt berücksichtigen müssen, wie lange ihre 330 Vegetarier schon ihren Ernährungsstil pflegten, und wie konsequent sie dabei waren? Wird ein Körper nicht länger mit Fleisch versorgt, benötigt er Zeit, sich umzustellen. Noch länger dauert es, ehe sich daraufhin bei langwierigen chronischen Leiden etwas Nennenswertes tut. Was also taugen die österreichischen Beruhigungspillen für passionierte Fleischesser? Welche neutrale Instanz weiß da Rat? Was der Vatikan für die katholische Kirche, ist die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) für das öffentliche Gesundheitswesen der Bundesrepublik: eine Instanz, an der sich Ämter, Behörden und Schulen, Politiker und Journalisten vertrauensvoll orientieren, wenn es um gesundes Essen geht. Seit 1953 ist die gemeinnützige Fachgesellschaft, zu 70 Prozent von Bund und Ländern finanziert, satzungsgemäß sowohl dem Gemeinwohl als auch der Wissenschaft verpflichtet. Was hält diese Einrichtung von veganer Ernährung? Nicht allzu viel. „Bei einer rein pflanzlichen Ernährung ist eine ausreichende Versorgung mit einigen Nährstoffen nicht oder nur schwer möglich“, behauptet die DGE. Es bestehe „eine Versorgungsproblematik, deren Auswirkungen insbesondere für Menschen in sensiblen Lebensphasen (z. B. Wachstum) nachteilig für die Gesundheit sein können. (…) Jede Ernährungsweise, die essenzielle Nährstoffe und Energie nicht bedarfsgerecht zuführt, ist für die Gesundheit ungünstig“. „Insbesondere „für Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kinder und Jugendliche“ werde eine vegane Ernährung „von der DGE nicht empfohlen“. Was empfiehlt die DGE stattdessen? „Eine Ernährung mit allen im Ernährungskreis aufgeführten Lebensmittelgruppen, also auch tierischen Produkten“ – zur Freude der Fleisch- und Milchwirtschaft. Das ist, mit Verlaub, irreführender Unfug. Alles, was ein menschlicher Organismus braucht, bietet ihm eine rein pflanzliche Ernährung in Hülle und Fülle – vorausgesetzt, er wählt informiert und mit Bedacht. Das Märchen vom Vitamin-B-12-Mangel Was sollen das denn für Nährstoffe sein, die einem Veganer angeblich „nur schwer“ oder überhaupt nicht zur Verfügung stehen? Am „kritischsten“, warnt die DGE, sei eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B12. Stimmt das? Vitamin B12 wirkt entscheidend daran mit, dass Zellen sich teilen und wachsen. Es beteiligt sich daran, Blut zu bilden und die Erbsubstanz DNA zu synthetisieren. Auch für das Nervensystem ist es außerordentlich wichtig, weil es mithilft, dass sich Nervenfaserhüllen bilden und erneuern. Gemeinsam mit Vitamin B6 und Folsäure baut es das giftige Homocystein, ein Abfallprodukt des Proteinstoffwechsels, zu einem nichttoxischen Stoff ab; Homocystein schädigt die Blutgefäßwände, woraufhin der Körper Reparaturprozesse einleitet, die ihrerseits zu arteriosklerotischen Ablagerungen führen können. Deshalb gelten hohe Homocysteinwerte als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Entsprechend fatal kann sich ein anhaltender Vitamin-B12-Mangel auswirken: von Taubheitsgefühlen auf der Haut, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, brennender Zunge, eingerissenen Mundwinkeln, Koordinationsstörungen und Gangunsicherheit über ernsthafte Entwicklungsstörungen bis hin Perniziöser Anämie, einer besonderen Form der Blutarmut. Auch massive psychische Probleme können sich einstellen. Bei Depressiven und Dementen, bei Autisten und Schizophrenen maßen Mediziner äußerst niedrige Vitamin-B-12-Spiegel. Den Tagesbedarf an B12 schätzen Ernährungswissenschaftler auf 3 bis 4 Mikrogramm (µg). Alle tierischen Lebensmittel enthalten es: Fleisch 2 bis 5 µg, je nach Tierart und Körperteil; Fisch 1 bis 9 µg, je nach Fischart; Käse 1 bis 3 µg, je nach Sorte; Eier 1 bis 1,5 µg, besonders das Eigelb; Milch, Buttermilch und Joghurt 0,2 bis 0,4 µg. Allerdings nimmt der Körper es unterschiedlich gut auf: Während er aus Fleisch zu 60 bis 90 % resorbieren kann, sind es bei Fisch bloß rund 40 %, bei Eiern sogar nur 10 %. Wie stellen Veganer eine ausreichende B12-Versorgung sicher? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Immer wieder melden sich in Internetforen überzeugte Pflanzenköstler zu Wort, die sich seit vielen Jahren vegan ernähren, keinerlei B12-Zusatzpräparate einnehmen, unauffällige B12-Spiegel aufweisen – und sich fit und leistungsfähig fühlen, allem Anschein nach bei bester Gesundheit. Offenbar machen sie alles richtig. In der Szene kursieren vielerlei beruhigende Erklärungen dafür: Verspeiste Algen, Pilze, Gräser, ungewaschenes Gemüse liefern hochwertiges, ausreichend aktives B12; Veganer haben von vornherein einen niedrigeren B12-Bedarf als Allesesser; eine gesunde Mund- und Darmflora bildet von sich aus schon genug davon. Bei Anderen hingegen scheint es nicht zu klappen. Vielleicht braucht ihr Organismus besonders viel B12. Oder sie machen Fehler beim Auswählen und Zubereiten ihrer Nahrungsmittel. Wer auf Nummer Sicher gehen will, nimmt ein Vitamin-B-12-Präparat als Tabletten, Kapseln oder Tropfen ein – möglichst ein hochwertiges, das Hydroxocobalamin enthält, die körpereigene Speicherform von B12, das jederzeit bei Bedarf in aktives B12 umgewandelt werden kann. Das ist einfach, sicher und, bei einem Preis von unter 20 Cent pro Tag, zudem erschwinglich. Von wegen Nährstoffmangel Wie steht es mit all den übrigen Nährstoffen, an denen es Veganern angeblich mangelt? Für Veganer „potentiell kritisch“ findet die DGE die Versorgung mit weiteren Vitaminen – namentlich nennt sie Riboflavin (B2) und Vitamin D -, ferner mit Protein, unentbehrlichen Aminosäuren, langkettigen Omega-3-Fettsäuren sowie Mineralstoffen wie Calcium, Eisen, Jod, Zink, Selen. (4) Stimmt das? Vitamin B2 (Riboflavin) nimmt im Eiweiß-, Energie- und Eisenstoffwechsel in der Tat eine zentrale Rolle ein. Unser Körper benötigt es unter anderem, um Glukose oder Fettsäuren in Energie umzuwandeln. Auch für spezielle Eiweiße in der Augenlinse ist es wichtig. Ein B2-Mangel macht müde und lustlos, er führt zu Augen- und Hautproblemen wie Rötungen, Juckreiz und eingerissenen Mundwinkeln. Die DGE empfiehlt Erwachsenen, täglich 1 bis 1,4 Milligramm B2 zuzuführen. Gute Lieferanten dafür sind Milch und Milchprodukte, Fleisch und Fisch. Reichlich B2 enthalten allerdings auch vielerlei Nüsse, Samen, Hülsenfrüchte, Pilze sowie – in deutlich geringeren Mengen – verschiedene Gemüsesorten und Kräuter. Besonders reich an B2 sind Mandeln, frische Champignons, Dill, Austernpilze, Kürbiskerne und Petersilie, Linsen, Cashewkerne, Brokkoli, Spinat und Maroni, Erdnüsse, Sonnenblumenkerne und Kichererbsen, Hanfsamen und Trockenfrüchte. Vitamin D kommt eine Schlüsselfunktion für unsere Gesundheit zu. An Abertausenden von Regulierungsprozessen in unseren Zellen ist es beteiligt. Es wirkt im Immunsystem mit, lindert Entzündungen, hebt die Stimmung und beugt etlichen chronischen Krankheiten vor. Unter Sonneneinwirkung bildet unser Körper es zu 90 Prozent selbst. Zu ersten Symptomen eines Vitamin-D-Mangels zählen häufige Infekte, verzögerte Wundheilung, Müdigkeit, Knochen- und Rückenschmerzen, anhaltende miese Laune, Schlafstörungen, nachlassende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, ein schlechtes Hautbild. Dauert die Unterversorgung an, so erhöht sich erheblich das Risiko für Übergewicht, chronische Entzündungen, Diabetes, Herz-Kreislauf- und Autoimmunerkrankungen, Herzinfarkt und Krebs, aber auch für Depressionen oder Demenz. Beim Tagesbedarf sind sich Ernährungsexperten uneinig. Während manche von 20 Mikrogramm (= 800 IE) pro Tag ausgehen, nennen andere einen erheblich höheren Wert, nämlich 175 Mikrogramm (=7000 IE). Normalesser lassen sich von der offiziellen Zusicherung beruhigen, Milch und Milchprodukte seien gute Vitamin-D-Quellen. Kaum einer weiß, dass Vollmilch und Joghurt gerade mal 1 µg pro 100 Gramm liefern, manche Hartkäsesorten um die 3 µg. Ergiebiger ist Fisch, mit 2 bis 22 µg je nach Art. Aber wer isst schon täglich einen Teller voll Hering, Aal oder Sprotten? Neben Sonnenbädern steht Veganern eine hervorragende Alternative zur Verfügung: sonnengetrocknete Pilze. Fast alle Arten eignen sich dazu. Denn von Natur aus enthalten sie den Vitamin-D-Vorläufer Ergisterol; unter UVB-Strahlung entsteht daraus Ergocalciferol – auch Vitamin D2 genannt. Dazu legt man die Pilze ungewaschen, mit den Lamellen nach oben, zwei Tage lang in die Sonne. Danach enthalten sie bereits über 40.000 IE Vitamin D. Es verbleibt in den Pilzen mindestens ein Jahr lang, so dass sie uns auch im Winter reichlich D2 liefern. Wer täglich 2 bis 15 Gramm Pilze isst, hat seinen Vitamin-D-Spiegel bereits auf ein gesundes Level angehoben. (5) Protein nennen Allesesser in Umfragen regelmäßig als Hauptgrund, Fleisch zu essen. Dabei liefert beinahe jede Pflanze sämtliche wichtigen Eiweiße. Besonders üppig enthalten sind sie in Nüssen (Mandeln, Walnüsse, Paranüsse, Haselnüsse), in Hülsenfrüchten (Erdnüsse und Erdnussmus, Bohnen, Linsen, Erbsen, Kichererbsen usw.), in Samen (Kürbiskerne, Leinsamen, Sonnenblumenkerne, Pistazien, Mohn, Sesam), Vollkornprodukte (insbesondere Quinoa und Amaranth), in Sojaprodukten, Reis, Hanf und Lupinen. Zu den proteinreichsten Gemüsearten zählen Kohl (besonders Rosenkohl, Grünkohl und Wirsing), aber auch Gartenkresse, Kräuter, Wildpflanzen und Pilze. Ein Proteinproblem haben in den Industrieländern eher die Allesesser: Sie bekommen zuviel davon – in den USA etwa das Doppelte der Menge, die der menschliche Organismus bräuchte. Essentielle, also lebensnotwendige Aminosäuren sind unabdingbare Bausteine der Proteine. Außerdem dienen sie als Ausgangsmaterial für vielerlei Verbindungen, die im Körper entscheidende Stoffwechselfunktionen übernehmen. Weil unser Körper sie nicht in ausreichenden Mengen selbst synthetisieren kann, müssen wir sie mit der Nahrung aufnehmen, In Rindfleisch, Wurst, Fisch, Milchprodukten und Eiern kommen sie besonders üppig vor. Dass Veganer damit Probleme haben, ist aber ein haltloses Gerücht. Reichlich enthalten ist Histidin in Sojabohnen und Weizenkeimen; Isoleucin in Cashewkernen, Erdnüssen, Linsen, Erbsen; Leucin in Hülsenfrüchten wie Sojabohnen, Erbsen, weißen und Mungobohnen, Linsen, Kichererbsen; Lysin in Bohnen, Orangen, Mandarinen sowie Sellerie; Methionin in Paranüssen, Sesamkörnern, getrockneten Sojabohnen, grünen Gemüsen wie Brokkoli, Rosenkohl und Spinat; Phenylalanin: in Soja und Kürbiskernen; Threonin in Papaya, Karotten, Blattspinat; Tryptophan in Sojabohnen, Kakaopulver ohne Zucker, Cashewkernen, trockenen Erbsen, Haferflocken, Walnüssen und Weizenmehl; Valin in Dinkelmehl und Haferflocken. Omega-3-Fettsäuren sind mehrfach ungesättigt, wie Biochemiker sagen: Es handelt sich um langkettige Moleküle – Kohlenwasserstoffketten - mit mehreren Doppelbindungen. Ihre wichtigsten Vertreter sind Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA). Unser Körper benötigt sie unter anderem, um Zellwände aufzubauen, insbesondere in Auge und Gehirn. Dort sorgen sie dafür, dass die Membranen elastisch bleiben, und übernehmen wichtige Aufgaben bei Enzymen, Rezeptoren und Transportproteinen. Darüber hinaus dienen sie als Ausgangssubstanz für Eicosanoide: Gewebshormone, die für verschiedene Immunfunktionen bedeutsam sind. Sie senken das Herzinfarkt-Risiko, wirken Herzrhythmusstörungen entgegen und positiv bei entzündlichen Erkrankungen wie Arthritis, Psoriasis und Morbus Crohn, sowie bei Krebs und Hauterkrankungen. Sie hemmen das Zusammenkleben der Blutplättchen, wirken gefäßerweiternd, entzündungshemmend, blutdrucksenkend und verbessern die Fließeigenschaften des Blutes. Bei hoher Aufnahme - 3-4 g pro Tag – senken sie den Triglyzerid- und möglicherweise auch den Cholesterinspiegel. Ein Mangel beschwört zahlreiche Gesundheitsbeschwerden herauf, darunter Herz-Kreislauf-Probleme, Nervenstörungen, entzündliche Reaktionen und Autoimmunerkrankungen. Als Tagesbedarf gelten 250 mg. Fetter Seefisch enthält diese wertvollen Fettsäuren reichlich – für Veganer allerdings kein Grund zur Verzweiflung, sofern sie sich ein wenig in Nahrungsmittelkunde schlau machen. EPA und DHA kann der Körper nämlich selbst aufbauen: aus der kurzkettigen Alpha-Linolensäure (ALA), Stattliche Mengen davon liefern Chia- und Leinsamen, Hanfsaat, Lein- und Hanföl. (6) Einen etwaigen Omega-3-Mangel ausgleichen helfen hochwertige Algenpräparate, insbesondere aus Schizochytrium, Chlorella und Spirulina. Calcium ist das Lieblingsmineral aller treuen Kunden der Milchwirtschaft. Normalesser nennen es am häufigsten als Grund, viel Milch zu trinken und Milchprodukte zu sich zu nehmen – das führe zu gesunden Knochen, im Alter schütze es vor Brüchen, so meinen sie. Offizielle Richtlinien setzen den tatsächlichen Calciumbedarf viel zu hoch an. Ihn zu decken, gelingt mit einer rein veganen Ernährung nicht nur mühelos, sondern eher noch besser. Zuviel Calcium begünstigt einen Magnesiummangel. Um beides optimal zu verwerten, muss der Körper sie im Verhältnis 2 zu 1 aufnehmen. Mit Milchprodukten ist das unmöglich, mit pflanzlichen Lebensmitteln gelingt es ohne weiteres. Ein ideales Calcium-Magnesium-Verhältnis bieten etwa Sesam, Mandeln, Haselnüsse und Leinsamen, grünes und Wildgemüse wie zum Beispiel Grünkohl, Löwenzahn, Kresse, Brokkoli, Fenchel, Mangold und Karotten. Ebenfalls reich an Calcium sind Mohn, getrocknete Kräuter und Küchengewürze, Spirulina-Algen, Brennesseln, Kichererbsen und weitere Hülsenfrüchte, Trockenfrüchte wie Feigen und Aprikosen, Soja-, Reis- und Hanfmilch, Tofu und Tempeh, ein traditionelles Fermentationsprodukt aus Indonesien, das aus gelben Sojabohnen hergestellt wird. Eisen ist in unserem Körper für den Sauerstofftransport mitverantwortlich. Darüber hinaus ist es ein unentbehrlicher Bestandteil verschiedener Enzyme, die für den Energiestoffwechsel verantwortlich sind. Der Großteil befindet sich in den roten Blutkörperchen, als wesentlicher Bestandteil des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin. Dort erfüllt Eisen die Aufgabe, Sauerstoff an sich zu binden, mit dem über das Blut alle Körperzellen versorgt werden. Fehlt es, tritt Anämie, Blutarmut auf. Der Sauerstoffmangel beeinträchtigt umgehend das körperliche und geistige Leistungsvermögen – man fühlt sich schlapp, ist unentwegt müde und rasch erschöpft. Man fängt sich öfter Erkältungen ein, die Haare fallen aus, die Zunge entzündet sich, die Fingernägel wölben sich nach oben. Den Tagesbedarf von ungefähr 15 mg Eisen kann unser Körper nicht selber herstellen, er muss es mit der Nahrung aufnehmen. Besonders hochwertiges Eisen liefern Fleischprodukte, am reichlichsten Leber und Blutwurst: sogenanntes Häm-Eisen – Eisen in Verbindung mit Hämoglobin -, das unser Organismus besonders leicht verwerten kann. Aber auch Pflanzenkost kann stattliche Eisenmengen liefern. Den Spitzenplatz belegt Kurkuma (40 mg pro 100 Gramm), gefolgt von Kürbiskernen (12,5 mg), Sesam (10), Amaranth (9), Quinoa (8), Hirse (7), Mohn, Leinsamen, Pfifferlingen, Basilikum, Sonnenblumenkernen und getrockneten Pfirsichen. Ebenfalls eisenreich sind grüne Blattgemüse – vor allem Spinat, neben Mangold und Löwenzahn -, grüne Blattsalate, viele Kräuter, Hülsenfrüchte und Gemüse. Belesene Veganer achten darauf, sich gleichzeitig ausreichend Vitamin C zuzuführen, etwa mit Zitronen- oder Orangensaft, Kiwi, roter Paprika, Brokkoli, Rot- oder Weißkohl: Es erleichtert dem Körper, Eisen zu verwerten. Kaffee, Schwarztee, phosphatreiche Fertignahrung, Softdrinks und calciumreiche Milchprodukte hingegen hemmen die Eisenaufnahme. Im übrigen hängt es vom Zustand des Verdauungssystems ab, wie gut unser Körper Eisen resorbiert: etwa vom pH-Wert im Darm und der Magensäureproduktion. Jod benötigt die Schilddrüse: Nur mit seiner Hilfe kann sie ihre Hormone produzieren. Fehlen sie, so gerät der gesamte Stoffwechsel ins Stocken – es stellen sich die Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion ein. Als Tagesbedarf von Kindern gelten laut DGE 100 bis 200 μg/Tag, 180 bis 200 μg/Tag benötigen Jugendliche und Erwachsene. Eine erstklassige Jodquelle für Pflanzenesser bieten Meeresalgen. Kelp, eine Braunalge mit über 30 Unterarten, enthält sage und schreibe 3000 bis 11000 µg Jod pro Gramm, die Rotalge Dulse und die Braunalge Hijiki jeweils 500, Wakame 100 bis 350, der Meersalat – eine Grünalge bis zu 240. Aber auch grüne Blattgemüse, Kohl, Pilze, Feldsalat, Champignons, Brokkoli, Erbsen und Spinat, Erdnüsse, Leinsaat, Kürbis- und Cashewkerne tragen zur Jodversorgung nennenswert bei. Zink zählt, wie Eisen, zu den essentiellen Spurenelementen: Einerseits lebenswichtig, benötigt unser Organismus es nur in kleinen Mengen, „Spuren“. Es belebt den Stoffwechsel – bis zu 300 Enzyme haben Zink als Bestandteil -, fördert den Muskelaufbau, die Hautgesundheit und Heilungsprozesse aller Art, hilft beim Entgiften, steigert die Abwehrkräfte. Und es hebt die Stimmung: Denn Zink ist in einem Enzym namens Aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase enthalten, das beim Aufbau des „Glücksbotenstoffs“ Serotonin mithilft. Für Männer gilt ein Bedarf von 10 mg pro Tag, für Frauen 7 mg. Zinkmangel zeigt sich an gestörter Geschmacksempfindung der Mundschleimhaut, Durchfall, Dermatitis und Akne. Er macht stressempfindlich, infektanfällig, müde und leistungsschwach, verzögert die Wundheilung, lässt Haare ausfallen. Sogar mit unerfülltem Kinderwunsch kann er in Zusammenhang stehen, wie vermutlich auch mit altersbedingter Sehschwäche. Fleisch, Käse und Austern liefern reichlich Zink, 2 bis 9 mg pro 100 Gramm. Haben Veganer folglich ein Problem? Unsinn. Zink befindet sich normalerweise in proteinreichen Lebensmitteln; diese sorgen dafür, dass unser Körper das Spurenelement leicht aufnehmen kann. Hohe Zinkwerte finden sich auch bei Ölsaaten wie beispielsweise Kürbiskernen (7 mg pro 100 g), Leinsaat und Mohn. Hülsenfrüchte liefern 2 bis 3,5 mg. Allerdings sollten wir Hülsenfrüchte und Ölsaaten vor dem Verzehr ein paar Stunden lang in Wasser einweichen, so dass sie ankeimen. Dabei wird im Samen das Enzym Phytase aktiviert; es baut Phytinsäure ab, welche das Zink und andere Mineralstoffe an sich bindet. Früchte und Gemüse hingegen liefern recht wenig Zink (0,1 bis 1 mg). Weil Veganer aber größere Mengen davon verzehren, erschließen sie sich damit eine weitere wichtige Zinkquelle. Außerdem erspart ihnen ihre Ernährungsweise Milchprodukte, in den Casein sowie viel Calcium und Phosphat die Zinkaufnahme hemmen. Selen, ein weiteres lebensnotwendiges Spurenelement, zeichnen mehrere grundlegende Vorzüge aus. Zum einen wirkt es hervorragend als Antioxidans: Es verlangsamt oder verhindert, dass andere Substanzen oxidieren, d.h. sich mit Sauerstoff verbinden – und dadurch im Organismus für sogenannten „oxidativen Stress“ sorgen, eine Stoffwechsellage, bei der vermehrt schädigende freie Radikale anfallen. „Freie Radikale“: so könnte eine extremistische Splitterpartei heißen. Der Name ist aber schon für einen physikalischen Sachverhalt reserviert: für Atome oder Moleküle, die ein freies, ungepaartes Elektron aufweisen, weshalb sie besonders reaktionsfreudig sind. Nehmen freie Radikale überhand, beeinträchtigt das die Immunabwehr. Dann neigen wir verstärkt zu Infekten. Das Risiko von chronischen Gesundheitsproblemen wächst, etwa für Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes, Arteriosklerose, Augenerkrankungen, zu chronisch entzündlichen Prozessen wie bei Arthritis, Colitis ulcerosa und Hashimoto-Thyreoditis, zu Multipler Sklerose, Parkinson, bösartigen Tumoren und Alzheimer. Auch altern wir vorzeitig. Selen spielt eine wichtige Rolle dabei, all das zu verhindern. Als unerlässlicher Bestandteil des Enzyms Glutathionperoxidase, eines besonders wirkungsvollen Antioxidans, schützt es beispielsweise vor Krebs. Zum zweiten schafft es Selen, Schwermetalle wie Aluminium Arsen, Blei, Cadmium und Quecksilber an sich zu binden. In schwer löslichen Selen-Komplexen gefangen, können sie im Körper keinen Schaden mehr anrichten. Darüber hinaus regt Selen das Immunsystem dazu an, Antikörper gegen Krankheitserreger und andere Schadstoffe zu bilden. Ferner trägt Selen dazu bei, dass der Organismus ausgewogen mit Schilddrüsenhormonen versorgt wird; es steuert deren Aktivierung und Deaktivierung. Kurzum, Selen ist für unsere Gesundheit unverzichtbar, ein andauernder Mangel hat fatale Folgen. Muss das Veganer beunruhigen? Eher nicht. Eine Handvoll Paranüsse pro Tag genügt, um sich wegen Selen keine Sorgen machen zu müssen. In Kokosnüssen, Kokosflocken, Sesam und Steinpilzen ist Selen ebenfalls reichlich enthalten, in kleineren Mengen auch in Champignons, Sojabohnen, Hafer, Mais, Hirse und Vollkornreis. Hülsenfrüchte, Knoblauch und Sonnenblumenkerne sind weitere gute Selenlieferanten. Wo also, bitteschön, wird es „kritisch“, vegan zu sein? Die Panikmache der DGE, ihre nachdrückliche Empfehlung von Mischkost mit Fleisch, Fleischerzeugnissen und Fisch setzt sich über den aktuellen Stand der Ernährungsforschung eher hinweg, als ihn widerzuspiegeln. „Unsympathische Zeitgenossen“ - Das Charakter-Argument „Körnerfresser“, „Müsliheini“, „Sprossenlutscher“: Eine stattliche Ansammlung von Schimpfwörtern zeigt an, dass vielen Mitmenschen ein Großteil der bekennenden Fleischverächter mächtig auf den Keks geht. Zum Essen eingeladen, brüskieren manche ihre Gastgeber mit bohrenden Nachfragen, ob und welche tierischen Leichenteile und Ausscheidungen sich im servierten Mahl verstecken. In Supermärkten sieht man sie minutenlang stirnrunzelnd Zutatenlisten auf Verpackungen unter die Lupe nehmen, ehe sie das meiste mit verächtlicher Miene wieder in die Auslage zurückbefördern. Kaltblütig sprengen sie gesellige Runden mit miesepetrigen, besserwisserischen Belehrungen, wie viel auf dem Tisch eher wertloses, medizinisch bedenkliches und ethisch unvertretbares Zeug sei. Mit missionarischem Eifer, unerträglicher Arroganz und dem erigierten Zeigefinger des Moralisten bedrängen sie bei jeder Gelegenheit Normalesser, endlich den rechten Ernährungsweg einzuschlagen. So einer könnte Hoeneß´ Siebzigsten, der am 5. Januar ansteht, übelst sabotieren. Keine Frage, solche Zeitgenossen kommen in der alternativen Essszene durchaus vor. In ihrer Aufsässigkeit, ihrer Streitbarkeit erinnern sie an fanatische Anti-Nikotin-Kreuzzügler unter Exrauchern, an trocken gewordene Exalkoholiker. Mit nervtötenden Auftritten verletzen sie häufig nicht nur die Grenzen des Anstands – sie entlarven sich als miserable Psychologen und Sozialpädagogen. Noch so viele schlaue Worte, noch so reichlich zitierte wissenschaftliche Studien veranlassen einen Normalesser jemals dazu, spontan reumütig eine diätetische Kehrtwendung zu vollziehen. Je eingefleischter Überzeugungen und Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen sind, je selbstverständlicher sie zum bisherigen Alltag gehören, desto schwerer erodieren sie unter dem Druck irgendwelcher Argumente. Gerade die eifrigsten Prediger der Veggie-Szene scheinen oft ihre eigene Biografie außer acht zu lassen: die wenigsten veranlasste ein rhetorisch noch so glänzender Vortrag, ein noch so faktenreiches Sachbuch dazu, plötzlich anders zu essen. Oft sind es einschneidende Lebensereignisse oder allmähliche innere Reifungsprozesse, die den Ausschlag geben: sei es eine schwere Krankheit, sei es tiefe Unzufriedenheit mit der eigenen körperlichen Verfassung. Vegetarier oder Veganer wird man am häufigsten auf dem Weg der Selbstbekehrung. Denkanstöße von außen helfen dabei umso weniger, je mehr sie als Bevormundung, als Zwang empfunden werden. Andererseits treiben nicht jeden, der mit Normalessern über gesunde Ernährung zu diskutieren beginnt, lediglich ein aufgeblähtes Ego, Rechthaberei und Wichtigtuerei. Viele bewegt aufrichtige, tiefe Sorge um das Wohlergehen Anderer. Versuchen wir nicht, dem geliebten Partner, den über alles geliebten Kindern und Eltern, dem besten Freund zu helfen, wenn es ihnen schlecht geht? Und falls eine anhaltend miserable Ernährung daran schuld sein könnte: Dürfen, müssen wir das ihnen gegenüber nicht zur Sprache bringen? Stattdessen zu schweigen, aus Taktgefühl oder Resignation, wäre verantwortungslos. Wer sich dabei als „Besserwisser“ unsympathisch macht, muss sich nicht dafür entschuldigen, dass er es tatsächlich häufig besser weiß – allein dadurch sorgt er beim Gegenüber leicht für Unbehagen, für Minderwertigkeitsgefühle, für Abwehrreflexe. Wer gibt schon gerne zu, dass er sich bei einem Gesprächsthema zuwenig auskennt? Dass ihm das Wissen fehlt, kompetent mitzureden? Etliche Umfragen deuten darauf hin, dass ihm der typische Vegetarier und Veganer vielerlei voraus hat. (7) Besonders fundiert und aussagekräftig ist hierzu eine 2017 veröffentlichte Studie zweier Psychologen der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. (8) Sie analysierten Daten von über 5000 Personen, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) drei Jahre zuvor in eine repräsentative Langzeitstudie einbezogen hatte. Demnach ist der typische Pflanzenesser intelligenter als der Durchschnittsbürger und verfügt über einen höheren Bildungsabschluss. Er ist gesundheitsbewusster – und gesünder. Er hat sich gründlicher über Lebensmittel informiert, seine Konsum- und Ernährungsgewohnheiten selbstkritisch auf den Prüfstand gestellt, logische Schlüsse gezogen. Er ist offener für neue Erfahrungen, politisch interessierter und liberaler. Sich all das einzugestehen, nervt und kränkt so manchen Normalesser. Indem er den Vegetarier, den Veganer für unsympathisch erklärt, erspart er sich die Mühsal, sich mit dessen Standpunkten inhaltlich auseinandersetzen zu müssen – er stellt sich selbst einen unbewussten „Freifahrtschein“ aus, „um die faktenbasierte Reflektion des eigenen Verhaltens zu vermeiden“, mutmaßt das Infoportal Vegpool. „Verdrängung ist wohl der wichtigste Grund, warum Fleischesser Veganismus ablehnen.“ Da ist viel dran. „Wer die Wahrheit kennt, braucht ein schnelles Pferd“, lehrt ein chinesisches Sprichwort. Den Überbringer unangenehmer Botschaften abzulehnen, entspricht einem tiefverwurzelten menschlichen Bedürfnis. „Lauter Trauerklöße“ - Das Depressionsargument Eine vegetarische Lebensweise, und erst recht eine vegane, muss auf die Dauer doch gewaltig auf die Stimmung schlagen, so mutmaßen Normalesser: „Da hockst du beim Grillfest in fröhlicher Runde, womöglich sogar bei Uli Hoeneß am Tegernsee – und guckst salatkauend den Anderen beim Schlemmen zu. Bei der Geburtstagsfeier, beim Hochzeitsfest musst du die leckersten Sahnetorten links liegen lassen. Im Restaurant bleibt dir nichts anderes übrig, als mindestens vier Fünftel der Speisekarte zu ignorieren. Was ist das für ein Leben? Ständig verzichten, sich immerzu zusammenreißen, während es sich die Mitmenschen unbeschwert gutgehen lassen: das muss doch irgendwann depressiv machen.“ Diese Unterstellung sollen einzelne Forscherteams sogar empirisch bestätigt haben. In der oben zitierten österreichischen Studie litten Vegetarier deutlich häufiger an Angststörungen und Depressionen als Viel-Fleischesser (9,4 zu 4,5 Prozent). (9) Diese Zusammenhänge bestätigte 2012 eine Studie der Universitäten Hildesheim und Bochum, der Psychologischen Hochschule Berlin und der TU Dresden, darüber hinaus noch für Essstörungen und psychosomatische Beschwerden. (10) Fleischverzicht sei mit einem deutlich höheren Risiko für depressive Symptome verbunden, wie sich angeblich auch aus einer Studie ergibt, welche das US-Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism gemeinsam mit der Universität Bristol durchführte. Daran nahmen knapp 10.000 Männer teil, von denen sich 311 vegetarisch und 39 vegan ernährten. Beide Untergruppen, so ergab sich aus Fragen zur psychischen Gesundheit, neigten eher zu Depressionen – umso stärker, je länger sie sich bereits fleischlos ernährten. (11) Zu ähnlichen Ergebnissen waren bereits frühere Studien gelangt. Woran das liegen könnte, wusste zumindest das Nachrichtenmagazin Focus genau: Schuld sei, dass „eine fleischlose Ernährung gewöhnlich zu einem Vitamin-B-12-Mangel führt“. Außerdem würden Veganer „häufig zu Nüssen greifen, die die Omega-6-Fettsäure-Werte erhöhen.“ Dieser Überschuss könne „zu vermehrten Entzündungen im Körper führen und zusammen mit einem Vitamin-B-12-Mangel die Produktion von Botenstoffen im Gehirn beeinflussen“, was sich „auf das Wohlbefinden und unser Glückgefühl“ auswirke. (12) Für die Nahrungsmittelindustrie sind solche „Erkenntnisse“ ein gefundenes Fressen. Aber treffen sie auch zu? Zum einen ist jedem halbwegs informierten Vegetarier und Veganer klar, wie er möglichen Mangelerscheinungen vorbeugen bzw. sie beheben kann, und die allermeisten tun es. Ihre Selbstbeobachtungen, wie auch Einschätzungen seitens ihres sozialen Umfelds, stehen überwiegend in krassem Widerspruch zu den sonderbaren Studienergebnissen: Kaum haben sie ihre Ernährung umgestellt, da hellt sich ihre Stimmung auf, psychische Tiefs werden seltener und geringer ausgeprägt, die Lebenseinstellung wird optimistischer. (13) Unerwähnt ließ Focus, dass genügend Studien inzwischen bestätigen: Veganer sind psychisch gesünder, insbesondere weniger depressiv. Noch ausgeprägter als Vegetarier unterliegen sie geringeren Stimmungsschwankungen, sind weniger ängstlich, leisen weniger unter Stress als Fleischesser. (14) Hingegen erhöht eine entzündungssteigernd wirkende Ernährung - mit hohen Anteilen von Fleisch und Fisch, Limonade und raffiniertem Mehl - das Depressionsrisiko bei Frauen um 41 Prozent. (15) Fischkonsum erhöht das Risiko für Depressionen und Suizid, womöglich aufgrund des hohen Quecksilberanteils. (16) Im übrigen ist nichts unwissenschaftlicher, als von Korrelation auf Kausalität kurzzuschließen. Rühren die höheren Depressionswerte tatsächlich von der pflanzlichen Ernährung her, mit der sie einhergehen? Könnte es nicht umgekehrt sein: Menschen, die zu Depressionen neigen, ernähren sich eher vegan oder vegetarisch? (17) Aber weshalb sollten sie das tun? Menschen, denen die psychiatrische Etikettierungsmaschinerie immer rascher, immer früher, immer häufiger die Diagnose einer „depressiven Störung“ verpasst (18), sind überdurchschnittlich oft hochsensibel, nachdenklich, empathisch, verantwortungsbewusst, selbstkritisch – alles Charaktereigenschaften, die dazu prädestinieren, mit Tieren besonders stark mitzufühlen, dünnhäutiger auf empfundenes Unrecht zu reagieren, eigene Gewohnheiten ebenso zu hinterfragen wie vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Kultur und Gesellschaft. Je mehr sie sich mit bestehenden Missständen wie Tierleid und Welthunger, Umweltzerstörung und Massenvergiftung durch Industriechemikalien beschäftigen, desto stärker quält es sie. Daraus kann sich durchaus eine Gemütsverfassung entwickeln, die Ärzte mit einem pathologischen Zustand verwechseln. Woran Betroffene leiden, zurecht und vollauf rational, ist eine Welt, die krank ist und krank macht. Woher kommt die Verachtung gegenüber Pflanzenköstlern? Es gibt Angenehmeres, als in Gesellschaft offen und ehrlich zu einer vegetarischen oder gar veganen Ernährungsweise zu stehen. Wer es wagt, dem schlägt allzu oft eine geradezu aggressive Ablehnung entgegen. Kaum jemand will hören, was er zu sagen hat, und sich sachlich damit auseinandersetzen. Stattdessen riskiert er, verspottet und beschimpft zu werden. Wie jeder Mensch ist er viel mehr als seine Essgewohnheiten. Aber sobald er in der Schublade „Fleischverächter“ gelandet ist, greifen Stereotype. Sie drängen alles in den Hintergrund, was ihn sonst noch ausmacht. Nun gilt er als Radikaler, als Esoteriker, als Spinner. Wieso mag keiner vernünftig mit ihm sprechen, auf seine Argumente eingehen? Das gäbe ihm Gelegenheit, in aller Ruhe vorzutragen: Sein Fleischverzicht ist eine logische Konsequenz der Tatsache, dass Menschen heutzutage keine Tierprodukte mehr verzehren müssen, um satt zu werden. Inzwischen stehen fatale Folgen des Fleischkonsums in krassem Missverhältnis zum Nutzen, medizinisch wie ökologisch. Aber eben dies – logisch zu sein - ist gerade das Problem: Es führt dem Fleischesser vor Augen, dass er entweder schlecht informiert ist, über vorhandene Informationen zuwenig nachgedacht hat oder den Gedanken keine Taten folgen ließ. Wer gesteht sich das gerne ein? Dazu sachlich genötigt zu werden, erlebt er als emotionale Bedrohung. Es verletzt seinen Stolz, es zieht seine Integrität in Zweifel, es wertet seine Einstellungen ab. Davor hat er Angst. Wenn sich diese Angst verselbstständigt, wird sie zur Ideologie. Und Ideologien sind resistent gegen Fakten. Daran zu arbeiten, fällt Fleischessern hoffentlich leichter, wenn sie sich klarmachen: Der Vegetarier, der Veganer, über den sie gerade verständnislos den Kopf schütteln, war höchstwahrscheinlich selber einmal einer von ihnen. Auch in seinem Leben gab es eine mehr oder minder lange Phase, in denen er Tatsachen verdrängte, fällige Entscheidungen vor sich herschob, Kritik auswich. Überzeugungsarbeit gelingt Pflanzenköstlern am ehesten, wenn sie ehrlicherweise deutlich machen: Die Angst ihres Gegenübers war allzu lange ihre eigene. Wie gesund isst der Wurstfabrikant? Hoeneß´ Vegan-Bashing hat seine Popularitätswerte nicht unbedingt erhöht. In sozialen Medien überwiegen Kopfschütteln und Ironie über einen, dessen barocke Leibesfülle mit seinem blähsüchtigen Ego ohne weiteres mithält. Eine „Julia Sabrina“ etwa findet es „amüsant, dass gerade Menschen mit einer derartigen Freshness im Gesicht solch wilde Aussagen treffen. Meist sind sie dann selbst noch sportlich gebaut und man sieht ihnen förmlich an, dass sie auf ihre Ernährung achten.“ Und „Yvonne K.“ wundert sich: „Komisch nur, dass wir so viele kranke Menschen haben, wo doch die Mehrheit der Menschen omnivor lebt.“ Auch bei der Tierrechtsorganisation PETA kam Hoeneß´ Tirade nicht gut an. „Mit solchen Aussagen schießt er sich selbst ins Abseits“, erklärte PETA-Fachleiter Peter Höffken. „Mittlerweile ist ja bekannt, dass der ganze Fleischkonsum den Planeten zerstört, die Tierquälerei ist präsent in den Nachrichten. Und auch für die eigene Gesundheit ist diese Kost schädlich. Ich glaube, er hat einfach Angst, dass er Umsätze verliert und dass die Fabrik vielleicht irgendwann Verluste schreiben muss. Er versucht eben den Trend zu einer pflanzlichen Ernährung mit solchen verzweifelten Aussagen irgendwie aufzuhalten. Die Menschen wissen inzwischen, dass eine pflanzliche Ernährung gesünder ist als die herkömmliche Ernährung. Ich denke mal, er hat hier ein klassisches Eigentor geschossen." Der Schauspieler Ralf Moeller, ehemaliger Bodybuilder und Mr. Universum, sandte aus seiner Wahlheimat Kalifornien sonnige Grüße an den Tegernsee: „Happy Birthday, Uli Hoeneß. Ich verstehe natürlich, dass Sie als Wurstfabrikant die Veganer nicht mögen. Aber ich persönlich bin aus gesundheitlichen und ökologischen Gründen Veganer und weil ich die größten Zweifel an der Massentierhaltung habe. Mit meiner veganen Kost fühle ich mich noch fitter und bin gesünder. Wenn wir uns besser kennen würden, wäre mein Geburtstagsgeschenk für Sie ein veganer Koch für ein Wochenende. Aber damit Sie noch viele Geburtstage gesund feiern, empfehle ich Ihnen, einmal die Woche vegan und 50 Prozent weniger Fleisch zu essen." (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) Nathalie T. Burkert u.a.: „Nutrition and Health – The Association between Eating Behavior and Various Health Parameters: A Matched Sample Study“, PLoS One 9(2) 2014: e88278, doi:10.1371/journal.pone.0088278, http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0088278 (2) „Vegetarismus: ‚Gesundessen‘ als Glaubensbekenntnis“, Novo Argumente, Uwe Knop, 30.10.2013. (3) Zit. nach Süddeutsche Zeitung, 23.1.2014, http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/krebs-und-ernaehrung-die-angst-isst-mit-1.1869774-2. (4) Margrit Richter, Heiner Boeing, Dorle Grünewald-Funk, Helmut Heseker, Anja Kroke, Eva Leschik-Bonnet, Helmut Oberritter, Daniela Strohm, Bernhard Watzl für die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE): Vegane Ernährung – Position der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE), Ernaehrungs Umschau international 63 (4) 2016, S. 92–102, doi:10.4455/eu.2016.021. (5) Paul Stamets: "Place Mushrooms in Sunlight to Get Your Vitamin D: Part One", Huffington Post Healthy Living, Februar 2012, http://www.huffingtonpost.com/paul-stamets/mushrooms-vitamin-d_b_1635941.html (6) Siehe A. A. Welch u.a.: „Dietary intake and status of n–3 polyunsaturated fatty acids in a population of fish-eating and non-fish-eating meat-eaters, vegetarians, and vegans and the precursor-product ratio of {alpha}-linolenic acid to long-chain n–3 polyunsaturated fatty acids: results from the EPIC-Norfolk cohort“, November 2010, American Journal of Clinical Nutrition, http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20861171. (7) Vegpool: „Sind Veganer intelligenter?“, https://www.vegpool.de/wissen/veganer-intelligenz.html; Der Standard.de, 4.11.2017: „Die Persönlichkeit von Vegetariern und Veganern“, https://www.derstandard.de/story/2000067108147/persoenlichkeit-wie-sich-vegetarier-von-fleischessern-unterscheiden; abgerufen am 19.12.2017 (8) Tamara M. Pfeiler/Boris Egloff: „Examining the "Veggie" personality: Results from a representative German sample“ Appetite, 7. September 2017, DOI:10.1016/j.appet.2017.09.005 (9) N. T. Burkert u.a.: „Nutrition and Health – The Association between Eating Behavior and Various Health Parameters: A Matched Sample Study“, PLoS ONE 9(2) 2014: e88278. doi:10.1371/journal.pone.0088278http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0088278 (10) Johannes Michalak/Xiao Chi Zhang/Frank Jacobi: „Vegetarian diet and mental disorders: results from a representative community survey; International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity 2012, 9:67, https://ijbnpa.biomedcentral.com/track/pdf/10.1186/1479-5868-9-67?site=ijbnpa.biomedcentral.com. (11) Joseph R. Hibbeln/Kate Northstone: „Vegetarian diets and depressive symptoms among men“, Journal of Affective Disorders 225 (1) 2017, S. 13-17, http://dx.doi.org/10.1016/j.jad.2017.07.051 ) (12) Focus.de, 12.11.2017: „Kein Fleisch kann unglücklich machen - Veganer erkranken eher an psychischem Leiden als Fleischesser“, www.focus.de/gesundheit/videos/kein-fleisch-kann-ungluecklich-machen-studie-beweist-veganer-erkranken-eher-an-psychischem-leiden-als-fleischesser_id_7449436.html. (13) Siehe Harald Wiesendanger (Hg.): Tiere essen? Warum AUSWEGE-Mitwirkende ihre Ernährung umstellten (2018), https://stiftung-auswege-shop.gambiocloud.com/tiere-essen-warum-auswege-mitwirkende-ihre-ernaehrung-umstellten-pdf.html (14) Bonnie Beezhold u.a.: „Vegans report less stress and anxiety than omnivores“, Nutritional Neuroscience 18 (7) 2014, S. 289-296, DOI: 10.1179/1476830514Y.0000000164. (15) M. Lucas u.a.: „Inflammatory dietary pattern and risk of depression among women“, Brain, Behavior, and Immunity 36/2013, S. 46-53, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3947176/ (16) Michael Greger: „Fish Consumption & Suicide“, NutritionFacts 25/2015, https://nutritionfacts.org/video/fish-consumption-and-suicide/. (17) Nina Röller: „Wird man als Veganer wirklich depressiv?“, 28.8.2017, http://www.erdbeerlounge.de/diaet/gesunde-ernaehrung/wird-man-als-veganer-wirklich-depressiv/, abgerufen am 19.12.2017. (18) Harald Wiesendanger: Das Märchen von der Psycho-Seuche, Schönbrunn 2017, https://stiftung-auswege-shop.gambiocloud.com/das-maerchen-von-der-psycho-seuche-profis-erkennen-nicht-besser-was-uns-fehlt-auswege-schriftenreihe-psycholuegen-band-2-printausgabe.html
- Wann, wenn nicht jetzt?
Erst Großbritannien. Dann Dänemark. Nun auch Norwegen. In Europa heben immer mehr Länder sämtliche Corona-Beschränkungen auf. Schweden kopierte gar nicht erst Rotchinas Hygiene-Inszenierung von Wuhan, die eher unter die Kategorie „Kriegslist“ fällt. Doch ein „Freedom Day“ in Deutschland? Vorerst keinesfalls, so wiegeln Bedenkenträger ab, aus einem Dutzend angeblich schwerwiegendster Gründe. Wer versteht sie noch? „Wütet“ Corona zwischen Flensburg und Passau etwa viel, viel schrecklicher als andernorts, wo Freiheit katastrophenfrei möglich ist? „Wütet“ Corona in Berlin ärger als in Stockholm oder London, in Amsterdam, Kopenhagen oder Oslo – so schlimm, dass uns bis auf weiteres Freiheiten vorenthalten werden müssen, die Nachbarstaaten gewähren, und das anscheinend ungestraft? Sind es nicht vielmehr chronische Bedenkenträger der Lauterbach/Drosten/Wieler-Fraktion, lauter „Covid-Heulbojen“ - O-Ton Oskar Lafontaine -, die in der Bundesrepublik schlimmer wüten als anderswo, ermutigt durch ein unübertrefflich duldsames Volk, das einfach nicht aufhören will, sich die sprichwörtliche „German Angst“ einjagen zu lassen? Wie kann es sein, dass immer mehr Länder Europas ihren „Freedom Day“ feiern, während hierzulande selbst Ärztevertreter die mediale Hinrichtung riskieren, sobald sie so etwas vorzuschlagen wagen? Ab sofort: Norwegen kehrt zum Alltag zurück Am vergangenen Samstag, dem 25. September, Punkt 16 Uhr, hörte Norwegen schlagartig auf, sich von Aerosolen menschlichen Ursprungs verrückt machen zu lassen: Es hob so gut wie alle Corona-Maßnahmen auf. Massenhaft fielen Masken, die bisherige Ein-Meter-Abstandsregel wird plötzlich kaltschnäuzig ignoriert. Niemand muss noch Test- oder Impfnachweise vorzeigen. Keine Seuchenschutzauflagen begrenzen mehr Veranstaltungen und Zusammenkünfte. Und so konnten Kinos, Theater und Museen wieder ohne Einschränkungen öffnen. In Oslo und anderen Städten lachten, plauderten, tanzten dichtgedrängt Zehntausende. Cafés und Gasthäuser waren voll. Aus langen Warteschlangen vor Bars und Diskotheken erklangen fröhliche Lieder. Partys überall. Unter Nordlichtern am sternenklaren Himmel feierte ein Volk ausgelassen bis in den frühen Morgen die Rückkehr zum Alltag, wie erlöst von einem Albtraum. Wem das zu früh, zu gefährlich ist, der macht eben nicht mit, distanziert und und maskiert sich weiterhin. "Es ist 561 Tage her, dass wir die härtesten Maßnahmen in Friedenszeiten eingeführt haben“, erklärte Ministerpräsidentin Erna Solberg tags zuvor auf einer Pressekonferenz. „Jetzt ist die Zeit gekommen, zu einem normalen Alltagsleben zurückzukehren.“ (1) Somit verlangt Norwegen von Unternehmen nicht länger, Maßnahmen zur sozialen Distanzierung zu ergreifen. Auch erlaubt es Sport- und Kultureinrichtungen sowie Restaurants, ihre volle Kapazität zu nutzen. Auch Nachtclubs dürfen wieder öffnen. Solberg hatte bisher die ersten drei Schritte eines Vier-Stufen-Plans zur Aufhebung der seit März 2020 verhängten sozialen und wirtschaftlichen Beschränkungen umgesetzt, die letzte Stufe jedoch mehrmals verschoben, aus Sorge um die Ansteckungsraten. "Wir haben lange Zeit mit strengen Maßnahmen an den Grenzen gelebt. Das war wichtig, um eingeschleppte Infektionen zu bekämpfen. Wenn wir nun zu einem normalen Alltag übergehen, schlägt die Regierung eine schrittweise Lockerung der Einreisebeschränkungen vor. Dies wird unter strenger Überwachung geschehen", sagte die Ministerin für Justiz und Katastrophenschutz, Monica Mæland, in einer Erklärung auf der Website der Regierung. "Kurz gesagt, wir können jetzt ganz normal leben", sagte Solberg. Das Virus könne nunmehr als Auslöser „einer von mehreren Atemwegserkrankungen mit saisonalen Schwankungen“ betrachtet werden, sagte Geir Bukholm, der stellvertretende Direktor des norwegischen Instituts für öffentliche Gesundheit. Anfangs hatte Norwegen Covid-19 als allgemein gefährliche Krankheit eingestuft; doch diese offizielle Klassifizierung könne sich bald ändern, sagte er. "Wir befinden uns jetzt in einer neuen Phase. Das liegt daran, dass die große Mehrheit der gefährdeten Personen geschützt ist", so bezog sich Bukholm auf die laufende Impfkampagne. Nach Angaben des norwegischen Instituts für öffentliche Gesundheit sind etwa 67 % der Bevölkerung vollständig geimpft. Uneingeschränkte Einreisen werden zumindest aus einigen Ländern wieder zulässig, unter anderem aus der gesamten EU und dem Vereinigten Königreich. Soweit Auflagen fortbestehen, sollen sie schrittweise fallen. „Freedom Day“ – England als Vorreiter Den Anfang machte England: Am 19. Juli 2021 liefen dort schlagartig so gut wie alle staatlichen Corona-Maßnahmen aus. (Siehe KLARTEXT: „Spinnen die Engländer?“) „Wann, wenn nicht jetzt?“, hatte Premier Boris Johnson bei einer virtuellen Pressekonferenz gefragt. Eigenverantwortung statt Vorschriften – so lautete fortan die Devise. Das Maskentragen ist nun so gut wie überall in England freiwillig, ebenso das Abstandhalten. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Clubs oder private Partys. Auch Theater und Kinos dürfen ihre Säle voll besetzen. Versammlungen sind ohne Obergrenzen wieder erlaubt. Trotzdem warnt das Auswärtige Amt weiterhin „vor nicht notwendigen, touristischen Reisen“ dorthin, unter anderem wegen „Beeinträchtigungen des öffentlichen Lebens“. Immer noch stuft es das Vereinigte Königreich als „Hochrisikogebiet“ ein. (2) Völlig zurecht – denn ein Aufenthalt dort birgt ein gewaltiges Risiko: Eindrücke zu sammeln, die Deutschlands Querdenkern rechtgeben. Dänemark zog nach Schon ab April hatte Dänemark Corona-Beschränkungen schrittweise gelockert, am 10. September fielen sie vollständig. (3) Am 14. Juni endete dort die Maskenpflicht, die seit 22. August 2020 landesweit gegolten hatte. Am 10. September beschloss das Parlament in Kopenhagen, Covid-19 nicht länger als „kritische Bedrohung für die Gesellschaft“ einzustufen, sondern bloß noch als „gefährliche“ Infektionskrankheit. Den Nachweis über Impfung, Genesung oder negativen Test braucht es dort nicht mehr, auch nicht bei Großveranstaltungen mit Zehntausenden Teilnehmern. Bei ähnlicher Infektionslage wie in Deutschland beginnt unser nördlicher Nachbar, mit dem Virus zu leben. Er toleriert auch höhere Inzidenzen und orientiert sich an der tatsächlichen Krankheitslast. Die Pandemie sei nicht vorbei, aber „unter Kontrolle“, erklärte der dänische Gesundheitsminister Magnus Heunicke. Schwedens Sonderweg hat sich bewährt Dem weltweiten Lockdown-Fetischismus, angeheizt durch eine suspekte Seucheninszenierung der kommunistischen Partei Chinas (4) und von der WHO voreilig zum weltweiten Vorbild ausgerufen, hatte sich Schweden von Anfang an verweigert. Schulen, Geschäfte, Betriebe blieben geöffnet, Maskenzwang bestand zu keiner Zeit. Andere Corona-Regeln wie das Abstandhalten waren eher Empfehlungen als Gebote, adressiert an mündige, eigenverantwortliche Bürger, die lieber auf sich selbst aufpassen, statt sich von einem überfürsorglichen Staat gängeln zu lassen. Das soziale Leben blieb weitgehend unberührt. Brach über Schweden deswegen die Apokalypse herein? Die Gesamtmortalität verharrte auf dem Niveau starker saisonaler Grippewellen. Im Jahr 2020 unterbot die Sterblichkeitsrate bei unter 65-jährigen trotz Covid den Fünfjahresdurchschnitt. Das Durchschnittsalter der Covid-Todesfälle in Schweden liegt bei 84 bis 85 Jahren. Seit Juni 2020 verzeichnete Schweden eine unterdurchschnittliche Gesamtsterblichkeit. Covid-Krankenhauseinweisungen und Todesfälle sind nahe Null. Bis Sommer 2021 lag Schwedens Covid-Sterblichkeit weiterhin unter dem europäischen und US-amerikanischen Durchschnitt. Dabei hat Schweden weist eine der dürftigsten Intensivbettenkapazitäten in Europa auf, zweimal niedriger als Italien und fünfmal niedriger als Deutschland. In der ersten Septemberwoche hat Schweden angekündigt, die wenigen verbliebenen Corona-Beschränkungen für öffentliche Einrichtungen wie Restaurants und Theater am 29. September aufzuheben, wie auch für Versammlungen und Veranstaltungen mit mehreren tausend Teilnehmern: "Das bedeutet, dass der Veranstalter nicht verpflichtet ist, die Anzahl der Teilnehmer in Räumlichkeiten und abgegrenzten Bereichen oder Räumen, die ihm zur Verfügung stehen, zu begrenzen“, so hieß es in einer Mitteilung der Regierung. Warum also kein „Freedom Day“ in Deutschland? Haben von London bis Stockholm, von Oslo bis Kopenhagen etwa Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und Aluhutträger das Ruder übernommen? Fahren sie ihre Gesundheitssysteme mit Volldampf an die Wand? Und wie steht es mit Ungarn, Rumänien, Bulgarien und den meisten weiteren Staaten Osteuropas, die de facto alle Corona-Maßnahmen ebenfalls beendet haben? (Siehe KLARTEXT: „Wie im Meer versunken“.) Sind die Krematorien von Budapest, Bukarest und Sofia mittlerweile überlastet, die Friedhöfe überfüllt? Es müsse endlich „Schluss sein mit Gruselrhetorik und Panikpolitik!“, erklärte der Vizechef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Stephan Hofmeister, Mitte September gegenüber der Tageszeitung Die Welt. „Wenn eine Impfpflicht nicht gewollt ist – und ich will sie auch nicht –, dann gibt es politisch nur eine Alternative: die Aufhebung aller staatlich veranlassten Restriktionen.“ Weil mittlerweile alle Menschen in Deutschland Zugang zum Impfstoff haben, liege die Verantwortung für die eigene Gesundheit bei den Einzelnen und nicht mehr beim Staat. Tags darauf sprang KBV-Chef Andreas Gassen seinem Stellvertreter bei. "Nach den Erfahrungen aus Großbritannien sollten wir auch den Mut haben zu machen, was auf der Insel geklappt hat", sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. "Dort ist das Gesundheitssystem nicht kollabiert.“ Das müsse Mut machen, zumal das deutsche Gesundheitswesen deutlich leistungsfähiger sei und mehr Schwerkranke behandeln könne. In Großbritannien seien wissentlich mehr Infektionen zugelassen worden. Das sei durchaus "forsch" gewesen, die momentane Situation dort gebe den Befürwortern des "Freedom Day" jedoch recht. Also brauche es jetzt eine klare Ansage der Politik: In sechs Wochen ist auch bei uns Freedom Day! Am 30. Oktober werden alle Beschränkungen aufgehoben!“ Seit anderthalb Jahren, so beklagte Gassen, folge Corona-Politik der Linie "Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht". Es gebe eine "German Angst", und man sei "wohl viel zu lange einer Kontrollillusion aufgesessen. Deswegen ist der Kurswechsel für einige umso schwieriger". Ohne die Ankündigung eines "Freiheitstages" würde sich Deutschland endlos weiter durch die Pandemie schleppen. „Corona wird nicht verschwinden - wir müssen endlich lernen, mit diesem Virus zu leben“, fügte Gassen gegenüber Focus Online hinzu. „Nicht 3G oder 2G - wir brauchen endlich eine Exit-Strategie.“ Für diejenigen, die sich weiterhin nicht impfen lassen möchten, bestehe zwar immer ein Restrisiko, auf der Intensivstation zu landen, etwa weil Vorerkrankungen nicht entdeckt worden seien, die bei einer Corona-Infektion zu schweren Verläufen führen. "Aber es ist nicht Aufgabe des Staates, jeden davor zu schützen, wenn längst ausreichend Impfstoff da ist“, so gab Gassen zu bedenken. Spahns Wortbruch – zum wievielten Mal? Die Ärztevertreter griffen bloß auf, was zuvor das Kanzleramt und zwei Kabinettsmitglieder in Aussicht gestellt hatten. „“Wenn wir jedem in Deutschland ein Impfangebot gemacht haben, dann können wir zur Normalität in allen Bereichen zurückkehren. Und alle Einschränkungen fallen“, versprach Kanzleramtsminister Helge Braun am 6. März. „Diejenigen, die ihr Impfangebot nicht wahrnehmen, treffen ihre individuelle Entscheidung, dass sie das Erkrankungsrisiko akzeptieren. Danach können wir aber keine Grundrechtseinschränkung eines anderen mehr rechtfertigen." (5) Aber was kümmert ihn heute sein Geschwätz von gestern? „Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben, gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung“: So unmissverständlich sprach sich Außenminister Heiko Maas Anfang Juli ebenfalls für ein zügiges Ende der Corona-Maßnahmen aus. Ins selbe Horn blies einen Monat später Gesundheitsminister Jens Spahn. Am 4. August sprach er sich bei einer Sondersitzung des Gesundheitsausschusses des Bundestags dagegen aus, die Ende September auslaufende Pandemie-Notlage „von nationaler Tragweite“ zu verlängern. Deren Auslaufen betrachte er als ein „politisches Signal“. Sollten danach weitere Maßnahmen nötig seien, so könnten diese auf Länderebene beschlossen werden. (6) Doch wie seltsam: Solche Töne schlug Spahn anschließend kein weiteres Mal mehr an. Im Gegenteil: Dass das Parlament die „Notlage“ drei Wochen später abermals verlängerte, betrieb, begrüßte und rechtfertigte er, ohne schamrot zu werden. Schließlich sei „die Pandemie noch nicht vorbei“. Es bedürfe weiterer Maßnahmen, besonders solange es noch so viele Ungeimpfte gebe. Ziel bleibe, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Um sicher durch die vierte Corona-Welle zu kommen, brauche es zudem eine höhere Impfquote. Wer oder was veranlasste Spahns Kehrtwende? Pfiff die Kanzlerin ihn zurück? Wessen Rat war es, der sie dazu veranlasste? Kein Mainstream-Medium hakte deswegen nach, keines machte die geringsten Anstalten, die Bundesregierung deswegen in Bedrängnis zu bringen. Und so verlängerte sich ein weiteres Mal eine stattliche Liste gebrochener Versprechen. Zunächst galt es „to flatten the curve“. Als alle relevanten Kurven nicht bloß abgeflacht, sondern steil abgestürzt waren, musste erst noch der R-Wert unter 1 sinken. Das tat er schon vor Beginn des ersten Lockdowns – doch nun war die Inzidenz zu hoch. Unter 50 muss sie liegen, besser 35, noch besser 20, ideal wäre Null. Einen sonnigen Sommer 2020 lang war der Wert einstellig, nur eine Vervielfachung von Tests bewahrte ihn davor, noch blamabler als ohnehin unter die erwartbare Falsch-Positiv-Quote zu sinken. Dann stand der Herbst bevor, womit die „Überlastung des Gesundheitssystems“, die schon bei der „ersten Welle“ an allen verfügbaren Schamhaaren herbeigezogen war, diesmal aber ganz gewiss über Deutschland hereinbrechen würde. Während es um die Volksgesundheit jedoch weiterhin bestens stand, verhinderte eine Serie weiterer Lockdowns – „leichte“ und „harte“, „Wellenbrecher“ und „Notbremsen“ - nicht im mindesten, dass die Inzidenz vorübergehend wieder anstieg, nicht anders als an Orten der Freiheit, von Schweden bis zu US-Bundesstaaten wie South Dakota, Florida und Texas. Um die Lage zu dramatisieren, begann Ende 2020 der Mutantengrusel – so als hätte das Wuhan-Virus nicht vorher schon Tausende von Nachfolgern hervorgebracht, ehe es selbst von der Bildfläche verschwand. Zunächst musste die britische Variante überstanden werden, dann das indische „Delta“. Zwar erwiesen sich beide als ebenso hochinfektiös wie relativ harmlos. (7) Doch wer weiß, welche schrecklichen Mutanten als nächstes über uns hereinbrechen? Erst eine Impfung, sie allein, kann die Bevölkerung davor bewahren, ihnen „schutzlos ausgeliefert“ zu sein. Sobald aber jedermann „ein Impfangebot gemacht“ worden ist, sei es an der Zeit, staatliche Hygienediktate zu beenden, hieß es. Ach nein, zunächst müssen mindestens vier Fünftel aller Deutschen das „Angebot“ angenommen haben. Und da zu viele zögern, galt es Daumenschrauben zu konstruieren und wirken zu lassen, die auch den covidiotischsten Impfmuffel dazu nötigen sollten, sich „freiwillig“ spritzen zu lassen. Und so hält eine panikvirusinfizierte Republik wie von Sinnen an einem mittels unzuverlässigen Tests, haarsträubenden Neudefinitionen und Statistiktricks herbeigezauberten Ausnahmezustand fest. In Wahrheit hat ihm noch nie eine Notlage entsprochen, die zu Alarmismus berechtigt hätte. Schon gar nicht besteht sie anderthalb Jahre nach P(l)andemiebeginn. Losgelöst von klinischen Fakten, erschöpft sie sich mittlerweile in der Differenz zwischen angestrebter und erreichter Rekrutierung von Versuchskaninchen für biotechnologische Massenexperimente der Pharmaindustrie. Um diesen Skandal zu beenden, kann ein „Freedom Day“ gar nicht früh genug kommen. Shitstorm statt besonnen abwägender Diskussion Trotzdem brach prompt ein Sturm der Entrüstung über die beiden mutigen Ärztefunktionäre herein. „Wenig durchdacht“ sei ihre Initiative (RND/Redaktionsnetzwerk Deutschland), sie „kommt zu früh“ (Süddeutsche) und „geht zu Lasten der Schwächsten“ (Aachener Zeitung). „Unseriös“ nannte sie die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Bärbel Bas; „noch zu leichtsinnig“ erschien sie Niedersachsens Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD). Für „ethisch nicht vertretbar“ befand ihren Vorschlag der chronisch sorgenfaltige Karl Lauterbach (SPD), von dem anderthalb Jahre nach Pandemiebeginn weiterhin nur Eingeweihte ahnen, wie er zu seinem papstähnlichen Expertenstatus gekommen ist. Erstaunlicherweise hat Lauterbachs Ethik andererseits reichlich Platz für zerstörerische Lockdowns, unvalidierte Zwangstests, unverhältnismäßige Freiheitsberaubung, Rufmord an Maßnahmenkritikern und ein Massenexperiment mit neuartigen, unerprobten Pseudo-Vakzinen, das uns in zweibeinige GMOs verwandelt, genetisch modifizierte Organismen. Als „zynisch“ verurteilte den Vorstoß ein weiterer Pseudo-Fachmann, der offizielle Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen. Das schwer zu unterbietende Niveau seines Sachverstands hatte er zuvor bereits mit der Behauptung unter Beweis gestellt, die einzige Alternative zur Covid-Impfung bestünde darin, „ohne jede Form von Immunität“ dazustehen. Dass ein derart peinlicher Stussredner, Sohn einer Hausärztin, Humanmedizin studiert hat und langjährig als Fach- und Oberarzt tätig war, führt vor Augen, wie viel in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung im Argen liegt. Begründungsnotstand statt epidemischer Notlage Ist die Not in Deutschland denn besonders groß? Zögert die Bundesrepublik zurecht, weil die Coronakrise sie viel schlimmer erwischt hat als Europas „Freedom“-Fraktion? Welche zwingenden Argumente sprechen dagegen, auch die Bundesdeutschen endlich vom Joch der Hygienediktatur zu erlösen? Ich fand zehn Ausflüchte. Weitere Funde geben KLARTEXT-Leser bitte hier ab. „Die Inzidenzen sind bei uns noch zu hoch.“ Quatsch. In Großbritannien liegen sie deutlich höher. Davon, wie auch von Horrorprognosen explodierender Fallzahlen, ließ sich Premier Boris Johnson verblüffenderweise aber nicht länger beirren, anders als noch bis vor wenigen Monaten. Dass Lockdown-Fetischisten erwartungsgemäß einen Shitstorm über ihn hereinbrechen lassen würden, nahm er diesmal ziemlich gelassen in Kauf. Offenbar dämmerte ihm, besser spät als nie: Selbst wenn alle 54 Millionen Engländer zu 100 % testpositiv wären, könnten sie sich bester Gesundheit erfreuen, weil der Umstand, Billionen Mikroben als Wirt zu dienen, mit Symptomfreiheit vollauf vereinbar ist. „Eine Überlastung des Gesundheitswesens kann weiterhin nicht ausgeschlossen werden.“ Das konnten Coronoiker noch nie – trotzdem trat sie nicht einmal ansatzweise ein, schon gar nicht schlimmer als in manch früherem Grippewinter. Solche Befürchtungen hätten eher die Engländer hegen müssen, angesichts ihres maroden Krankenhauswesens, in dem nicht Zweibett-Zimmer, sondern immer noch Schlafsäle die Regel sind, mit Vorhängen um die Betten. Im Vergleich dazu sind deutsche Kliniken weitaus besser gewappnet. Mit rund 600 Akutbetten auf 100.000 Einwohner ist die Bundesrepublik europaweit Spitze; Dänemark bringt es auf etwa 270, das Vereinigte Königreich auf 210. Noch imposanter ist der Vorsprung bei den Intensivbetten: Pro 100.000 Einwohner stehen in Deutschland 38,2 bereit, in England hingegen nur 10,5 – deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 13,1 -, in Dänemark 7,8, in Schweden gar nur 5,8. (8) Zum Vergleich: Deutsche Krankenhäuser hatten am 24. September 2021 pro 1 Million Einwohner gerade mal 15,8 Patienten stationär aufgenommen, „mit oder wegen“ SARS-CoV-2. Seit die Anzahl der hospitalisierten „Covid-19-Fälle“ in der dritten Aprilwoche mit knapp 8000 einen Frühjahrshöchstand erreichte, ist die Fallkurve steil abgestürzt – auf rund 350 im Juni und Juli. Seit August steigt sie zwar – bis Ende September auf über 515 -, jedoch weit entfernt von früheren Rekordwerten. Die nachfolgende Grafik findet sich im „Wöchentlichen Covid-19-Lagebericht“ des RKI vom 23. September, dort S. 10. Sieht so eine krisenhafte Zuspitzung aus? Geht die Bundesregierung tatsächlich immer noch davon aus, „dass das Gesundheitssystem in absehbarer Zeit überlastet wird?“ Danach erkundigte sich Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) in einer schriftlichen Anfrage. Dies könne „nicht in jedem denkbaren Szenario ausgeschlossen“ werden, so beschied ihm Gesundheits-Staatsministerin Sabine Weiss Mitte August. (9) Kubicki macht das fassungslos: „Damit verlässt die Bundesregierung den Rahmen, den sie selbst für die Feststellung und Fortgeltung der epidemischen Lage nationaler Tragweite in das Infektionsschutzgesetz hat schreiben lassen, denn hierfür muss ,eine ernsthafte Gefahr‘ für die öffentliche Gesundheit vorliegen. Die ,denkbare Gefahr‘ reicht nicht aus.“ Sind Verfassungsrichter, die nicht spätestens hier einschreiten, kein Fall für den Verfassungsschutz? Für die „Delegitimierung des Rechtsstaats“, die Querdenkern vorgeworfen wird, sorgt Karlsruhe inzwischen erheblich effektiver. Schon jetzt arbeitet das Pflegepersonal „am Limit“, so beklagt die Präsidentin des Berufsverbandes der Pflegeberufe (DBfK), weshalb sie den Vorstoß der Kassenarztchefs „verantwortungslos“ findet. Hat sie vergessen, dass im Pflegebereich schon vor Corona Personalmangel herrschte? Selbst in der Krise wurden noch Stellen abgebaut statt aufgestockt. Ähnlich absurd argumentiert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. „Beim Blick in die Arztpraxen, Krankenhäuser und Pflegeheime“ erweisen sich „Freedom Day“-Plädoyers als „flotte Sprüche“, findet er. Wie oft, wie gründlich hat Brysch denn selbst einen solchen „Blick“ dorthin geworfen? Wo hat sich ihm dabei das Tor zur „Corona-Hölle“ aufgetan? Jeden personellen, technischen oder finanziellen Engpass, den sein Adlerauge erspäht haben mag, hat nicht etwa ein böser Killerkeim herbeigeführt, sondern eine grotesk verfehlte Gesundheitspolitik. „Weiterhin grassiert die besonders gefährliche Delta-Variante.“ Das tut sie doch schon seit Frühjahr 2021: Während sie im Februar erst in 2 % aller Testproben auftauchte, war es im April schon jede zweite; ab Sommer lag ihr Anteil bei 90 bis 98 %. Verschärfte Einreisebedingungen und Grenzkontrollen, um Delta-Einträge zu verhindern, sind daher mindestens so lächerlich, wie Sandsäcke vor Türen und Fenster von Häusern zu türmen, die schon bis zum Dach unter Wasser sind. Allem Mutantengrusel zum Trotz sorgte das indische Delta B.1.617.2 keineswegs für auffallend mehr Schwerkranke und Tote – ebensowenig wie zuvor das britische Alpha B.1.1.7, das südafrikanische Beta B.1.351. Jede neue virale Sau, die mit mächtig Bohei durchs mediale Dorf getrieben wurde, kam eher zahnloser daher als ihre Vorgänger. „Wir stehen kurz vor einer möglichen vierten Welle“, erklärte eine Woche vor der Bundestagswahl der Noch-Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, Erwin Rüddel (CDU). Die Gefahr wachse, zumal nun kältere Jahreszeiten anbrechen, in denen sich Menschen verstärkt in Innenräumen aufhalten. Dadurch nimmt zwangsläufig das Ansteckungsrisiko zu. Schlimmer noch, Herr Rüddel: Es droht eine „Dauerwelle“, wie der gelegentlich besonnene Virologe Hendrik Streeck zu bedenken gibt, ein häufig sympathisch unaufgeregter Anti-Drosten. Warum sollte sich SARS-CoV-2 anders verhalten als sonstige Coronaviren, die in jedem Winter zu 10 bis 15 % der Grippefälle beitragen? Und grüßt als epidemiologisches Murmeltier nicht alljährlich auch die Influenza stets aufs Neue, mit rekombiniertem Genom? „Womöglich stehen uns weitere Varianten bevor, die ebenfalls Anlass zur Besorgnis geben.“ So wird es kommen, mit Sicherheit. Denn Variantenreichtum gehört zum Wesen aller Viren. Daraus hollywoodeske Horrorszenarien zu konstruieren, macht Infektionsschutz zu einer never-ending story. Wer will das, abgesehen von Big Pharma, Biofaschisten, Pekings Kommunisten und sonstigen Pandemieprofiteuren? «Wenn keine neue Virusvariante auftaucht, gegen die eine Impfung nicht schützt, was sehr unwahrscheinlich ist, dann haben wir die Pandemie im Frühjahr 2022 überwunden und können zur Normalität zurückkehren», sagte Spahn der Augsburger Allgemeinen. Damit zerstört der gelernte Bankkaufmann in Wahrheit die Hoffnung, dass die Hygienediktatur jemals endet: Schon jetzt ist klar, dass der Covid-Impfschutz, soweit er überhaupt existiert, schon nach wenigen Wochen nachlässt. Natürlich werden stetig neue Varianten auftauchen, wie auch bei Influenza. Ohne Booster, „Auffrischungen“, ist das Vakzinieren alsbald für die Katz. Warum sonst wird alljährlich aufs Neue zur Grippeimpfung geblasen? Wenn Bremens Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) eine „seriöse Garantie“ vermisst, "dass wir die Situation dauerhaft im Griff haben", muss sie darauf wohl länger warten, als ihr biologisches Haltbarkeitsdatum hergibt. Sollen wir den Rest unseres Lebens damit zubringen, heulend und zähneklappernd erst noch die Schrecken der 1001. Omega-hoch-Zehn-Variante abzuwarten, ehe wir zu „lockern“ wagen? Wenn nicht jetzt, dann nie. Besser, wir vertrauen einer bewährten evolutionsbiologischen Gesetzmäßigkeit: Viren wollen sich vermehren. Dazu müssen sie ansteckend sein – aber nicht ihren Wirt umbringen, denn dies wäre ihr eigenes Ende. Tendenziell werden Viren deshalb immer infektiöser, zugleich aber immer weniger pathogen und tödlich. "Die Langzeitfolgen einer Covid-Erkrankung – gerade auch bei Kindern – sind noch nicht bekannt“, gab der Bundesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes, Daniel Grein, zu bedenken. Deshalb sei es „zynisch, die Kinder jetzt diesem Risiko unkontrolliert aussetzen zu wollen“. Sie dem Risiko von Isolation, Maskierung, Distanzierung und unerprobten Impfstoffen auszusetzen, scheint Grein hingegen keine Kopfschmerzen zu bereiten. Sprächen „noch nicht bekannte Langzeitfolgen“ nicht eher dagegen, übereilt die unerprobten neuartigen Vakzine einzusetzen – bei jeder Altersgruppe, ganz besonders aber bei Kindern, die SARS-CoV-2 am allerwenigsten gefährdet? Es werde Zeit, dass Bedürfnisse und Rechte von Kindern stärker in den Fokus gerückt und nicht auf ihrem Rücken die vermeintlich wiedergewonnene Freiheit Erwachsener gefeiert würde, so Grein. Erfordern es Bedürfnisse und Rechte von Kindern nicht vielmehr, sie eine wiedergewonnene Freiheit mitfeiern zu lassen? „Die meisten niedergelassenen Ärzte widersprechen Lockerungswilligen“ – was lediglich beweist, dass die umfassende mediale Desinformation auch den ärztlichen Blick auf die tatsächliche Gefahrenlage trübt. „Die Impfquote ist noch zu niedrig.“ Ehe Deutschland „geöffnet“ werden könne, müsse eine „Gemeinschaftsimmunität“ hergestellt sein, erklärt Kanzleramtschef Helge Braun. Die liege „oberhalb von 80 %“ – und kann angeblich nur herbeigespritzt werden. Mindestens 85 % der Bevölkerung müssen geimpft sein, so fordert Karl Lauterbach; bis dahin müsse 2G gelten. Unter den über 60-jährigen bräuchte es sogar eine Impfquote von deutlich über 90 %, tönt es aus dem Medizin-Megaphon der Grünen, Janosch Dahmen. Eine 85%-ige Durchimpfung aller Deutschen ist aber völlig unrealistisch. Zu den 83 Millionen Einwohnern zählen neun Millionen Kinder unter 12 Jahren – 11 % der Bevölkerung. Für sie ist noch kein gängiges Covid-Vakzin zugelassen, und dabei bleibt es hoffentlich. Hinzu kommen 10 bis 15 % Verweigerer, bei denen jede „Überzeugungsarbeit“ von vornherein für die Katz ist, selbst wenn sie Impfungen nicht pauschal ablehnen; um ihnen eine Spritze in den Arm zu stecken, wäre rohe Gewalt erforderlich. Nicht zu vergessen mehrere Millionen, die sich aus gesundheitlichen Gründen, etwa wegen Allergien, nicht impfen lassen können. Hinzu kommen Kontraindikationen je nach Impfstoff, etwa bei erhöhtem Thromboserisiko oder bei Ödemen. Zählt man die Bevölkerungsanteile dieser drei Gruppen zusammen, wird sofort klar: Impfquoten, wie sie das politische Berlin anstrebt, sind illusorisch. Oder ist der Zielwert womöglich schon erreicht? Ende September führte die offizielle Statistik des Robert-Koch-Instituts 67,6 % einfach Geimpfte auf, 63,7 % waren demnach vollständig geimpft. (10) Diese Zahlen ergeben sich aus dem sogenannten Digitalen Impfquotenmonitoring (DIM), in das Meldungen von Impfzentren, Krankenhäusern, mobilen Impfteams, von Betriebsmedizinern, niedergelassenen und Privatärzte einfließen. Daneben führt das RKI aber eine weitere Erhebung namens COVIMO durch; es errechnet Impfquoten anhand von Telefonbefragungen. Das jüngste COVIMO, von Ende Juni bis Mitte Juli, erfasste 1005 Erwachsene. Schon damals fiel der Anteil der Geimpften „um einiges höher“ aus, wie das RKI einräumen musste. Besonders ausgeprägt war eine „gewisse Diskrepanz“ in der Altersgruppe der 18- bis 59-Jährigen: Während in der Befragung 79 % angaben, geimpft zu sein, waren es laut DIM damals bloß 59 Prozent. Ein ähnliches Bild ergab Mitte August eine Erhebung von Infratest dimap in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Bei den 18- bis 59-jährigen lag die Erst-Impfquote um 16 % höher, als das RKI angibt, nämlich schon bei 75 %. Das sind rund fünf Millionen Menschen mehr als amtlich registriert. Knapp weniger, nämlich 72 % Erstgeimpfte, ergab eine weitere Repräsentativumfrage, die das Hamburger Marktforschungsunternehmen am 12. und 13. August unter 3000 Deutschen durchführte. Eine „Untererfassung“ im Meldesystem sei durchaus möglich, von daher hafte ihm „eine gewisse Unsicherheit“ an, so wiegelte das RKI ab (11) – womit es den Datenschwindel bestätigte. Und so stehen die Zahlen, die Regierungsvertreter, „Experten“ und Medien streuen, im dringenden Verdacht, mutwillig zu niedrig angesetzt zu sein – vielleicht, um Alibis zu produzieren, den vermeintlichen Notstand zu verlängern. Schon heute hat Deutschland die 80 %-Marke vemutlich geknackt. Aber selbst ein niedrigerer Wert wäre kein Grund, Deutschlands Befreiung auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben. Briten (71 %) und Dänen (77 %), Schweden (70 %) und Norweger (75 %) sind keineswegs weitaus imposanter durchgeimpft als Deutschland (67 %) – trotzdem sehen sie sich imstande, freiheitlich-demokratische Grundrechte wiederherzustellen. In Großbritannien lag die Quote der mindestens einfach Geimpften am 19. Juli, dem „Freedom Day“, bei 68 % - einen einzigen Prozentpunkt über Deutschlands gegenwärtigem Wert. (12) Warum können fortgeschrittene Impfkampagnen jenseits von Ostsee und Ärmelkanal Hygieneterror beenden, ohne dass dort eine Apokalypse lauterbachschen Ausmaßes anbricht, während uns jeder Pieks der Erlösung weiterhin bloß nanometerweise der Erlösung näherbringt? Im übrigen: Wie kann verantwortungsvolle Gesundheitspolitik pauschale Impfziele anstreben, unabhängig davon, welche Gefahrenlage besteht, im allgemeinen und für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, für unterschiedliche Individuen in jeweils besonderem Gesundheitszustand? Ob 3G, 2G oder 1G: Die Impferei ist zum Selbstzweck geworden, ihre Durchsetzung per Notstandsverordnungen ein Verfassungsskandal ohnegleichen. Inzwischen gilt es auf Teufel komm raus Quote zu machen, obwohl immer fraglicher wird, wozu eigentlich noch. Sollten sich im Idealfall 100 % einer stets riskanten Impfung zuführen lassen, wenn 95 % aller Infizierten gar keine oder bloß erkältungsähnliche Symptome davontragen und 99,87 % überleben, ja sogar 99,9 %, falls sie unter 60 sind, und 99,99 %, falls sie noch nicht das Erwachsenenalter erreicht haben? Je jünger die Geimpften, desto eher leiden und sterben sie an der Spritze als an Covid. Und wozu sollten sich jene 10 %, vielleicht sogar 20 bis 30 % der Bevölkerung impfen lassen, die dank einer überstandenen SARS-CoV-2-Infektion oder früheren Kontakten mit verwandten Coronaviren bereits eine natürliche Immunität erworben haben, die bei weitem besser schützt als jede Spritze? Wieso klammert die Impfkampagne sie nicht von vornherein aus? Warum geschieht stattdessen nicht endlich, was übelst verleumdete Fachleute wie Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi und Stefan Hockertz von Anfang an forderten: die Risikogruppen schützen, den Rest in Ruhe lassen, Panikmacher isolieren? Und warum unterdrückten Behörden von Anfang an vielversprechende Alternativen zur Impferei – von Ivermectin und HCQ über Vitamin D plus Zink bis zu vernebeltem Wasserstoffperoxid, antiviralen Mund-/Nasenspülungen und hochwertigen Luftfiltern -, statt ihnen eine echte Chance zu geben? Selbst das berüchtigte Schreckgespenst „Long-Covid“ ließe sich spritzenfrei bannen, präventiv und therapeutisch. Auf dem Gipfel der Scheinheiligkeit „Die Bevölkerung lehnt Lockerungen ab.“ In der Tat, das tut sie weiterhin, mit klarer Mehrheit. "Sollten in Deutschland jetzt alle Beschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie aufgehoben werden?", fragte das Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur. 61 % lehnen dies ab: 33 Prozent „kategorisch“, 28 % antworteten mit "eher". Nicht einmal jeder Fünfte ist „entschieden“ für eine Aufhebung, weitere 14 % tendieren dazu. Politiker und Medien, die mit solchem Zahlenwerk Corona-Auflagen rechtfertigen, haben den Gipfel der Scheinheiligkeit erklommen. Ihre unverhältnismäßige Panikmache rund um die Uhr ist es, die eine grotesk verzerrte Risikowahrnehmung überhaupt erst erzeugt hat; aus dieser wiederum erwuchs ein daraus erwachsenes übersteigertes Schutzbedürfnis. Ob sich der gebotene Schutz überhaupt dazu eignet, das Bedürfnis zu befriedigen, hinterfragen anscheinend bloß „Covidioten“. Regierungen tun es offenbar nicht – auch im 20. Pandemiemonat sind sie nicht bloß „auf Sicht“ unterwegs, sondern im Blindflug. „BT 19/31348“ steht für ein entlarvendes Dokument völliger Ahnungslosigkeit, das Anfang Juli 2021 auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hin entstand. Sie wagte es, sich zu erkundigen: „Für welche der seit Beginn der Corona-Pandemie umgesetzten Schutzmaßnahmen liegen wissenschaftliche Erkenntnisse über [ihre] Wirksamkeit vor?« Und »was unternimmt die Bundesregierung, um die Wirksamkeit der einzelnen Schutzmaßnahmen zu evaluieren?« Null Ahnung von nix Die siebenseitige Auskunft der Großen Koalition macht fassungslos. Auf den Punkt gebracht: „Wir haben null Ahnung von nix.“ Treffend kommentierte Bild am 29. Juli: „»Was haben die teils einschneidenden Grundrechtseingriffe und Anti-Corona-Maßnahmen wie Lockdown, Sicherheitsabstände und Masken eigentlich konkret gebracht?« Und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen darüber vor? – Keine, denn »die Bundesregierung weiß es selbst nicht! (…) Statt mit Fakten antwortete das Gesundheitsministerium mit verschachtelten Endlos-Sätzen.“ Hier eine Kostprobe: »Aufgrund des ›kontextspezifischen‹ Zusammenspiels einer ›sehr großen Anzahl an Variablen‹ sei es nicht möglich, ›die Auswirkung einzelner Maßnahmen auf einen Indikator (z.B. Inzidenz) belastbar und generalisierbar zu quantifizieren und zwischen Ländern zu vergleichen‹.« Um das eigene Unwissen zu erklären, verweist das Papier aus Spahns Ministerium auf »multifaktorielle Zusammenhänge«, die auch »eine mögliche Erklärung für die Variationen in der Effektivität einzelner Maßnahmen zwischen unterschiedlichen Regionen oder Ländern« sein könnten. Trotz der fehlenden Daten und wissenschaftlichen Erkenntnisse heißt es optimistisch weiter, dass die »Evidenz« klar zeige, »dass es immer die Umsetzung mehrerer gleichzeitiger Maßnahmen« sei, »die den Pandemieverlauf beeinträchtige«. Denn die »Summe der Schutzmaßnahmen« würde den Rückgang der Infektionen »herbeiführen«. Solches Geschwurbel löst bei dem Journalisten Gregor Amelung (Pseudonym eines gelegentlichen Mitarbeiters bei reitschuster.de) Ironiereflexe aus: „Da kann man nur hoffen, dass die Autoren des Papiers niemals im Bereich von Kochrezepten tätig werden, denn dann würde es dort wohl zur Lasagne heißen, die ‚multifaktoriellen Zusammenhänge‘ beim Zubereiten von Sauce und Teigmasse sind eine »mögliche Erklärung für die Variationen« im Geschmack.“ Die Mühsal gewissenhafter Maßnahmenforschung kann sich das Hygieneregime allerdings ersparen, sofern es einer fremden Agenda folgt. Wozu braucht eine Regierung Evidenzen dafür, dass Abriegelungen, Masken, Testzwänge, Reise- und Versammlungsverbote, Schul- und Betriebsschließungen vor Infektionen schützen, solange bloß eines feststeht: dass der Druck, den solche Schikanen aufbauen, das Durchpieksen der Bevölkerung erleichtert? Warum braucht Berlin zu wissen, wozu all das sein muss, wo sie doch bei Big Pharma, der Gates-Foundation und deren WHO-Marionette jederzeit nachfragen kann? Um es mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu sagen: „Thank you, Bill, for leadership!“ Muss man „querdenken“, um zu begreifen, wie erbärmlich unbegründet das Nein zu einem deutschen „Freedom Day“ daherkommt? Selbstdenken genügt vollauf. Wem das noch schwerfällt, der bucht am besten schleunigst einen Bildungsurlaub in Schweden, England, Dänemark oder Norwegen. Überall dort ist das Wetter zwar in der Regel kühler, regnerischer und windiger als hierzulande. In einem nichtmeteorologischen Sinne, auf den es Nostalgikern wie mir viel mehr ankommt, empfängt einen dort aber eine Wärme, die man im schockgefrosteten sozialen Klima von Merkelland schmerzlich vermisst. Also nichts wie hin. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) Zit. nach https://www.theepochtimes.com/mkt_morningbrief/norway-official-covid-19-can-now-be-compared-to-the-flu-as-country-removes-pandemic-restrictions_4014597.html?utm_source=morningbriefnoe&utm_medium=email2&utm_campaign=mb-2021-09-25&mktids=6ff12fad427c7ac295616f788b681e40&est=615mADXy%2BDHGRUCeG9C%2FEP1I84%2BdzrhWnj61RWD9K8qfO0yZWewBM0ee8aSgj5WsKXpD2uQ%3D (2) https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/grossbritannien-node/grossbritanniensicherheit/206408, abgerufen am 26.9.2021. (3) https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/coronavirus/Corona-Daenemark-hebt-alle-Beschraenkungen-auf,daenemark1294.html; https://www.gmx.net/magazine/news/coronavirus/corona-live-ticker-frueher-geplant-nachbarland-hebt-maskenpflicht-bussen-bahnen-35990536 (4) Siehe KLARTEXT: „Im Dritten Weltkrieg“ und „Mit Kanonen auf Spatzen“. (5) https://twitter.com/_MartinHagen/status/1426280803609235463; https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/kanzleramtschef-braun-im-verhoer-bricht-die-regierung-ihr-corona-freiheitsverspr-77194274.bild.html (6) https://www.focus.de/gesundheit/news/news-zur-corona-pandemie-laeuft-ende-september-aus-spahn-will-pandemie-notlage-nicht-verlaengern_id_13561683.html?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=newsletter_GESUNDHEIT; https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/2385528/bericht-jens-spahn-will-pandemie-notlage-nicht-verlaengern; https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-coronavirus-donnerstag-237.html; https://www.nw.de/nachrichten/politik/23064846_Minister-Spahn-gegen-Verlaengerung-der-Pandemie-Notlage.html; https://www.n-tv.de/ticker/Spahn-will-Pandemie-Notlage-nicht-verlaengern-article22725427.html; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/jens-spahn-denkt-ueber-ende-der-epidemischen-notlage-nach-a-ab1ffd09-4a43-4520-aa70-a390f1dbea46; https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/uneinigkeit-in-der-politik-spahn-gegen-verlaengerung-der-pandemie-notlage-clip (7) M. Weigert u.a.: „Assoziation zwischen Hospitalisierung und Meldeinzidenzen: Analysen zu Daten aus Großbritannien und Deutschland. CODAG-Bericht 19. https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_19.pdf oder via Kurzlink: https://tinyurl.com/yvr8p5h8 (8) Christine Arentz/Frank Wild: Vergleich europäischer Gesundheitssysteme in der Covid-19-Pandemie, Wissenschaftliches Institut der PKV, Köln: Juli 2020, S. 3-4, http://www.wip-pkv.de/fileadmin/user_upload/WIP_Analyse_3_2020_Vergleich__Gesundheitssysteme__Covid19.pdf . Siehe auch Eurostat: Statistiken zur Gesundheitsversorgung, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Archive:Healthcare_provision_statistics/de&direction=next&oldid=369944 (9) https://www.welt.de/politik/deutschland/plus233096191/Wolfgang-Kubicki-Bezug-zu-verfassungsrechtlichen-Massstaeben-verloren.html; https://www.ad-hoc-news.de/politik/die-bundesregierung-haelt-eine-ueberlastung-des-gesundheitssystems-durch/61869299; https://www.fuldainfo.de/bund-schliesst-ueberlastetes-gesundheitssystems-nicht-aus/ (10) https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Sept_2021/2021-09-24-de.pdf?__blob=publicationFile, Stand: 24.9.2021. (11) https://www.bild.de/ratgeber/2021/ratgeber/angeblich-mehr-juengere-gegen-corona-geimpft-was-bedeutet-das-fuer-die-impfquote-77354100.bild.html; https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/neue-studie-naehrt-zweifel-impf-zahlen-murks-77382220.bild.html (12) Stand: 25.9.2021, https://ourworldindata.org/covid-vaccinations Titelmotiv: Tumisu/Pixabay
- Normalität? Erst wenn fast alle geimpft sind, sagt Joe Biden
Präsident Joe Biden will sein Land erst in die Normalität zurückkehren lassen, wenn so gut wie alle US-Amerikaner „gepiekst“ worden sind. Als Zielmarke nennt er eine Impfquote von 96 bis 98 Prozent. Wie kommt er bloß darauf? Versprecher, Aussetzer, Patzer: Zweifel an seiner geistigen Gesundheit begleiten den greisen US-Präsidenten seit Beginn seiner Amtszeit. Da vergisst er, wie sein eigener Verteidigungsminister und der australische Premier heißt. Syrien verwechselt er mit Libyen, Trump mit George Bush. Er blamiert sich mit offenkundig erfundenen Soldatengeschichten aus Afghanistan. Einer irritierten Menge stellt er eine Enkelin als seinen verstorbenen Sohn vor. Republikaner halten ihn für senil, Putin ebenfalls. Älter als Biden, bei Amtsantritt 78, ist ein neuer amerikanischer Präsident noch nie gewesen. Jegliches Restvertrauen in seine Zurechnungsfähigkeit zerstörte er am Nachmittag des 27. September. Auf die Frage von Journalisten, wann das Land wieder zur Normalität zurückkehren könnte, meinte er, Amerika sei "sehr nahe dran", wenn sich so gut wie jeder einzelne Bürger impfen lassen würde: "Nun, ich denke ... Sehen Sie. Ich denke, dass wir die überwiegende Mehrheit, wie in einigen dieser Industrien und Schulen – 96, 97, 98%, ich denke, wir werden da sehr nahe drankommen", sagte der Präsident - nach dreimaligem Denken, wie sein Zitat bestätigt. Biden äußerte sich am Montagnachmittag, 27.9., im Weißen Haus vor Medienvertretern, während er eine Auffrischungs“impfung“ gegen Covid-19 erhielt. Bis dahin war 55 % der US-Bevölkerung vollständig geimpft. Dabei ließ der Präsident offen, ob die Amerikaner damit rechnen müssen, dass sie in Zukunft regelmäßige Auffrischungsimpfungen erhalten müssen, um als "vollständig geimpft" zu gelten und es zu bleiben. Seinen „Booster“ erhielt Biden angeblich im Weißen Haus, wie Fernsehbilder suggerieren. Tatsächlich fand die Vorführung aber in einem TV-Studio statt, in dem das Oval Office nachgebaut worden war. Wozu die Umstände? Dieses Theater wirft Fragen auf. Wenn die Kulisse ein Fake war – warum nicht auch Bidens „Impfung“? Hat irgendein Reporter recherchiert, was die Spritze enthielt? Wie Biden zu seinem impfstatistischen Wunschziel kommt, wissen wohl nur die Lobbyisten, die ihn laufend briefen. Prompt verhöhnte der Autor und Kolumnist Tim Young den Präsidenten wegen der anscheinend willkürlich aus der Luft gegriffenen Zahl. Young rief die Amerikaner auf, bloß nicht darauf warten, bis sie eine Erlaubnis erhalten, wieder normal zu leben. "Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage dafür... und [Biden] selbst hat bei mehreren Gelegenheiten etwas anderes gesagt. (…) ‚Wir können jetzt normal sein‘... aber die meisten Menschen leben doch bereits normal." Während seiner Auslassungen gegenüber Reportern wiegelte Biden allerdings ab, er sei "nicht der Wissenschaftler". Das lässt ahnen, mit welcher Art von „Wissenschaftlern“ er sich umgibt – und welche er ignoriert. Fauci hat sein Ohr, Mercola eher nicht. Die Schuld für die verzögerte Aufhebung von Corona-Vorschriften und Beschränkungen schob der Präsident den Ungeimpften in die Schuhe: "Ich denke, eines ist sicher: Ein Viertel des Landes kann nicht ungeimpft bleiben, ohne dass wir ein Problem haben." Sicher ist, dass diesem Staatsoberhaupt das Selberdenken schwerfällt, zumindest sobald die Interessen von Großindustrien wie Big Pharma auf dem Spiel stehen. Kein Wort verlor er über Infektionswellen und steigende Covid-Krankenstände in vermeintlichen Vorzeigeländern mit den weltweit höchsten Impfquoten, allen voran Israel. Nichts hörte man von ihm darüber, dass auch sogenannte „Geimpfte“ sich infizieren, andere anstecken, an Covid-19 schwer erkranken und sterben können – weitaus häufiger, als frisierte offizielle Statistiken ahnen lassen. Wie kam Biden zu seiner statistischen Schätzung? Welche Studien führten ihn zu dem Schluss, dass eine Impfverweigerung von 25 % eine untragbare Situation darstellt, die ein vollständiges Re-Opening Wiedereröffnung verhindert? Wozu muss plötzlich eine Impfquote von 96 bis 98 % her? „Er verschiebt willkürlich die Torpfosten“, wirft ihm Ted Cruz vor, republikanischer Senator aus Texas. Wie wäre es mit einer Stippvisite an der Elite-Uni Harvard? Dort sind 96 % der Mitarbeiter und 95 % aller Studenten covid-geimpft. Wie erklärt sich Biden, dass die Harvard Business School soeben mitteilen musste: Nachdem das Semester mit Präsenzunterricht begann, werde sie nun zum Fernunterricht zurückkehren müssen, weil Impfdurchbrüche zunehmen? Während mehr als die Hälfte aller US-Bundesstaaten bereits Corona-Beschränkungen weitgehend bis vollständig aufgehoben haben, ohne eine Viren-Apokalypse heraufzubeschwören, gebärdet sich Biden weiterhin als kompromissloser Hardliner. Ende Juli, inmitten einer sich entspannenden Infektionslage und einer weit fortgeschrittenen Impfkampagne, drohte er mit dem nächsten Lockdown: „Aller Wahrscheinlichkeit nach“ seien weitere Restriktionen erforderlich, so deutete er an. Mitte August dachte er laut darüber nach, auf Highways Checkpoints zu errichten, um sicherzustellen, dass nur Geimpfte die Grenzen zwischen US-Bundesstaaten passieren. Mehr als 20 Bundesstaaten, fast alle republikanisch regiert, haben angekündigt, gegen Washingtons Impfmandate juristisch vorzugehen. „Warum zur Hölle soll ich einen Demenztest machen?“, fragte Biden im August 2020 rhetorisch in einer Fernsehsendung. Spätestens jetzt wissen wir es. (Harald Wiesendanger) Foto Biden: Von Adam Schultz - https://www.whitehouse.gov/administration/president-biden/ (Direct Downloads), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=103323939
- Medizin-Nobelpreis für Xi – wen sonst?
Am 4. Oktober wird der nächste Nobelpreis für Medizin vergeben. Noch nie hat ihn ein Nichtwissenschaftler gewonnen. Die sogenannte Corona-Pandemie bietet dringenden Anlass, von dieser Tradition ausnahmsweise abzurücken. Für sein überragendes Krisenmanagement mittels Erfindung des „Lockdown“ gebührt dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping nämlich mindestens die höchste Auszeichnung, welche die Welt für eine medizinische Glanzleistung zu vergeben hat. Die leisesten Zweifel daran verstoßen voraussichtlich gegen Facebooks und Twitters Gemeinschaftsstandards, sie qualifizieren ohne weiteres für einen kostenlosen Bildungsurlaub in den fabelhaften Umerziehungslagern von Xinjiang. Seit 1901 erhielten 222 Persönlichkeiten den Nobelpreis für Medizin. (1) Nach dem Willen seines Stifters, des schwedischen Chemikers und Erfinders Alfred Nobel (1833-1896), gebührt er alljährlich demjenigen, dem im vergangenen Jahr auf diesem Gebiet „die wichtigste Entdeckung“ gelungen ist – eine, die „den größten Nutzen für die Menschheit erbracht“ hat. Dass dafür nur Wissenschaftler in Frage kommen, gilt als ungeschriebene Regel. Aber ist sie denn in Stein gemeißelt? Kann es angesichts der Coronakrise zwei Meinungen darüber geben, wer den nächsten Medizin-Nobelpreis am allermeisten verdient hat? Wenn am 4. Oktober ab 11:30 Uhr bekanntgegeben wird, wer ihn 2021 erhalten soll, kommt selbstverständlich einzig und allein der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas in Frage, Staatspräsident Xi Jinping. Denn in einem Geniestreich ohnegleichen erfand er, kaum dass ein Killerkeim von Wuhan aus den Planeten zu entvölkern drohte, ein höchst originelles, an Kühnheit nicht zu überbietendes Seuchenschutzkonzept namens „Lockdown“. In der Geschichte der Infektionsmedizin sucht es seinesgleichen. Niemals zuvor hatten Wissenschaftler, Ärzte oder Gesundheitsbehörden es erprobt oder auch nur in Erwägung gezogen, geschweige denn empirisch überprüft und bestätigt. Kein Pandemieplan sah ihn jemals vor. Die WHO empfahl es ebensowenig wie die amerikanische CDC oder das Robert-Koch-Institut. Vor 2020 hatte sich Seuchenschutz vielmehr darauf konzentriert, Infizierte und Kranke zu isolieren, besonders Gefährdete zu schützen – beschränkt auf bestimmte Orte und Regionen, begrenzt auf Zeiträume von wenigen Wochen. Stets galt, was Donald Henderson – jener amerikanische Epidemiologe, der sich in den sechziger und siebziger Jahren um die Ausrottung der Pocken verdient machte – vor 15 Jahren schrieb: „Die Erfahrung lehrt, dass Gemeinschaften, die mit Epidemien (…) konfrontiert sind, am besten und mit der geringsten Angst reagieren, wenn ihr normales soziales Funktionieren möglichst wenig gestört wird.“ (2) Erst Rotchinas Zuìgāo Lǐngdǎorén, sein „Überragender Führer“, begriff, dass SARS-CoV-2 in seiner monströsen Schrecklichkeit einen weitaus radikaleren Ansatz erforderte: einen, der die gesamte Bevölkerung einbezog, einschließlich der Kerngesunden. Auch sie mussten, als potentielle Überträger, ungeachtet ihrer Symptomfreiheit auf Schritt und Tritt kontrolliert, massenhaft und immer wieder getestet, maskiert, eingesperrt und Impfungen zugeführt werden. Schulen, Betriebe und Geschäfte mussten geschlossen, alles öffentliche Leben eingefroren, ganze Städte in Hochsicherheitsgefängnisse verwandelt werden – je rücksichtsloser, desto besser. Wie ein WHO-Vertreter bemerkte, „ist der Versuch, eine Stadt mit 11 Millionen Menschen abzuriegeln, neu für die Wissenschaft (…), beispiellos in der Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens“. (3) In Anbetracht des atemberaubenden Tempos, in dem Xi Jinping auf früheste Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe reagiert haben soll, darf zurecht von einem „Geistesblitz“ gesprochen werden. Kaum hatte er Anfang 2020 davon Wind bekommen, machte er den Ausbruch umgehend zur Chefsache, so heißt es. Sofort habe er sich umfassend informieren lassen, sich eingehend mit den besten Experten seines Landes beraten und dann schnellstmöglich alle notwendigen Maßnahmen ergriffen. Bereits vom 23. Januar 2020 an wurden sämtliche Zug- und Flugverbindungen aus Wuhan wie auch in der 70 km östlich gelegenen Millionenstadt Huanggang eingestellt, ebenso alle Bus-, U-Bahn- und Fährverbindungen. Die Einwohner Wuhans wurden angewiesen, die Stadt nicht zu verlassen. Bibliotheken, Museen und Theater sagten Veranstaltungen ab. In Wuhan wurde ein Koordinierungszentrum für Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie eingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt waren in der gesamten Provinz Hubei, einschließlich Wuhan, erst 500 Infektionen und 17 Todesfälle offiziell bestätigt. Zeugt es nicht von geradezu prophetischer Sehschärfe, dass Chinas oberstem Kommunisten im Nu schwante, zu welcher Lawine dieses epidemiologische Schneeflöckchen bald anwachsen wird? Schon für den 29. Januar ließ Xi Behörden eine Massenquarantäne für die 11-Millionen-Metropole Wuhan ankündigen. Vom 17. Februar an galt sie für die gesamte Provinz Hubei. (4) Alle nicht wesentlichen öffentlichen Orte werden geschlossen, Massenveranstaltungen untersagt. Apotheken und Supermärkte blieben geöffnet, mussten aber bei jedem Eingelassenen die Körpertemperatur messen, außerdem von jedem Käufer von Husten- oder Fiebermitteln alle Personaldaten erfassen. Die Zufahrten zu allen Dörfern und Gemeinden blieben gesperrt, um Ausreisen zu kontrollieren und Auswärtigen den Zugang zu verwehren. Autofahren war untersagt, Ausnahmegenehmigungen galten nur für Transport-, Feuerwehr-, Rettungs- und Polizeifahrzeuge. (5) 57 Millionen Einwohner wurden zu Häftlingen in ihren Wohnhäusern. Eine dreitägige Tür-zu-Tür-Erfassungsaktion in allen Gemeinden zielte darauf ab, ausnahmslos alle bisher unerkannten Fälle zu identifizieren und aufzunehmen. (6) Ab Mitte Februar 2020 begann China, mit Hilfe von Handy-Apps die Bewegung der Bevölkerung zu überwachen, um die Quarantänemaßnahmen durchzusetzen und um Kontaktpersonen zu identifizieren. (7) Dazu muss jeder Bürger eine App auf sein Smartphone installieren, die mit den verschiedenen Online-Diensten, wie Alibaba oder Tencent, verknüpft ist und alle Daten ausliest. Anhand dieser Daten erhalten die Smartphone-Besitzer einen Farbcode auf ihr Handy. Rot bedeutet zwei Wochen Isolation, gelb sieben Tage Quarantäne und grün freier Zugang. Diese App muss bei Polizei-, Laden- und Hauseingangskontrollen vorgezeigt werden. (8) „Vollständig eliminiert“ Klappte die Eindämmung nicht geradezu phänomenal? Schon ab Februar 2020 konnte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) vermelden, dass die Zahl der Corona-Neuinfektionen rapide sinkt. Am 18. Februar lag die Zahl der Neuinfektionen pro Tag in China unter 2000; am 20. Februar sank sie unter 1.000, und laut WHO-Bericht vom 26. Februar gab es erstmals mehr Neuinfektionen außerhalb Chinas als innerhalb. (9) In Wuhan konnten alle 16 zuvor errichteten Notkrankenhäuser wieder schließen. (10) Am 9. März lag die Zahl der Neuinfektionen in ganz China offiziell bei gerade mal 45. (11) Nachdem an mehreren darauffolgenden Tagen keinerlei weitere Fälle hinzukamen, verkündete das Politbüro am 19. März: Der kompromisslose Lockdown habe Fälle von SARS-CoV-2 vollständig eliminiert. (12) Neue Infektionen, so verbreitete Peking, würden nur noch von Einreisenden eingeschleppt. Daher schloss die Volksrepublik China am 28. März die eigenen Grenzen für Ausländer. (13) Die Einreise aus EU-Staaten ist erst seit dem 11. August 2020 wieder möglich. (14) In der ersten Märzhälfte 2020 zeigte das Staatsfernsehen jubelnde Ärzte und Pflegekräfte, die vor ihren Krankenhäusern Freudentänze aufführten, nachdem sie die letzten Covid-19-Patienten als geheilt entlassen hatten. „Lernt von China!“, titelten Medien. Umgehend bot Peking an, allen übrigen Staaten beim Krisenmanagement beizustehen. Atemberaubend, phänomenal, unfassbar: Vom Wuhan-Lockdown am 23. Januar bis zum offiziellen Pandemie-Ende vergingen gerade mal zwei (!) Monate. Hat die Volksrepublik da nicht eine Leistung vollbracht, die in der Geschichte der Seuchenbekämpfung ihresgleichen sucht? Erhebt diese Bilanz das Reich der Mitte nicht zum leuchtenden Vorbild für die Welt? Wer will da noch Staats- und Parteichef Xi Jinping widersprechen, wenn er bei jeder Gelegenheit dick unterstreicht, welch herausragenden Beitrag sein Land zur weltweiten Bekämpfung der Corona-Seuche geleistet hat? „Mit seinen praktischen Maßnahmen hat China geholfen, das Leben von Dutzenden Millionen Menschen auf der Welt zu retten“, erklärte er Anfang September 2020 bei einer Veranstaltung, auf der er zum Gedenken an Covid-19-Opfer die Ehrengarde marschieren ließ und verdiente „Corona-Helden“ auszeichnete. Mit der Abriegelung Wuhans habe Peking der Welt „Zeit erkauft“. Inmitten einer beispiellosen globalen Krise habe sich China als verantwortungsvolle Führungsmacht erwiesen, der die „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ ganz arg am Herzen liege. „Papa Xi“, wie sich Jinping daheim nennen lässt, erwies sich als strenger, aber fürsorglich-gütiger Beschützer der ganzen Welt. Hat er den gigantomanischen Personenkult, den er maogleich um sich treiben lässt, nicht global verdient? Gehören nicht endlich auch ins Westfernsehen Bilder, wie sie bisher nur innerhalb Chinas auf Monitoren flimmern: Aufnahmen von unzähligen Zuhörern, die mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mäulern an seinen Lippen hängen, in Ehrfurcht erstarrt, den Tränen nahe? Merkmal eines Geniestreichs: Der Erfolg steht fest, ehe er eintritt. So grandios war Xis seuchenmedizinische Innovation, dass ihr Erfolg schon feststand, ehe er eintrat. Geradezu prophetisch nahmen ihn führende Vertreter der Weltgesundheitsorganisation vorweg. Schon Ende Januar 2020, wenige Tage nach Beginn der Abriegelung Wuhans und Hubeis, hatte der WHO-Koordinator der „Notfallhilfe“, Michael Ryan, nach einem eiligen Ortstermin, seinen Gastgebern uneingeschränkte Anerkennung zukommen lassen. „Sehr beeindruckt“ hätten ihn die Anstrengungen der chinesischen Regierung, so betonte Ryan bei einer Pressekonferenz. Dass eine Regierung so entschieden gegen eine Epidemie vorgehe, hätten weder er noch der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus jemals erlebt. Am 29. Januar meldete sich Ghebreyesus selbst zu Wort: Er sei "sehr beeindruckt und ermutigt von den detaillierten Kenntnissen des Präsidenten [Xi Jinping] über den Ausbruch". Tags darauf pries er China dafür, dass es mit der Abriegelung, "beispiellos in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit", einen „neuen Standard für die Reaktion auf den Ausbruch gesetzt" habe. Eine von der WHO vom 16. bis 24. Februar 2020 in China durchgeführte „gemeinschaftliche Mission“ („Joint Mission on Coronavirus Disease 2019“) kam zu dem Ergebnis, Pekings radikale Maßnahmen seien geeignet gewesen, das Virus einzudämmen. (15) Die chinesischen Missionsmitglieder durften der WHO-Report mehrfach überarbeiten, bevor er veröffentlicht wurde. In der Endfassung heißt es, Parteichef Xi Jinping habe persönlich und ohne Verzögerung alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Missionsleiter Bruce Aylward, ein kanadischer Epidemiologe, äußerte sich hinterher hellauf begeistert: „Hunderttausende Menschen in China haben Covid-19 wegen dieses aggressiven Vorgehens“ – er meinte den schärfstmöglichen Lockdown – „nicht bekommen“. Am 26. Februar rief Aylward die Welt unverblümt dazu auf: „Kopieren Sie Chinas Antwort auf Covid-19!“ Xis „Triumph“ ließ die WHO in ihrem Bericht vom 24. Februar 2020 regelrecht ins Schwärmen geraten: "Chinas kompromissloser und rigoroser Einsatz nicht-pharmazeutischer Maßnahmen, um die Übertragung des Covid-19-Virus in vielerlei Settings einzudämmen, liefert der Welt lebenswichtige Lehren für die richtige Reaktion." China habe „eine der ambitioniertesten, schnellsten und offensivsten Anstrengungen zur Krankheitseindämmung in der Menschheitsgeschichte unternommen". Was es geleistet habe, sei „nicht weniger als exzellent“, lobte WHO-Chef Ghebreyesus im März 2020. Die Welt stehe tief in Pekings Schuld. Anfang April vergab die WHO ein weiteres Mal Bestnoten an Peking: Dank konsequent durchgesetzter Maßnahmen wie Social Distancing, Quarantäne und Selbsthygiene könne China nun bereits von der Eindämmungs- in die Entspannungsphase übergehen. Alle Länder sollten schleunigst aus diesen Erfahrungen lernen. Die WHO-Lobeshymnen setzten eine Kettenreaktion in Gang. Nun begannen Wissenschaftler in aller Welt rasch damit, Pläne in vielen Sprachen zu entwerfen, um Chinas Abriegelungen nachzuahmen. Der Bericht der WHO-Mission wurde auch Grundlage der Handlungsempfehlungen des Robert-Koch-Instituts. Kleinliche Bedenken Darf eine preiswürdige Erfindung beträchtliche Kollateralschäden mit sich bringen? Dass man das nicht so eng sehen darf, bewiesen die Nobel-Juroren 1948, als sie den Schweizer Chemiker Paul Hermann Müller ehrten. Sein DDT hatte sich einerseits als hochwirksames, Ernteerträge sicherndes Insektizid bewährt. Andererseits hat es, als endokriner Disruptor und Kanzerogen, unzählige Menschen vergiftet, weshalb es zumindest in den westlichen Industrieländern seit en 1970-ern verboten ist. Aber hat Xis Erfindung letztlich nicht mehr geschadet als genützt? Für einen Nobelpreis disqualifiziert dies keineswegs. Die Zahl derer, bei denen ein neurochirurgischer Radikaleingriff namens „Lobotomie“ mehr Segen als Fluch war, dürften die Mitglieder des Nobelpreiskomitees an den Fingern ihrer Hände abzählen können. Hingegen verloren bis Mitte der fünfziger Jahre weit über eine Million psychiatrisch auffällig Gewordener so gut wie alles, was Menschsein ausmacht, nachdem Ärzte die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen durchtrennten sowie Teile der grauen Hirnsubstanz zerschnitten. „Diese Psychochirurgie“, so konstatierte ihr Fließbandanwender, der amerikanische Psychiater Water Freeman, ohne Schönfärberei, „erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.“ (16) Trotzdem erhielt der Miterfinder, der Portugiese António Egas Moniz, 1949 den Nobelpreis für Medizin. (17) Zurückgeben musste er ihn nie. Zwar lag es womöglich überhaupt nicht an Xis Lockdowns, dass Infektionen, Erkrankungs- und Sterberaten zurückgingen, sondern an saisonalen Faktoren. Aber disqualifizieren Kausalirrtümer für den Medizin-Nobelpreis? 1926 bekam ihn der Däne Johannes Fibiger für die vermeintliche Entdeckung, dass warzenähnliche Auswüchse in den Mägen von Ratten, die er für Krebs hielt, von parasitären Würmern hervorgerufen wurden. In Wahrheit rührten sie jedoch von einem ausgeprägten Vitamin-A-Mangel her; die Parasiten verschlimmerten ihn bloß. Ist ein Rassist nobelpreiswürdig? Aber auch diese ethische Messlatte liegt in Stockholm nicht zu hoch. Was die Uiguren für Xi, waren die Juden für Adolf Butenandt, ausgezeichnet 1939 für seine Analyse der chemischen Struktur von Sexualhormonen. Dabei scherte sich das Nobelkomitee nicht um den Verdacht, dass Butenandt, Mitglied der BSDAP, mit den Rassenhygienikern des Dritten Reichs kooperierte und von Mengeles Menschenversuchen wusste. Wer anschließend trotzdem noch Präsident der Max-Planck-Gesellschaft werden darf, wie Butenandt 1960, bleibt offenkundig weiterhin respektabel. Und warum sollte man Xi kleinlicher bewerten als Fritz Haber, den Chemie-Nobelpreistrger 1918? Der hatte zwar einerseits herausgefunden, wie man aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak synthetisiert, um ihn in Düngemitteln zu verwenden. Andererseits gilt Haber als Erfinder der industrialisierten Massentötung. Während des Ersten Weltkriegs machte er Chlor waffentechnisch verwendbar. Auf dem Schlachtfeld bei Ypern in Belgien beaufsichtigte er am 22. April 1915 persönlich den Einsatz von 6000 Gaszylindern; dabei kamen in weniger als zehn Minuten tausend französische und algerische Soldaten um. In die Waagschale werfen darf das Nobelpreiskomitee auch einen moralischen Gesichtspunkt: Während andere Forscher für ihre Geistesblitze, kaum dass sie zuckten, flink Patente anmelden, um eigennützig Kohle zu scheffeln, stellte Xi sein Meisterwerk dem Rest der Welt rein karitativ als Handlungsvorlage zur Verfügung. Für die Laudatio drängen sich zahlreiche Kandidaten auf. Ein würdiger Festredner wäre Richard Horton, Chefredakteur der hochangesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet. In einem Interview für das chinesische Staatsfernsehen lobte er schon im Mai 2020 nachdrücklich die chinesische Abriegelung: "Es war nicht nur das Richtige, sondern es zeigte auch anderen Ländern, wie sie angesichts einer so akuten Bedrohung reagieren sollten. Ich denke, wir haben China viel zu verdanken." Aber vielleicht sollte Horton dem Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation den Vortritt lassen. Dessen Lobeshymnen klangen von Anfang an noch überschwänglicher. Da es ein schwedisches Komitee ist, das über den Preisträger entscheidet, und die Verleihung in Stockholm stattfindet, wäre sie obendrein hervorragend geeignet, Schwedens arg ramponierte diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik aufzupolieren. Als einziges größeres Land im Westen hat sich Schweden bis heute standhaft geweigert, Pekings Lockdown nachzuahmen. Böte die Preisverleihung nicht einen würdevollen Rahmen, sich für diesen unsolidarischen Affront endlich zu entschuldigen? Wie konnte Ministerpräsident Stefan Löfven, beharrlich irregeführt von seinem verbohrten Chef-Epidemiologen Anders Tegnell, alle Warnungen der Staatengemeinschaft in den Wind schlagen? Wie konnte er überhören, dass selbst die WHO seinen liberalen Sonderweg wiederholt als „verantwortungslos“ anprangerte und mahnte, es sei „zwingend erforderlich“, dass Stockholm seine „Maßnahmen verstärkt“? Die Neue Weltordnung braucht keine Querdenker. Zum Festakt zugelassene Medienvertreter müssen selbstverständlich handverlesen sein. 1G plus Presseausweis und Rotes Fähnchen genügen nicht. Zu Ehren des Preisträgers dürfen ausschließlich Redaktionen teilnehmen, welche Xis Glanzleistung schon mindestens einmal im gebotenen Überschwang zu würdigen wussten. Für eine Sitzplatzreservierung im Festsaal qualifizieren sich insbesondere die New York Times: „Die USA sagen, dass das Virus nicht kontrolliert werden kann. China Ziel ist es zu beweisen, dass das nicht stimmt. (…) In einer aus den Fugen geratenen Welt offeriert es seine Version von Freiheit“.) Die Washington Post: "Die USA haben absolut keine Kontrolle über das Coronavirus. China hingegen hat selbst die kleinsten Risiken im Griff.“ Das Wallstreet Journal: "Wie China das Coronavirus verlangsamt hat: Abriegelungen, Überwachung, Vollstrecker“ – „Chinas Epidemie-Statistiken deuten darauf hin, dass seine Bemühungen effektiv waren.“ CNN, der weltweit erste reine Nachrichtensender, stellte fest: „Chinas Eindämmungsbemühungen scheinen erfolgreich gewesen zu sein, denn die Zahl der neuen Fälle ist (…) auf ein Rinnsal zurückgegangen.“) Das Magazin Politico: "Das Urteil steht fest: China hat überdurchschnittlich gut abgeschnitten, während das einst angesehene amerikanische System katastrophal versagt hat.“ Das Online-Portal The Conversation: ("China besiegt das Coronavirus mit Wissenschaft und starken Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, nicht nur mit Autoritarismus.“ Das Internet-Magazin Salon.com: „China hat COVID-19 innerhalb weniger Monate ausgerottet. Warum will Amerika nicht von ihnen lernen?" Nicht zu vergessen: Deutschlands Qualitätsmedien. Beispielsweise Die Zeit: „China hat die Corona-Epidemie nun scheinbar im Griff. Was lässt sich daraus für die deutsche Seuchenabwehr lernen?“ Die Welt: „Die Chinesen haben vorbildlich reagiert». Die Frankfurter Allgemeine: „Die chinesischen Antworten auf die Covid-19-Pandemie und die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise erwiesen sich als besonders effektiv, wie ein Vergleich der großen Akteure des Weltgeschehens – die Vereinigten Staaten, Europa und China – eindrucksvoll zeigt.“ Und die Deutsche Welle: „China steht gegen Ende des Corona-Jahres 2020 als Sieger da: Das Virus ist eingedämmt, die Wirtschaft erholt, anfängliche Kritik an Pekings Krisenmanagement ist verblasst.“ Warum nicht zwei Nobelpreise auf einmal? Zu Ehren von Chinas beinahe Himmlischen Vater sollte gleich noch ein weiterer alter Zopf abgeschnitten werden: Warum darf jemand nicht gleich zwei Nobelpreise auf einmal kriegen, falls er beide gleichermaßen verdient hat? Denn auch um den Weltfrieden hat sich Xi in famoser Weise verdient gemacht. Ist dieser nicht gesichert, sobald alle Länder dieser Erde, in vereinter Abwehrschlacht gegen eine apokalyptische Bedrohung, zu China werden, je länger und hingebungsvoller sie China nachahmen? Kriegsrisiken sinken gegen Null, sobald alle potenziellen Kriegsgegner eins werden. Stärker kann man nun wirklich nicht „auf die Verbrüderung der Völker hinwirken“: für Alfred Nobel das Hauptkriterium der Preiswürdigkeit. Der Friedensnobelpreis wird sieben Tage nach jenem für Medizin verliehen, am 11. Oktober. Am besten also, Xi bleibt bis dahin vor Ort. Die Woche zwischen beiden Terminen könnten er und Löfven zur Intensivpflege der ramponierten chinesisch-schwedischen Beziehungen nutzen. Wie wäre es mit einer Wiedereröffnungstournee zu allen Konfuzius-Instituten, die Schweden im April 2020 dichtmachen ließ, nachdem China es wegen verantwortungslosem Abweichen vom Lockdown-Kurs rüde gemaßregelt hatte? Mit der Wiederbelebung von Städtepartnerschaften, die das Königreich aus demselben Grund aufkündigte? Chinas hundsmiserablem Image im Ikealand täte das sicherlich gut. Aktuell haben 85 Prozent der Schweden eine negative Meinung vom Reich der Mitte – da schneidet nur noch Japan schlechter ab, um ein Prozent. Aber sprechen massenhafte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in Tibet wie in Xinjiang, nicht gegen einen Friedensnobelpreis für Xi? Das muss man nicht so eng sehen. Man kriegt ihn nämlich durchaus auch dann, wenn man Laos und Kambodscha bombardieren lässt, wie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger. Wenn man tausende israelische Zivilisten auf dem Gewissen hat, wie der palästinensische Terroristenführer Yassir Arafat. Aus Protest traten zwei der fünf Nobel-Juroren vor der Preisverleihung 1994 zurück, einer von ihnen erklärte: „Der Träger des Friedenspreises legt heute die Friedenstaube auf die Schlachtbank und schwingt die Axt." (18) Ein weiterer befand, dass Arafats „Vergangenheit geprägt ist von Terror, Gewalt und Blutvergießen“ - da kann Xi ohne weiteres mithalten. Oder muss man Xi Jinping strenger bewerten als Friedensnobelpreisträger Theodore Rosevelt? Dieser US-Präsident vermittelte zwar im russisch-japanischen Krieg, im übrigen fiel er aber als beinharter Imperialist auf. Und falls es sich bei Xis Lockdown-Erfindung um nichts weiter handelt als eine rotchinesische Kriegslist, um die westliche Welt, allen voran den Erzfeind USA, zu maximaler Selbstschädigung zu verleiten, materiell wie ideell? (Siehe KLARTEXT „Im Dritten Weltkrieg“.) Aber wer sagt denn, dass ein Nobelpreisträger nicht schlau sein darf? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen (1) Genauer gesagt: Es handelt sich um den Nobelpreis „für Physiologie oder Medizin“, nach dem testamentarischen Willen seines Stifters. (2) Thomas V. Inglesby/Donald A. Henderson u.a.: „Disease Mitigation Measures in the Control of Pandemic Influenza“, Biosecurity and Bioterrorism: Biodefense Strategy, Practrice, and Science 4 (4) 2006, DOI: 10.1089/bsp.2006.4.366. (3) Sinead Baker: „China extended its Wuhan coronavirus quarantine to 2 more cities, cutting off 19 million people in an unprecedented effort to stop the outbreak“, Business Insider 23.1.2020, https://www.businessinsider.in/science/news/china-extended-its-wuhan-coronavirus-quarantine-to-2-more-cities-cutting-off-19-million-people-in-an-unprecedented-effort-to-stop-the-outbreak/articleshow/73555367.cms (4) „China coronavirus spread is accelerating, Xi Jinping warns“, BBC, 26.1.2020, https://www.bbc.com/news/world-asia-china-51249208 (5) Zhang Yangfei: „Hubei province steps up epidemic prevention, control efforts“, Website China Daily. 16.2.2020, https://www.chinadaily.com.cn/a/202002/16/WS5e491ffea310128217277dcf.html (6) Wang Xiaoyu: „Progress seen in epidemic fight“, Website China Daily, 20.2.2020, https://www.chinadaily.com.cn/a/202002/20/WS5e4d91bba310128217278cc5.html (7) WHO: „Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19)“, 24.2.2020, https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/who-china-joint-mission-on-covid-19-final-report.pdf (8) Christoph Giesen: „Dem Algorithmus unterworfen“, Süddeutsche Zeitung. 26.3.2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/china-dem-algorithmus-unterworfen-1.4857073; Franka Lu: „Leben mit dem Virus“, Zeit online, 15.3.2020, https://www.zeit.de/kultur/2020-03/coronavirus-china-leben-ausnahmezustand/seite-2 (9) WHO: „Coronavirus disease (COVID-2019) situation reports“, März 2020, https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports (10) Georg Fahrion/Wu Dandan: »Weckt mich auf, wenn alles vorbei ist«, Der Spiegel 12/2020, S. 66 f., online 14.3.2020, https://magazin.spiegel.de/SP/2020/12/169988530/index.html (11) WHO: „Coronavirus disease (COVID-2019) situation reports“, März 2020, https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports (12) "Das Politbüro hat beschlossen, dass die Epidemie vorbei ist", Zeit online. 28.3.2020, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/china-coronavirus-propaganda-epidemie-wirtschaft-usa (13) Außenministerium der Volksrepublik China: „Ministry of Foreign Affairs of the People's Republic of China National Immigration Administration Announcement on the Temporary Suspension of Entry by Foreign Nationals Holding Valid Chinese Visas or Residence Permits“, 26.3.2020, https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjbxw/t1761867.shtml (14) Jasper Habicht: „Die aktuelle Einreisesperre in die Volksrepublik China aufgrund der COVID-19-Epidemie und daraus erwachsende Probleme im Kontext von Beschäftigungsverhältnissen“, Zeitschrift für Chinesisches Recht 27 (1) 2020, S. 18–27, Vorabversion: https://ssrn.com/abstract=3671821 (15) Lars Fischer: „Covid-19: Wie China das neue Coronavirus ausbremste“, Spektrum.de, 3.3.2020, https://www.spektrum.de/news/wie-china-das-neue-coronavirus-ausbremste/1709842; Berit Uhlmann: „Coronavirus – WHO-Bericht lobt Chinas Reaktion“, Süddeutsche Zeitung, 2.3.2020, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/coronavirus-china-quarantaene-reisebeschraenkung-1.4827927; Fabian Kretschmer: „Propaganda: Xi Jinping gibt sich als Corona-Bezwinger“, RP online, 10.3.2020, https://rp-online.de/politik/ausland/chinas-praesident-gibt-sich-als-corona-bezwinger_aid-49482069; Lea Deuber: „Wie die WHO Lobeshymnen auf China singt“, Süddeutsche Zeitung, 14.3.2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-china-who-1.4844104; STAT News: „WHO praises China's response to coronavirus, will reconvene expert panel“, 29.1.2020, https://www.statnews.com/2020/01/29/who-reconvene-expert-committee-coronavirus/; Sarah Karlin-Smith: „U.S. officials praise Chinese transparency on virus — up to a point“, Politico, 29.1.2020, https://www.politico.com/news/2020/01/29/officials-praise-china-transparency-virus-108926 (16) Nach Peter R. Breggin: Elektroschock ist keine Therapie, München 1989, S. 175. (17) Florian Freistetter: Lobotomie: Ein gefährlicher Irrtum, gekrönt mit dem Nobelpreis, Der Standard, 13.2.2018. (18) Zit. nach https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/umstrittene-nobelpreise-brutale-effekte-und-bluff-a-654254.html Foto Xi: Von Palácio do Planalto - 13/11/2019 Declaração à Imprensa, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=103834901; Lorbeerkranz: Gordon Johnson/Pixabay.
- Der untote Edward – Wie viel hat sein Geist mit dem „Great Reset“ zu tun?
Propaganda, neumodisch als „Public Relations“ beschönigt, ist beispielsweise die Kunst, eine Plandemie als Jahrhundertseuche zu inszenieren, ohne dass es sonderlich auffällt. Als geistiger Vater moderner PR gilt Edward Bernays (1891-1995). Am 22. November jährt sich sein Geburtstag zum 130. Mal – inmitten der Coronakrise ein passender Anlass, seines brandgefährlichen Lebenswerks zu gedenken, mit dringend gebotener Distanz. Wie Spiritisten glauben, verkrümeln sich nicht alle Totengeister unverzüglich ins Jenseits oder bevorzugen die finale Vernichtung. Manche mögen weiterhin erdnah verweilen. Hier vertreiben sie sich die Zeit damit, Uhren anzuhalten, umgestülpte Gläser zu verrücken, Türen aufzustoßen und auf Dachböden zu randalieren – vorzugsweise nachts. Der Geist jedoch, um den es in diesem Beitrag geht, kriegt rund um die Uhr etwas weitaus Beunruhigenderes zustande: Er macht besessen – nicht bloß ein einziges Opfer, sondern unzählige. In sie eingedrungen, nistet er sich in ihrem Gehirn ein. Dort kann er ihnen Motivationen, Absichten und Pläne eingeben, die viele von uns für unmoralisch, krank und dringend behandlungsbedürftig befinden würden – es sei denn, er hat auch uns im Griff. Der Geist, von dem hier die Rede sein soll, gehört einem Urenkel von Sigmund Freud. Sein Inhaber kam 1891 in Wien zur Welt, 1995 starb er in New York. Aber noch über ein Vierteljahrhundert danach spukt er in den Köpfen eines ganzen Berufsstands herum: der Fachleute für „Public Relations“, mit einem altmodischen Synonym: für Propaganda. In der Coronakrise spielen sie eine Schlüsselrolle. Am 22. November jährt sich sein Geburtstag zum 130. Mal – ein passender Anlass, seiner zu gedenken, hin- und hergerissen zwischen Anerkennung und Abscheu. „Die Herde muss geführt werden“ Medien betrachten wir als Mittel, Informationen zu erhalten und auszutauschen. Aber man kann sie auch anders sehen: als Mittel, Macht über uns zu auszuüben – darüber, wie wir denken und fühlen. Was wir schätzen. Was wir haben möchten, was wir ablehnen. Wovor wir Angst haben sollten. Und was wir zu tun haben, damit wir uns nicht länger fürchten müssen. Die hohe Kunst, zu diesem Zweck mit uns öffentlich zu kommunizieren, hat fast im Alleingang in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Mann begründet, vor dem sich PR-Fachleute weltweit bis heute voller Respekt und Bewunderung verneigen: Edward Louis Bernays. Seine Hauptwerke Crystallizing Public Opinion (1923) und Propaganda (1928) wurden zu Bibeln der Branche, er selbst zum Urvater aller Spin-Doctors (1), jener gefragten Medien-, Image- oder politischen Berater, die für ihre Auftraggeber Ereignisse unterschwellig manipulierend mit dem richtigen „Dreh“ (engl. spin) versehen. Im Jahr 1990 kürte ihn das Magazin Life zu einer der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahrhunderts. Zu solchen Ehren hätte es Bernays wohl kaum gebracht, wenn er 1891 in Wien nicht zufällig als Neffe von Sigmund Freud zur Welt gekommen wäre. Seine Mutter war Freuds Schwester Anna, sein Vater Ely der Bruder von Freuds Ehefrau Martha. Edward war noch ein Säugling, als seine Eltern 1892 in die USA auswanderten und nach New York City zogen. 1912 erlangte ihr Filius einen Abschluss in Agrarwissenschaft an der Cornell University. Anschließend zog es ihn aber in den Journalismus. Der Journalist berichtet Tatsachen – Bernays hingegen stand eher der Sinn danach, Tatsachen zu schaffen: psychologische. Ihn faszinierte die Frage, wie und in welchem Maße Menschen beeinflussbar sind. Die entscheidenden Anregungen hierzu verdankt er den „Grundlagen der Psychoanalyse“ seines berühmten Onkels. Freud hatte Homo sapiens, den ich-gesteuerten Zweibeiner, dessen Handeln in bewussten, vernünftigen Entscheidungen gründet, vom Sockel geholt. Die Psychoanalyse entlarvt die „Krone der Schöpfung“ als ein irrationales, letztlich von unbewussten Trieben und Impulsen gesteuertes Wesen, das kulturell gebändigt und gesteuert werden muss. Wer sich darauf versteht, bekommt die Massen in den Griff. Gelegenheit für eine erste Probe aufs Exempel bot der Erste Weltkrieg. Anfangs betrachtete die amerikanische Bevölkerung ihn mehrheitlich als europäische Angelegenheit; es herrschte Unverständnis vor, weshalb Washington seine Söhne opfern wollte, um in eine verlustreiche Schlacht jenseits des Großen Teichs zu ziehen, gegen das ferne Deutsche Kaiserreich und die österreichische Donaumonarchie. Um für das blutige Engagement zu werben, hatte die US-Regierung unter Woodrow Wilson 1917 ein Committee on Public Information eingerichtet – und Bernays angeheuert. Dieser gab der Kampagne den entscheidenden Dreh: „Make the world safe for democracy“, textete er – amerikanische Waffen sorgen für eine sichere, friedvolle Weltordnung. „Sell an experience, not a product“ Nach Kriegsende wartete auf den Godfather des „Meinungsorganisierens“ sogleich die nächste propagandistische Herausforderung. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatten sich die USA zu einer Industriegesellschaft gewandelt, die am Fließband Waren über Waren produzierte. Der Konsum hielt damit aber nicht Schritt, und das bereitete Unternehmern immer mehr Sorgen. Von wenigen Reichen abgesehen, kauften die Verbraucher nur, was sie unbedingt brauchten; Autos, Schmuck, vornehme Kleidung zählten nicht unbedingt dazu. Herkömmliche Werbung bestand deshalb darin, die Nützlichkeit und Haltbarkeit bestimmter Produkte hervorzuheben – und jene der Konkurrenz in diesen Hinsichten madig zu machen. Das war grundfalsch, befand Bernays: Vielmehr muss man die Leute dazu bringen, Dinge zu kaufen, die zwar nicht lebensnotwendig sind, aber einen hohen symbolischen Wert besitzen – sie dienen zur Selbstdarstellung und zum Selbstausdruck. „Express yourself“ muss zur Maxime der Kaufentscheidung werden. An dieses irrationale Begehren sollte Werbung appellieren. Eine Kultur des Bedarfs muss sich zu einer Kultur der Wünsche wandeln. In ihr werden nicht einfach Produkte verkauft, sondern die Erfüllung von Sehnsüchten, die Verwirklichung von Phantasien, erstrebenswerte Erscheinungs- und Verhaltensweisen, Schönheit und Genuss, ein neues Lebensgefühl, ja ein neues Selbst. Sell an experience, not a product. Aber welche Symbolkraft könnte schon eine Zigarette besitzen, zumal in den Händen einer Frau? Dass das „schwache Geschlecht“ rauchte, gar in der Öffentlichkeit, galt zu jener Zeit als äußerst unschicklich, es war verpönt. Diese breite öffentliche Missachtung bescherte der Tabakindustrie ein Absatzhindernis, und daran wollte sie mit Bernays Hilfe etwas ändern. Bloß wie? Bernays Geniestreich kam bei der traditionellen Osterparade 1929 in New York City zur Aufführung. Zehntausende flanierten auf der Fifth Avenue, unter ihnen eine Gruppe von Frauen, die Bernays angewiesen hatte, sich als Suffragetten zu verkleiden. Als Zeitungsreporter sie fotografierten, zogen sie aus ihren Strumpfbändern Zigaretten, zündeten sie an und proklamierten sie als „torches of freedom“, als „Fackeln der Freiheit“. So wurde der Glimmstengel schlagartig zum Symbol der Emanzipation – und fortan bröckelte der Widerstand gegen das Rauchen. (2) „Die Masse will geführt werden“ „Die Masse will geführt werden“, war Bernays klar. Denn die Wirklichkeit ist zu komplex für sie. Deshalb greift sie zu Klischees und Stereotypen, die man ihr eintrichtert – und orientiert sich an Opinion Leaders, diese wissen mehr, sie können mehr. „Wenn man die Führer beeinflussen kann, beeinflusst man automatisch deren Gruppe“, schrieb Bernays ein Dreivierteljahrhundert, bevor das „Influencer Marketing“ einen Namen erhielt und in Mode kam. Und wer eignet sich zur Meinungsführerschaft besser als Wissenschaftler und Ärzte? Bernays wusste „mit mathematischer Sicherheit, dass eine große Zahl von Menschen dem Rat ihrer Ärzte folgen wird, weil er“ - der PR-Mann – „das psychologische Abhängigkeitsverhältnis der Menschen von ihren Ärzten versteht." (3) Wann immer wir auf eine gesponserte Umfrage oder Studie stoßen, vor allem wenn sie sich als Wissenschaft tarnt, ist Bernays´ Geist am Werk. „Let experts tell and sell your story“: Auf dieses Prinzip setzte Bernays, als ihn ein Großfabrikant von Schinken anheuerte, dessen Absatzzahlen rückläufig waren. Beim Stichwort „Schinken“ dachte Bernays sogleich an Frühstück. Bis dahin waren die Amerikaner gewohnt, dass morgens auf dem Esstisch Saft, Toast und Kaffee standen. Also mussten sich die Frühstücksgewohnheiten der Nation ändern. Dazu holte Bernays die Meinungen von bekannten Ärzten ein, ob sie aus medizinischer Sicht eher ein leichtes oder ein deftiges Frühstück bevorzugten. Die deftige Variante gewann, seither gehören „Bacon and Eggs“ zu Amerika wie Hamburger und Cola. Sein Ruf, solche Propagandaerfolge am Fließband zu erzielen, machte Bernays jahrzehntelang zu einem der begehrtesten Verkaufsförderer großer Konzerne. Sie standen buchstäblich Schlange bei ihm, von Philip Morris über die Allstate-Versicherungen, die Blei-Industrie und die Chemieriesen Union Carbide und Du Pont bis hin zu den Pharmagiganten Pfizer, Eli Lilly und Ciba Geigy. (4) Während ihm Generationen von PR-Profis zu Füßen liegen, verabscheuen ihn Kritiker als „Gründungsvater der Lügen“, der insofern „Amerika erfunden“ habe. Seine Massenverführungskünste imponierten selbst Nazi-Größen; bei Josef Goebbels soll ein Exemplar von Crystallizing Public Opinion im Bücherregal gestanden haben. „Selbstverständlich“, so hatte Goebbels 1933 erklärt, „hat die Propaganda eine Absicht. Aber diese Absicht muss so klug, so virtuos kaschiert sein, dass der, der von dieser Absicht erfüllt werden soll, das überhaupt nicht merkt.“ (5) Das hätte von Bernays stammen können. Den Antisemitismus des Dritten Reichs durchschaute er ohne weiteres: „Offensichtlich war die Attacke gegen die Juden Deutschlands kein emotionaler Ausbruch der Nazis, sondern eine wohlüberlegte, geplante Kampagne.“ (6) Blaupause für eine ganze Branche: Das Berufsethos des PR-Papstes schloss Skrupellosigkeit ein Als sich der Meisterpropagandist Ende der Zwanziger Jahre von der Tabakindustrie kaufen ließ, konnte er sich wohl noch auf ein einigermaßen reines Gewissen berufen: Die Forschungslage zum Krebspotenzial von Glimmstengeln war noch dünn, und selbst Ärzte rauchten wie die Schlote. Anders verhielt es sich bei einer Kampagne, die seine Fans zu Bernays´ brilliantesten Geniestreichen zählen: sein entscheidender Beitrag zur Fluoridierung von Trinkwasser, fast überall in den Vereinigten Staaten. Schon lange galt Fluorid zurecht als eines der toxischsten Elemente, die in der Erdkruste vorkommen. Die Öffentlichkeit kannte es vor allem als Hauptbestandteil von Insekten- und Rattengift. Unglücklicherweise entstehen Fluoride als Nebenprodukte vieler industrieller Produktionsprozesse, die Luft und Wasser belasten. Als der ärgste Umweltsünder war hierbei die Aluminiumindustrie in Verruf geraten. Seit den 1920-ern sah sie sich deshalb zunehmend in Gerichtsverfahren verwickelt und von Rechtsvorschriften bedroht. Folglich war es höchste Zeit, Schadensbegrenzung zu betreiben und das Image der bedrohlichen Substanz aufzupolieren. Im Auftrag von Weltmarktführer Alcoa lieferte der pfiffige Bernays dafür Idee, Konzept und Strategie: Er riet zu gesponserten Studien, die ungeahnte gesundheitliche Vorzüge von Fluorid erkundeten. Nachdem sich dabei angebliche „wissenschaftliche Beweise“ für Kariesprophylaxe bei Kindern ergeben hatten, regte er an, Zahnärzte und medizinische Fachgesellschaften dafür werben zu lassen, Amerikas Trinkwasser obligatorisch Fluor beizumischen. Damit waren zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Das Image von Fluor wurde vom Fluch zum Segen, der die Zahngesundheit unseres Nachwuchses stärkt; zugleich entstand eine stetige, beträchtliche Nachfrage nach einem industriellen Abfallprodukt, das somit eine steile Karriere vom Sondermüll zur Arznei hinlegte. Fühlte sich Bernays jemals mitverantwortlich dafür, was die zwangsweise Fluoridvergiftung in derart wasserversorgten Gemeinden anrichten könnte? Auffallend häuften sich dort Fälle von Knochenbrüchen, Arthritis, Knochenkrebs und neurologischen Schäden, wie auch von Kindern, die missgebildet oder mit Down-Syndrom zur Welt kamen. Bestimmt saß Bernays körperlos mit am Tisch, als Weltwirtschaftsforum und Gates-Foundation im Oktober 2019 ihr verdächtig prophetisches Pandemie-Planspiel „Event 201“ veranstalteten. Wäre sein Geist inmitten der Coronakrise noch inkorporiert, so hätten Pseudo-Philanthropen, Regierungen und Impfstoffhersteller frühzeitig bei ihm Schlange gestanden, um seine Auftragsbücher zu füllen. Hätte er Skrupel gehabt, für eine unerprobte Seuchenschutzmaßnahme namens „Lockdown“ zu werben, die um ein Vielfaches mehr Menschenleben kostet, als sie rettet? (Siehe KLARTEXT „Scheinheiliges Gedenken“.) Hätten ihn die geringsten Bedenken geplagt, sieben Milliarden Gutgläubige zu Versuchskaninchen des größten medizinischen Feldversuchs der Geschichte machen zu helfen – eines Massenexperiments, das bis heute schon mehr Todesopfer gefordert haben dürfte, als Soldaten im Ersten Weltkrieg fielen? (Siehe KLARTEXT „In Sorge um Dich.“) „Liebe Deinen Nächsten“: In den Ehrenkodices von Propagandisten taucht dieses Gebot gewiss nicht auf. Einer wie Bernays wertschätzt gewöhnliche Sterbliche nicht. Er blickt auf sie herab. Er verachtet sie. Für ihn und seine Kundschaft zählen sie bloß als Zielscheiben lukrativer Geschäftspraktiken – dumm, desorientiert, verführbar. Nie machte er einen Hehl daraus. In den elitären Kreisen, denen Bernays vor und während der Coronakrise mit Sicherheit zugearbeitet hätte, bewegt sich die amerikanische Investmentbankerin Catherine Austin Fitts, einst Statssekretärin unter Präsident George H. W. Bush, seit mehr als 40 Jahren. Jegliche Illusionen darüber, wie viel Humanismus die Mächtigsten beseelt, zerstreut sie unverblümt (7): „Mr. Global betrachtet die menschliche Rasse wie Vieh, nicht mit Empathie. (…) Sie haben sich buchstäblich abgespalten und (…) sehen sich nicht mehr als Teil unserer Zivilisation“, weil sie „ihre eigene geschaffen haben“. „Manipulation ist ein wichtiges Element in der Demokratie“ Mit jedem PR-Coup fand Bernays, ein ungefährer Zeitgenosse Orwells, aufs Neue bestätigt, was er über die Psychologie der Massen, ihre Verführbarkeit, das Wesen der Demokratie dachte. Manipulation erschien ihm unerlässlich, um das der Gesellschaft innewohnende Chaos zu beherrschen, ihre zerstörerischen Kräfte zu bändigen. In der Öffentlichkeit sah er eine „Herde, die geführt werden muss“. Danach lechzen die allermeisten Leute, denn ihre Herdenhaftigkeit macht sie „empfänglich für Führung“. Oberstes Prinzip guter PR sei es daher, unbemerkt Macht auszuüben: „Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern.“ Damit tue man ihnen sogar einen Gefallen, denn „die wissenschaftliche Manipulation der öffentlichen Meinung ist notwendig, um Chaos und Konflikt in einer demokratischen Welt zu überwinden“; sie sorgt für Ordnung. Die heimlichen Massenbeeinflusser erweisen der Menschheit also einen moralischen Dienst. Demokratie ist zu gut fürs Volk; man muss ihm sagen, was es denken soll, weil es von sich aus nicht zu rationalem Denken fähig ist. Und so beginnt Bernays das erste Kapitel („Organising Chaos“) seines Buchs Propaganda mit den Worten: „Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist. Große Menschenzahlen müssen auf diese Wiese kooperieren, wenn sie in einer ausgeglichen funktionierenden Gesellschaft zusammenleben sollen. In beinahe jeder Handlung unseres Lebens, ob in der Sphäre der Politik oder bei Geschäften, in unserem sozialen Verhalten und unserem ethischen Denken werden wir durch eine relativ geringe Zahl an Personen dominiert, welche die mentalen Prozesse und Verhaltensmuster der Massen verstehen. Sie sind es, die die Fäden ziehen, welche das öffentliche Denken kontrollieren.“ PR-Hure von „Drahtziehern hinter den Kulissen“ Die Macht der Meinungsmacher kannte in Bernays Augen schier keine Grenzen. Der PR-Macchiavelli selbst fühlte sich als Pionier einer Manager-Aristokratie – von „unsichtbaren Herrschern“, „raffinierten Drahtziehern hinter den Kulissen“. Sie bestimmen insgeheim darüber, was wir kaufen, wen wir wählen, was wir gut oder schlecht finden. Was wird zur öffentlichen Meinung, wenn weltweit agierende Großindustrien wie Big Pharma PR-Profis wie Bernays einschalten, zu derartigen Zielen, mit diesem zynischen Menschenbild, mit einem solchen Demokratieverständnis – und dafür jährlich Hunderte Milliarden Euro investieren können, mit denen sie alle wichtigen Player im Gesundheitswesen gefügig machen können? Wie viel Propaganda lässt sich damit wirksam unters Volk bringen? Infektionen sind schlimm, auch ohne jegliche Symptome. Medikamente heilen. Impfungen sind stets wirksam, sicher und gut verträglich. Auch Gesunde sind gefährlich. Psychopharmaka beseitigen Ängste und Depressionen. Chemotherapie heilt Krebs. Alternativmedizin ist unbewiesen, wirkungslos, gefährlich und überteuert. Heilpraktiker und Heiler sind Scharlatane. ADHS ist eine Krankheit, das Asperger-Syndrom ebenfalls. Mobilfunkstrahlung, Feinstaub, Mikroplastik, künstlich erzeugte Nanopartikel, Gen Food, Chemie in Nahrungsmitteln und Trinkwasser, mRNA-Vakzine: bloß keine Panik, alles harmlos, angebliche Gefahren sind unbewiesen. Follow the science, denn Wissenschaft forscht unabhängig. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Und so weiter. Dabei folgt Propaganda einem simplen Rezept. „Wie bringt man Menschen dazu, etwas zu tun, das sie weder tun wollen noch für gut befinden?“, fragte ein Medizinprofessor einmal den Top-Manager einer weltweit operierenden PR-Agentur. „Es gibt hierfür nur ein Instrument“, so antwortete dieser. „Wenn Sie es erreichen, bei Menschen Angst zu erzeugen, dann machen sie alles, was Sie wollen.“ Am hilfreichsten sei „Angst vor einer Krankheit, die es entweder gar nicht gibt oder aber überhaupt nicht so gefährlich ist“. „Unsere Aufgabe“ besteht darin, sie zu schüren. Die „größten Auftraggeber sind Regierungen und Pharmafirmen“. (8) Edward Bernays hätte dies bestimmt voll und ganz mitunterschrieben. Der unübertroffene Manipulator starb 103-jährig am 9. März 1995. Hätte er gewusst, wie schädlich Rauchen ist, so hätte er sich von der Tabakindustrie wohl kaum einspannen lassen, so soll er kurz vor seinem Tode eingeräumt haben. Solche Reue kommt erstens zu spät für Abermillionen von Lungenkrebstoten. Und zweitens ist sie in der PR-Branche eine karrieregefährdende Rarität. Skrupel erschweren Kundenakquise, machen zögerlich, begrenzen Kreativität, schaden der Wettbewerbsfähigkeit und verhindern Profit. Also weg damit. (Harald Wiesendanger) Dieser Text erweitert ein Kapitel des Buchs von Harald Wiesendanger: Corona-Rätsel. Was steckt wirklich hinter dieser Pandemie? Wem nützt sie? Was bringt uns die nächste?, 2. Aufl. Schönbrunn, Juni 2020, S. 324 ff. Mehr zur unheimlichen Macht von PR-Agenturen und ihrer Auftraggeber im KLARTEXT „Die hohe Kunst der Panikmache“. Anmerkungen 1 Als „The Original Spin Doctor“ wurde Bernays Ende 1991 von der Washington Post gewürdigt, anlässlich seines 100. Geburtstags. 2 Al Gore: The Assault on Reason, New York 2007. 3 Edward L. Bernays, Propaganda, New York 1928, S. 9, 18, 49, 53. 4 Siehe John Stauber/Sheldon Rampton: Trust Us We´re Experts - How Industry Manipulates Science and Gambles with Your Future (2002). 5 Zit. nach Dieter Fuß, "Ein Volk! Ein Reich! Ein Rundfunk!", Aus der Dramaturgie der Propaganda im Dritten Reich, Begleitheft zum Tonband 185 des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, Grünwald 1973, S. 82. 6 Nach Larry Tye: The Father of Spin. Edward L. Bernays and the Birth of Public Relations, New York 1998, S. 111. 7 https://www.bitchute.com/video/IISaICqoQK43/. Eine Abschrift des im Dezember 2020 geführten Interviews mit Fitts findet sich hier, eine deutsche Übersetzung hier. 8 Peter Yoda: Ein medizinischer Insider packt aus, Kernen o.J., S. 126-128. Bildnachweis Foto Bernays: By Bain News Service - File:Birnbaum,_Gordon,_Bernays,_Fornia,_Mrs._Coppicus,_Amato,_Botta_(LOC).jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68971679 Foto Schwab: By Copyright World Economic Forum (www.weforum.org) swiss-image.ch/Photo by Remy Steinegger - https://www.flickr.com/photos/worldeconomicforum/2296517249/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65398796 Foto Gates: By DFID - UK Department for International Development - https://www.flickr.com/photos/dfid/19111683745/, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41202006
- Im Dritten Weltkrieg
Von Berlin bis New York, von Melbourne bis Paris, von Tel Aviv bis Wellington tobt ein Angriffskrieg gegen die gesamte Menschheit. Zum Einsatz kommt dabei eine psychologische Waffe von ungeheurer Durchschlagskraft: das Panikvirus. Wer sind die Aggressoren? Wie sieht ihr Schlachtplan aus? Welche Kriegsziele verfolgen sie? Seit Januar 2020 tobt der Dritte Weltkrieg. Er ist der erste, der seinem Namen alle Ehre macht. Unseren Planeten wird er mindestens so tiefgreifend verändern, wie es seine beiden Vorgänger taten. Danach wird beinahe nichts mehr so sein wie vorher. Die beiden „Welt“kriege des 20. Jahrhunderts wüteten in Wahrheit geografisch begrenzt. Sie involvierten keineswegs alle Länder; aus dem Ersten hielten sich zwei Dutzend heraus, im Zweiten gelang dies immerhin noch einer Handvoll. Jedesmal blieb ein Teil der Weltbevölkerung verschont. Zivilisten waren weniger gefährdet als Soldaten. Wer den Kriegswirren entkommen wollte, fand anderswo Zuflucht. Im Dritten Weltkrieg hingegen gibt es kein Entkommen, für niemanden. Über so gut wie alle Staaten ist er hereingebrochen, von Italien über Israel und Neuseeland bis zu den USA. Einen weitgehend sicheren Hafen findet man allenfalls noch am Nordpol oder in der Antarktis. Die Medien sind voll von dieser globalen Katastrophe. Aber sie trichtern uns Fehldeutungen über sie ein, Staatsführern wie Emmanuel Macron, Donald Trump und Joe Biden nachplappernd, die einhellig einen „Krieg gegen das Virus“ ausriefen. Als Angreifer präsentieren sie uns einen angeblichen „Killerkeim“ namens SARS-CoV-2, den die Menschheit in vereinter Anstrengung eindämmen müsse. Damit täuschten sie uns, und vielleicht sogar sich selber, von Anfang an über das Wesen dieses unerklärten Krieges. Der wahre Aggressor ist derjenige, der das Virus in feindseliger Absicht einsetzt. Nicht das Virus bedroht die Menschheit. Jemand tut es mit ihm. Nein, er missbraucht es wohl kaum als biologische Waffe. Sondern als propagandistische. Daran liegt es, dass dieser Weltkrieg kaum jemandem auffällt: Er wird völlig anders geführt als seine Vorgänger. Bisher ist kein einziger Schuss gefallen. Nirgendwo marschieren Soldaten, fliegen Raketen, feuern Kanonen, explodieren Bomben. Kein Grenzposten fiel, kein Quadratmeter zusätzliches Land wurde eingenommen. Denn die entscheidende Kriegswaffe ist unsichtbar. Trotzdem besitzt sie verheerende Durchschlagskraft. Ihre Reichweite übertrifft bei weitem jede Atombombe. Der Dritte Weltkrieg ist der erste, der vorrangig auf psychologischer Ebene stattfindet. Geführt wird er mit einer Waffe, die weitaus infektiöser als jede Mikrobe: mit dem Panikvirus. Übertragen wird dieser Keim hauptsächlich über Monitore mit Fernseh- oder Internetanschluss. Kritische Vernunft und Geschichtsunterricht könnten zwar für eine gewisse Herdenimmunität sorgen. Doch ohne regelmäßige Auffrischimpfungen mittels staatsbürgerlicher Aufklärung sinkt bei den meisten Menschen die Zahl der geistigen Antikörper bestürzend rasch, wie sich seit Anfang 2020 zeigt. Das Angriffsziel: die Grundwerte westlicher Demokratien Unter Dauerfeuer stehen in diesem unerklärten Krieg: westliche Demokratien, ihr Grundprinzip der Gewaltenteilung, die fundamentalen Menschenrechte auf Freiheit und Privatsphäre, der Traum von einer offenen Gesellschaft selbstbestimmter, gleichberechtigter, aufgeklärter Individuen, mit nicht mehr staatlicher Kontrolle als unbedingt nötig. Zu den Aggressoren zählt: die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), mit ihrem Generalsekretär Xi Jinping an der Spitze. Die Pandemie ist ihre Plandemie. Mit ihr verleitete sie den Rest der Welt zu einer nie dagewesenen, nie erprobten Seuchenschutzmaßnahme namens „Lockdown“, den sie ihrem eigenen Land weitgehend erspart. Wie alle genialen Ideen, so verblüfft auch die Lockdown-Kriegslist durch atemberaubende Schlichtheit. Man inszeniere eine höllische Gefahr, die man mit Schreckensbildern anschaulich macht: Infizierte fallen auf Gehsteigen reihenweise tot um, wie vom Blitz getroffen; Trupps in Schutzanzügen desinfizieren menschenleere Straßenzüge; auf überfüllten Intensivstationen schnappen Erstickende nach Luft, Särge stapeln sich bis zur Decke, Krematorien kommen mit dem Leichenverbrennen kaum noch nach. Sodann inszeniere man eine möglichst drakonische Vorgehensweise, die angebliche Seuche einzudämmen: Massenquarantänen von Kranken wie Gesunden, Ausgangssperren, Betriebs- und Schulschließungen. Weil man damit in der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft monströse Verwüstungen anrichtet, muss man es rasch wieder beenden. Und so behaupte man alsbald einen durchschlagenden Erfolg. Das ermutigt den Kriegsgegner, die vermeintlich siegreiche Methode nachzuahmen. Scheitert er damit, so allein deswegen, weil er Infektionsschutz à la Rotchina noch nicht konsequent genug umgesetzt hat. Also muss er ihre Anwendung fortsetzen und verschärfen. Und solange er das tut, schadet er sich weiterhin. Das ist psychologische Kriegsführung vom Allerfeinsten – im Geiste der anderthalb Jahrtausende alten „36 Strategeme“ des legendären Generals Tan Daoji, die im Reich der Mitte Allgemeingut, in Schulen Pflichtlektüre sind. Denn zwar trafen Chinas Kommunisten zuallererst das eigene Land, als sie ein Schreckgespenst namens Corona-Pandemie in Szene setzten. Sie trafen es aber bloß ein klitzekleines bisschen. Der Wirtschaft damit über einen längeren Zeitraum immens zu schaden, überließen sie anderen. Chinas Lockdown Anfang 2020 betraf letztlich nur eine von 22 Provinzen, nämlich Hubei; knapp 2 % der Staatsfläche; 4 % der Gesamtbevölkerung; und 14 von über 150 Millionenstädten, darunter Wuhan. Der überwiegende Rest der Welt hat sich hingegen zu landesweiten Quarantänen open end hinreißen lassen. Sie ziehen sich über viele Monate hin, während der Spuk in Wuhan nach elf Wochen vorbei war, in ganz Hubei nach acht – angeblich mit einem glorreichen „Zero-Covid“-Triumph. (1) Während sich, Xis Blaupause kopierend, vermeintlich gefestigte Demokratien wie Australien und Neuseeland in überdimensionale Corona-Konzentrationslager verwandelten, lacht man sich im Land des Lächelns insgeheim ins Fäustchen. Anstatt das verlogene Narrativ „China kontrolliert das Virus“ umgehend zu hinterfragen und bloßzustellen, überboten sich westliche Medien darin, es zu zementieren. Rund um den Globus legitimierten sie das alberne Märchen, dass die zweimonatige Abriegelung Wuhans die inländischen Fälle der gesamten Volksrepublik eliminierte, während sie sich überall außerhalb Chinas ausbreiteten. Und so begann die Welt „einen Virus aus China mit einer chinesischen Gesundheitspolitik zu bekämpfen, die die Welt in China verwandelt“, wie der amerikanische Anwalt Michael P. Senger treffend konstatiert. Der Lockdown wurde zu Chinas größtem Exportschlager seit der Erfindung von Papier und Schießpulver. Wer auf derartigen Irrwitz hereinfällt, verdient wahrlich das Prädikat „Covidiot“. Weil es davon unter westlichen Staatsführern offenbar wimmelt, konnte China seiner propagandistischen Linie treu bleiben. Auf jeden neuen sogenannten „Ausbruch“ – festgemacht nicht an massenhaften Erkrankungs- und Sterbefällen wohlgemerkt, sondern an positiv Getesteten – reagiert Peking alle paar Monate mit kaum steigerungsfähiger Brutalität. Jedesmal schießt es mit Kanonen auf Spatzen; eine Handvoll PCR-Positiver genügt für brutalste Maßnahmen. (Siehe KLARTEXT „Mit Kanonen auf Spatzen“.) Weiterhin geschieht dies allerdings nie landesweit für längere Zeit, sondern regional und zeitlich eng begrenzt. Und selbstverständlich liegen die Erfolgsquoten stets im Nu bei hundert Prozent, unmaskiert und distanzlos bejubelt beispielsweise von tausend Gästen bei einer Poolparty in Wuhan (2), von Hunderttausenden auf einem Oktoberfest in Qingdao. (3) Dem Rest der Welt winkt Xi dabei mit dem Zaunpfahl: Maximal wirksamer Infektionsschutz erfordert, mit der eigenen Bevölkerung ebenso menschenverachtend umzuspringen, wie Chinas Kommunisten von westlichen Moralisten seit jeher vorgehalten wird. Dabei taktiert Xi voll und ganz im Rahmen des Völkerrechts. Kriegslist anzuwenden, erlaubt das Genfer Abkommen vom August 1949 ausdrücklich – im Sinne von „Handlungen, die einen Gegner irreführen oder ihn zu unvorsichtigem Handeln veranlassen sollen. (…) Beispiele sind Tarnung, (…), Scheinoperationen und irreführende Informationen.“ (4) Womöglich war es der legendäre chinesische General Sunzi, von dem sich Xi dabei inspirieren ließ. „In allen Schlachten zu kämpfen und zu siegen, ist nicht die größte Leistung“, schrieb Sunzi rund 500 Jahre vor Christus in seinem Klassiker Die Kunst des Krieges. „Sondern sie besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.“ (5) Unter Militärstrategen gilt Sunzis Schrift bis heute als Standardwerk. Mao verehrte ihn, wie auch Xis Amtsvorgänger Hu Jintao. Hätte Chinas starker Mann zusätzlich Truppen in Marsch gesetzt und Raketen fliegen lassen, so sprächen Experten von „hybrider Kriegsführung“: einer Mischung aus regulären und unkonventionellen Operationen. Aber wozu Soldatenleben opfern und Material vergeuden, wenn sich strategische Ziele verdeckt mindestens ebensogut erreichen lassen? Was riskierte China dabei selbst? Nichts. Es mehren sich Anhaltspunkte dafür, dass SARS-CoV-2 in Wahrheit schon viel früher um sich griff, als der Weltöffentlichkeit weisgemacht wurde. In reanalysierten Blutproben, die Atemwegserkrankten in Norditalien im Herbst 2019 entnommen worden waren, fanden sich Antikörper gegen SARS-CoV-2, im Dezember 2019 auch in 7389 Blutspenden in Los Angeles sowie in 124 Nasen-/Rachenabstrichen von Patienten auf Pariser Intensivstationen. (6) Schon Monate vor dem offiziellen „Ausbruch“ in Wuhan tauchte das Virus in Abwässern von Mailand, Turin (7) und Barcelona auf. Spätestens Anfang Oktober 2019, so ergibt sich aus durchgesickerten amtlichen Dokumenten, nahmen chinesische Krankenhäuser erste Fälle von Patienten mit Covid-19-Symptomen auf. Kurz zuvor muss es in Wuhans Institut für Virologie zu einem schweren Unfall gekommen sein, worauf Satellitenbilder und Telekommunikationsdaten hindeuten. (8) Dort wurden Coronaviren, auch dank US-Forschungsgeldern, schon mindestens anderthalb Jahrzehnte lang intensiv erforscht und biotechnisch manipuliert. Wie sonst könnten ihre Spikes, ohne zuvor die geringste natürliche Evolution durchlaufen zu haben, an die ACE2-Rezeptoren menschlicher Zellen weitaus besser andocken als an die irgendeiner anderen Spezies, Fledermäuse eingeschlossen? Immer mehr Indizien deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 in Wuhans Hochsicherheitslabor reichlich Gain of Functions erhielt. (9) Dessen Virulenz dürfte eingehend erforscht worden sein: in Zellkulturen, im Tierversuch, vielleicht auch in Experimenten am Menschen. Unter diesen Umständen verfügte die chinesische Staatsführung bis Januar 2020 über einen gewaltigen Informationsvorsprung. Sie hielt ihn geheim, bis alle Kriegsvorbereitungen abgeschlossen waren. Wieso konnte sich Peking Zeit dafür lassen? Weil ein Erreger keineswegs überaus gefährlich sein muss, um sich für eine Plandemie zu eignen. Wie man ein solches Schmierenstück inszeniert, war ja schon zweimal, 2006 und 2009, bei der Vogel- und Schweinegrippe mit harmlosen Influenzaviren erfolgreich ausprobiert worden. Zudem lassen sich für benötigte Schreckensbilder und Videos jederzeit Kranke und Sterbende auftreiben. Es genügt, den Erreger mit einem speziellen Namen zu versehen, ein einprägsames, als Angst-Ikone geeignetes Bild von ihm - etwa eine Stachelkugel - in Umlauf zu bringen und ein Testverfahren zu etablieren, das ihn bei fast jedem ausfindig macht, der nicht bei drei auf dem Baum ist. Hierbei hatte sich der flinke PCR-Schneider Christian Drosten seit 2003, der ersten Sars-Welle, bei allen echten und vermeintlichen Pandemien des 21. Jahrhunderts schon glänzend bewährt – stets war Verlass darauf, dass er eine Fließbandproduktion von „Fällen“ sicherstellt. (10) Warum wohl erhielt ausgerechnet Drosten, als erster ausländischer Virologe, aus China schon Ende 2019 „vertrauliche“ Fingerzeige, etwas sei im Busch, und bekam Gensequenzen des neuen Erregers zugespielt, noch ehe sie in irgendeiner offiziellen Datenbank auftauchten? War SARS-CoV-2 schon im gesamten vierten Quartal 2020 unterwegs, so müsste es – ausgehend von der anfänglichen Reproduktionsrate, ohne jegliche Eindämmungsmaßnahmen – bis Anfang 2020 bereits einen Großteil der Volksrepublik durchseucht haben. Trotzdem begannen sich ab Oktober 2020 keineswegs Chinas Intensivstationen und Leichenhallen im Übermaß zu füllen. Andernfalls hätte nicht einmal Pekings orwellianisches Zensurmonster verhindern können, dass nach außen drang, wie schrecklich allerorts ein neuer Krankmacher wütet. Und so konnte sich die KPCh schon mindestens ein Vierteljahr vor dem offiziellen Pandemiebeginn sicher sein: Dieses Virus ist zwar hochansteckend, aber verhältnismäßig harmlos, nicht erheblich tödlicher als eine Influenza. Ihm erliegen überwiegend Alte, Vorerkrankte, Immunschwache, im allgemeinen vollauf im Rahmen ihrer statistischen Lebenserwartung. Unter diesen Umständen musste sich Xi nicht zwingend veranlasst sehen, schon im Herbst 2019 Infektionsschutz anzuordnen. Stattdessen konnte er der Seuche einfach ihren natürlichen Lauf lassen. Unterdessen hatte er reichlich Muße zum Pläneschmieden. Wie lässt sich dieses ausbreitungsfreudige Coronavirus optimal zu Chinas Vorteil nutzen? Eine entscheidende Voraussetzung dafür hatte die Weltgesundheitsorganisation ab Frühjahr 2009 geschaffen: Schritt für Schritt verwässerte sie den Begriff der Pandemie. Hatte er zuvor eine Vielzahl von schwer Erkrankten und Toten eingeschlossen, so genügte fortan eine interkontinentale Welle von Infektionen. Somit wusste Xi: Sobald Peking den SARS-CoV-2-Ausbruch meldet, würde die WHO Pandemie-Alarm schlagen, erst recht unter einem kooperativen Generalsekretär wie dem Marxisten und Mao-Verehrer Tedros Ghebreyesus, der nie auf seinem Chefsessel säße, wenn China ihn nicht im Mai 2017 dorthinprotegiert hätte. Wie die WHO-Mitgliedsstaaten auf einen solchen Alarm hin reagieren müssen, war längst in vielerlei Aktionsplänen festgeschrieben, chinesische Vertreter hatten sie mitverfasst. Von der harten Hand eines totalitären Ansatzes zeugt die im September 2019 erschienene Schrift World At Risk des 14-köpfigen Global Preparedness Monitoring Board (GPMB) der WHO. Eine glänzende Gelegenheit, sich der Reaktionsbereitschaft des Kriegsgegners zu vergewissern, bot China das berüchtigte „Event 201“, zu dem die Gates-Foundation und das Weltwirtschaftsforum am 18. Oktober 2019 nach New York eingeladen hatten. Mit am Tisch saß der Chef der chinesischen Seuchenschutzbehörde, der Virologe George Fu Gao, übrigens auch GPMB-Mitglied. Zumindest für ihn war diese Runde in der Johns-Hopkins-University weit mehr als ein bloßes Gedankenspiel – er wusste bereits, dass es um eine Realität kreiste. Nach Peking konnte Gao anschließend im Detail berichten, was die westliche Welt tun würde, sobald China offiziell einen „Ausbruch“ verkündete. Zugleich bot sich ihm dort die Gelegenheit, für einen „chinesischen Weg“ der Seuchenbekämpfung zu werben. Wie Mitschnitte der „Event 201“-Sessions dokumentieren, erntete Gao dabei in der Runde keinerlei Widerspruch, sondern reichlich Verständnis und Zustimmung. Diesen Weltkrieg hat Xi bereits gewonnen Der Ausgang des Dritten Weltkriegs steht bereits fest. So sieht es jedenfalls ein führender chinesischer Wissenschaftler mit engen Verbindungen zur Staatsführung. Sein Land habe die USA „bezwungen“, so triumphierte Chen Ping, Professor für Ökonomie an der Universität Peking und Senior Researcher am China Institute der Fudan-Universität, einer parteinahen Denkfabrik, im Mai 2021 in einem Twitter-Video. Im Jahr 2020 habe es „den Handelskrieg, den Wissenschafts- und Technologiekrieg und vor allem den biologischen Krieg gewonnen", so verkündete er sichtlich stolz. Damit habe es Amerika „wieder in seine Schranken verwiesen“. Dieser Erfolg sei " beispiellos, ein epochaler historischer Rekord", fuhr Chen fort. Deshalb sei „das Entwicklungs- und Modernisierungsmodell der USA und Europas nicht würdig, von China nachgeahmt und wiederholt zu werden", fügte er hinzu. "Für den liberalen Kult innerhalb Chinas ist seine Anbetung der USA also eigentlich unbegründet." Denn "das westliche Modell ist gescheitert“, so Chen Ping, „seine 500-jährige Zivilisation ist dem Untergang geweiht, die Kommunistische Partei Chinas hat gewonnen. Sie wird den Weg der Modernisierung in der neuen Ära nach der biologischen Revolution der Pandemie 2020 anführen." Puppentänze an den Fäden eines Gewaltherrschers Um zu durchschauen, welche Kriegsziele Peking verfolgt, bedurfte es nicht erst Chen Pings Twitter-Auftritt. Interne Reden und Strategiepapiere von chinesischen Spitzenfunktionären verdeutlichen sie seit langem, aus Xis Amtszeit, aber auch schon davor: China will die globale Führungsmacht Nummer Eins werden. Legitimität und Autorität der Kommunistischen Partei müssen dabei absolut unantastbar sein, weltweit ebenso wie schon längst im Inneren. Also muss jegliche Kritik an ihr verstummen. Dazu genügt es nicht, jeden auszuschalten, der sie vorzubringen wagt. Es müssen die Ideale ganz und gar diskreditiert werden, auf die sich solche Kritik beruft. Der Rest der Welt muss begreifen: Die Zukunft gehört dem Sozialismus rotchinesischer Prägung. Die drängenden Menschheitsprobleme löst er am besten. Eine Pandemie ermöglicht ihm, dies eindrucksvoll unter Beweis zu stellen. Warum künftig nicht auch beim Klimaschutz, gegen Bevölkerungsexplosion und Massenmigration, Welthunger und Armut? „China gewinnt im Systemvergleich“, ließ die Frankfurter Allgemeine zwei sinophile Professoren texten. 8000 Kilometer weiter östlich liest man so etwas gerne: Um ein böses Virus vollständig auszurotten, muss man Xi-Faschismus prima finden. An jedem Tag, an dem eine Merkel, ein Macron, ein Draghi, ein Biden Xis Lockdown-Keule schwingen, vollführen sie im Grunde Marionettentänze an den Fäden eines autokratischen Gewaltherrschers mit unanständig grenzenloser Machtfülle. Die Verfassung, auf die sie ihren Amtseid geleistet haben, zählt dabei nicht mehr. Sie kopieren ein Terrorregime, das jede noch so zaghafte freiheitliche Regung gnadenlos im Keim erstickt, sein Volk totalüberwacht und mit einem Sozialpunktesystem auf Linie bringt, abweichende Meinungen umfassend zensiert, Kritiker einschüchtert, drangsaliert, wegsperrt oder gleich auf Nimmerwiedersehen verschwinden lässt, religiöse und ethnische Minderheiten unterdrückt und umerzieht, weil sie „mit dem Virus des Extremismus infiziert“ sind. „Mr. Global“: Chinas mächtigster Verbündeter Bei seinem unerklärten Weltkrieg kann Rotchinas Zuìgāo Lǐngdǎorén, sein „Überragender Führer“, auf einen nicht minder mächtigen Verbündeten zählen – nennen wir ihn „Mr. Global“. (Diesen Spitznamen verpasste die US-Investmentbankerin Catherine Austin Fitts, eine frühere Staatssekretärin unter US-Präsident George Bush senior, „dem Komitee, das die Welt regiert“.) Der Name steht für westliche Eliten, denen Chinas Krieg vortrefflich in die Karten spielt: multinationale Konzerne aus dem Pharma-, Tech- und Finanzsektor sowie milliardenschwere Pseudo-Philanthropen und Weltverbesserer, von den geistigen Erben des 2017 verstorbenen David Rockefeller über den Medienmogul Ted Turner, den Spritzenfetischisten Bill Gates und den Finanzinvestor George Soros bis hin zum transhuman gestimmten Gründer des Weltwirtschaftsforums, den greisen Klaus Schwab. Aus seinen Sympathien für das chinesische Modell macht Mr. Global keinen Hehl. Seit langem pflegt er freundschaftliche Beziehungen mit Chinas Machthabern, versichert sie seiner Wertschätzung. Gates besuchte China seit den 1990ern über ein Dutzend Mal. Gates-Freund David Rockefeller feierte „das „soziale Experiment in China unter der Führung des Vorsitzenden Mao“ – das größenwahnsinnigen Projekt des „Großen Sprungs“ und der „Kulturrevolution“, das mindestens 45 Millionen Menschenleben kostete – als „eines der bedeutendsten und erfolgreichsten der Geschichte“. (11) WWF-Boss Schwab pries China Ende 2020 dafür, dass es „im Kampf gegen die Pandemie die Welt geführt“ habe. Mr. Global lobt die Effizienz von Chinas Kommunisten, macht frei von moralischen Skrupeln glänzende Geschäfte mit ihnen, öffnet ihnen Türen zu Entscheidungsgremien. Die Profite der Zukunft, so glaubt Mr. Global, sichert eine nach chinesischer Blaupause umgebaute und zentralisierte Weltordnung weitaus besser als jene amerikanisch dominierte, demokratischen Idealen verpflichtete vor 2020. Je stärker eine Bevölkerung überwacht, kontrolliert, zensiert und für abweichendes Verhalten sanktioniert werden kann, desto weniger gefährdet sie Unternehmensprofite, begrenzt sie Reichtum, Macht und Privilegien von Eliten. Wie Strategiepapiere, Planspiele und Sitzungsprotokolle aus den vergangenen zwei Jahrzehnten vor Augen führen, betrachtet Mr. Global seit langem eine Pandemie als perfekten Türöffner, um den angestrebten Umbau, einen „Great Reset“, einzuleiten. SARS-CoV-2 bietet eine historische Gelegenheit, auf die er bestens vorbereitet war. Nun packt er sie beim Schopf. Ob es strategische Absprachen zwischen den beiden Kriegstreibern gab, weiß niemand. Sie wären aber auch gar nicht nötig. Es genügt Interessenkonvergenz. Beiden nützen eine alarmistische Weltgesundheitsorganisation, das routinemäßige Lügen mit Zahlen im allgegenwärtigen Dashboard von Johns Hopkins, die apokalyptischen Prognosen des Imperial College und ein bis heute unvalidierter Drosten-PCR-Test, der eine Hyperinflation von „Fällen“ produziert. Worauf Mr. Global aus ist und wie er dazu vorzugehen gedenkt, weiß China seit langem. Wann immer er seit der Jahrtausendwende entsprechende Gedankenspiele anstellte, saßen Vertre