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  • Dr. Harald Wiesendanger

Das Märchen vom bösen Salz

Aktualisiert: 8. Nov. 2022

Natriumarm essen: Gesundheitsbewussten kommt das selbstverständlich vor. Denn hoher täglicher Salzkonsum, so heißt es, erhöhe das Risiko für Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfall. Entsprechend strikt beraten Ärzte, entsprechend fad müssen sich Insassen von Krankenhäusern, Altenheimen, Pflegeeinrichtungen bekochen lassen. Dabei ist es viel leichter, zuwenig Salz zu sich zu nehmen als zuviel. Im übrigen: Salz ist nicht gleich Salz - die Qualität entscheidet.



„Erst Salz, dann Sense“: So martialisch betitelte eine Ärztin kürzlich einen Beitrag im Infoportal doccheck – so als sei der Salzstreuer ein bevorzugtes Tatwerkzeug von Gevatter Tod. Schließlich sei ja „bekannt, dass ein zu hoher täglicher Salzkonsum ein erheblicher Risikofaktor für Bluthochdruck ist und damit auch für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere Schlafanfall“.


Die Bangemache der Heidelberger Allgemeinmedizinerin folgt gängiger Lehrmeinung. Diese entsprang unkontrollierten Fallberichten aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Schier unausrottbar hält sie sich seither. In der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), täglich höchstens 6 Gramm Salz zu sich zu nehmen, spiegelt sie sich ebenso wie in der Obergrenze von 5 Gramm, für die sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausspricht.


Dabei gibt die Studienlage längst Anlass, das schier unverrückbare Dogma zu hinterfragen. So ergab im Jahr 2018 eine systematische Übersicht über neun Studien, dass es keine handfesten, hochwertigen Belege gibt, die eindeutig für eine natriumarme Ernährung sprechen.


Lehrbuchweisheit widerlegt – die SODIUM-HF-Studie


Im April 2022 wurden die Ergebnisse der großangelegten SODIUM-HF-Studie publik. (1) An ihr beteiligt waren 806 erwachsene Patienten an 26 Standorten in sechs Ländern. Im Schnitt 66 Jahre alt, litten sie an chronischer Herzinsuffizienz im Stadium II bis III gemäß Einteilung der New York Heart Association (NYHA), d.h. mit leichten bis starken Einschränkungen der Belastbarkeit, aber noch mit Beschwerdefreiheit in Ruhe. Medikamentös waren sie allesamt leitlinienkonform versorgt.


Aus diesen Probanden wurden zwei gleich große Gruppen gebildet: Die eine erhielt bloß allgemeine Ratschläge zur Natriumzufuhr in der Ernährung; die andere sollte eine strikt natriumarme Diät von höchstens 1500 mg täglich einhalten.


Sechs Jahre lang beobachteten Kardiologen, wie sich diese Vorgaben gesundheitlich auswirkten.


Im ersten Jahr nach Studienbeginn sank in der Diätgruppe die durchschnittliche Natriumaufnahme von 2.286 mg pro Tag auf 1.658 mg, in der Kontrollgruppe von 2.119 auf 2.073 mg.


Wie wirkte sich diese Differenz bis zum Ende des sechsjährigen Beobachtungszeitraums aus? Bis dahin mussten sich 15 % der natriumarmen Gruppe und 17 % der Kontrollgruppe kardiovaskulär bedingt ins Krankenhaus einweisen lassen, suchten deswegen die Notaufnahme auf oder verstarben - ein Unterschied in puncto Inzidenz, der statistisch bedeutungslos war. Erstaunlicherweise lag die Gesamtsterblichkeit in der Diätgruppe mit 6 % sogar leicht höher als in der Kontrollgruppe mit 4 %.


Und so schlossen die Autoren kurz und bündig: „Bei ambulanten Patienten mit Herzinsuffizienz führte eine diätetische Intervention, um die Natriumaufnahme zu reduzieren, nicht zu einer Verringerung der klinischen Ereignisse."


Ein Manko der Studie könnte die Ergebnisse verfälscht haben: der Umstand, dass auch die Kontrollgruppe keine besonders hohen Salzmengen zu sich nahm. In dieser Hinsicht unterschieden sich die beiden Gruppen nur um 415 mg pro Tag. Ein erwachsener Deutscher konsumiert im Schnitt 8 bis 10 Gramm Salz pro Tag, ein US-Amerikaner 9,6 Gramm, so dass die Kontrollgruppe nicht wirklich eine Bevölkerung repräsentiert, die einem typisch westlichen (Fehl-)Ernährungsstil frönt.


Ein weiterer Kritikpunkt lautet: Die einbezogenen Patienten könnten nicht krank genug gewesen sein, um von einer natriumarmen Ernährung zu profitieren. Womöglich hätte sich ein Nutzen ergeben, wenn auch Patienten mit schwerster Herzinsuffizienz – im Stadium IV – teilgenommen hätten.


Diese Unzulänglichkeiten entwerten die Ergebnisse aber keineswegs. In seiner Analyse für das Infoportal Medscape stellt der Elektrophysiologe Dr. John Mandrola fest: "SODIUM-HF ist (…) hat gezeigt, dass bei einer typischen Herzinsuffizienz-Kohorte die Empfehlung einer strengeren natriumarmen Diät im Vergleich zu allgemeinen Ratschlägen keinen Unterschied bei den Behandlungsergebnissen ausmacht ... Mein Fazit ist, dass wir keine Zeit und Energie darauf verwenden müssen, die Patienten zu einer extrem natriumarmen Ernährung zu bewegen."


Ein größeres Problem: Salzmangel


In Wahrheit ist es ziemlich schwierig, sich schädliche Mengen an Natrium einzuverleiben – jedoch leicht, zuwenig davon zu sich zu nehmen. Zu den Erstsymptomen eines Natriummangels zählen allgemeine Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Kopf- und Muskelschmerzen oder Verwirrtheitszustände.


Als Elektrolyt - eine Substanz, die Elektrizität leitet - trägt Natrium dazu bei, die Wassermenge in und um die Zellen zu regulieren, wie auch den Blutdruck. Wessen Salzgehalt zu niedrig ist, der kann chronisch dehydriert werden. Als kritisch gelten Natriumwerte unter 115 nmol/l. Dann kommt es zu einer verstärkten Wasserverschiebung ins Zellinnere, mit Funktionsstörungen verschiedener Organe – etwa einer Nierenschwäche – und der Gefahr einer Hirnschwellung, die zu Bewusstseinsstörungen bis hin zu Krämpfen und Koma führt. Ein Natriumwert von unter 110 mmol/l, der nicht schleunigst behoben wird, kann tödlich enden.


Dass zuwenig Salz das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöht, belegte im Jahr 2014 die PURE-Studie mit rund 102.000 Teilnehmern aus 19 Ländern. Weitere Untersuchungen (2) bestätigten sie. Thomas Lüscher, Leiter des Zentrums für Molekulare Kardiologie an der Uniklinik Zürich, sieht den Grund darin, dass der Organismus bei sehr niedrigem Salzkonsum Hormone ausschüttet, die den Blutdruck hochtreiben. "Das ist ähnlich wie mit dem Blutzucker bei Diabetikern", erklärt er, "zuviel ist gefährlich, zuwenig aber auch." (3)


Viele Patienten mit Bluthochdruck bekommen Diuretika verschrieben: harntreibende Mittel, welche die Situation noch verschlimmern.


Auch den Kaffeekonsum berücksichtigen Empfehlungen eines niedrigen Salzgehalts nur selten - obwohl Kaffeetrinken die Salzspeicher schnell leert. Wer vier Tassen Kaffee an einem Tag trinkt, kann innerhalb von vier Stunden leicht mehr als 1 Teelöffel Salz mit dem Urin ausscheiden. Dennoch legen ihm Ärzte ans Herz, höchstens 1 Teelöffel Salz pro Tag zu sich zu nehmen. Das entspricht ungefähr 2.300 mg Natrium. Wer sich als Kaffeetrinker an diesen Ratschlag hält, kann innerhalb weniger Tage einen erheblichen Natriummangel erleiden, da sein Körper große Mengen an Salz verliert.


Noch gefährdeter ist der Kaffeetrinker, wenn er intensiv Sport betreibt, regelmäßig die Sauna besucht oder körperlich anstrengende Tätigkeiten erledigt. Denn auch mit dem Schweiß scheidet sein Körper Natrium aus: 700 bis 2000 mg pro Liter. Wer also viel schwitzt, wird möglicherweise mehr Salz los, als er sich bei einer salzarmen Diät wieder zuführt.


Einst lag die Salzzufuhr zehn Mal höher


Auch historisch und interkulturell betrachtet ist die allgemeine Empfehlung, die Salzzufuhr einzuschränken, nicht sonderlich sinnvoll, wie der Kardiologe James DiNicolantonio in einem lesenswerten Buch darlegt. (4) Frühere Generationen haben zehn Mal mehr Salz konsumiert als wir Heutigen – denn jahrhundertelang diente es zur Konservierung von Lebensmitteln. Schätzungen zufolge verspeiste ein Schwede im 16. Jahrhundert durchschnittlich 100 Gramm Salz pro Tag.


Wieso wundern sich bis heute so wenige Ärzte darüber, dass gehäufte Auftreten von Bluthochdruck im frühen 20. Jahrhundert mit einem deutlichen Rückgang des Salzkonsums einherging – dadurch bedingt, dass die Kühlung die Salzkonservierung ersetzte?


Chinesen und Japaner, deren Lebenserwartung zu den stattlichsten der Welt gehört, konsumieren zugleich die höchsten Salzmengen: im Schnitt 13,4 bzw. 11,7 Gramm pro Tag.


Die fixe Idee, die Salzaufnahme korreliere mit dem Blutdruck, gewann durch die 1999 veröffentlichte DASH-Studie (Dietary Approaches to Stop Hypertension) an Popularität. (5) Eine geringere Salzaufnahme war tatsächlich einer der Ernährungsansätze, die hierbei verfolgt werden, aber keineswegs der einzige. Die DASH-Diät schränkt auch den Konsum von zuckerhaltigen und verarbeiteten Lebensmitteln ein, die den Blutdruck weitaus stärker beeinflussen können als Salz.


Am meisten Salz, 75 bis 90 %, nimmt der westliche Durchschnittsesser aus verarbeiteten Lebensmitteln auf: etwa aus Fertiggerichten wie Pizza und Pommes, Instantsuppen, Brot und Brötchen, Knabbergebäck, Fleisch und Wurstwaren. Eine derart einseitige Ernährung fördert Übergewicht – und dies ist der hauptverantwortliche Faktor bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.


Salzverzicht kann mehr schaden als nützen


Laut DiNicolantonio kann unser Blutdruck tatsächlich sinken, wenn wir unseren Salzkonsum reduzieren. Leider verschlechtert sich dabei das Verhältnis von Gesamtcholesterin zum „guten“, schützenden High-Density-Lipoprotein (HDL), das ein viel zuverlässigerer Prädiktor für Herzkrankheiten ist als das „böse“, Gefäßwände schädigende Low-Density-Lipoprotein (LDL). Auch Triglycerid- und Insulinspiegel sind erhöht. Somit steigt das Risiko für Herzkrankheiten eher, als dass es sinkt, auch wenn die Blutdruckwerte besser erscheinen.


Schlimmer noch: Salzmangel erhöht auch das Risiko, eine Insulinresistenz zu entwickeln, da der Körper Salz unter anderem durch einen Anstieg des Insulinspiegels konserviert. Ein höherer Insulinspiegel hilft den Nieren, mehr Salz zurückzuhalten.


Insulinresistenz wiederum ist ein Merkmal nicht nur von Herzkrankheiten, sondern der meisten chronischen Erkrankungen.


Da also der Ratschlag, sich salzarm zu ernähren, das gesamte Krankheitsbild nicht berücksichtigt, kann er am Ende mehr schaden als nützen.


Unser Salzstatus wirkt sich auch unmittelbar auf unseren Magnesium- und Kalziumspiegel aus. Wenn wir nicht genügend Salz zu uns nehmen, so beginnt unser Körper nicht nur, Natrium aus den Knochen zu ziehen - er entzieht den Knochen auch Magnesium und Kalzium, um einen normalen Natriumspiegel aufrechtzuerhalten. Zum selben Zweck verringert er die über den Schweiß verlorene Natriummenge und scheidet stattdessen Magnesium und Kalzium aus. Außerdem erhöht ein niedriger Natriumspiegel das Aldosteron, ein natriumbindendes Hormon, das ebenfalls Magnesium reduziert, indem es dafür sorgt, dass das lebenswichtige Mineral über den Urin ausgeschieden wird.


Eine rigoros natriumarme Ernährung zählt demnach zum Übelsten, was wir unserer Gesundheit antun können - insbesondere dem Zustand unserer Knochen und unseres Herzens.


Hören wir besser auf unseren Körper als auf fragwürdige Experten


Kurzum: Es gibt keinen schwerwiegenden Grund, sich über zu viel Salz in der Ernährung Sorgen zu machen. Wie eine Studie aus dem Jahr 2017 bestätigt hat (6), behält ein gesunder Körper stets ein relativ konstantes Natriumgleichgewicht bei , erstaunlich unabhängig davon, wie viel er aufnimmt; einen Überschuss scheidet er einfach über die Nieren aus. Laut DiNicolantonio kann eine Person mit intakten Nieren mindestens 86 Gramm Salz pro Tag zu sich nehmen.


Außerdem verfügt unser Organismus über einen eingebauten "Salzthermostaten", der uns die benötigte Menge anzeigt, indem er unser Verlangen nach Salzigem reguliert. Wer zuviel Salz zu sich genommen hat, wird durstig und trinkt Wasser; dabei verdünnt er sein Blut ausreichend, um die richtige Natriumkonzentration aufrechtzuerhalten. Lernen wir also, auf unseren Körper zu hören. Und denken wir daran, dass wir bei starkem Schwitzen und reichlich Kaffeegenuss automatisch mehr Salz benötigen als sonst.


Manche Erkrankungen können den Natriumverlust erhöhen - oder verhindern, dass der Körper das Salz gut aufnimmt. Dazu zählen entzündliche Darmerkrankungen, Schlafapnoe, Nebennierenschwäche, Nierenerkrankungen, Hypothyreose und Zöliakie. Wer unter einer dieser Krankheiten leidet, benötigt möglicherweise etwas mehr Salz bei seiner Ernährung, um dies auszugleichen.


Auch gibt es einige salzempfindliche Bevölkerungsgruppen, die ihre Salzaufnahme auf 2.300 mg pro Tag beschränken müssen. Dazu gehören Menschen mit endokrinen Störungen, hohem Aldosteronspiegel, dem Cushing-Syndrom, erhöhtem Cortisol sowie dem Liddle-Syndrom, einer seltenen Erkrankung, von der einer von 1 Million Menschen betroffen ist; bei ihr wird zuviel Salz zurückhalten.


Viel wichtiger: das Natrium-Kalium-Verhältnis


Während Salz als Ursache für Bluthochdruck und Herzkrankheiten weiterhin verteufelt wird, zeigen Forschungsergebnisse: Der wahre Schlüssel zur Normalisierung des Blutdrucks ist das Verhältnis von Natrium und Kalium - und nicht die Natriumzufuhr allein. (7)


Wie Salz, so ist auch Kalium ein Elektrolyt. Doch während sich das Kalium größtenteils in den Zellen befindet, schwimmt das Natrium überwiegend außerhalb. Kalium sorgt dafür, dass sich unsere Arterienwände entspannen, unsere Muskeln nicht verkrampfen und unser Blutdruck sinkt. (8)


Als Faustregel gilt: Wir sollten fünf Mal mehr Kalium als Natrium zu uns nehmen. Wer eine westliche Standardernährung mit verarbeiteten Lebensmitteln bevorzugt, der verleibt sich wahrscheinlich doppelt so viel Natrium wie Kalium ein.


Wie fatal sich eine solche Fehlernährung auswirken kann, führen Forschungsergebnisse vor Augen, auf welche die eingangs zitierte doccheck-Autorin ihren Sensenhorror stützt. Sie verweist auf eine Anfang August 2022 im European Heart Journal veröffentlichte Studie, in die Gesundheitsdaten von 501.379 Personen eingingen. Zu Beginn gaben die Probanden unter anderem an,ob und wie häufig sie fertige Speisen bei Tisch nachsalzen – ein ungefähres Maß dafür, wie groß die individuelle Vorliebe für salzig schmeckende Lebensmittel und die gewöhnliche Salzzufuhr ist. Mehr als die Hälfte, 277.931, gan zu Protokoll, nie oder nur sehr selten nachzusalzen; weitere 140.618 Personen taten dies nach eigenen Angaben „manchmal“, 58.399 „für gewöhnlich“, 24.431 „immer“.


Am Ende des neunjährigen Studienzeitraums war es unter den Teilnehmern zu 18.474 Todesfällen gekommen. Bei gelegentlichen Nachsalzern ergab sich eine mäßig über dem Durchschnitt liegende Mortalität, bei ständigen ein um enorme 28 % erhöhtes Sterberisiko.


Ein entscheidender Aspekt dieser Studie: Der regelmäßige Verzehr von Obst und Gemüse machte den signifikanten statistischen Zusammenhang zwischen Nachsalzen und Mortalität zunichte. Wieso? Weil Obst und Gemüse reichlich Kalium liefern. (Besonders ergiebig sind Bananen und Aprikosen, wie auch Karotten, Avovcado, Tomaten, Kohlrabi, Kartoffeln, Rosenkohl, Paprika, Champignons. Auch Nüsse, Zartbitterschokolade und bestimmte Mehlsorten punkten als Kaliumlieferanten.) Daraus folgt: Der ausgiebige Griff zum Salzstreuer schadet in erster Linie jenen, die keinen Wert auf gesunde, vollwertige Ernährung legen.


Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich jegliche Obergrenze für die tägliche Salzaufnahme erübrigt. Irgendwann ist viel zuviel. Die INTERMAP-Studie (9) von 2018, die 4680 Männer und Frauen zwischen 40 und 59 Jahren aus China, Japan, Großbritannien und den USA einbezog, kam zu dem Ergebnis, dass nicht einmal eine gesunde Ernährung mit viel Obst und Gemüse den schädlichen blutdruckerhöhenden Effekt allzu eifrigen Salzkonsums kompensieren kann. Auch gibt es Hinweise, dass zuviel Salz Entzündungen und Autoimmunerkrankungen fördert, indem es der Darmflora schadet. Schon nach zwei Wochen mit täglich 12 Gramm Salz waren in der Darmflora von Studienteilnehmern keine Laktobakterien mehr auffindbar.


Von einer vagen Assoziation bis zu einem eindeutigen ursächlichen Zusammenhang ist es freilich ein weiter Weg. Bis dahin sollten sich Ärzte davor hüten, die grundsätzlich winzigen Effekte einzelner Nahrungsbestandteile auf unsere Gesundheit überzuinterpretieren und zu Mythen aufzublasen.


Wie stets im Leben gilt es, auch beim Salz einen Mittelweg zu finden: zwischen Verteufelung und Exzess. Dabei helfen kann es, sich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, die moderner, vermeintlich wissenschaftlich felsenfest abgesegneter Ernährungsforschung seit eh und je anhaftet. Welche Essensvorliebe hat sie nicht schon als ungesund, ja lebensbedrohlich entlarvt? Wie oft hat sie unsinnigen, oft sogar kontraproduktiven Verzicht auf guten Geschmack gepredigt? Zumeist bloß für begrenzte Zeit – bis sich irgendwann zeigte, dass zum Beispiel Eier keineswegs den Cholesterinspiegel bedenklich ankurbeln und damit Arterienverkalkung und Herz-Kreislauferkrankungen hervorrufen; dass vegane Ernährung nicht zwangsläufig Mangelernährung ist; dass Fett nicht fett machen muss; dass weder fünf Mahlzeiten ideal noch Süßstoffe eine gute Alternative zu Zucker sind. Viele Ratschläge zur „richtigen“ Ernährungsweise „fallen unter die Rubrik Religionsfreiheit“, meint Prof. Volker Schusdziara von der TU München. „Das sind Glaubensbekenntnisse, die jeder haben darf. Aber sie sind nicht medizinisch und naturwissenschaftlich untermauert."


Leider verhält es sich mit Askese-Geboten so ähnlich wie mit Gerüchten und genetisch modifizierten Organismen: Einmal in die Welt gesetzt, sind sie kaum leichter wieder einzufangen als Aladdins Geist aus der Flasche.


Im Streit ums Salz herrscht auf beiden Seiten ein Tunnelblick vor. Man dürfe sich nicht bloß auf dieses eine Gesundheitsdetail konzentrieren, mahnt Joachim Hoyer, Nephrologe an der Uni-Klinik Marburg. "Viel besser belegt ist, dass Übergewicht, Rauchen oder zu wenig körperliche Bewegung das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen. Statt sich mühsam das Salzen zu verkneifen, sollte man sich vielleicht lieber öfter an der frischen Luft bewegen." (10)



Salz ist nicht gleich Salz


Im übrigen: Salz ist nicht gleich Salz - die Qualität entscheidet. Um seine physiologischen Vorzüge zu nutzen, sollten wir darauf achten, dass es nicht raffiniert und möglichst wenig verarbeitet ist. Das spricht beispielsweise für das rosagetönte Himalaya-Salz; es ist reich an natürlich vorkommenden Spurenelementen, die für gesunde Knochen, den Flüssigkeitshaushalt und die allgemeine Gesundheit benötigt werden. Eine weitere gute Wahl sind andere rohe Steinsalze, naturbelassene Meersalze, Kristallsalze oder das erlesene Fleur de Sel.


Von billigem, industriell hergestelltem Kochsalz hingegen sollten wir aus mehreren Gründen die Finger lassen. Zunächst einmal enthält natürliches Salz in der Regel, neben 84 % Natriumchlorid, auch 16 % natürlich vorkommende Mineralstoffe wie Kalium und Magnesium sowie Spurenelemente, darunter Selen, Zink, Silizium, Phosphor und Vanadium. Verarbeitetes Speisesalz hingegen besteht zu über 97 % aus Natriumchlorid; den Rest bilden künstlich hergestellte Chemikalien wie Feuchtigkeitsabsorber und Rieselhilfen. In Kochsalz für Wurstwaren steckt darüber hinaus krebsförderndes Natriumnitrit. Auch eine geringe Menge Jod kann zugesetzt sein – obwohl wir unseren Bedarf an diesem Spurenelement auf gesündere Weise anderweitig decken könnten. Zudem ist rund 90 % des Speisesalzes mit Mikroplastik verunreinigt. Hinzu kommt, dass die industrielle Verarbeitung auch die chemische Struktur des Salzes radikal verändert.


Langen Textes kurzer Sinn: Für eine optimale Gesundheit benötigen wir unbedingt Salz - aber nicht jedes. Was unser Körper braucht, ist natürliches, unverarbeitetes Salz, ohne Zusatz von Chemikalien oder Plastik.


Bis der Sensenmann auch den letzten Salzverzichtsdogmatiker heimgesucht hat, dürfte es allerdings noch ein Weilchen dauern.


(Harald Wiesendanger)


Anmerkungen

(1) Justin A. Ezekovitz u.a..: Reduction of dietary sodium to less than 100 mmol in heart failure (SODIUM-HF): an international, open-label, randomised, controlled trial. Lancet, 2.4.2022. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)00359-5)

(5) Cardiology Review September-October 1999; 7(5): 284-288, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11208239/. Weitere Studien, die für eine Reduzierung der Salzzufuhr zur Vorbeugung von Bluthochdruck zu sprechen scheinen, werden hier zusammengefasst.


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