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  • Dr. Harald Wiesendanger

Spinnen die Engländer?

Aktualisiert: 25. Aug. 2021

Seit in England am 19. Juli 2021 so gut wie alle staatlichen Corona-Maßnahmen schlagartig fielen, ist es seltsam still geworden um eines der strengsten Infektionsschutzregimes des ersten Pandemiejahres. Wie steht es inzwischen um die Volksgesundheit im Vereinigten Königreich? Muss es den mutmaßlichen Leichtsinn des „Freedom Day“ bitter büßen?



Seltsam: Aus der globalen Medienlandschaft ist die britische Insel neuerdings geradezu spurlos verschwunden, so als hätte die Nordsee sie verschlungen. Während ihre Seuchenstatistik noch bis vor kurzem in Endlosschleife hochwillkommenes Futter fürs globale Grusel-TV lieferte, gehen Mainstream-Medien neuerdings seltsam einmütig über sie hinweg. Geräuschlos beerdigt man sie im Massengrab politisch unkorrekter Fakten.


Wann der Untergang des zweiten Atlantis einsetzte, lässt sich exakt datieren. Es war der 19. Juli 2021, der „Freedom Day“. „Wann, wenn nicht jetzt?“, hatte Premier Boris Johnson bei einer virtuellen Pressekonferenz gefragt.


Eigenverantwortung statt Vorschriften – so lautete fortan die Devise. Das Maskentragen ist nun so gut wie überall in England freiwillig, ebenso das Abstandhalten. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Clubs oder private Partys. Auch Theater und Kinos dürfen ihre Säle voll besetzen. Das gilt zumindest in England; Schottland, Wales und Nordirland zögern noch, sie entscheiden eigenständig, wie sie mit der Pandemie umgehen.


Von steigenden Inzidenzen, wie auch von Horrorprognosen explodierender Fallzahlen, ließ sich Johnson verblüffenderweise nicht mehr beirren, ganz anders als noch bis vor wenigen Monaten. Dass Lockdown-Fetischisten erwartungsgemäß einen Shitstorm über ihn hereinbrechen lassen würden, nahm er diesmal ziemlich gelassen in Kauf. Offenbar dämmerte ihm, besser spät als nie: Selbst wenn alle 54 Millionen Engländer zu 100 % testpositiv wären, könnten sie sich bester Gesundheit erfreuen, weil der Umstand, Billionen Mikroben als Wirt zu dienen, mit Symptomfreiheit vollauf vereinbar ist.


Dafür hat Johnson reichlich Prügel einstecken müssen. Unvorsichtig, geradezu tollkühn sei er, so hieß es. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die berüchtigte Delta-Variante um sich greife, riskiere er eine ganz schreckliche neue „Welle“. Die Online-Redakteure der Tagesschau befremdete „ein Experiment, wie es in kaum einem Land in dieser Form probiert wurde“ - so als bestünde das wahre Experiment nicht seit Frühjahr 2020 in historisch beispiellosem, evidenzfernem Seuchenschutz à la Rotchina. Die Frankfurter Rundschau zitierte lieber „reichlich skeptische Stimmen“ als reichlich positive. Die Wirtschaftswoche fand das vernichtende Urteil des unsäglichen Oberapokalyptikers Karl Lauterbach zitierfähig, Johnson führe einen „unethischen Feldversuch mit der Bevölkerung“ durch. (1) „England verliert, Corona gewinnt“, kommentierte RTL, einer von vielen Sendern, die selber nichts mehr zu verlieren haben, was journalistische Distanz anbelangt. Focus unkte über einen „Disaster Day“. Die Frankfurter Allgemeine berief sich auf Englands peinlichste Seuchen-Kassandra, den Epidemiologen Neil Ferguson, um jede Menge „Fragezeichen“ zu setzen. Allgemeiner Medien-Tenor: Kaltblütig nehme Johnson eine „Überlastung des Gesundheitswesens“ in Kauf.


Findet sich keine, wird sie alarmistisch an die Wand gemalt. Wie man das anstellt, führte exemplarisch die Deutsche Presse-Agentur vor, als sie am 20. August auf die Finalrunde der Fußball-Europameisterschaft in London zurückblickte, mit Zehntausenden Zuschauern dicht an dicht in Wembley und Fanmassen vor den Stadiontoren. Dort „haben sich 3.404 Menschen mit dem Coronavirus infiziert“, nachdem „2.295 der Anwesenden (…) höchstwahrscheinlich infektiös gewesen“ seien, erschrak die dpa (2), und Zeit Online gleich mit – wobei gewisse Hamburger Qualitätsredaktionen anderthalb Jahre nach Pandemiebeginn anscheinend noch immer nicht kapiert haben, was es bedeutet, „testpositiv“ zu sein. Mehr wusste die dpa nicht zu vermelden. Offenbar konnte ihr Londoner Regionalbüro trotz angestrengter Recherche weit und breit keinen einzigen schwerkranken oder verstorbenen Finalrundenbesucher ausfindig machen. Sonst wäre er mit Sicherheit in den Mittelpunkt einer neuen „Killerkeim“-Story gerückt.


Wer sich derartigen Medien so schutzlos ausliefert, wie er es gegenüber Coronaviren niemals gewesen ist, lässt sich auch im 18. Plandemiemonat noch bange machen. „Viele, die es sich leisten können, ziehen sich freiwillig aus dem öffentlichen Leben zurück. Aus Angst vor Ansteckung, etwa in überfüllten Bussen und Bahnen“, will der Deutschlandfunk ermittelt haben. „Jeder zweite Brite hält die Aufhebung der Coronamaßnahmen für falsch“, meldete der Tagesspiegel pünktlich zum „Freedom Day“. Wieso betonte er stattdessen nicht, was die andere Hälfte richtig findet?


Weiterhin griff kein Mainstream-Medium die Kernfrage auf: Was ist das bloß für eine sonderbare Pandemie, die sich eher in Testzentren, Inzidenzkurven und farbenfrohen Dashbards herumtreibt als in Kliniken, Krematorien und auf Friedhöfen?


Zunächst fielen in Johnsons Reich der wiedererlangten Freiheit nicht einmal deutlich mehr Testpositive auf - ein „unerwartetes Covid-19-Phänomen“, das auch die Ärzte Zeitung verblüffte. Nachdem am 21. Juli der sommerliche Höchstwert erreicht war – mit 703 sogenannten „Infektionen“ pro einer Million Einwohner -, sackte er bis 3. August steil auf 379 ab. „England: Sinkende Corona-Inzidenzzahlen geben Rätsel auf“, titelte das Ärzteblatt zwei Tage später, am 5. August. „EM, Partys, Schutzmaßnahmen radikal gelockert – trotzdem gehen in England nach einem zunächst rasanten Anstieg die Infektionszahlen deutlich runter. Eine schlüssige Erklärung dafür gibt es bislang nicht.“


Bis 18. August waren es allerdings wieder 442 Fälle pro 1 Million – so what? Wie viele dieser 442 waren denn lebensbedrohlich erkrankt? Wie viele starben?


Hält das Dauergenöhle von angstschweißgebadeten „Covid-Heulbojen“ – so Oskar Lafontaine neulich über alle Lauterbachs – denjenigen nackten Zahlen aus England stand, auf die es ankommt: Hospitalisierte, auf Intensivstationen Verlegte, Tote? Wie schneidet England insofern vor allem im Vergleich mit den weiterhin stabilen Hygienediktaturen Deutschlands und Frankreichs, Italiens und Spaniens ab?


Auch nach dem „Freedom Day“, und inmitten der angeblich ganz fürchterlichen „Delta-Welle“, werden in britische Krankenhäuser weitaus weniger Covid-Patienten eingeliefert als noch im Frühjahr 2020 und zum Jahreswechsel 2020/21. Die Corona-Diktaturen anderswo schneiden keineswegs besser ab.



Ebensowenig füllen sich seit dem „Freedom Day“ die Intensivstationen britischer Krankenhäuser in besorgniserregendem Ausmaß – weder im Vergleich zur Pandemiezeit davor noch gemessen an anderen Ländern, die an strikten Corona-Maßnahmen festhalten.




Auch von einem Covid-Massensterben auf der britischen Insel seit dem „Freedom Day“ kann keine Rede sein. Weiterhin liegen die Briten unter dem europäischen Durchschnitt. Nach Gov.uk, der offiziellen Online-Informationsseite der britischen Regierung, starben noch am „Freedom Day“ 70 Engländer „an oder mit“ SARS-CoV-2. Zwischen dem 15. und 19. August, den aktuellsten Terminen bei Redaktionsschluss dieses Artikels, waren es 22 bis 67.





Und so wundern sich Zeitgenossen, in deren Großhirnrinde der Killerkeim aus Wuhan nicht allzu gnadenlos gewütet hat: Wozu ein mit immer neuen Ausflüchten verlängertes Notstandsregime à la Merkel, Macron & Co., wenn es offenkundig nicht besser schützt als Johnsons Laissez-faire aus wiederentdeckter Freiheitsliebe?


Nun stehen Faktenchecker vor der besonderen Herausforderung, die politisch inkorrekten Statistiken wegzuzuchecken. Liegt es an der Impfquote? Die ist in England zwar tatsächlich hoch: Bis zum 19. August waren im Vereinigten Königreich 60,6 % aller Einwohner vollständig geimpft, weitere 9,3 % zumindest einfach. (3) Doch Spanien übertrifft Großbritannien insofern sogar deutlich (65,4 % / 10,1 % ), Frankreich liegt nur knapp zurück (54,1 % / 5,3 %). Auch Merkellands Quoten – 58 % bzw. 5,3 % - können sich sehen lassen. Jüngste Repräsentativumfragen deuten sogar daraufhin, dass die tatsächliche Piekshäufigkeit hierzulande, zumindest unter den Erwachsenen, erheblich über den amtlichen Zahlen des Robert-Koch-Instituts liegen könnte: Gegenüber Infratest dimap erklärten bereits bis 13. Juli rund 75 Prozent der 18- bis 59-Jährigen, sie hätten ihre erste Spritze erhalten. Im ARD-DeutschlandTrend gaben am 5. August 83 % an, sie seien „bereits geimpft“ oder würden dies „auf jeden Fall“ nachholen, weitere 4 % „wahrscheinlich“. Doch seit immer mehr Studien befürchten lassen, dass Geimpfte in puncto Infektionsgefährdung, Viruslast und „Superspreader“-Qualitäten mühelos mit „Impfmuffeln“ mithalten, die Schutzwirkung der „Piekse“ binnen weniger Monate rapide abnimmt, steht es um die Aussagekraft von Impfquoten ohnehin mies.


Aus der Erklärungsnot heraushelfen können wohl nur noch unkonventionelle Ansätze. Womöglich liegt es im britischen Naturell, auch unreglementiert viel größeren Sicherheitsabstand zu halten. Vielleicht türmen Coronaviren vor dem englischen Dauerregen aufs Festland. Oder die notorisch ungenießbare englische Küche – von zu Brei gekochtem Gemüse über frittierte Marsriegel bis Aalsülze, Toast mit Dosenbohnen, einer beinahe schwarzen Blutwurst namens „Black Pudding“ - wirkt derart antiviral, dass sie nicht nur Geschmacksnerven und Verdauungstrakt zartbesaiteter Touristen traktieren, sondern selbst Killerkeimen den Garaus machen. Es wird sich schon noch eine Ausflucht finden, auf Faktenchecker war insofern schon immer Verlass.


(Harald Wiesendanger)


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