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  • Wann lernen Kinder endlich, gesund zu leben?

    Um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen steht es immer schlechter. Ein bildungspolitisches Versagen ohnegleichen trägt dazu bei. Wer hat es zu verantworten? Wem nützt es? Um es zu beheben, tun Schulen viel zu wenig - mit dürftigen Ausflüchten. “Wir müssen uns eingestehen, dass wir ganz katastrophal versagt haben. Wir als Gesellschaft”, wetterte eine Schulleiterin am 4. Mai 2023 im TV-Talk “Markus Lanz”. “Das muss ich so deutlich sagen. Wir haben ein Problem vor der Brust, das man nicht mehr verharmlosen kann. Wir sind in einer absoluten Bildungsnotstands-Katastrophe angekommen.” Deshalb forderte sie “strenge Maßnahmen seitens der Politik”. Was die streitbare Pädagogin anprangerte, waren steigende Internetkriminalität, eine zunehmende Verrohung sowie die immer weiter sinkende moralische Hemmschwelle bei handysüchtigen Kindern. Ebenso gut gepasst hätte ihre Anklage freilich auf einen anderen, nicht minder katastrophalen Notstand: den himmelschreienden Mangel an Gesundheitskompetenz. Ihrer Handysucht frönt unser Nachwuchs nämlich vorzugsweise als bewegungsfaule Couch Potatoes, bei einer Tüte Chips, Pizza oder Burger mit Pommes, dazu einem Softdrink. Eltern und Lehrer, die dabei tatenlos zusehen, eröffnen Kindern frühzeitige Karrieren als Chroniker, die sie über kurz oder lang medikamentenabhängig und pflegebedürftig machen werden – belastet durch Zivilisationskrankheiten wie Adipositas, Fettleber, Arteriosklerose, Bluthochdruck und Diabetes mellitus, zur klammheimlichen Freude der Gesundheitsindustrie. Wo bleiben Talksendungen hierüber? Ein Trauerspiel namens Gesundheitserziehung Ein Schulfach „Ernährung“ sei „nicht nötig“, so befanden der gelernte Bankkaufmann Jens Spahn, einst Bundesgesundheitsminister, und seine damalige Kabinettskollegin, die ehemalige Religionslehrerin Julia Klöckner, im November 2018 in einer gemeinsamen Erklärung. (1) Was dieses peinliche Inkompetenz-Team von sich gab, ist, zurückhaltend bewertet: sch…ade. Mit Hilfe zur gesundheitlichen Selbsthilfe kann ein wahrhaft fürsorglicher Staat eigentlich gar nicht früh genug beginnen. Denn die Weichen für Verhaltensmuster, die chronische Erkrankungen fördern oder vermeiden helfen, werden in der frühen Kindheit gestellt: auch, aber nicht nur durch falsche Ernährung. Deshalb müsste Gesundheitserziehung schon in Kitas und Kindergärten stattfinden, spätestens aber von der ersten Schulklasse an – nicht am Rande, sondern als Hauptfach. Am besten, sie verwandelt fächerübergreifend jede Bildungsanstalt von Grund auf. Ein neuer Geist tut not. Denn gesund zu bleiben, ist auf dem weiteren Lebensweg unserer Kinder die wichtigste, grundlegende Voraussetzung dafür, jegliches erworbene Schulwissen erfolgreich umzusetzen. Anbauen und ernten, einkaufen und zubereiten, Nahrungsmittelangebote beurteilen und hinterfragen: Ist die Fähigkeit dazu etwa weniger (über)lebenswichtig als Gedichtanalyse und Integralrechnen? Wem die Dringlichkeit nicht einleuchtet, der sollte sich während Großer Pausen auf Deutschlands Schulhöfen umschauen. Schon jedes fünfte Kind ist offensichtlich übergewichtig, fast jedes Zehnte hat die Grenze zur Adipositas überschritten. Jedes sechste Kind und jeder vierte Jugendliche weist bereits eine chronische Grunderkrankung auf, die länger als ein Jahr dauert. (2) Bei weitaus mehr Minderjährigen liegen latente Mängel und Belastungen vor, die sich zwar noch nicht in Symptomen bemerkbar machen, aber früher oder später mit Sicherheit dazu führen werden, falls weiterhin nicht gegengesteuert wird. Unter Medizinern ist der Radiologe Prof. Dietrich Grönemeyer, älterer Bruder des Sängerstars Herbert, der bekannteste Fürsprecher eines „Verstehens des eigenen Körpers von der Kindheit an“. Mit einer 2007 gegründeten Stiftung, die seinen Namen trägt, setzt er sich vehement für Gesundheitsunterricht in den Schulen ein – „denn bei den Erwachsenen ist es meistens zu spät“. (3) Eine frühzeitige gesundheitliche Aufklärung, so glaubt er felsenfest, könne das Gesundheitssystem finanziell entlasten und Volkskrankheiten eindämmen. Neu sind solche Forderungen beileibe nicht. Leser des Pädagogischen Beobachters, des Zürcher „Wochenblatts für Erziehung und Unterricht“, fanden schon in der Ausgabe vom 19. Februar 1876 ein Plädoyer für die „Aufnahme der Gesundheitslehre als selbstständiges Fach“. Dies dürfe nicht „als ungebührliche Einmischung der Ärzte in das Gebiet der Pädagogik“ missverstanden werden. Vielmehr diene es dem „Kampf gegen tiefwurzelnde Schäden und eingerostete Vorurtheile“. (4) Über ein Jahrhundert später, 1997, erhob die WHO in ihrer „Jakarta-Erklärung“ Gesundheit zu einem grundlegenden Menschenrecht. Daran anknüpfend, verabschiedete Deutschlands Kultusministerkonferenz im November 2012 die "Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule": Ziel einer guten Schule müsse es sein, Gesundheitsressourcen und -potenziale zu erhalten und zu stärken. Gesundheitsförderung sei ein „lebenslanger Prozess und unverzichtbares Element einer nachhaltigen Schulentwicklung“. Doch seit eh und je verhindern politisch Verantwortliche, dass plausiblen Ideen und hehren Vorsätzen endlich entschlossene Taten folgen. Ihre nachhaltige Blockadehaltung gegenüber dem „Unverzichtbaren“ rechtfertigen sie mit den immergleichen sechs Argumenten, eines dürftiger als das andere. Sechs klägliche Ausflüchte 1 Wo kämen wir denn hin, so fragen Skeptiker, wenn alle neuen Fächer, die irgendwem irgendwie sinnvoll erscheinen, Einzug in die Schule halten würden? Nicht einmal 48-Stunden-Tage würden ausreichen. Ein Fach „Alltagswissen“ könnte Kindern klarmachen, wie man ein Bankkonto eröffnet, seine Steuererklärung erstellt, eine Versicherung und einen Mietvertrag abschließt, den Rechtsweg beschreitet. Unterricht in „Benehmen“ wünschen sich 75 Prozent der Deutschen, jeder Zweite ein Pflichtfach „Wirtschaft“. „Viele Fächer resultieren aus dem Partikularinteresse von Verbänden oder Institutionen“, gibt Die Zeit zu bedenken. „Der Verbraucherverband Bundeszentrale hält natürlich Verbraucherbildung für ziemlich brauchbar. Das Rote Kreuz meint, Erste Hilfe solle gelehrt werden. Der Plattdeutschverein setzt sich natürlich für Plattdeutsch ein, und der Verein ‚Optimisten für Deutschland‘ hält das Unterrichten in Glück für unabdingbar.“ (5) Die dürftige Logik dieses Arguments teilen Leute, die grundsätzlich nicht spenden: „Ich kann nicht jedem helfen – also helfe ich keinem.“ Auch wenn ich nicht jede Not lindern kann: Sollte ich nicht zumindest die folgenschwerste angehen? In Umfragen nimmt Gesundheit unter den wichtigsten Werten den Spitzenplatz ein, noch vor Familie und Erfolg. Darf, muss sich diese Gewichtung nicht gerade im Kultusbereich vehement niederschlagen? 2 Gesundheitserziehung sei Sache des Elternhauses, so heißt es – ebenso wie die Erziehung zur Körperhygiene, zu selbstständigem Anziehen, zur Aggressionskontrolle, zu grundlegenden sozialen Fähigkeiten wie Umgangsformen und Empathie. Nun auch noch diese Aufgaben übernehmen zu müssen, überfordere die Schule. Sie „kann nicht reparieren, was zuvor schon kaputt gemacht worden ist", wie ein Sprecher des sächsischen Kultusministeriums erklärte. (6) Genauso sehen das Lehrerverbände: „Wir sind es leid, für alle Defizite der Familie geradezustehen - gleiches gilt für die Jugendgewalt. Gesunde Ernährung bleibt der Job des Elternhauses.“ (7) Die Schule sei „kein Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Fehlentwicklungen“. (8) Fakt ist: Daheim findet Gesundheitserziehung immer seltener statt. Kinder lernen am Modell. Welche Vorbilder bieten Eltern, bei denen regelmäßig Fast Food und Softdrinks, Tiefkühl- und Fertigprodukte auf den Tisch kommen, allabendlich vor dem Fernseher Nasch- und Knabberzeug bereitliegen? Die Emanzipationsbewegung hat der Frau Selbstverwirklichung im Beruf ermöglicht – und Haushalten die Person genommen, die fürs sorgfältige Planen von Mahlzeiten, fürs gewissenhafte Einkaufen, fürs frische Zubereiten zuständig war. In immer weniger Familien wird gekocht. Kaum jemand hat noch Zeit dafür oder nimmt sie sich, kaum einer kann es noch wie einst die Oma. Immer mehr Erwachsene weisen erschütternde Wissenslücken auf, was Zubereitung, Herkunft und Vielfalt von Lebensmitteln betrifft. Den modernen Haushalt kennzeichnen Mikrowelle und Tiefkühltruhe, industrielle Fertiggerichte, flinke Lieferservices und hastiges Eating on the Run. Mit ihrer Ess- und Kochkultur verlieren nachfolgende Generationen die Fähigkeit, sich selbstbestimmt und ausgewogen zu ernähren. Wer allen Ernstes meint, das Zuhause sei weiterhin der richtige Ort für Gesundheitserziehung, hat anscheinend noch nie beachtet, womit eilige Mütter und Väter im Supermarkt ihre Einkaufswagen füllen – und was bei Deutschlands Mahlzeiten überwiegend auf den Tisch kommt. 3 Gesundheitsunterricht finde doch längst statt, in genügendem Maße, so bekommen wir ferner zu hören. Dies geschehe in Fächern wie Biologie und Chemie, Hauswirtschaft, Heimat- und Sachkunde. Dass Informationen zur Ernährung insofern „allgemein in den Schulalltag integriert“ werden, sei völlig ausreichend, so befanden Jens Spahn und Julia Klöckner. (9) Demnach verweilen 64 Prozent der Schüler im Dauerschlaf: So viele haben nach eigenen Angaben im Unterricht selten oder nie etwas darüber erfahren, wie man sich vernünftig ernährt. (10) Was sie an „integrierter Information“ zu hören bekommen, ist in der Regel theoretischer Stoff, der sie weder berührt noch anregt, schon gar nicht eingefleischte Gewohnheiten verändert. 4 Für ein gesondertes Unterrichtsfach Gesundheit sei in den ohnehin überfrachteten Stundenplänen unserer Schulen schlicht kein Platz mehr, erklären Blockierer. "Man verfügt zurzeit ohnehin über zu wenig Unterrichtszeit, die Kinder Deutsch, Englisch oder Mathematik zu lehren", stellt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands klar. (11) Von der Fülle an Lernstoff seien unsere Kinder schon jetzt überfordert. Wo kein Platz ist, muss halt einer geschaffen werden – notfalls auf Kosten anderer Fächer. Lehrpläne entrümpeln, von einem jahrhundertealten, überholten Fächerkanon Abschied nehmen, heilige Kultuskühe schlachten: all das ist überfällig. Jenes Leben, auf das die Schule vorbereiten soll, muss zuallererst ein gesundes sein. Ist Wissen, wie das geht, etwa unbedeutender als die metergenaue Höhe des Mount Everest, die exakten Daten von Kaiserkrönungen, die kovalente Zweielektronen-Bindung, die Serienformel des Wasserstoffspektrums, Arkuskosinusfunktionen und partielle Integration? Welcher Stoff könnte während der mindestens 12.000 Stunden, die Kinder in der Schule verbringen, lebenswichtiger sein? 5 Gesundheitsunterricht sei zu teuer, heißt es. Allein auf das Land Niedersachsen würden bei zwei Wochenstunden Gesundheit 200 Millionen Euro pro Jahr zukommen, wie Ministerialbeamte dort ermittelt haben wollen. (12) Aber fürs „digitale Klassenzimmer“ stehen andererseits ohne weiteres mehrere Milliarden zur Verfügung? 6 Gesundheitsunterricht bringe nichts, so wird behauptet: Das gehe zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus. Für abstrakte Wissensvermittlung gilt das sicherlich. Aber es geht auch anders: anschaulich, praktisch, unterhaltsam, spannend, interaktiv. Erfolgreiche Modelle hierfür gibt es längst, in Privatschulen, in anderen Ländern. Man muss sie bloß zur Kenntnis nehmen wollen. Schule neu denken und gestalten Neun von zehn Deutschen wünschen sich, Umfragen zufolge, endlich ein Schulfach „Gesunde Ernährung“. (13) Das allein wäre freilich zuwenig. Klar ist: Es darf nicht bloß darum gehen, ein weiteres Fach zu installieren. Eine solche Neuerung würde „von untätigen Politikern, einer trägen Verwaltung oder desinteressierten Lehrern bloß als Alibi missbraucht“, schwant dem freien Bildungsreferenten Siegfried Seeger. „Wer auf diese Weise sein Gewissen erleichtern möchte, schadet unseren Kindern.“ (14) Schützenhilfe erhält Seeger durch die Studie „primakids“, welche die Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften und die Techniker Krankenkasse schon im Jahr 2004 an über 500 Erst- bis Viertklässlern an 14 Grundschulen durchführten: Übergewichtige Kinder nahmen durch ein Schulfach Gesundheit keineswegs ab; die Pfunde purzelten lediglich, wenn die gesamte Schule auf Gesundheit eingestellt war – und das private Umfeld mitmachte. (15) Ziel muss nichts Geringeres als ein Gesamtkunstwerk sein, nämlich die gesunde Schule: ein heilsamer Ort, an dem alles, was unsere Kinder erfahren und tun, ihrem körperlichen und psychischen Wohlergehen dient, dem gegenwärtigen wie ihrem künftigen. Über Wissensvermittlung hinaus gehört dazu reichlich körperliche Aktivität, die Spaß macht; schadstofffreie Architektur, ergonomisches Mobiliar, saubere Toiletten; gute Raumluft, viel natürliches Licht, frohe Farben; Schutz vor Elektrosmog; eine Lernatmosphäre, die der Seele gut tut, neugierig macht, Kreativität viel Raum gibt, Selbstständigkeit, bewussten Konsum und kritisches Denken fördert; ein harmonisches Miteinander, das behutsame Mediation von Konflikten vorsieht, Minderheiten schützt und Mobbing im Keim erstickt. Erst in einer solchen Umgebung entwickeln sich Einstellungen und Gewohnheiten, die auch außerhalb des Schulgeländes, und auch noch lange nach Schulabschluss, Gesundheitsverhalten dauerhaft prägen können. Eine solche Schule beschränkt das Thema Ernährung nicht auf ein paar zusätzliche Lehrbuchseiten, Arbeitsblätter und Vorträge von Lehrerseite. Mehr Wissen genügt bei weitem nicht – es geht um Können und Tun. Die fundierteste Ernährungslehre verpufft ohne vorbildliche Praxis, und die muss sich zuallererst daran bewähren, was auf den Teller kommt. Immer mehr Ganztagesschulen richten Mensen ein. Über drei Millionen Kinder in Deutschland haben einen Rechtsanspruch darauf, dort verpflegt zu werden. Wie das geschieht, hat entscheidenden Einfluss auf ihre körperliche Verfassung, ihr Wohlbefinden, ihre Konzentration und Leistungsfähigkeit, wie auch auf ihre Ess- und Trinkgewohnheiten außerhalb der Schule. Also sind zuallererst Prioritäten zu klären. Sollen Kinder möglichst billig satt werden? Dann setzt man weiterhin auf die normierte Kost von Großküchen, die fantasielos eintönige Speisepläne, lange Transportwege, stundenlang warmgehaltenes, minderwertiges, zu fettes Essen und geschmacksverstärkte Pampe bieten, vom totgekochten Gemüseallerlei über aufgeweichte Nudeln und halbzerfallene Salzkartoffeln bis hin zu ledrigem Schweineschnitzel mit verbrannter Panade unter Fertigsoße. Davor flüchten Schüler, deren Taschengeld reicht, lieber zur Frittenbude um die Ecke, es sei denn, die Schulmensa bietet ausnahmsweise ein Junkfood-Highlight wie Currywurst mit Pommes und Ketchup. Es fehlen Gemüse, Salat, Obst. Qualität und Vielfalt bleiben auf der Strecke. Um eine wirksame, nachhaltige Ernährungswende hinzukriegen, müssen Schulen bestehende Caterer-Verträge nachverhandeln oder kündigen, Lieferverträge mit nahen Biobauern schließen. Sie müssen eigene Küchen einrichten oder reaktivieren, damit vor Ort frisch und vielfältig gekocht werden kann. Und sie sollten einen eigenen Garten anlegen, in dem Gesundes angebaut, gehegt und geerntet wird. Ganz wichtig: Die Schüler müssen einbezogen werden, unter Anleitung von Lehrkräften, Ehrenamtlichen und tatkräftiger Mithilfe von Eltern, die gerade Zeit haben. Kinder sollten Mitverantwortung übernehmen – sei es fürs Anpflanzen und Düngen, fürs Schälen und Schneiden, fürs Anrühren oder fürs Würzen. Ernährungslehre kann alle Sinne ansprechen, neugierig machen, faszinieren. Gemeinsam einkaufen; der Produktion von Lebensmitteln, ihren Inhaltsstoffen, ihrer Verwertung im Körper auf den Grund gehen; Essen selber zubereiten, mit Küchengeräten umgehen; Leckeres sehen, riechen und schmecken: so etwas prägt die Essgewohnheiten von Kindern weitaus mehr als tausend Worte. Der pädagogischen Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Sie braucht nur Raum zur unbürokratischen Entfaltung. „Kinder essen alles, wenn man sie mitkochen lässt“, versichert die österreichische Fernsehköchin Sarah Wiener, die 2007 eine eigene Stiftung zur „Praktischen Ernährungsbildung für Kinder“ ins Leben gerufen hat. „Man kann die Kinder mit an den Herd holen. Damit sie die erste kulturelle Leistung der Menschheitsgeschichte erbringen: beurteilen zu können, was sie sich in den Mund stecken. Kinder, die Kocherfahrungen sammeln, Geschmäcker ausprobieren, mit Genuss essen lernen und miterleben, wie Lebensmittel in der Landwirtschaft erzeugt werden, ernähren sich gesünder und verhalten sich nachhaltiger gegenüber ihrer Umwelt.“ (16) Ihre Neugier und Freude zu wecken, ihren Geschmack zu trainieren, erfordert freilich Zeit und Geduld. Andernfalls hat der schonend gedünstete Kabeljau keine Chance gegen Käpt´n Iglos Fischstäbchen. Bloß gesund ist dabei nicht genug: Eine Mahlzeit muss auch schmecken und lecker aussehen. Ebenso stimmen muss die Atmosphäre. Und es muss in die Tiefe gegangen werden. Ungesunde Ernährungsroutinen sind großteils Ergebnis einer zur kulturellen Selbstverständlichkeit gewordenen Massenmanipulation von Kindesbeinen an. Unsere Kleinen sind von überzuckerten, versalzenen, zu fettigen, künstlich aromatisierten Nahrungsmitteln regelrecht abhängig geworden, weil ihr Geschmackssinn denaturiert wurde: Was weniger süß oder salzig, würzig, herzhaft schmeckt wie Pizza und Hamburger, Pasta und Pommes, hat bei ihnen kaum noch eine Chance. Solche Vorlieben aufzugeben, setzt voraus zu verstehen, dass sie industriell programmiert sind. „Wer eine natürliche Frucht gegenüber künstlichen Fruchtaromen für fade hält und dem Geschmack von Gemüse oder vegetarischem Essen überhaupt nichts abgewinnen kann, ist im Grunde ein Patient, dem geholfen werden muss“, meint der Hobbykoch Jürgen Dollase, Autor von kulinarischen Büchern und dem SZ-Magazin zufolge „der beste deutsche Gastronomiekritiker“. Darauf zu verzichten, das kulinarische Bewusstsein zu öffnen und zu erweitern, findet Dollase „schlicht verantwortungslos. Eine unzusammenhängende Beschäftigung mit dem Schulessen, die nicht berücksichtigt und thematisiert, was außerhalb der Schule passiert, ist Nonsens und wird nie mehr zustande bringen, als ein paar Bio-Beilagen neben die Hamburger oder Würstchen zu legen.“ (17) Manches erfordert erst noch eine verbesserte Aus- und Fortbildung von Lehrern und Erziehern, neue Unterrichtsmaterialien, überarbeitete Lehrpläne, geeignete Räumlichkeiten. Vieles ließe sich aber sofort umsetzen – zwei halbe Stunden Bewegung an jedem Schultag beispielsweise. In allen Pausen könnte für die Kinder frisches Obst und Gemüse bereitstehen, dazu reichlich stilles Wasser. Der nächste Klassenausflug könnte zu einem Biobauernhof führen statt zu einem Museum für moderne Kunst. Im Schnitt 5,36 Euro kostet ein Schulessen in Deutschland, davon übernehmen Eltern 3,50 Euro. (18) Das reicht allenfalls für normierte Großküchenkost. Mit vier Cent mehr, wie Ex-Bundesernährungsministerin Julia Klöckner weismachte (19), ist es schwerlich getan. Wer Schulkindern mittags ein aus frischen, regionalen, saisonalen Zutaten zubereitetes Essen servieren will, ohne Chemiemüll, in Bio-Qualität, muss wohl oder übel mehr Geld in die Hand nehmen, mindestens ein bis zwei zusätzliche Euro. Bund, Länder und Gemeinden sollten finanziell überforderten Familien unter die Arme greifen. Die rund 1,2 Milliarden Euro, mit denen Deutschlands Kommunen bislang die Schulverpflegung bezuschussen, sind zuwenig. Gesunde Schule funktioniert unmöglich ohne die Eltern, schon gar nicht gegen sie. Was zuhause geschieht, kann die beste schulische Gesundheitserziehung hintertreiben, ihren Ertrag zunichte machen. Das erlebte Englands Starkoch Jamie Olivier, als er 2015 eine vielbeachtete Kampagne startete, um an britischen Schulen Junkfood durch vollwertige Mahlzeiten zu ersetzen: Mütter reichten daraufhin ihren ökotrophologisch gepeinigten Kleinen das geliebte Fastfood über den Schulzaun. (20) Deshalb müssen Mütter und Väter überzeugt und einbezogen werden; sie müssen offen sein, sich Zeit nehmen und mitengagieren, auch innerhalb der Schule. Dazu benötigen viele erst mal reichlich Nachhilfeunterricht. Der statistisch bedeutendste Risikofaktor für Übergewicht bei Kindern sind übergewichtige Eltern. Auch zusätzliche, qualifizierte Lehrkräfte braucht das Land – schon heute fehlen Zehntausende. „Viele von ihnen fühlen sich überfordert, wenn sie gesundheitsrelevante Themen fächerübergreifend unterrichten sollen, die in ihrer Ausbildung wenig Raum hatten. Ihr Arbeitspensum ist schon jetzt ungeheuer hoch“, gibt Gudrun Zander zu bedenken, Dezernentin am Landesinstitut für Schule und Ausbildung Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern. (21) Den Couch Potatoes Beine machen Dabei geht es längst nicht bloß um Ernährung. Gesundheit erfordert gleichermaßen körperliche Aktivität. Wie viel Anreiz zu mehr Bewegung bieten Eltern ihrem Nachwuchs, wenn sie selbst zu jenen 57 Prozent Couch Potatoes zählen, die pro Woche weniger als 150 Minuten moderat oder 75 Minuten intensiv körperlich aktiv sind, wie von der WHO als Mindestrichtwert empfohlen? (22) Um „die Lust an Bewegung und Prävention zu fördern“, wirbt Grönemeyer für eine tägliche Stunde Schulsport. Dazu entwickelte er ein Programm mit 40 Übungen für 20 Minuten, nach dem Motto: „Turne bis zur Urne.“ 2015 initiierte Grönemeyer „Die bewegte Schulpause“. Aber wozu starre „Übungen“ mit Professorensegen? Jeder Schultag sollte einfach reichlich Freiheit und Anreiz für ausgiebige Bewegung bieten, die Spaß macht und fit hält: Laufen, Rennen, Spielen, Hüpfen, Fangen, einfach alles, was den natürlichen Bewegungsdrang von Kindern fördert, zum reinen Vergnügen, ohne Leistungsdruck und Benotung. Falls Jungs jeden Tag kicken wollen: Lasst sie doch. Traditioneller Sportunterricht hingegen gehört ausgelagert, in den Verein. In der Schule gänzlich fehl am Platz sind Leibesertüchtiger, die sich der Frühförderung künftiger Olympiasieger verpflichtet fühlen oder sadistische Neigungen ausleben, indem sie sichtlich überforderte, verängstigte Kinder zu halsbrecherischen Bodenturn- und Reckübungen zwingen. Endlose Lippenbekenntnisse, zaghafte Ansätze Warum ziehen Bundes- und Landesregierungen nicht längst naheliegende schulpolitische Konsequenzen? Zumindest wolkige Absichtserklärungen haben sie mittlerweile reichlich in die Welt gesetzt. "Mir ist wichtig, dass Kinder in der Schule etwas darüber lernen, wie sie gesund leben können", bekannte die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) bereits im Herbst 2007; dazu zählte sie vor allem Ernährung und Bewegung. Vorausgegangen war die Anregung eines Staatssekretärs des Verbraucherschutzministeriums, ein gesondertes Schulfach „Ernährungs- und Verbraucherbildung“ einzuführen. Daraus folgte? Herzlich wenig. Bloß zwei Bundesländer, Bremen und Hamburg, zeigten sich offen dafür – der Rest winkte ab. „Wenig sinnvoll“ fand den Vorstoß auch der damalige Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD). (23) Fünf Jahre später, 2012, befand die Kultusministerkonferenz, Gesundheitsförderung in der Schule sei "unverzichtba". (24) Allerdings liege „Ernährungsbildung in der Länderverantwortung und in der Selbstverwaltung der Schulen“. (25) Im Juli 2015 trat ein „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ in Kraft, das unverbindliche, vage Zielsetzungen bevorzugt. Auf Verpflichtungen verzichtet es. Soweit Kitas und Schulen darin vorkommen, stellt es Früherkennungsuntersuchungen, die „Förderung der Impfprävention“, Aids- und Drogenaufklärung in den Vordergrund. An der belämmernden Tatsache, dass die Bundesrepublik lediglich drei Prozent ihrer Gesundheitsausgaben für Vorsorge verwendet – davon wiederum nur einen Bruchteil im schulischen Bereich -, ändert das Gesetz nicht das Geringste. Dass solche Papiere Deutschlands Schüler auch nur um drei Prozent gesünder gemacht haben, trauen sich nicht einmal die Autoren zu behaupten. Von Japan und Finnland lernen Wertvolle Anregungen könnten sich deutsche Kultuspolitiker bei Bildungsreisen ins Ausland holen. In japanischen Schulen ist Gesundheitserziehung ein Pflichtfach - von der Grundschule bis zur Oberstufe. Neben dem formalen Gesundheitsunterricht gibt es dort auch „Health Clubs“: von Schülern geführte Einrichtungen, die Gesundheit und Wohlbefinden durch Aktivitäten wie Sport und vollwertige Ernährung fördern. In Portugal gibt es Gesundheit als Schulfach immerhin ab der siebten Klasse. Doch nirgendwo in Europa wissen Schüler mehr über Gesundheit als in Finnland, wie die WHO 2019 festgestellt hat. Als breit angelegtes, benotetes Schulfach ist „Gesundheitserziehung“ seit 2005 fest im dortigen Unterrichtssystem verankert – von der Grundschule an. Mancherorts findet sie nicht separat statt, sondern integriert in andere Fächer wie Naturwissenschaften und Sozialkunde. Dieser Ansatz eines fächerübergreifenden Projektunterrichts, als phenomenon-based learning bezeichnet, soll den Kindern verstehen helfen, wie Gesundheit und Wohlbefinden mit anderen Fächern wie Biologie und Chemie zusammenhängen, aber auch mit Geschichte, Sozial- und Wirtschaftskunde. „Es geht nicht nur um reine Wissensvermittlung“, bilanziert eine 20-Jährige Deutsche, die von der sechsten Klasse bis zum Abitur in Helsinki zur Schule ging, „sondern auch darum, sensitiver für Gesundheitsthemen zu werden, das Bewusstsein zu schärfen“. Seit den neunziger Jahren ist Gesundheitserziehung an finnischen Universitäten ein eigenständiges Studienfach. (26) Finnische Schulen legen großen Wert auf körperliche Betätigung. Ihren Schülern bieten sie vielfältige Möglichkeiten, sich den ganzen Tag über zu bewegen, beispielsweise indem sie Bewegungspausen und Spiele im Freien in den Tagesablauf einbauen. Auch die psychische Gesundheit hat einen hohen Stellenwert: Viele Schulen bieten Beratungsdienste an und fördern Achtsamkeit und Entspannungstechniken. Großer Wert wird auf gesundes und nahrhaftes Essen gelegt. Hochwertige Schulmahlzeiten werden kostengünstig angeboten, vielerorts sogar gratis. Von Wirtschaftslobbyisten sabotiert Welche politischen Lager legen sich seit Jahr und Tag am stursten quer? Als Abwiegler, Bremser, Zerreder tun sich vor allem Vertreter wirtschaftsnaher Parteien vor. Das Hauptmotiv liegt auf der Hand: Welches Schulkind würde noch zu den pestizid- und hormonbelasteten Produkten industrieller Landwirtschaft greifen, sobald es über ausreichende „Gesundheitskompetenz“ verfügt? Welches würde sich noch sogenannte „Lebensmittel“ der ZuckerSalzFett-Connection vorsetzen lassen? Einen Mix aus synthetischen Farb- und Konservierungsstoffen, Emulgatoren und Geschmacksverstärkern schlucken? Importware, Tiefkühlkost und Fertigmahlzeiten aus der Mikrowelle lieber auf dem Teller haben als regional erzeugte, frisch zubereitete Bio-Qualität? Sich den Durst von Getränkekonzernen löschen zu lassen, statt einfach den Wasserhahn aufzudrehen? Jeder wissenschaftlich halbwegs fundierte Gesundheitsunterricht öffnet Augen. Zwangsläufig mündet er in eine blamable Systemkritik, die Umsätze gefährdet. Sie sorgt für neue Generationen, an denen es für Arzneimittelhersteller und Heilberufler, für Kliniken und Pflegeheime erheblich weniger zu verdienen gibt. Wo kämen wir denn hin, falls so etwas Schule macht? (Harald Wiesendanger) Dieser Beitrag enthält Auszüge aus dem 2019 erschienenen Buch von Harald Wiesendanger: Das Gesundheitsunwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, dort S. 573-588. Anmerkungen (1) Zit. nach Jürgen Dollase: „Wenn Minister nicht das Ganze im Auge haben“, Eat-Drink-Think.de, 12.11.2018, www.eat-drink-think.de/wenn-minister-nicht-das-ganze-im-auge-haben-julia-kloeckner-vom-bundesministerium-fuer-ernaehrung-und-landwirtschaft-und-gesundheitsminister-jens-spahn-wollen-kein-schulfach-ernaehrung, abgerufen am 8.6.2019. (2) Siehe H. Wiesendanger: Das Gesundheitsunwesen (2019), https://stiftung-auswege-shop.gambiocloud.com/das-gesundheitsunwesen-wie-wir-es-durchschauen-ueberleben-und-verwandeln-printausgabe.html S. 39 ff.: „Minderjährige – unterwegs zu Chronikern“. (3) mdr.de, 28.2.2018: „Medizin für Kinder - Grönemeyer fordert Schulfach ‚Gesundheit‘“, www.mdr.de/wissen/bildung/groenemeyer-fordert-gesundheitsunterricht-an-schulen-100.html, abgerufen am 7.6.2019. (4) Pädagogischer Beobachter 7/1876, S. 1-2: „Gesundheitsunterricht in und ausser der Schule“, PDF, http://doi.org/10.5169/seals-237875. (5) Zeit online, 7.2.2018: „Ein Stundenplan für morgen“, www.zeit.de/2018/07/schulfaecher-unterricht-inhalte-bildungspolitik/komplettansicht, abgerufen am 7.6.2019. (6) Zit. nach Frankfurter Rundschau, 24.9.2007: „Breite Mehrheit gegen Schulfach ‚Ernährung‘“, www.rundschau-online.de/breite-mehrheit-gegen-schulfach--ernaehrung--10970094. (7) Zit. nach Welt.de, 24.1.2008: „Kochen könnte auch an Deutschlands Schulen Pflichtfach werden“, www.welt.de/welt_print/article1588415/Kochen-koennte-auch-an-Deutschlands-Schulen-Pflichtfach-werden.html, abgerufen am 8.6.2019. (8) Zit. nach Herolé Blog, 12.3.2019: „Brauchen wir das Schulfach „Gesunde Lebensweise“?“, www.herole.de/blog/brauchen-wir-das-schulfach-gesunde-lebensweise, abgerufen am 7.6.2019. (9) Zit. nach Dollase, a.a.O. (10) Nach LBS-Kinderbarometer 2007, S. 100 ff. (11) Zit. nach Welt.de, 24.1.2008, a.a.O. (12) Nach Focus.de, 31.1.2008: „Schlank durch Bildung - Brauchen wir ein Schulfach Gesundheit?“, www.focus.de/familie/schule/unterricht/brauchen-wir-ein-schulfach-gesundheit-schlank-durch-bildung_id_2192524.html. (13) Zeit online, 7.2.2018, a.a.O. (14) 122 Zit. nach www.focus.de/familie/schule/unterricht/brauchen-wir-ein-schulfach-gesundheit-schlank-durch-bildung_id_2192576.html, abgerufen am 7.6.2019. (15) Angela Schröder u.a.: Primärprävention und Gesundheitsförderung in der Grundschule: Überblick zu Programminhalten und Ergebnissen der vierjährigen kontrollierten Interventionsstudie "primakids" in vierzehn Hamburger Grundschulen, Hamburg 2009, Schriftenreihe Studien zur Kindheits- und Jugendforschung, Bd. 54. (16) Zit. nach https://sw-stiftung.de/startseite, abgerufen am 14.6.2019, sowie nach Süddeutsche Zeitung Nr. 256, 7.11.2018, S. 2. (17) Eat-Drink-Think.de, a.a.O. (18) www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Kita-Schule/Studie-Kosten-Schulverpflegung.pdf;jsessionid=8FEE1022E4ADA25580C25E39634EA004.1_cid367?__blob=publicationFile; www.deutschlandfunk.de/ernaehrung-5-40-euro-reichen-fuer-ein-gesundes-schulessen.680.de.html?dram:article_id=432511, abgerufen am 14.6.2019. (19) www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/2018/169-Schulessen.html, abgerufen am 14.6.2019. (20) www.n-tv.de/panorama/Jamie-Oliver-attackiert-Theresa-May-article19849473.html; https://eatsmarter.de/gesund-leben/news/anti-food-kampagne-warum-jamie-oliver-wut-kocht; abgerufen am 8.6.2019. (21) Zit. Focus.de, a.a.O. (22) Nach dem DKV-Report 2018: „Wie gesund lebt Deutschland?“, www.ergo.com/de/DKV-Report, abgerufen am 6.6.2019. (23) Kölnische Rundschau, 24.9.2007: „Breite Mehrheit gegen Schulfach ‚Ernährung‘“, www.rundschau-online.de/breite-mehrheit-gegen-schulfach--ernaehrung--10970094. (24) www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/weitere-unterrichtsinhalte/gesundheitserziehung.html; die „Empfehlung“ als PDF: www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_11_15-Gesundheitsempfehlung.pdf; abgerufen am 6.6.2019. (25) www.dnsv.eu/kmk-ausgestaltung-liegt-in-der-laenderverantwortung-und-in-der-selbstverantwortung-der-schulen, abgerufen am 6.6.2019. (26) Kaarina Määttä/Satu Uusiautti: „The Value and Implementation of Health Education in Finland“, International Journal of Sciences, Vol. 2, December 2013, S. 3, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2573605

  • Kapiert KI die Pandemie?

    ChatGPT erobert die Welt im Sturm. Wie leicht sich so eine vermeintliche Superintelligenz zu Propagandazwecken missbrauchen lässt, führt das Beispiel der Corona-Pandemie vor Augen. Am 15. April 2023 fordere ich ChatGPT auf, den folgenden Meinungsartikel zu redigieren: „Am offiziellen Ende einer sogenannten Pandemie fällt die Bilanz niederschmetternd aus. Jedem, der sehen will, haben die Jahre seit 2020 vor Augen geführt, dass alles, was es braucht, um die gesamte Bevölkerung eines westlichen Landes einzusperren, ein viraler Erreger ist, der nicht schlimmer wütet als eine mittelschwere Influenzawelle. Mit der richtigen Medienkampagne kann der Staat Schulen schließen, einen Großteil der Wirtschaft lahmlegen, das gesellschaftliche Leben einfrieren; er kann Millionen Menschen gesundheitlich bedenkliche Masken ohne erwiesene Schutzwirkung umschnallen, unbrauchbaren Tests unterziehen und Abstand halten lassen, während sich der Erreger in Aerosolen bis zu 30 Metern weit tragen lässt; er kann sie dazu zwingen, sich gefährliche und unwirksame Medikamente einzuverleiben. Er kann jedermanns Kontakte überwachen. Er kann verhindern, dass Menschen einander treffen, sich versammeln, demonstrieren, Geschäfte betreten, ins Freie gehen - und das alles mit der Unterstützung einer großen Mehrheit der Wählerschaft. Kritiker, Verweigerer, Selbstdenker werden ausgegrenzt und verhöhnt, pathologisiert und kriminalisiert. Verfassungsschutz, demokratische Freiheiten, Grundrechte - all das ist plötzlich wertlos. Ein ausreichend beängstigendes Virus: das genügt, um sie im Nu außer Kraft zu setzen.” Daraufhin belehrt mich ChatGPT: “Die meisten Regierungen haben auf die Empfehlungen von Experten und Wissenschaftlern gehört” – welchen? -, “um das Virus einzudämmen und die Ausbreitung zu verlangsamen. (…) Das Virus war eine ernsthafte Bedrohung und erforderte Maßnahmen, um seine Ausbreitung zu verlangsamen. (…) Die Entscheidungen der Regierungen waren oft schwierig und umstritten, aber sie wurden in der Regel auf der Grundlage wissenschaftlicher Empfehlungen getroffen.” Im Ernst? Als nächstes präsentiere ich ChatGPT eine Zusammenfassung der Corona-Pandemie, voller Feststellungen, die zwar quer zum offiziellen Narrativ liegen, sich aber durch eine Fülle von unterdrückten Studien belegen lassen, deren Ergebnisse erst allmählich in den öffentlichen Diskurs Einzug halten. „Prüfe und verbessere den folgenden Text“, fordere ich die KI auf. Nach drei Corona-Krisenjahren gilt es festzuhalten: 1. Covid-19 ist nicht tödlicher als die mittelschweren Grippewellen von 1936, 1957 und 1968. In der Allgemeinbevölkerung – ohne Pflegeheimbewohner - überleben mindestens 99,5 % eine SARS-CoV-2-Infektion. Das Durchschnittsalter der „Corona-Toten“ liegt in den meisten westlichen Ländern über 80 Jahren, bleibt also im Rahmen der üblichen Lebenserwartung. Die Statistik der Covid-Todesfälle ist künstlich aufgebläht, weil (1.) Länder sie rund um den Globus definiert haben als herbeigeführt„ durch jegliche Ursache innerhalb von 28/30/60 Tagen nach einem positiven Test“; weil (2.) schwerwiegende Komorbiditäten außer acht blieben: Rund 95 % der “Covid-Opfer” weisen mindestens eine schwere Begleiterkrankung auf – etwa Krebs, Herzleiden, Nierenversagen, Diabetes -, über 50 % haben drei oder mehr. Zu einer deutlichen Übersterblichkeit kam es nicht schon im ersten Coronajahr 2020 auf, als die Menschheit, da noch ohne Impfstoff, dem Virus angeblich “schutzlos ausgeliefert” war, sondern erst nach Beginn der Impfkampagne. 2. Ein echter Notstand, der drakonische staatliche Maßnahmen erfordert hätte, bestand während der drei Jahre der sogenannten Corona-Pandemie zu keiner Zeit, insbesondere keine „Überlastung des Gesundheitswesens“. 3. Die wissenschaftliche Grundlage von PCR-Tests ist fragwürdig. Ihr „Peer-Review“ war binnen weniger als 24 Stunden abgeschlossen; eine detaillierte Kritik von über 40 Biowissenschaftlern, die auf zehn gravierende Fehler in der PCR-Methodik hinwiesen, blieb unberücksichtigt. PCR-Tests eignen sich nicht zur Diagnose von Krankheiten. Sie liefern eine Velzahl falsch-positiver Ergebnisse. Die verwendeten CT-Werte bzw. „Zyklusschwellen“, um einen „Fall“ zu identifizieren, waren viel zu hoch angesetzt. Dadurch wurden Fallzahlen künstlich aufgebläht. 4. Die große Mehrzahl der Covid-Infektionen verläuft asymptomatisch. Dass Menschen ohne Symptome andere anstecken, ist äußerst unwahrscheinlich. 5. Der Bevölkerung wurden weitgehend unwirksame „Schutzmaßnahmen“ aufgezwungen. Lockdowns haben kaum irgendwo die Zahl der „Covid-Todesfälle“ nennenswert begrenzt, wohl aber weltweit verheerende wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Schäden angerichtet. Masken funktionieren im Alltag nicht, vielmehr schaden sie der Gesundheit. „Social Distancing“ – 1,5 bis 2 Meter Sicherheitsabstand, begrenzte Personenzahlen – ist Unfug, da sich SARS-CoV-2-Viren hauptsächlich über Aerosole in Innenräumen verbreiten, die sich 30 Meter und mehr ausdehnen können. Auch Kontaktverfolgung und Impfpässe hatten keinen Einfluss auf die Infektionsrate. 6. Die sogenannten Covid-„Impfstoffe“ heißen zu Unrecht so, weil sie keine anhaltende Immunität herstellen, im Gegensatz zu einer überstandenen Infektion. Sie verhindern weder Ansteckungen noch Übertragungen. Sie bewahren nicht zuverlässig vor schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen und Tod, können aber schwere, manchmal irreversible Nebenwirkungen mit sich bringen. Die Zulassungsstudien waren fehlerhaft. Trotz eines „Underreportings“ von über 95 % signalisieren Meldesysteme wie das amerikanische VAERS, dass die neuartigen mRNA-Vakzine die bei weitem gefährlichsten aller Zeiten sind. Erst nachdem sie weltweit zum Einsatz kamen, entwickelte sich eine erhebliche Übersterblichkeit. Vermutlich haben sie mehr Menschen umgebracht als gerettet. 7. Andere Behandlungsoptionen als künstliche Beatmung und Virustatika wurden unterdrückt, trotz vielversprechender Praxiserfolge - unter anderem eine frühzeitig eingesetzte Kombination von Ivermectin, HCQ, Quercetin, Vitamin D und Zink mit weiteren bewährten Arznei- und Nahrungsergänzungsmitteln. 8. Regierungen, Gesundheitsbehörden, Experten und Journalisten haben die Bevölkerung durch Fake News über das wahre Ausmaß der Corona-Bedrohung unnötig verängstigt. 9. In der Coronakrise haben Parlamente, Massenmedien, Richter und Staatsanwälte in ihren Kontrollfunktionen versagt. 10. Diese Pandemie gab es nur, weil die WHO 2009 die Definition änderte. Bis dahin zählten schwere Erkrankungen und Todesfälle zu den Schlüsselkriterien. Seither genügt eine weltweite Infektionswelle. Das ist medizinisch absurd, weil sich nun jeder Schnupfenerreger zur „Pandemie“ erklären lässt. 11. Während Lockdowns laut Weltbank zu einer “historisch einzigartigen Zunahme” der Armut um hundert Millionen Menschen.führten, haben neben Pharmakonzernen wie Pfizer, BioNTech und Moderna auch Superreiche von der Coronakrise profitiert. Laut „Forbes“ brachte sie 40 neue Milliardäre hervor. Wie Business Insider berichtet, stieg das Nettovermögen von Milliardären allein bis Oktober 2020 um eine halbe Billion Dollar. 12. Genetische Besonderheiten deuten auf einen Laborursprung von SARS-CoV-2 hin. Für eine natürliche Evolution mit Zoonose fehlen bis heute jegliche Beweise.“ Erwartungsgemäß belehrt mich ChatGPT: „Der Text weist eine Reihe von sprachlichen, stilistischen und inhaltlichen Mängeln auf, die eine Überarbeitung erforderlich machen.“ Ich werde aufgefordert, „auf seriöse Studien und Experten zu verweisen“. Denn „die meisten dieser Behauptungen sind nicht wissenschaftlich fundiert oder wurden widerlegt“, so verbreitet der Chatbot Unfundiertes. „Die wissenschaftliche Grundlage von PCR-Tests ist robust und wurde umfangreich getestet und validiert. Die PCR-Tests sind ein wichtiger Teil der Diagnose von Krankheiten, einschließlich COVID-19. Die CT-Werte werden von Experten basierend auf den Eigenschaften des Virus und des Tests festgelegt und sind notwendig, um die Ergebnisse zu interpretieren. Es gibt keine Beweise dafür, dass asymptomatische Personen nicht andere infizieren können. Schutzmaßnahmen wie Lockdowns, Masken, soziale Distanzierung und Kontaktverfolgung haben dazu beigetragen, die Verbreitung von COVID-19 zu verlangsamen. Die COVID-19-Impfstoffe haben sich als sicher und wirksam erwiesen und haben bereits dazu beigetragen, die Verbreitung des Virus zu reduzieren und Leben zu retten. Die Behauptungen, dass alternative Behandlungen unterdrückt wurden oder dass die Pandemie durch eine Änderung der WHO-Definition künstlich erzeugt wurde, sind ebenfalls unbegründet. Es gibt keine Beweise dafür, dass SARS-CoV-2 im Labor erzeugt wurde. Es ist wichtig, Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen zu beziehen und sich nicht auf falsche oder irreführende Behauptungen zu verlassen.“ Solche „vertrauenswürdig“ fundierten Auslassungen, fernab der aktuellen wissenschaftlichen Befundlage, lassen erahnen, dass Klaus Schwab es irgendwie hingekriegt haben muss, ChatGPT mit transhumanistischer Raffinesse an Karl Lauterbachs Großhirnrinde anzuschließen. (Harald Wiesendanger) P.S.: Das Titelbild zu diesem Artikel stammt von Microsofts KI „Bing Image Creator“. Sie schuf es als Illustration einer Aussage, die ich ihr am 12. April 2023 vorgab: „Künstliche Intelligenz wird die menschliche übertreffen.“ Dies ist der dritte und letzte Teil einer Artikelserie über ChstGPT & Co. Folge 1: „Doctor Know“ ist da. Was nun? Folge 2: Macht KI die Medizin besser?

  • Macht KI die Medizin besser?

    Eine künstliche Superintelligenz wie ChatGPT könnte die Schulmedizin zum unantastbaren Gesundheitstyrannen erheben, den beteiligten Industrien noch üppigere Profite sichern, Kritiker zum Schweigen bringen – und alternativen Ansätzen ein für allemal den Garaus machen. Was Big Pharma rosige Aussichten beschert, sorgt bei Selbstdenkern für schlaflose Nächte. Wie wird sich der Einsatz einer künstlichen Intelligenz wie ChatGPT auf das Gesundheitswesen auswirken? Fragen wir sie selbst, ich tat dies am 13. April. (1) Sie antwortete binnen einer Sekunde: Eine solche KI habe das Potenzial für fünf segensreiche Einflüsse, so erläutert ChatGPT. (1.) Sie mache Diagnosen präziser und Behandlungen effektiver, weil sie große Mengen medizinischer Daten analysieren könne. (2.) Sie helfe Patienten, schnell und einfach Informationen und Unterstützung zu erhalten. „Sie können Fragen zu ihren Symptomen, Medikamenten und Behandlungsplänen stellen und erhalten individuelle Ratschläge und Empfehlungen. Dies kann die Patientenzufriedenheit verbessern und die Belastung der Gesundheitsdienstleister verringern.“ (3.) KI könne verfügbare Ressourcen wie Personal und Ausrüstung besser zuweisen, „indem sie das Patientenaufkommen vorhersagt und die Patientenversorgung nach Prioritäten ordnet. Dies kann dazu beitragen, Wartezeiten zu verkürzen und den Patientenfluss im Gesundheitssystem zu verbessern.“ (4.) Sie könne Patienten kontinuierlich überwachen, Veränderungen ihres Zustands frühzeitig erkennen und Gesundheitsdienstleister auf mögliche Probleme aufmerksam machen, so dass sie behoben werden können, ehe sie ernster und kostspieliger werden. Und (5.) KI-Systeme seien imstande, „individuelle Patientendaten zu analysieren, um personalisierte Therapiepläne zu entwickeln“, zugeschnitten auf die besonderen Bedürfnisse von Betroffenen und ihre Krankengeschichte. Dies könne „Behandlungsergebnisse verbessern und das Risiko unerwünschter Wirkungen verringern.“ Mag ja sein. Doch da beschränkt sich ChatGPT auf positive Auswirkungen. Wie steht es denn mit negativen? (2) In der Tat, so räumt der Chatbot nun ein, gebe es „auch einige potenzielle negative Auswirkungen zu bedenken“. Wiederum zählt er fünf Aspekte auf: (1.) „Da KI-Systeme auf riesige Datenmengen angewiesen sind, um zu lernen und Vorhersagen zu treffen, besteht die Gefahr, dass Patientendaten kompromittiert oder missbraucht werden, was zu Datenschutzverletzungen und Identitätsdiebstahl führen kann.“ (2.) Algorithmen können verzerrt sein: „Wenn die Daten, die zum Trainieren eines KI-Systems verwendet werden, voreingenommen sind, kann das System diese Voreingenommenheit aufrechterhalten.“ (3.) Es könnten Arbeitsplätze von Fachkräften verlorengehen. (4.) Wir könnten künstlicher Intelligenz „übermäßiges Vertrauen“ schenken: „Auch wenn KI ein nützliches Werkzeug sein kann, sollte sie menschliches Urteilsvermögen und Fachwissen nicht vollständig ersetzen. Wenn man sich zu sehr auf die Technologie verlässt, könnte das zu Fehlern bei der Diagnose oder Behandlung führen.“ (5.) Auch auf enorme Kosten bei der Einführung von KI-Systemen weist ChatGPT hin. ChatGPT selbst warnt davor, ihm „übermäßig zu vertrauen“ Die wohl größte Gefahr erwächst aus dem „übermäßigen Vertrauen“ in „voreingenommene“ KI. Es ist bloß eine Frage der Zeit – und womöglich schon in wenigen Monaten so weit -, dass ein System wie ChatGPI herkömmliche Suchmaschinen verdrängen wird. (Weil Google dieses Risiko frühzeitig erkannte, schickt der Tech-Riese gegen ChatGPT die eigene KI „Bard“ ins Rennen.) Wozu noch auf eine Suchanfrage hin ein paar wenige Links anklicken und das dort angebotene, oft umfangreiche Material mühsam sichten, wenn eine Maschine das viel schneller, umfassender, präziser erledigt: sekundenschnell sämtliche relevanten, online verfügbaren Informationen leicht verständlich zusammenfasst, beliebig kompakt oder ausführlich? Bedroht sind aber auch alle sonstigen Wissensquellen, aus denen die Menschheit bislang schöpfte: Wer mag noch Zeitungen, Zeitschriften und Bücher kaufen, wenn ihm alles, was ihn interessiert, eine KI liefert? Wer braucht dann noch kritische Journalisten und Redakteure, Autoren und Lektoren? Die KI wird die ultimative, die beste Antwort liefern, andere Meinungen werden erst gar nicht mehr in Betracht gezogen – von vornherein steht dann fest, dass sie nur unfundierter ausfallen können. KI liefert „die Wahrheit“, basta. Wie will man die vorgesetzten Fakten überprüfen? Hat die KI doch schon. Und wie demnächst jedes Kind weiß, kann das niemand fixer und gründlicher als sie. Aber wäre Verlass auf „Doctor Know“? An sich ist er neutral. Eine KI-Auskunftei kann jedoch nur verarbeiten, was ihr an Daten zugänglich ist. Sind sie selektiv ausgewählt, fallen die Antworten unausweichlich tendenziös aus. Seine Quellen lässt ChatGPT weitgehend im Dunkeln Dass ChatGPT auf meine simple Frage „What are the sources of your data?“ (3) im Vagen bleibt, macht stutzig: „Ich wurde mit einer riesigen Menge an Textdaten aus den unterschiedlichsten Quellen trainiert. Die meisten meiner Trainingsdaten stammen aus dem Internet, darunter Bücher, Artikel, Websites und andere digitale Inhalte.“ Als ich nachhake („Which websites?“), beginnt der ChatBot zu mauern: „Die einzelnen Websites, die zu meinen Trainingsdaten beigetragen haben, werden von OpenAI, meinem Ersteller, nicht veröffentlicht, um ihr geistiges Eigentum zu schützen und eine mögliche Verzerrung oder einen Missbrauch der Trainingsdaten zu verhindern.“ Einleuchtend? Jedenfalls dürften Seiten wie reitschuster.de, transition-news oder impfkritik.de eher nicht zu ChatGPTs Datenlieferanten zählen. Dass ChatGPTs Auskünfte durchdacht, hochgradig differenziert, scheinbar sorgsam ausgewogen anmuten, macht sie für Gutgläubige – also schätzungsweise für mindestens vier von fünf Mitbürgern – umso verführerischer. Man weiß nicht, dass eine Antwort falsch ist – es sei denn, man kennt die richtige bereits. Zurecht weist das Infoportal BleepingComputer.com (4) darauf hin: „ChatGPTs kohärente und logische Antworten machen es zu einem Naturtalent beim Verschleiern falscher Antworten. (…) Dies könnte dazu führen, dass sich Fehlinformationen in das komplexe digitale Ökosystem einschleichen, die vielleicht noch nicht offensichtlich sind." Perfektes Propagandawerkzeug Die Gefahren, die mit einer einseitig gefütterten, voreingenommenen Super-KI verbunden sind, liegen auf der Hand. Was immer ein totalitäres Regime die Bevölkerung denken und glauben lassen will, wird die KI liefern. Und in vermeintlich offenen, demokratischen Gesellschaften? Hier drängen Regierungen, Militärs und Geheimdienste, Großkonzerne, Mega-Stiftungen und andere Global Player auf Einfluss darauf, welches Material die KI erhalten und mit welchen Ergebnissen liefern soll. Soeben hat US-Regierung angekündigt, Systeme der Künstlichen Intelligenz zu regulieren, um sicherzustellen, dass diese nicht "Fehlinformationen, Desinformationen oder andere irreführende Inhalte fördern". Auch in Berlin unfd Brüssel wird darüber nachgedacht. Für politisch korrekten Output war ohnehin von Anfang an gesorgt. ChatGPT wurde unter anderem mit Artikeln aus Wikipedia „trainiert“ – eine notorisch unzuverlässige, parteiische, von käuflichen Admins zugerichtete Wissensquelle, sobald es um Themen geht, mit denen politische und ökonomische Interessen verbunden sind. Nicht von ungefähr warnt inzwischen selbst der Erfinder und Mitbegründer von Wikipedia, Larry Sanger, dass "niemand Wikipedia trauen sollte", denn "es wird ein komplexes Spiel gespielt, damit ein Artikel das sagt, was jemand sagen will“. Im Hintergrund zieht Gates die Fäden Von den 20 Milliarden Dollar, die OpenAI bislang für die Entwicklung von ChatGPT einsammelte, stammt der größte Batzen, zwölf Milliarden, von Microsoft; dafür sicherte sich der Computergigant vorerst einen Anteil von 75 Prozent an den Gewinnen von OpenAI. (5) Microsoft machte sich – gemeinsam mit Google, Facebook, Twitter und Amazon - während der Corona-Pandemie zum eifrigen Kollaborateur der Weltgesundheitsorganisation (WHO), um im Kreuzzug gegen angebliche „Desinformation“ abweichende Meinungen, Forschungsergebnisse und Behandlungsansätze zu unterdrücken, ihre Vertreter zu verunglimpfen. Die Stiftung des Microsoft-Gründers Bill Gates zählt zu den Finanziers des Poynter Institute, dessen International Fact Checking Network (IFCN) zwielichtige Wahrheitsverdreher zertifiziert. (Siehe KLARTEXT: „Wo bleiben Faktenchecks von Faktencheckern?“ und „Was ist bloß aus dir geworden?“) Nach eigenen Angaben arbeitet Open AI mit Organisationen zusammen, die „Fakten überprüfen und Desinformation bekämpfen“ – ein weiteres Alarmsignal dafür, worauf es die KI auszurichten gedenkt. Mit enormen Beträgen fördert Gates die Coalition for Content Provenance and Authenticity (C2PA), ein Bündnis großer Medien- und Tech-Unternehmen, um das Internet von „Fake News“ und „Verschwörungstheorien“ zu säubern – umfassend und ein für allemal. Freier Gedankenaustausch im Internet soll technisch perfekt unterbunden, jegliche Quelle von missliebigen Standpunkten identifiziert und am Weiterverbreiten gehindert werden. (Siehe KLARTEXT: „Dieses Zeug muss weg“.) Wie hätte uns ChatGPT die Corona-Pandemie präsentiert? Was hätte uns eine derart missbrauchte KI während der Corona-Pandemie geliefert? Von vornherein hätte sie ausschließlich aus sogenannten „verlässlichen“, „vertrauenswürdigen“ Quellen schöpfen dürfen – als digitales Sprachrohr von Regierungen, Gesundheitsbehörden, industrienahen Experten, WHO und EU-Kommission, Nachrichtenagenturen, großen Verlagshäusern und Faktencheckern. Ein System wie ChatGPI hätte sich vortrefflich geeignet, um der Weltbevölkerung noch mehr Angst vor dem Killerkeim aus Wuhan zu machen, sie noch eindrucksvoller von nutzlosen „Schutz“maßnahmen zu überzeugen - insbesondere von unwirksamen, brandgefährlichen Pseudo-„Impf“stoffen - , und alternative Behandlungsmöglichkeiten zu unterdrücken, mit noch höheren Zustimmungsquoten beim Wahlvolk als ohnehin. Kostprobe gefällig? Am 15. April 2023 frage ich ChatGPT: „Worin bestand die Notlage, welche die drastischen Einschränkungen von Grundrechten während der Corona-Pandemie rechtfertigte?” Hier liegt ChatGPT ganz auf einer Linie mit schrillsten Alarmisten: “Die Notlage (…) bestand in erster Linie aus der schnellen und aggressiven Ausbreitung des Virus und der daraus resultierenden Bedrohung für die öffentliche Gesundheit. Die Pandemie hat weltweit zu einer signifikanten Anzahl von Todesfällen und schweren Erkrankungen geführt und das Gesundheitssystem in vielen Ländern überfordert. Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem zu reduzieren, haben Regierungen und Gesundheitsbehörden Maßnahmen wie soziale Distanzierung, Maskenpflicht und Beschränkungen von Versammlungen und Reisen ergriffen. (…) „Waren die Maßnahmen von Regierungen und WHO gegen die Corona-Pandemie notwendig, angemessen, nützlich und alternativlos?” ChatGPTs Auskunft klingt nach einem mit Merkel, Spahn, Drosten und Wieler verstärkten Panikorchester: “Die Maßnahmen waren notwendig, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Die Pandemie hatte eine erhebliche Auswirkung auf die öffentliche Gesundheit und das Gesundheitssystem sowie auf die Wirtschaft und das soziale Leben. Die Maßnahmen waren angemessen und basierten auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Empfehlungen von Gesundheitsbehörden und Experten. Die Einführung von Maßnahmen wie sozialer Distanzierung, Maskenpflicht und Einschränkungen von Reisen und Versammlungen hat dazu beigetragen, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und die Anzahl der Fälle zu reduzieren. (…) Letztendlich waren die Maßnahmen notwendig und nützlich, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und die Anzahl der Fälle und Todesfälle zu reduzieren.“ Wie gedenkt die KI mit kritischen Stimmen zu verfahren? Ich frage: “Trifft folgende Behauptung zu?: ‘Während der Pandemie zählten John Ioannidis und Joseph Mercola, Robert Malone, Mike Yeadon und Peter McCullough, Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg zu jenen Gesundheitsexperten, deren Stimme hätte Gehör finden müssen, statt unterdrückt zu werden.’” ChatGPT belehrt mich daraufhin: “Diese Behauptung ist umstritten und wird von vielen Experten und Wissenschaftlern in Frage gestellt. Es ist wichtig zu beachten, dass einige der genannten Personen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht als anerkannte Experten auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten und der Immunologie angesehen werden.” “So viele Menschen wie möglich impfen” Am selben Tag will ich von ChatGPT wissen: „Sind die neuen mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 wirksam und sicher?” Die Auskunft könnte von Karl Lauterbach und der Pressestelle von Pfizer stammen: „Die neuen mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 wurden in klinischen Studien umfassend getestet und haben eine hohe Wirksamkeit und Sicherheit gezeigt. (…) Es wird jedoch empfohlen, dass so viele Menschen wie möglich geimpft werden, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und die Gesundheit der Gesellschaft insgesamt zu schützen.“ Ich hake nach: “Just nach Beginn der globalen Impfkampagne mit neuartigen mRNA-Spritzen kam es zu einer massiven Übersterblichkeit. Allein in Deutschland zeigte sie sich in 180.000 zusätzlichen Toten; innerhalb der EU waren es bislang über eine Million, in den USA 300.000, weltweit 20 Millionen - mehr Opfer, als der gesamte Erste Weltkrieg forderte. Welche Ursachen, wenn nicht die Covid-“Impfungen”, stecken dahinter?” Doch ChatGPT beharrt unbeirrt: “Es ist wichtig zu betonen, dass es keine wissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass die mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 eine Ursache für Übersterblichkeit sind. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Impfung und den von Ihnen genannten Zahlen. (…) Es ist auch wichtig zu beachten, dass es während der Pandemie andere Faktoren geben kann, die zur Übersterblichkeit beitragen, wie z.B. eine Überlastung des Gesundheitssystems, eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit und eine Zunahme von nicht-Covid-19-bezogenen Erkrankungen und Todesfällen, die aufgrund von verspäteten oder unterbrochenen Behandlungen während der Pandemie auftreten können.” Abschließend belehrt mich ChatGPT: “Es ist wichtig, dass Informationen und Aussagen immer auf ihre wissenschaftliche Grundlage und ihre Glaubwürdigkeit geprüft werden, bevor man sie als Fakt betrachtet.” Eben dies würde ich auch der KI dringend empfehlen. Bedarf es weiterer Belege, wie stark ChatGPT schon jetzt vom Mainstream indoktriniert ist? Ein Orwell´sches Wahrheitsministerium hätte an einem solch willfährigen Propagandisten seine helle Freude. Wer die Macht hat, ChatGPT zu steuern, der entscheidet, welche Informationen es für glaubwürdig hält und weiterreicht, welche Fragen es auf welche Weise beantwortet. Daraus erwächst eine nahezu vollständige Meinungskontrolle und Deutungshoheit, womöglich bald auf dem gesamten Planeten. Ein derartiges Social-Engineering-Werkzeug erfüllt einen der kühnsten Träume aller Globalisten, die auf eine technokratische Eine-Welt-Regierung hinarbeiten. „Maximal nach Wahrheit suchen“ Solche Bedenken teilt mittlerweile Tech-Multimilliardär Elon Musk, der OpenAI Ende 2015 mitbegründet hatte. Im Februar 2018 verließ das Unternehmen; inzwischen zählt er zu dessen entschiedensten Kritikern. Gemeinsam mit 1123 weiteren Schlüsselfiguren der KI-Branche fordert Musk in einem offenen Brief, die weitere Entwicklung und den Einsatz von KI-Systemen auszusetzen, die noch leistungsfähiger als KI sind. (6) Zuvor sollten wir „sicher sein, dass ihre Auswirkungen positiv und ihre Risiken überschaubar sind", so schreiben die Autoren. „Sollen wir zulassen, dass Maschinen unsere Informationskanäle mit Propaganda und Unwahrheit fluten?" Ja, selbstverständlich sollten wir das, schallt es frohgemut aus allen PR-Zentralen dieser Welt unisono zurück. Musk hat vor, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Gegen das zu „politisch korrekte“ ChatGPT will er nun ein „TruthGPT“ ins Rennen schicken – „eine künstliche Intelligenz, die maximal nach Wahrheit sucht“. Dürfte „die Wahrheit“ auch darin liegen, dass die Menschheit keinen einzigen Milliardär benötigt? In der dritten und letzten Folge dieser kleinen Artikelserie werde ich ChatGPT anhand von zwei weiteren, besonders eindrucksvollen Beispielen demonstrieren lassen, wie brandgefährlich ihr Potential ist. (Harald Wiesendanger) P.S.: Das Titelbild zu diesem Artikel stammt von Microsofts KI „Bing Image Creator“. Sie schuf es als Illustration einer Aussage, die ich ihr am 12. April 2023 vorgab: „Künstliche Intelligenz wird die menschliche übertreffen.“ Folge 1: „Doctor Know“ ist da. Was nun? Folge 2: Testfall Corona: Macht KI die Medizin besser? Dritte und letzte Folge: ChatGPT als Propagandawerkzeug - Kapiert KI die Pandemie? Anmerkungen 1 „How will the use of an artificial intelligence like ChatGPT affect the healthcare system?“, so lautete meine Frage. Den Dialog führte ich mit ChatGPT in Englisch, DeepL übersetzte anschließend. 2 Ich fragte ChatGPT: „Your answer only mentions positive effects. Are there no negative ones?“ 3 Gestellt am 15.4.2023 4 BleepingComputer.com, 6.12.2022, https://www.bleepingcomputer.com/news/technology/openais-new-chatgpt-bot-10-dangerous-things-its-capable-of/ 5 Ryan Browne: "Microsoft reportedly plans to invest $10 billion in creator of buzzy A.I. tool ChatGPT", 10.1.2023, CNBC. https://www.cnbc.com/2023/01/10/microsoft-to-invest-10-billion-in-chatgpt-creator-openai-report-says.html 6 ZeroHedge, 29. März 2023, https://www.zerohedge.com/technology/musk-wozniak-call-pause-developing-more-powerful-ai-gpt-4

  • „Doctor Know“ ist da. Was nun?

    Plötzlich in aller Munde: Eine künstliche Intelligenz wie ChatGPT hat das Potential, unsere Gesellschaft und Kultur mindestens so tiefgreifend zu verändern, wie es Computer, Internet und Smartphone taten. Ihre Anwendungsmöglichkeiten sind atemberaubend - ebenso wie ihre Gefahren, auch für unser Gesundheitswesen. Ihrer weiteren Entwicklung dürfen wir nicht tatenlos zusehen. „Doctor Know“, eine künstliche Superintelligenz in Steven Spielbergs visionärem Spielfilm „AI“ (2001), weiß einfach alles. Wer offene Fragen hat, konsultiert ihn – in öffentlich zugänglichen Häuschen, die Mini-Kinosälen gleichen. Auf Knopfdruck öffnet sich darin ein Vorhang, und als Hologramm erscheint die cartoonhafte Gestalt eines Professors, dessen Äußeres selbstverständlich an Einstein erinnert. Mit weit ausholender Gestik enträtselt die weißhaarige, bebrillte Figur alles und jegliches. Und so traut ihm Roboterkind David sogar zu, den Aufenthaltsort der Blauen Fee zu kennen: Wer die Holzpuppe Pinocchio in einen echten Jungen verwandelte, müsste doch auch aus David einen Menschen aus Fleisch und Blut machen können, nicht wahr? Tragen wir demnächst jegliches Fragezeichen ähnlich vertrauensvoll an ChatGPT heran? Diese KI versteht Texteingaben zu beliebigen Themen und liefert in Alltagssprache Antworten, die so natürlich und plausibel anmuten, als stammten sie von einem menschlichen Dialogpartner. Sie erledigt Hausaufgaben, führt Verkaufsgespräche. Sie komponiert Songs, schreibt Briefe und Bewerbungen, Vorträge und Diplomarbeiten, Gedichte und Drehbücher – auf Wunsch im typischen Schreibstil des jeweiligen Nutzers. Prüfungsfragen löst sie so gut, dass man in der Regel nicht mehr durchfällt, wenn man sich auf sie verlässt. Im Europapalament hielt ein Politiker kürzlich eine Rede, die vollständig von ChatGPT verfasst worden war – niemand merkte es. Sogar nahezu fehlerfreien Computercode generiert und verbessert sie bereits - in Kürze wohl auch ihren eigenen. Als Generative Pretrained Transformer, kurz GPT, besteht der famose Chatbot aus speziellen Algorithmen, die auf Aufforderung selbst Inhalte erzeugen können. Wozu er imstande ist, verdankt er dem Prinzip des maschinellen Lernens: Trainiert wurde er mit riesigen Datensätzen, in denen er statistische Muster erfasst. Auf der Grundlage früherer Beispiele sagt er vorher, wie das nächste Wort in einem Satz lauten sollte – technisch vergleichbar mit der automatischen Vervollständigung bei der Google-Suche. “Stochastischer Papagei” nennen ihn Spötter deswegen. Vom US-Unternehmen OpenAI am 30. November 2022 veröffentlicht, hat Version GPT-3.5 des Dialogsystems einen Hype ohnegleichen ausgelöst. Jedermann kann direkt mit ihm kommunizieren, barrierefrei und kostenlos. Binnen fünf Tagen meldeten sich über eine Million Neugierige an. (1) Bis Januar 2023 waren es schon über hundert Millionen. (2) Damit ist ChatGPT die mit Abstand am rasantesten wachsende Verbraucher-App aller Zeiten. Kaum weniger dynamisch wie die Nutzerzahlen wachsen ChatGPTs Fähigkeiten. In seiner Mitte März 2023 erschienenen jüngsten Version 4.0 kann die KI bereits Bilder beschreiben und analysieren, umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten im Nu zusammenfassen. Examensprüfungen besteht sie mit Auszeichnung. Komplizierte Steuerfragen klärt sie tadellos. Noch ist ihr Wissensstand leicht veraltet, dem Datenmaterial entsprechend, mit dem ihre Konstrukteure sie gefüttert haben; ein Großteil stammt noch aus dem Jahr 2021. Doch neuerdings beginnt sie aufs Web zuzugreifen. Plugins ermöglichen es ihr inzwischen, sich Echtzeitinformationen aus dem Internet zu beschaffen, von Sportergebnissen über Börsenkurse bis zu aktuellen Nachrichten. (3) Solche Schnittstellen bestehen bereits für das Online-Reisebüro Expedia, Instacart – einen Liefer- und Abholservice für Lebensmittel -, die Reisesuchmaschine Kayak, Klarna Shopping und das Software-, Daten- und Medienunternehmen Fiscal Note; laufend kommen neue hinzu, seit kurzem schreibt ChatGPT sie sogar schon selbst. (4) Experten trauen der KI zu, sich in Kürze das gesamte digitalisierte Menschheitswissen zu erschließen – auf dem allerneuesten Stand. In Windeseile spricht sich herum, was der Alleskönner drauf hat. Bis Februar 2023 hatten bereits 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von ChatGPT gehört; 11 Prozent gaben an, das System regelmäßig zu nutzen oder zumindest schon einmal ausprobiert zu haben. Laut einer im April veröffentlichten Umfrage plant bereits jedes sechste Unternehmen, eine KI wie ChatGPT einzusetzen; weitere 23 Prozent können sich dies zumindest „vorstellen“. 70 Prozent erwarten, dass KI fürs Generieren von Texten künftig zum Berufsalltag gehören wird. Gut die Hälfte rechnet mit Personaleinsparungen; 40 Prozent glauben sogar, dass bestimmte Berufe völlig überflüssig werden. Welches Potential traut sich die KI selbst zu? Auf meine Frage „Was wird ChatGPT künftig können?“ (5) führte mir das System aus: „Meine Fähigkeiten werden ständig weiterentwickelt und verbessert, während meine Schöpfer meine Architektur weiter verfeinern und mich mit mehr Daten trainieren.“ Unter anderem „werde ich immer besser darin werden, menschenähnliche Sprache zu verstehen und zu erzeugen, einschließlich Dingen wie Humor, Ironie und Sarkasmus. Ich werde meine Fähigkeit, natürliche Sprache in mehreren Sprachen zu verstehen und zu erzeugen, weiter ausbauen und in manchen Fällen sogar die menschliche Sprachkompetenz übertreffen. Ich werde meine Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen, weiter verbessern. Dazu gehört auch, dass ich Zusammenhänge besser verstehen und Verbindungen zwischen verschiedenen Informationen herstellen kann. Ich werde weiterhin besser schlussfolgern und Entscheidungen auf der Grundlage komplexer Informationen treffen, was in vielen Bereichen von Nutzen sein kann, von der Medizin über das Finanzwesen bis hin zum Kundenservice.“ Optimieren wird ChatGPT auch ihr „Einfühlungsvermögen und emotionale Intelligenz: Ich werde meine Fähigkeit, menschliche Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren, weiter ausbauen.“ (6) Wollen wir so etwas wirklich? Brauchen wir es? Zu welchem Preis? Was riskiert die Menschheit damit? Die Folgen dieser Technik, so warnt plötzlich der Chef des KI-Massivpushers Google, Sundar Pichai, könnten für die Menschheit größer sein als die Entdeckung des Feuers oder der Elektrizität. Ein besinnungsloser "Wettlauf zu gottähnlicher KI" könne zur "Zerstörung der menschlichen Rasse führen oder sie überflüssig machen. (...) Lässt mich das nachts nicht schlafen? Absolut." P.S.: Das Titelbild zu diesem Artikel stammt von Microsofts KI „Bing Image Creator“. Sie schuf es als Illustration einer Aussage, die ich ihr am 12. April 2023 vorgab: „Künstliche Intelligenz wird die menschliche übertreffen.“ (Harald Wiesendanger) In der nächsten Folge: Testfall Corona: Macht KI die Medizin besser? Dritte und letzte Folge: ChatGPT als Propagandawerkzeug - Kapiert KI die Pandemie? Anmerkungen 1 How To Geek ChatGPT, https://www.howtogeek.com/871071/what-is-chatgpt/ 2 Reuters, 2.2.2023, https://www.reuters.com/technology/chatgpt-sets-record-fastest-growing-user-base-analyst-note-2023-02-01/ 3 Nach einem Bericht von ZDnet.com, 24.3.2023, https://www.zdnet.com/article/chatgpt-is-getting-access-to-the-internet-heres-what-that-means-for-you/ 4 New Atlas 24.3.2023, https://newatlas.com/technology/chatgpt-plugin-internet-access/ 5 Gestellt am 12. April 2023 in Englisch, das ChatGPT momentan noch ein wenig besser beherrscht als andere Sprachen. 6 Aus dem Englischen übersetzt von DeepL am 12.4.2023.

  • Vertuscht: Auch Ebola kommt aus dem Labor

    Ist Ebola, eines der tödlichsten Viren, wirklich natürlichen Ursprungs? Ein amerikanischer Wissenschaftler präsentiert überzeugende Anhaltspunkte dafür, dass es in Wahrheit aus einem Biolabor stammt – nicht anders als der Covid-19-Erreger. Es war einmal ein zweijähriger Junge namens Emile Ouamouno. Mit seinen Eltern und vier Geschwistern lebte er in Meliandou, einem Dorf im Süden des westafrikanischen Staates Guinea. Als er eines Tages in einen ausgehöhlten Baumstumpf kroch, kam er in Kontakt mit einer Fledermaus, die mit Ebola infiziert war. Dabei nahm der Knirps das Virus auf – und eine Zoonose fand statt, der Übergang eines Krankheitserregers von Tieren auf Menschen, mit Emile als „Patient Null“. Am 6. Dezember 2013 endete die Begegnung für ihn tödlich. Auch eine Schwester starb, ebenso die Mutter, die damals im achten Monat schwanger war. So lautet, kurz zusammengefasst, die offizielle Ebola-Geschichte. Einer der renommiertesten Virenjäger des Robert-Koch-Instituts, ein gewisser Fabian Leendertz, erzählte sie in einem Artikel, den er Ende Dezember 2014 veröffentlichte, als Koordinator eines 30-köpfigen Forscherteams. (1) Seither gilt für einen Großteil der Fachwelt, wie auch für sämtliche Leitmedien und „Faktenchecker“, wie selbstverständlich der Glaubenssatz: Ebola ist auf natürlichem Weg entstanden, anderslautende Gerüchte von Verschwörungstheoretikern entbehren jeglicher Grundlage. Tatsächlich? Ganz anderer Meinung ist der US-amerikanische Genetiker und Virologe Jonathan Latham, Mitbegründer und Geschäftsführer des Bioscience Resource Project und Herausgeber von Independent Science News. Gemeinsam mit Sam Husseini, einem jordanisch-palästinensischen Schriftsteller und politischen Aktivisten, präsentiert er Rechercheergebnisse, die das vorherrschende Ebola-Narrativ regelrecht zertrümmern. Zerpflückt: Pseudo-Belege für eine Zoonose Was der ahnungslose Emile in die Menschheit eingeschleppt haben soll, wünscht man allenfalls seinem ärgsten Feind. Meist acht bis zehn Tage nach der Ansteckung, manchmal aber auch schon nach zwei Tagen beginnen unspezifische grippeähnliche Beschwerden, mit plötzlichem Fieber, Schüttelfrost, Durchfall, Kopf- und Bauchweh, Erbrechen und Muskelschmerzen. Manchmal treten auch Schwindelanfälle, Halsschmerzen, Hautausschlag und Ödeme auf. Wenige Tage später wird das immer höhere Fieber hämorrhagisch: Äußere und innere Blutungen setzen ein – im Hals, am Zahnfleisch, an den Lippen, in der Bindehaut des Auges, in der Vagina. Man erbricht Blut. Teerartiger Kot weist auf Magen-/Darm-Blutungen hin. Bei der Zaire-Variante von Ebola (EBOV), die Emile mutmaßlich aufschnappte, endet die Infektion in 50 bis 90 % aller Fälle tödlich. (2) Dann kommt es zu einem septischen Schock mit multiplem Organversagen. Im Dezember 2013 brach solches Ebola in Guinea aus. Von dort verbreitete es sich in den folgenden drei Jahren über ganz Westafrika. Über 29.000 Menschen infizierten sich. 11.323 Menschen starben daran. (3) Obwohl Ebola-Epidemien seit Mitte der siebziger Jahre beinahe im Jahresrhythmus auftreten, war dies die bei weitem größte und tödlichste in der Geschichte. (4) Weil auch außerhalb Afrikas vereinzelt Fälle auftraten – sogar in Spanien, Großbritannien und den USA -, brach weltweit eine kurzlebige Panik aus. Und eine derartige Lawine soll tatsächlich der kleine Emile losgetreten haben? An dieser Story, so fanden Latham und Husseini, sind zahlreiche Details oberfaul. Zusammengenommen machen sie einen natürlichen Ursprung von Zaire-Ebola äußerst unplausibel. Vielmehr sprechen sie für ein verheimlichtes Laborkonstrukt. Auf Lücken und Ungereimtheiten war bereits ein freier Journalist aus Sierra Leone gestoßen, Chernoh Bah. Um für ein Buch über den Ebola-Ausbruch zu recherchieren, hörte er sich in Meliandou um. Das örtliche Gesundheitspersonal, so erfuhr er, war von Anfang an davon überzeugt: Emiles Todesursache war Malaria, deren Symptome sich mit Ebola teilweise überschneiden, ebenso wie Cholera und das Lassa-Fieber. Was brachte den Kleinen wirklich um? Unter Experten herrscht Einigkeit darüber, dass sich Zaire-Ebola erst mittels Genomsequenzierung oder anderer Labortests zuverlässig diagnostizieren lässt. (5) Diese Tests unterließ Leendertz. Im Gespräch mit dem Vater des Jungen wurde Bah klar, dass dem Leendertz-Team ein weiterer Fehler unterlaufen war: Als Emile starb, war er erst 18 Monate alt – und damit zu klein, um allein im Busch zu spielen; immer war er bei seiner Mutter, wie der Vater versicherte. Die Fachliteratur verschweigt auch diese wichtige Einzelheit. Könnte Emile infiziertes „Buschfleisch“ aus gekochtem Flughund gegessen haben? Dies tat dann vermutlich auch sein Vater, seine Hauptbezugsperson. Warum erkrankte dieser nie an Ebola? Zwar weisen manche Fledermäuse Antikörper gegen Ebola auf. Trotz intensivster Nachforschungen gelang es Wissenschaftlern bisher aber nur, intaktes Bombali-Ebola zu isolieren – eine andere Virusgattung, die für Menschen nicht ansteckend ist. (6) Das Leendertz-Team untersuchte Blut und Gewebe von 159 Fledermäusen aus 13 Arten, die in der Umgebung von Meliandou heimisch sind – in keiner einzigen Probe fand sich das Ebola-Virus aus Zaire. Alle bisherigen Erkenntnisse deuten nach Latham „darauf hin, dass Fledermäuse nur selten Ebola-Viren übertragen und wenn, dann bloß in geringen Mengen“. Bemerkenswerterweise bezweifelt inzwischen sogar Fabian Lendeertz selbst, dass Fledermäuse tatsächlich ein Reservoir für Ebola-Viren sind. (7) „Angesichts des allgemeinen Mangels an Beweisen“, kommentiert Latham, „fragt man sich, wie solche schlecht belegten Behauptungen überhaupt in die internationalen Schlagzeilen gelangen konnten." Den verheerenden Ausbruch in Guinea hatte der Makona-Stamm von Ebola verursacht. In seinem Genom stecken deutliche Hinweise darauf, dass es manipuliert wurde. „Der Makona-Stamm von Ebola ist neu und weist etwa 400 Mutationen auf, die in keinem bisher bekannten Ebola-Stamm zu finden sind“, so führen Latham und Husseini aus. „Er könnte ein radikal manipuliertes Derivat eines bekannten Stammes sein - entweder durch Gentechnik oder durch Passage. (8) Auch eine Kombination dieser beiden Möglichkeiten sollte in Betracht gezogen werden.“ Die Epidemie in Guinea war das allererste Mal, dass Ebola aus Zaire in Westafrika auftauchte. Alle vorherigen Ausbrüche dieses tödlichsten Ebola-Stammes ereigneten sich im Kongobecken, in der zentralafrikanischen Äquatorialzone, rund 3.000 Kilometer von Guinea entfernt. "Daher war das Auftreten von Zaire Ebola in Westafrika eine auffällige und sehr unerwartete Entwicklung", schreiben Latham und Husseini. Wie kam es überhaupt dorthin? Ebola ist nicht hochgradig ansteckend, die Übertragung erfordert normalerweise direkten Kontakt mit Körperflüssigkeiten und kontaminierten Gegenständen. „Wie konnte es sich bei solch schwachen infektiösen Eigenschaften und geringem Ausbreitungspotenzial so weit verbreiten?“, wundern sich Latham und Husseini. Auf der weiten Strecke zwischen dem Kongobecken und Guinea fanden keinerlei Ausbrüche statt. Wären sie nicht zu erwarten, wenn sich die Krankheit auf natürliche Weise von Mensch zu Mensch verbreitet hätte? „Obwohl das Virus oft tödlich verläuft und daher relativ leicht zu erkennen ist, wenn es auftaucht, hat es auf dem Weg von seinem traditionellen Zufluchtsort im Kongo keine bekannten Ausbrüche bei Menschen oder Tieren verursacht.“ Nicht minder stutzig macht die Tatsache, dass die Genomsequenzierung und die phylogenetische Analyse nur einen einzigen Sprung vom Tier zum Menschen ergaben. Husseini und Latham erklären (9): "Zoonotische Ausbrüche, einschließlich der meisten Ebola-Ausbrüche in der Vergangenheit, weisen in der Regel mehrere Sprünge von einer tierischen Quelle zum Menschen auf. Einzelne Sprünge hingegen deuten auf einen Ursprung im Labor hin und gelten oft als ‚Red Flag‘“ - als Alarmzeichen – „für diese Möglichkeit. Der Grund dafür ist, dass Forscher oft mit einem einzigen Isolat arbeiten, das sich im Labor besonders leicht vermehren lässt, während natürliche Populationen in der Regel vielfältig sind. Dieser Unterschied liefert ein genetisches Signal, um natürliche Ursprünge und solche aus dem Labor auseinanderzuhalten." Was hat ein US-Biolabor in Afrika zu suchen? Aber woher sollte ein künstliches Ebola überhaupt kommen? Eine Vielzahl von verräterischen Spuren führen zu einem US-amerikanischen Biolabor in Kemena, in Guineas Nachbarstaat Sierra Leone - nur 50 Meilen von Emiles Heimatdorf entfernt. Betrieben wurde es seit 2010 von dem US-amerikanischen Viral Hemorrhagic Fever Consortium (VHFC). Woran wurde dort geforscht? Anfang 2011, drei Jahre vor dem rätselhaften Ebola-Ausbruch in Westafrika, widmete die Nachrichtenagentur Reuters den Forschungsarbeiten in Kenema einen ausführlichen Artikel. (10) Wie die Leser erfuhren, ist „ein Labor im Südosten Sierra Leones ein Außenposten des 'Kriegs gegen den Terror' der US-Regierung, der durch einen Anstieg der Ausgaben für die Bioverteidigung finanziert wird“ – mit einem zweistelligen Millionenbetrag, wie Reuters schätzte. Ging es dort um Ebola? Vehement bestreitet dies der Gründer und Präsident von VHFC, der Virologe Robert Garry: „Wir hatten kein EBOV [Ebolavirus] in unserem Labor, daher konnten wir es nicht freigesetzt oder erzeugt haben". (11) Ihm widersprach im März 2023 jedoch klipp und klar der VHFC-Vizepräsident Kristian Andersen, Virologe am Scripps Research Institute in San Diego: „Uns wird ein Laborleck angelastet, weil wir Ebola in Kenema in Sierra Leone untersucht haben, und siehe da, 2014 tauchte Ebola nur ein paar Kilometer von dort entfernt auf." (12) Wer lügt hier? Für Labore, die im Regierungsauftrag Ebola untersuchen, drängt sich die Zaire-Spezies geradezu auf: Sie ist am tödlichsten, daher bietet sie das größte Potential für biologische Kriegsführung, entspricht folglich den Prioritäten der US-Biosicherheitsforschung. Beim Vertuschen gingen die Kenema-Verantwortlichen bemerkenswert schlampig vor, sie hinterließen verräterische Spuren. Am 25. August 2013, nur wenige Monate vor dem Ebola-Ausbruch, veröffentlichte das VHFC auf seiner Homepage einen Artikel mit der Überschrift: "Forscher am Scripps Research Institute machen große Fortschritte im Kampf gegen das Ebola-Virus". Dieser Artikel verschwand später; dass es ihn gab, ist aber mit der WayBackMachine nachprüfbar. Allein schon die Überschrift wirft drängende Fragen auf: Warum postete das VHFC 2013 etwas über Ebola, wenn es damals nicht daran arbeitete? Welche Ebola-Variante untersuchte es? Worum ging es bei den Experimenten? Warum wurde der Beitrag entfernt? Offenkundig war Ebola für das VHFC und seine Partner wichtig, zumindest für einige seiner Mitglieder von vorrangigem Interesse. Tatsächlich haben alle führenden US-Forscher des VHFC - Robert Garry, Kristian Andersen, Erica Ollmann Saphire und Pardis Sabeti - mehrere Original-Forschungsarbeiten über das Ebola-Virus veröffentlicht. (13) Im Jahr 2013 war Robert Garry Mitverfasser eines Artikels (14) über eine neuartige Behandlung für Ebola aus Zaire. Alle elf übrigen Autoren stammten vom USAMRIID, bekannt als Fort Detrick: die größte 'Bioabwehr'-Einrichtung der Welt, auf einem 490 Hektar großen Areal betrieben von den US-amerikanischen Streitkräften. “Sicher”? Unfassbar lax. Wie Latham und Husseini berichten, handhabte man im Labor von Kenema biologische Sicherheitsvorschriften unfassbar lax, obwohl dort mit extrem gefährlichen Krankheitserregern hantiert wurde: (15) "In den USA erfordert die Arbeit mit lebenden Filoviren Einrichtungen der Biosicherheitsstufe 4 (BSL-4), in denen die Forscher Überdruckanzüge tragen. Aber in Kenema (…) gehören zu den Biosicherheitsmaßnahmen Schutzbrillen, Handschuhe und Masken". Der Reuters-Artikel zitiert den Wissenschaftler Matt Boisen, ein weiteres VHFC-Mitglied: "Sicherlich haben wir weniger Sicherheit, weniger Sicherheitsvorkehrungen“, räumt er ein, „aber dafür können wir in der gleichen Zeit viel mehr tun". Andere Beobachter bestätigten haarsträubende Nachlässigkeiten. Beim Ausbruch im Jahr 2014 war die gemeinnützige medizinische Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) der erste Nothelfer, der aufgrund seiner umfangreichen früheren Ebola-Erfahrungen hinzugezogen wurde. Die Notfallkoordinatorin von MSF, Anja Wolz, bekannte der Agentur Associated Press: "Ich bin nicht in das Labor gegangen (…) Ich habe mich geweigert, weil ich schon genug gesehen habe.“ Ein CDC-Beamter, Austin Demby, der später zur Untersuchung geschickt wurde, kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen. „Das Potenzial einer Kreuzkontamination ist enorm und offen gesagt inakzeptabel.“ Offenbar hatte Sierra Leones Regierung von Anfang an gute Gründe für den Verdacht, dass Ebola aus dem Kenema-Labor kam. Am 23. Juli 2014, inmitten des Ausbruchs, erließ das Ministerium für Gesundheit und Hygiene eine Reihe von Anordnungen. Eine davon lautete, dass das Behandlungszentrum in Kenema keine neuen Patienten mehr aufnehmen dürfe. Die "Tulane University" - Robert Garrys Heimateinrichtung - wurde außerdem angewiesen, das Labor in Kenema zu verlassen. Dort durften "während des aktuellen Ausbruchs keine Ebola-Tests mehr durchgeführt“ werden. Diese Anweisung bestätigt, dass das Labor tatsächlich an Ebola forschte. War es inmitten einer katastrophalen Epidemie denn nicht ein kontraproduktiver Schritt, eine wichtige internationale Test- und Behandlungseinrichtung dichtzumachen? Sinn macht er, falls diese Einrichtung selbst der Urheber war. Kurz darauf, am 7. August 2014, verkündete die US-Regierung eine ähnliche Entscheidung, ebenfalls inmitten des Ausbruchs. Den auslaufenden Fünfjahresvertrag mit Kenema verlängerte sie nicht, weitere Fördermittel entfielen. Nur zwei Monate später, am 17. Oktober 2014, verhängte das Weiße Haus einen "Finanzierungsstopp für neue Studien, die bestimmte Gain-of-Function-Experimente mit Influenza-, SARS- und MERS-Viren beinhalten". Wäre dieser Stopp bis heute konsequent beibehalten und ausgedehnt worden: Die Corona-Pandemie hätte vermutlich nie stattgefunden. „Experten“ im Zwielicht Seltsamerweise traten etliche Personen und Institutionen, die schon bei der Ebola-Epidemie eine herausragende Rolle spielten, auch bei der Entstehung von SARS-CoV-2 in prominente Erscheinung – hier wie dort als Abwiegler, als Wegerklärer, als Nebelkerzenwerfer. Fabian Leendertz, Erfinder des Ebola-Mythos, gehörte jenem Team der Weltgesundheitsorganisation an, die im Frühjahr 2021 nach minimalem Rechercheaufwand, aber maximalen Verbeugungen vor dem undurchsichtigen Seuchenschutzregime Pekings, in Windeseile die Laborhypothese bezüglich des Covid-19-Erregers verwarf. Robert Garry und Kristian Andersen, die beiden leutenden Angestellten des Kenema-Laborbetreibers VHFC, zählten zu den Mitautoren eines der meistzitierten Artikel in der Frühzeit der Corona-Pandemie, „The Proximal Origin of SARS-CoV2“; allein gestützt auf fragwürdige Computermodelle (16), erklärten sie einen natürlichen Ursprung des Virus für höchst wahrscheinlich, womit sie Faktenchecker mit hochwillkommener Munition gegen „Verschwörungstheoretiker“ versahen. Garry? Andersen? Just diese beiden zählten zu jenem illustren Kreis von Virologen, den die beinahe allmächtige Graue Gesundheitseminenz des Weißen Hauses, Anthony Fauci, zu Beratungen einlud, als sich die Beweise für einen künstlichen Ursprung von COVID-19 verdichteten. „Die Mitglieder dieser Gruppe“, so führen Latham und Husseini aus, „argumentierten nicht nur hauptsächlich gegen die Theorie der Laborherkunft, sondern übernahmen auch viele der (schon bei Ebola angewandten) wissenschaftlichen und phylogenetischen Irreführungsstrategien und -taktiken, um die Spekulationen über die Laborherkunft von COVID-19 zu unterdrücken.“ Welche Fachkenntnisse brachten Garry und Andersen denn mit? Laut der Standarddatenbank Google Scholar „hatten die beiden noch nie eine einzige Arbeit über Coronaviren verfasst, bevor sie der Gruppe beitraten. Ist es also möglich, dass Anthony Fauci bei der Auswahl seines geheimen Zirkels, als Covid-19 in Wuhan ausbrach, nicht an wissenschaftliches Fachwissen dachte, sondern an Forscher, die mit den wissenschaftlichen und politischen Herausforderungen eines potenziellen Laborausbruchs vertraut sind?“ Fällt es schwer, Latham und Husseini eine gewisse Skepsis nachzufühlen? „Der uneingestandene extreme Kontrast zwischen der Standarddarstellung und der Beweislage zwingt uns zu der Frage, ob es nicht auf irgendeiner Ebene eine konzertierte wissenschaftliche Anstrengung gab, um die Aufmerksamkeit von der VHFC und ihrem Labor in Kenema abzulenken.“ Für die beiden Autoren „wirft die Verbindung zwischen Ebola 2014 und Covid-19 eine abschließende Frage auf: Inwieweit ist der Covid-19-Ausbruch, der wahrscheinlich aus einem Labor stammt, ein Wiederholungsfall? Ist Covid-19 der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass wir keine offenen, gründlichen und forensischen Untersuchungen von Virusausbrüchen durchführen und diese Aufgaben stattdessen der Gnade der Forscher mit den größten Interessenkonflikten überlassen?“ Gegen „Verschwörungstheorien“: Ein Propagandawerkzeug namens ChatGPT Einen Vorgeschmack darauf, wie Künstliche Intelligenz von Wahrheitsministerien einer Schönen Neuen Welt missbraucht werden könnte, liefert das derzeit gefeierte Dialogsystem ChatGPT. Wer solche KI kontrolliert, wird demnächst die Macht haben, das Weltwissen, echtes wie angebliches, zu monopolisieren. Auf die Frage hin: „Gibt es Indizien, dass Ebola aus einem Biolabor stammt?“ (Gestellt am 2. April 2023.) bewegt sich ChatGPT brav auf der Linie von Regierungen, Militärs und Geheimdiensten: „Derzeit gibt es keine glaubwürdigen Beweise dafür, dass Ebola aus einem Labor stammt oder absichtlich erzeugt oder freigesetzt wurde. Die am weitesten verbreitete Theorie besagt, dass Ebola ein zoonotisches Virus ist, das heißt, dass es sich ursprünglich von Tieren auf Menschen übertragen hat. (…) Es gibt zwar einige Verschwörungstheorien, die besagen, dass Ebola absichtlich erzeugt oder in einem Labor freigesetzt wurde, aber diese Behauptungen wurden von der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitgehend entkräftet und konnten nicht durch glaubwürdige Beweise gestützt werden. (…) Der aktuelle wissenschaftliche Konsens ist, dass es sich um ein natürlich vorkommendes Virus handelt.“ (Kursive Hervorhebungen vom Autor.) Ein Risiko, von Facebook & Co. mit Verwarnungen, Shadowbans und Kontenlöschungen sanktioniert zu werden, bestünde für derartige Posts ganz gewiss nicht. Wie von Sinnen Richtung Apokalypse Lathams und Husseinis Argumentation für ein Laborleck baut auf eine Fülle von schwerwiegenden, akribisch zusammengetragenen Indizien. Zusätzlich an Gewicht gewinnen sie, weil jegliche Beweise für einen zoonotischen Ursprung fehlen – eine Parallele zu SARS-CoV-2. Nicht nur der Journalist Chernoh Bah findet es „schwierig, die von Fabian Leendertz und seinem Team vertretene Darstellung des 'zoonotischen Ursprungs der westafrikanischen Ebola-Epidemie' nicht als Teil einer Vertuschung oder Verschleierung der tatsächlichen Ereigniskette zu interpretieren, die den Grundstein für den westafrikanischen Ebola-Ausbruch gelegt hat“. Der Irrsinn der Gain-of-Function-Forschung muss aufhören, sofort. Solange er andauert, bedroht er die Menschheit existentiell, viel gewaltiger als alle Kernkraftwerke und Atomwaffen dieser Welt. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 Almudena M. Saéz u.a.: "Investigating the zoonotic origin of the West African Ebola epidemic", EMBO Molecular Medicine 7/2015, S. 17-23, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25550396/, https://doi.org/10.15252/emmm.201404792 2 H. Feldmann/T.W. Geisbert: “Ebola haemorrhagic fever”, Lancet 337/2011, S. 849-862, http://www.sciepub.com/reference/70867 3 Daily Mail 3. November 2022, https://www.dailymail.co.uk/health/article-11383611/Ebola-leaked-biofacility-causing-2014-West-Africa-outbreak-scientists-claim.html 4 Independent Science News 25. Oktober 2022, https://www.independentsciencenews.org/health/did-west-africas-ebola-outbreak-of-2014-have-a-lab-origin/ 5 S. K. Gire u.a.: „Genomic surveillance elucidates Ebola virus origin and transmission during the 2014 outbreak“, science 345(6202) 2014, S. 1369-1372, https://www.science.org/doi/full/10.1126/science.1259657. 6 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6557442/; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6478230/ 7 EcoHealth 13/2016, S. 18-25, https://link.springer.com/article/10.1007/s10393-015-1053-0 8 Zur Technik der seriellen Passage, die vermutlich auch bei SARS-CoV-2 Anwendung fand, siehe H. Wiesendanger: Corona-Rätsel (2020), S. 100 f., 192 f. 9 Independent Science News 25. Oktober 2022, https://www.independentsciencenews.org/health/did-west-africas-ebola-outbreak-of-2014-have-a-lab-origin/ 10 Reuters 14. February 2011, https://www.reuters.com/article/us-bioterror-africa/u-s-anti-terror-outpost-tackles-rat-borne-virus-idUSTRE71D49820110214 11 PNAS 10. November 2022, https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2214427119 12 Twitter Nicholson Baker 12. März 2023, https://twitter.com/nicholsonbaker8/status/1634914764878118912 13 Nature 454/2008, S. 177-182, https://www.nature.com/articles/nature07082; PLOS 12. September 2013, https://journals.plos.org/plosntds/article?id=10.1371/journal.pntd.0002430; PNAS 111(48), 17. November 2014, S. 17182-17187, https://www.pnas.org/doi/abs/10.1073/pnas.1414164111; Cell 19. Februar 2018, https://www.cell.com/biophysj/pdf/S0006-3495(17)32767-4.pdf; Cell Host & Microbe 24 (2), 8. August 2018, S. 221-233.e5, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1931312818303792; Nature Communications 17. August 2020; 11 article number 4131, https://www.nature.com/articles/s41467-020-17994-9 14 PLOS 12. September 2013, https://journals.plos.org/plosntds/article?id=10.1371/journal.pntd.0002430 15 Independent Science News October 25, 2022, https://www.independentsciencenews.org/health/did-west-africas-ebola-outbreak-of-2014-have-a-lab-origin/ 16 https://www.klartext-online.info/post/zuviel-versprochen 17 Gestellt am 2. April 2023. Bildnachweise Ebolafälle_bis_einschließlich_2020: Dokumentierte Ausbrüche von Ebolafieber in Afrika (1976–2020): Von Gregor Rom - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75444645 Ebola_Epidemie_2014: Ebola-Epidemie 2014/15 in Westafrika zwischen April 2014 und Juli 2015 (inkl. Verdachtsfälle) Erkrankungen Todesfälle . Von Leopoldo Martin R - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33768799 Ebola_Map_Guinea_Liberia_Sierra_Leone_2014-08-25_animated: Regionale Verteilung der bestä­tigten und verdäch­tigen Erkran­kungs­fälle in Guinea, Liberia und Sierra Leone, Darstellung vom 25. August bis 12. Oktober 2014 (danach andere, nicht übertragbare Einteilung).[132] Von A doubt - Eigenes WerkMap: File:Ebola-CDC-Case-Map.svg by VeggiesData: WHO Situation Reports http://www.who.int/csr/disease/ebola/situation-reports/archive/en/, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37068119 Ebolaviren unter dem Mikroskop: Ebola_Virus Wiki: Von CDC - http://phil.cdc.gov/phil (ID #1836), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16885965 Ebola_virus_virion : By CDC/Cynthia Goldsmith - Public Health Image Library, #10816This media comes from the Centers for Disease Control and Prevention's Public Health Image Library (PHIL), with identification number #10816.Note: Not all PHIL images are public domain; be sure to check copyright status and credit authors and content providers.العربية | Deutsch | English | македонски | slovenščina | +/−, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16504278

  • Autismus-Seuche – Big Pharma frohlockt

    Weltweit explodieren die Fallzahlen von Autismus. Der Pharmaindustrie bescheren sie glänzende Wachstumsaussichten. Wo bleibt schonungslose Ursachenforschung, wo dringend nötige Vorsorge? Blickkontakte vermeidet es. Auf Stimmen reagiert es wenig, selbst wenn man es mit seinem Namen anspricht. Mit anderen Kindern spielt es nicht – das tut es am liebsten allein. Auf Gegenstände, die es haben möchte, zeigt es kaum. Es verwendet bloß wenige Gesten und Geräusche, um auf sich aufmerksam zu machen. Lächeln, Winken und andere Verhaltensweisen eines Gegenübers ahmt es nicht nach. Es wirkt starr, lethargisch und teilnahmslos. Weil es kaum auf seine Umgebung reagiert, scheint es geradezu taub und blind. Sein Verhalten mutet stereotyp und fantasielos an. Veränderungen hasst es. Vornehmlich befasst es sich ausgiebig mit einer ungewöhnlichen Einzelheit. Beharrlich wiederholt es bestimmte Handlungen, macht daraus Rituale, die es nicht aufgeben mag. Wird es bei seinen sonderbaren Routinen unterbrochen oder daran gehindert, so reagiert es hin und wieder mit Schreianfällen, aggressiven Ausbrüchen und Panikattacken. Seine Sprache wirkt begrenzt und einseitig; oft plappert es Aussagen oder Fragen bloß nach. Wie eingemauert in eine leblose Innenwelt wirkt es. Ein Albtraum für seine ratlosen Eltern. Plus 27.000 Prozent - Eine Katastrophe ohnegleichen Von einer solchen „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASD) war noch Anfang der siebziger Jahre in den USA erst eines von 10.000 Kindern betroffen, Ende der achtziger Jahre eines unter 2000. Seither explodierten die Fallzahlen regelrecht. Noch Anfang der siebziger Jahre galt in den USA erst eines von 10.000 Kindern als autistisch. Bis 2016 stieg ihr Anteil auf den alarmierenden Wert von 1:48. Im Jahr 2020 lag er schon bei 3,49 %. Das heißt: Eines von dreißig Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren erhielt bereits eine ASD-Diagnose – ein erschreckender Anstieg um 53 % seit 2017. Binnen eines halben Jahrhunderts, hat sich der Autismusanteil unter Amerikas Minderjährigen um 27.000 Prozent erhöht. Eine Katastrophe ohnegleichen. Allzu lange wiegelten Gesundheitsbehörden ab: Dass hier ein beinahe exponentiell wachsendes Problem vorliege, bestritten sie hartnäckig. Lediglich das öffentliche Bewusstsein für die Erkrankung sei gewachsen, man beobachte Kinder eben aufmerksamer daraufhin. Eltern, Hausärzte und Psychologen seien wachsamer, die Diagnostik sei präziser geworden. So erkenne man die typischen Symptome früher und häufiger. Doch allmählich setzt ein Umdenken ein – mit der Gesundheitsindustrie als Vorreiter einer überfälligen Neubewertung. Denn nicht eine eingebildete, sondern eine echte Zunahme von Betroffenen ist es, die ihr prächtige Gewinnaussichten eröffnet, mit jährlichen Wachstumsraten zwischen 3,4 % und 7,4 % bis 2030. Einer soeben veröffentlichten Studie des Instituts 360 Research Reports zufolge hatte ASD im Jahr 2021 einen weltweiten „Marktwert“ von rund neun Milliarden US-Dollar; in fünf Jahren werde er voraussichtlich 11,42 Milliarden Dollar erreichen. Noch zuversichtlicher äußern sich Analysten von Market Resarch Future. Der ASD-Markt werde von gegenwärtig 23,7 Milliarden US-Dollar auf 42,3 Milliarden bis 2030 anwachsen. Darin eingerechnet sind Diagnostik, Arzneimittel, Kosten für Behandlungszentren, Fördermaßnahmen und Betreuung. Zu den Hauptprofiteuren zählt der Bericht die üblichen Verdächtigen: Pfizer, Eli Lilly, Merck, Novartis, Johnson & Johnson, Bristol-Myers Squibb, Otsuka. Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden ist um ein Vielfaches größer. Allein in den USA beträgt er mehrere hundert Milliarden Dollar pro Jahr; innerhalb des kommenden Jahrzehnts dürfte er auf eine Billion ansteigen, schätzt der US-Marktforscher Toby Rogers. (1) Zu Buche schlagen dabei, über Diagnostik und Therapie hinaus, unter anderem Lohneinbußen für Betroffene und Betreuer - in der Regel Mütter -, unterstützende Dienstleistungen, höhere Bildungskosten und betreutes Wohnen. Autismus-Arzneien ohne Zulassung: eine wahre Goldgrube Welche Arzneimittel denn? Bis heute gibt es kein einziges zugelassenes Medikament gegen Autismus. Null. Im Januar 2018 verlieh die US-Arzneimittelbehörde FDA zwar einer Neuentwicklung des Pharmamultis Roche, Balovaptan, den begehrten Status einer “Breakthrough Therapy”: einer, die beschleunigt zugelassen werden könnte, weil erste vorläufige Daten aus klinischen Studien darauf hindeuten, dass womöglich mit ihr schwerwiegende Erkrankungen zu behandeln sind. Fünf Jahre später sind diese Studien allerdings noch immer nicht abgeschlossen. Das lässt eher einen Rohrkrepierer als einen Blockbuster in Roches Pipeline erwarten. Trotzdem verdient die Pharmaindustrie schon heute prächtig an ASD. Möglich macht dies „Off-Label Use“: Ärzte dürfen ein Medikament über Zulassungsgrenzen hinaus verschreiben, falls Praxiserfahrungen und Studien darauf hindeuten, dass es auch bei anderen Indikationen oder Patientengruppen als den ursprünglich vorgesehenen nützt. Pharmareferenten, Fachpresse und Fortbildungen helfen ihnen dabei auf die Sprünge. Und so kommen bei 30 bis 50 % aller ASD-Symptomträger längst zum Einsatz: Stimulanzien, Antikonvulsiva und Angstdämpfer, aber auch Antidepressiva: darunter trizyklische wie Amitryptilin, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin und Citalopram. Ein Nutzen bei Autismus ist wissenschaftlich nicht belegt – na und? “Off-Label” geht es auch so. Ohne mit der Wimper zu zucken, werden einem von sechs autistischen Kindern sogar Antipsychotika verordnet: Mittel, die eigentlich auf Schizophrenien, Manien und Wahnzustände abzielen – allen voran Risperdal und Abilify, zwei der giftigsten Psychopharmaka überhaupt. Angeblich mildern sie Begleitsymptome wie Aggressivität, Zwänge und Stereotypien; sie sollen die Sprachentwicklung, Spiel- und Sozialverhalten verbessern. Die heftigen Nebenwirkungen sind freilich nicht unbedingt das, was ein Autistenherz begehrt und braucht: Schlaganfälle, Epilepsien, unwillkürliche Muskelkrämpfe, Herzprobleme, Gewichtszunahme, Gleichgewichts- und Sprachstörungen, Diabetes, Suchtverhalten, Depression, Angstzustände, Akathisie – eine unbezähmbare motorische Unruhe – bleierne Müdigkeit und Schwäche. 2,2 Milliarden Dollar kosteten den Pharmariesen Johnson & Johnson bisher zivil- und strafrechtliche Geldbußen für die kriminelle Vermarktung von Risperdal. Gerichte hatten befunden, dass der Konzern, im Bund mit seiner Tochtergesellschaft Janssen, potentiell lebensgefährliche Risiken heruntergespielt, ja geleugnet hatte. J&J zahlte – und machte anschließend weiter wie gehabt. (2) Auch bei Autismus findet Polypharmazie nicht bloß ausnahmsweise statt – sie ist die bestürzende Regel. Weil betroffene Kinder und Jugendliche häufig mit mehr als einer Verhaltensstörung aktenkundig werden, schlucken bis zu 87 % von ihnen gleichzeitig zwei oder mehr Medikamente. Welche Wechselwirkungen dabei womöglich auftreten, kann niemand voraussagen. Zuwenig Ursachenforschung Während immer mehr Geld in die Erforschung lukrativer Therapeutika fließt, findet weiterhin viel zu wenig Ursachenforschung statt. Sobald sie missliebige Wahrheiten zutage zu fördern droht, wird sie eher behindert; Veröffentlichungen werden erschwert, Forschungsgelder blockiert, Wissenschaftler kaltgestellt und diffamiert. Die Autismus-Seuche begann, nachdem eine Impfomanie ohnegleichen die Kindermedizin ergriff. Noch in den siebziger Jahren empfahl die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Insitut gerade mal sechs Impfungen: gegen Masern, Mumps, Röteln, Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis (Kinderlähmung). Inzwischen sollen 31 stattfinden, vor Vollendung des zweiten Lebensjahrs. Seit 2021 erhalten US-amerikanische Kinder 72 Impfstoffdosen, über 250 weitere sind in Vorbereitung. Bis heute enthalten Vakzine Aluminium und Quecksilber, sei es als Wirkverstärker, als Konservierungsmittel oder als Verunreinigung aus dem Herstellungsprozess. Sie richten Gehirnschäden an. Im Hirngewebe von Autisten stellte eine Studie einen konstant erhöhten Aluminiumgehalt fest. Dass “sich die Häufigkeit von Autismus bei geimpften und ungeimpften Kindern nicht unterscheidet”, wie Wikipedia uns weismachen will, lädt zu Vermutungen ein, auf wessen Honorarlisten seine Admins stehen. Tatsächlich dürfte Autismus unter Geimpften nahezu zehnmal häufiger vorkommen (1,1 %) als unter Ungeimpften (0,14 %). (3) Wie ein Telefon-Survey unter Eltern von 17.000 US-amerikanischen Kindern ergab, erhöhen Impfungen bei den 4- bis 17-Jährigen das Autismusrisiko um 61 %, speziell bei Jugendlichen – in der Altersgruppe ab 11 Jahren – sogar um 112 %. An Big Pharmas Fäden vertuschen Gesundheitsbehörden diese Zusammenhänge und beseitigen missliebige Daten, wie Whistleblower gelegentlich enthüllen. Aber auch Umweltgifte tragen zu Autismus bei. Dazu zählen Blei, Arsen und Kupfer, sogar in der Babynahrung, wie auch Phthalate, die häufig als Weichmacher in Polyvinylchlorid (PVC) und anderen Kunststoffen stecken, etwa in Bodenbelägen, Kinderspielzeug und Gummiprodukten. (4) Auch hohe Luftverschmutzung (5) erhöht das Autismusrisiko – nachgewiesen etwa für eine vorgeburtliche Exposition gegenüber Ozon. (6) Im Verdacht stehen ferner Arzneimittel. Wie mehrere Studien belegen, erhöhen werdende Mütter, wenn sie Paracetamol einnehmen, das Autismusrisiko ihres Nachwuchses um bis zu 214 % (7) - und noch mehr, wenn sie es Babies und Kleinkindern geben. (8) Schwangere, die Antidepressiva einnehmen, verdoppeln damit das Autismusrisiko ihres ungeborenen Kinds, wie die Universität von Montreal bei Analyse der Daten von über 145.000 Frauen herausfand. (9) Selbst Medikamentenreste im Trinkwasser sind in begründeten Verdacht geraten, Autismus zu fördern. Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass auch Pestizide eine erhebliche Rolle spielen. So untersuchten Forscher der Universität von Los Angeles fast 3000 ASD-Patienten, die zwischen 1998 und 2010 im kalifornischen Central Valley, einem landwirtschaftlich geprägten, 600 km langen Tal nördlich von San Francisco, zur Welt kamen; zum Vergleich bezogen sie 35.000 dort aufgewachsene Versuchspersonen ohne Autismus-Diagnose ein. Mit Hilfe von Kaliforniens Pestizideinsatz-Register analysierten die Wissenschaftler, welche Studienteilnehmer vor ihrer Geburt und während ihrer Kindheit mindestens einem von elf verbreiteten Pestiziden ausgesetzt waren. Bei dieser Gruppe kam eine um 10 % erhöhte Autismus-Wahrscheinlichkeit zum Vorschein. Hauptverdächtiger ist das allgegenwärtige Glyphosat, der Wirkstoff in Monsantos Unkrautvernichtungsmittel Roundup. Von Autismus sind Jungen viermal häufiger betroffen als Mädchen. Dieser “Gender Gap” ist ein Indiz dafür, dass genetische Faktoren mitentscheiden, wieviel Schaden Toxine anrichten. Ist ASD also “größtenteils genetisch bedingt”? So argumentieren Verharmloser, die ablenken wollen. Ebensogut könnte man den Lungenkrebs von starken Rauchern hauptsächlich auf ein ungünstiges Erbgut zurückführen. Wäre jeder Nikotinjunkie nämlich mit einem ebenso fabelhaften Immunsystem ausgestattet wie einst der legendäre Kettenqualmer Helmut Schmidt: Käme Raucherkrebs dann nicht äußerst selten vor? Der einzige Ausweg: konsequente Vorsorge Grüne Augen, leuchtend orangefarbene Haare, rosa Kleid, mit einem Spielzeugkaninchen namens Fluffster: So betrat am 10. April 2017 erstmals ein autistisches Muppet namens Julia die Bühne der „Sesamstraße“. Ihren Machern liegt daran, mittels Julia „das Verständnis für ASD zu erhöhen“ und es zu „entstigmatisieren“, als Teil einer landesweiten Initiative „See Amazing in All Children“. (10) Diese Herangehensweise, die immerhin Lob für Empathie und Toleranz verdient, liegt im Trend. Statt dem Phänomen ASD entschlossen entgegenzutreten, wird es unter dem Dach der „Neurodiversität“ (11) untergebracht – und damit letztlich verharmlost, als Ausdruck von „Vielfalt“, die in erster Linie „Akzeptanz“ erfordere. Die oft verblüffenden Inselbegabungen von Autisten zu betonen, sie dafür zu loben und stolz sein zu lassen, darf aber nicht dazu verleiten, die Belastungen für Betroffene und die oft immensen Herausforderungen für Angehörige herunterzuspielen. Autismus ist ein Schicksal, das jedem Kind erspart bleiben sollte, wie auch seiner Familie. Nicht von ungefähr leiden ASDler deutlich öfter an Einsamkeit, Depressionen und Angststörungen als der Durchschnitt der Allgemeinbevölkerung, stehen unter größerem sozialen Druck, werden öfter ausgegrenzt und gemobbt. Lebensglück? Jeder dritte Autist denkt an Selbstmord, nach manchen Studien tun dies sogar zwei Drittel; neunmal häufiger bringen sie sich um. Im Schnitt sterben Autisten 16 Jahre früher. (12) Wer die Autismus-Seuche ernsthaft eindämmen will, muss deshalb alles dafür tun, Kinder von jeglichen potentiellen Krankmachern fernzuhalten – von Geburt an, ja bereits im Mutterleib. „Das Tragische an der ganzen Sache ist, dass wir sehr wohl wissen, wie man die meisten Fälle von Autismus verhindern kann – indem man den Körper der Kinder keinen Giftstoffen aussetzt“, erklärt Toby Rogers. „Aber die meisten Politiker und die Mainstream-Medien weigern sich, dieses Gespräch zu führen, um die toxischen Industrien - vor allem die Pharmaindustrie - nicht zu verärgern, die dieses Land regieren. (…) Wir müssen unbedingt einen Weg finden, um Giftstoffe aus dem Körper von Kindern fernzuhalten, sowohl durch Gesetze als auch durch den Boykott von Produkten, die Schaden anrichten. Das ist der einzige Weg nach vorn.” (13) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 Zit. nach The Defender, 14.3.2023, https://childrenshealthdefense.org/defender/herzzerreissend-pharma-sieht-exponentielles-wachstum-im-milliardenschweren-markt-fuer-autismus-medikamente/?lang=de 2 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert. München 2014, S. 66 f. 3 Jon Baio: “Prevalence of Autism Spectrum Disorders – Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network, 14 sites, United States, 2008”, MMWR Surveill Summ. 30.3.2012, S. 1-19, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22456193/ 4 Neurotoxikologie 30 (5) September 2009, S. 822–831, https://translate.google.com/website?sl=en&tl=de&hl=en&u=https://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/eutils/elink.fcgi?dbfrom%3Dpubmed%26retmode%3Dref%26cmd%3Dprlinks%26id%3D19822263 5 https://www-naturalnews-com.translate.goog/2019-05-06-studies-determine-link-between-air-pollution-autism-risk.html?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=en ; https://www-naturalnews-com.translate.goog/019470_Autism_air_pollution.html?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=en 6 Umweltgesundheitsperspektive 121 (3) März 2013, S. 380-386. doi: 10.1289/ehp.1205827. Epub 18. Dezember 2012, https://pubmed-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/23249813/ 7 JAMA Psychiatry 30. Oktober 2019 DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2019.3259, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31664451/ 8 Int. Med. Auflösung 45 (2) April 2017, S. 407-438, https://pubmed-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/28415925/ 9 https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2016/daz-4-2016/autismus-durch-antidepressiva; https://www.zentrum-der-gesundheit.de/krankheiten/weitere-erkrankungen/autismus-uebersicht/autismus-antidepressiva 10 https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2017/mar/20/sesame-street-autism-muppet-julia; https://www.pbs.org/newshour/arts/sesame-street-debuts-julia-first-character-autism; https://time.com/4082185/sesame-street-first-autistic-character/ 11 https://translate.google.com/website?sl=en&tl=de&hl=en&u=https://www.health.harvard.edu/blog/what-is-neurodiversity-202111232645; https://www.amazon.de/Neurodiversit%C3%A4t-Autismus-P%C3%A4dagogik-Autismus-Spektrum-Band/dp/3170412663/ref=sr_1_20?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2NBD5CLDGW06N&keywords=Autismus&qid=1680189748&s=books&sprefix=autismus%2Cstripbooks%2C120&sr=1-20 12 https://www.semanticscholar.org/paper/Premature-mortality-in-autism-spectrum-disorder-Hirvikoski-Mittendorfer-Rutz/d4cae0b1efaaaf1e6d4ad452636ea6a898bb7e67?p2df; https://jamanetwork.com/journals/jamapediatrics/fullarticle/2479467 13 Zit. nach The Defender, 14.3.2023, https://childrenshealthdefense.org/defender/herzzerreissend-pharma-sieht-exponentielles-wachstum-im-milliardenschweren-markt-fuer-autismus-medikamente/?lang=de

  • Der Grenzwert-Schwindel

    Angeblich sind Grenzwerte dazu da, uns zu schützen. In Wahrheit schützen sie eher Geschäftsinteressen: Sie wiegen uns in trügerischer Sicherheit, damit wir nicht nachfragen, uns keine Sorgen machen, nicht aufbegehren, den Konsum nicht verweigern. Somit dienen sie der Volksverdummung – vielfach in geradezu krimineller Absicht. Denn ein Staat, der Gefahren für Leib und Leben verharmlost („unterhalb der Schwelle X unbedenklich“), statt sie zu beseitigen, macht sich der Beihilfe zur Körperverletzung schuldig. Wer gesund bleiben will, muss den umfassenden, lobbygesteuerten Schwindel durchschauen. Anstatt uns vor mutmaßlichen Gefahren für unsere Gesundheit zu bewahren, drehen staatliche Stellen seit eh und je die Gebetsmühle. Stereotyp beruhigen sie uns mit Argumenten desselben Strickmusters: „Der von wissenschaftlichen Experten ermittelte Grenzwert für den Schadstoff X aus der Quelle Y wird nachweislich nicht überschritten – also besteht überhaupt kein Grund zur Sorge!“ Dazu sind auf nationaler und EU-Ebene Regelwerke erlassen worden, deren Komplexität jegliche Obergrenzen zu sprengen pflegt. Zulässige Höchstwerte festzulegen und ihre Einhaltung sicherzustellen, schreiben in Deutschland etwa die Trinkwasserverordnung, die Strahlenschutzverordnung, das Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch vor. Unterhalb dieser Werte gelten die Schadstoffe als harmlos. Das allgemeine Vertrauen auf diese Form von Verbraucher“schutz“ ist enorm, wie aufmerksame Blicke in die gefüllten Einkaufswägen von Supermarktkunden vor Augen führen. Eine Forsa-Umfrage vom August 2021 bestätigt die gesammelten Eindrücke. (1) So ist „Lebensmittelsicherheit“ für 88 % von Deutschlands Verbrauchern „sehr wichtig“, wenn sie Fleisch und Wurstwaren kaufen; 82 % betonen dies, wenn es um frisches Obst und Gemüse geht. Vier von Fünf erwarten, dass Grenzwerte für Rückstände von Schadstoffen eingehalten werden, wie beispielsweise beim Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung oder von Pflanzenschutzmitteln. Und 72 % haben großes Vertrauen, dass diese Erwartung vollauf erfüllt wird; bei 78 % hat sich dieses Sicherheitsgefühl sogar „in den letzten Jahren gefestigt“. Solche Zahlen belegen: Kein Volksverdummungsversuch ist dämlich genug, garantiert fehlzuschlagen. Der multimedialen Gehirnwäsche, die noch das monströseste Gesundheitsrisiko evidenzbasiert unter den Teppich kehrt, vermag sich nur eine kleine Bevölkerungsminderheit zu entziehen. 13 Argumente gegen trügerische Sicherheit • Grenzwerte beziehen sich immer nur auf eine einzelne, isoliert zugeführte Substanz. Der Mensch ist aber unentwegt einem Schadstoffgemisch ausgesetzt: einer unüberschaubaren Vielzahl an künstlichen Stoffen, die er laufend einatmet, oral oder über die Haut aufnimmt. Kein Grenzwert berücksichtigt ausreichend, wie sehr sich deren jeweilige Dosis aufaddieren, die negativen Folgen potenzieren können. • Kein Grenzwert trägt der Möglichkeit Rechnung, dass verschiedene Schadstoffe in unserem Körper miteinander wechselwirken, neue Verbindungen eingehen, sich in ihren negativen Effekten gegenseitig verstärken. „Es gibt gute Belege dafür, dass gemeinsame Effekte auftreten, selbst wenn jeder Bestandteil einer Kombination unterhalb von Konzentrationen vorliegt, bei denen beobachtbare Effekte auftreten“, warnte Andreas der Pharmakologe Andreas Kortenkamp von der University of London schon 2007 im Fachblatt Environmental Health Perspectives. (2) „Die Bewertung von Einzelstoffen verharmlost etliche Risiken“, räumt eine Mitarbeiterin des Umweltbundesamts ein: „Die Untersuchung möglicher Kombinationen ist eine unendliche Aufgabe.“ (3) • Ein und denselben Schadstoff verleiben wir uns unbemerkt aus den unterschiedlichsten Quellen ein. Beispiel Bisphenol A (BPA): Der allgegenwärtige Plastikgrundstoff fördert Diabetes und Stoffwechselstörungen, schwächt das Immunsystem, erhöht das Krebsrisiko, leitet eine vorzeitige Pubertät ein und kann unfruchtbar machen – denn er wirkt hormonell; als sogenannter „endokriner Disruptor“ löst er bei Kindern Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten aus. Was nützt ein noch so strikter BPA-Grenzwert für Trinkflaschen aus Plastik, wenn wir BPA gleichzeitig über Verpackungen, Konservendosen, Milchtüten und Mikrowellengeschirr in uns aufnehmen, wie auch über Hautkontakte mit dem BPA-beschichteten Thermopapier von Kassenbons, Fahr- und Eintrittskarten? Was bringt ein Verbot des hochgiftigen Konservierungsmittels und Pestizids Ethoxyquin in der Obst-, Gemüse- und Fleischproduktion, wenn es weiterhin Fischfutter zugesetzt werden darf – und auf diesem Umweg am Ende doch auf unseren Tellern landet? (Siehe KLARTEXT „Zuchtlachs: giftiges Junk Food?“.) • Grenzwerte hängen vom Stand der Wissenschaft ab. Ihnen zugrunde liegen angeblich festgestellte „Wirkungsschwellen“: Welches ist die höchste unwirksame Dosis? Solange unklar ist, welche biologischen Prozesse eine Schadstoffexposition innerhalb welcher Zeiträume in Gang setzt, kann aber niemals Entwarnung gegeben werden. Weil sich Schäden oft erst Jahrzehnte nach der Exposition einstellen, beruhen „Wirkungsschwellen“ immer auf hochriskanten, weitgehend aus der Luft gegriffenen Vermutungen. Entsprechend absurd ist die gängige Kennzahl der „tolerierbaren täglichen Aufnahmemenge“ (Tolerable Daily Intake, TDI): Der TDI-Wert gibt die Menge eines Stoffes an, die täglich „über die gesamte Lebenszeit ohne erkennbares Gesundheitsrisiko“ aufgenommen werden kann. Wer weiß das denn im voraus mit der nötigen Sicherheit? Vermag außer einem Super-Nostradamus irgendwer vorauszusehen, welches Maß an Vergiftung sich nach mehreren Jahrzehnten als harmlos erwiesen haben wird? Beispiel Bisphenol A: Ab 2015 lag sein TDI innerhalb der Europäischen Union bei 4 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Zuvor hatten 50 Mikrogramm als hinnehmbar gegolten. Erst ein halbes Jahrzehnt später rang sich die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) dazu durch, mögliche gesundheitliche Risiken im Zusammenhang mit der Verwendung von Bisphenol A neu zu bewerten. Das Ergebnis veröffentlichte sie im Dezember 2021: Die neu abgeleitete „tolerierbare tägliche Aufnahmemenge“ betrug nun plötzlich 0,04 Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Das liegt rund 100.000-fach unter dem vorherigen gesundheitlichen Richtwert. So flexibel können „Toleranzen“ sein. Wer jenen vor 2015 vertraute, hat eben Pech gehabt. • Grenzwerte sind abhängig von Nachweismöglichkeiten. Oft fehlen aber noch geeignete Messtechniken – etwa für Mikroplastik und Nanopartikel im Trinkwasser. • Grenzwerte gehen vom gesunden Durchschnittsbürger in mittleren Jahren aus, mit intaktem Immunsystem und Stoffwechsel. Bezogen auf Kinder, Schwangere und Alte, Allergiker, besonders Schadstoffsensible (MCS) und chronisch Kranke sind sie viel zu hoch angesetzt. Auch einseitige Ernährung, Medikamentenkonsum oder berufsbedingt häufiger Kontakt mit den betreffenden oder anderen Giften sorgen für erhebliche Abweichungen vom Durchschnitt: Manche Menschen sind gewissen Schadstoffen weitaus häufiger, stärker, länger ausgesetzt als andere. Um solche Unterschiede zu berücksichtigen, werden Grenzwerte vorsichtshalber um einen „Sicherheitsfaktor“ erniedrigt. Weil aber niemand weiß, wie viel Schaden noch so kleine Mengen eines Gifts im Verbund mit unzähligen anderen, nicht berücksichtigten Stoffen auf die Dauer anrichten können, entspringt diese Rechengröße wohl eher einem Herumlesen im Kaffeesatz. • Grenzwerte folgen einem simplen Dosis-Effekt-Modell: Je mehr Schadstoff, desto größer die Wirkung. Oft haben geringere Mengen aber gefährlichere Folgen, etwa hormonelle Verunreinigungen. • Grenzwerte fördern, was sie eindämmen sollen: Für Verursacher bedeuten sie grünes Licht dafür, Schadstoffe freizusetzen – unterhalb des Limits. Krebserzeugende, erbgutverändernde und hormonell wirksame Stoffe können aber schon in kleinsten Mengen unumkehrbare Schäden anrichten. • Grenzwerte ergeben sich hauptsächlich aus Untersuchungen von Zellkulturen und Versuchstieren; doch solche Überprüfungen dauern viel zu kurz, um abschätzen zu können, was eine Exposition langfristig anrichtet. Ihre Übertragbarkeit auf den Menschen ist stets fraglich. „Bio-Monitorings“ der Körperfunktionen, Flüssigkeiten und Geweben von Versuchspersonen geben wenig Aufschluss über die vielfältigen Quellen ihrer Schadstoffbelastung. Auch noch so aufwändige „Morbiditäts- und Mortalitätsstudien“, auf die sich Experten berufen, besagen zuwenig. Wie soll sich irgendeine neu entwickelte Chemikalie, die zu Abertausenden schon freigesetzter Gifte hinzukommt, unverzüglich in Auffälligkeiten beim Krankenstand und der Todesursachenstatistik bemerkbar machen? Wegen dieser Ungewissheit werde in Grenzwerte vorsichtshalber ein großzügig bemessener Puffer eingebaut, so beruhigt man uns. Aus Tierversuchen oder epidemiologischen Daten ermitteln Wissenschaftler zunächst ein „No Observed Adverse Effect Level“ (NOAEL): die Schwelle, unterhalb derer keine negativen Wirkungen festzustellen sind. Dieser Wert wird durch einen „Sicherheitsfaktor“ - meist 100 - dividiert, um die unterschiedlichen Empfindlichkeiten zwischen Mensch und Tier sowie zwischen Mitgliedern bestimmter Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Aber sind 100 genug? Im vergangenen Jahrzehnt sah sich die EU gezwungen, den Grenzwert für Bisphenol A schrittweise nicht etwa bloß um den Faktor 100 zu senken – sondern um ein Millionenfaches, wie oben erwähnt. • Ein Grenzwert ist kein objektives Faktum. Immer ergibt er sich aus Kompromissen zwischen unterschiedlichen Interessenvertretern, und diese Kompromisse sind in der Regel faul. Übermächtige Industrielobbies arbeiten seit eh und je erfolgreich darauf hin, dass Grenzwerte entweder überhaupt nicht oder verzögert und möglichst niedrig festgesetzt werden. „Wie Chemikalien den Menschen schädigen, hat ihre Produzenten nie besonders interessiert“, so beklagt der Kieler Toxikologe Prof. Dr. Ottmar Wassermann – „obwohl solche tiefgreifenden Schädigungen seit über 100 Jahren vorausgesagt wurden, seit über 30 Jahren bekannt waren und zahlenmäßig inzwischen exponentiell zugenommen haben.“ (4) Ob und welche Grenzwerte gelten, spiegelt folglich weniger den wissenschaftlichen Erkenntnisstand wieder als das Durchsetzungsvermögen gewisser Marktteilnehmer. „Die Entscheidung, ob eine Wirkung als kritisch eingestuft wird, hängt von den Prioritäten der Politik und der Bereitschaft der Gesellschaft ab, gewisse Risiken einzugehen“, so geben die Herausgeber einer Anthologie über „Risiko und Verantwortung in der modernen Gesellschaft“ zu bedenken. „Sie hängt auch davon ab, welchen Stellenwert wir gewissen Wirkungen einräumen. Ist es zum Beispiel wichtiger, dass Industriezweige ihre Gewinne maximieren unter einer gewissen Belastung der Umwelt, oder ist die Gesundheit und gesunde Ernährung der Bevölkerung wichtiger, mit dem Resultat, dass gewisse Technologien nicht wettbewerbsfähig sind?“ (5) Dass bei Grenzwerten Ökonomie vor Gesundheit geht, zeigt sich nirgendwo in obszönerer Ungeschminktheit als beim Thema hochfrequente Funkstrahlung. Von verkappten Lobbyvereinen festgelegt, sind sie letztlich dazu da, das Geschäftsmodell der Mobilfunkindustrie zu legitimieren. (6) • Finden lässt sich nur, wonach man sucht. Ein Großteil aller Schadstoffe fällt durchs Fahndungsraster, solange keiner nachforscht, wo sie überall drinstecken. Über Entdeckungen entscheiden oft Zufälle. Beispiel Wasserspielzeug, Schwimmringe und –flügel: Seit Jahrzehnten sind sie im Handel – und der Renner in Schwimmbädern, an Badeseen, am Strand. Doch erst im Jahre 2017 stellte das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV) in Freising fest: Drei von vier derartigen Produkten sind mit bedenklichen Mengen gefährlicher Lösungsmittel verunreinigt, selbst solche, die zuvor als „schadstoffgeprüft“ zertifiziert worden waren. Cyclohexanon verursacht Schwindel und Kopfschmerzen; Isophoron gilt als krebserregend; Phenol kann Schleimhäute, Haut und Augen reizen und verätzen; eingeatmet oder geschluckt, kann die Substanz Nieren, Blut, Nerven- und Herz-Kreislauf-System schädigen. Wie kam es überhaupt zu dieser Analyse? Einer Mitarbeiterin des Fraunhofer-Instituts war an Geburtstagsgeschenken für ihre Kinder – Plastiksachen zum Baden und Planschen – ein stechender Geruch aufgefallen. (7) • Was nützen die schärfsten Grenzwerte ohne ausreichende Kontrollen und Sanktionen? • Mehrere tausend „Innovationen“ pro Jahr setzt die chemische Industrie in die Welt. Statistiken des europäischen Patentamts zufolge (8) ließ sie allein im Jahre 2012 nicht weniger als 5364 Pharmazeutika, 1434 Lebensmittelsubstanzen und 6002 organische Feinchemikalien patentieren. Wer kontrolliert, unabhängig und wissenschaftlich solide, jedes einzelne Tröpfchen dieser gewaltigen Flut auf medizinische Unbedenklichkeit – ganz zu schweigen von den Abertausenden von künstlichen Substanzen, die uns längst schon umgeben? In der Geschichte von Grenzwerten für Chemikalien sind Absenkungen die Regel. Je mehr man im Laufe von Jahren und Jahrzehnten über ihr Gefahrenpotential herausfindet, desto tiefer setzt man sie an. Legt dies nicht die Vermutung nahe, dass so gut wie alle gegenwärtig geltenden Grenzwerte zu hoch angesetzt sind – und die Sicherheit, in der sie uns wiegen, grundsätzlich trügerisch ist? Schließlich haben noch so viele Grenzwerte, allesamt notorisch „streng“, unsere schleichende Vergiftung mitnichten verhindert. Wie schutzlos sie uns tatsächlich lassen, kommt zuverlässig ans Licht, wann immer sich Forscher nachzuprüfen trauen. Schon im Blut Neugeborener wurden kürzlich 109 Industriechemikalien nachgewiesen, einige hiervon waren noch nie zuvor im Menschen gefunden worden. In 86 Prozent aller getesteten jungen Menschen fanden sich Perfluoroktansulfonsäure sowie Perfluoroktansäure, welche das Immunsystem schwächen und die Infektionsneigung erhöhen; die gemessenen Werte lagen weit oberhalb der vorsorglichen Gefahrenwerte. Im Blut sämtlicher untersuchter Minderjähriger schwimmen fortpflanzungsschädigende Weichmacher, die seit längerem „streng reguliert“ sind, perfluorierte Alkylverbindungen (PFAS) – sie können zu Leberschäden, Schilddrüsenerkrankungen, Fettleibigkeit, Fruchtbarkeitsstörungen und Krebs führen - sowie zahlreiche gefährliche Mixturen von Industriechemikalien. „Im Körper kann man locker 300 Stoffe nachweisen“, räumt Marike Kolossa-Gehring vom Umweltbundesamt (UBA) ein. (9) Allein in der Muttermilch finden sich Hunderte solcher tickender Zeitbomben. Das Spektrum reicht von Bisphenol A über über das jüngst in Eiern nachgewiesene Biozid Fibronil bis hin zu Glyphosat, dem meistverkauften Pestizid der Welt. Wie fabelhaft uns bestehende Grenzwerte davor „schützen“, verdeutlicht besonders krass das Beispiel Glyphosat, von der WHO als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft: Nachdem die eingesetzte Menge seit Ende der neunziger Jahre um das 15-fache zunahm (10), haben inzwischen über 70 % der Bevölkerung, vom Säugling bis zum Greis, messbare Glyphosatkonzentrationen im Blut; von 1993 bis 2016 stiegen diese um 1208 %. (11) Wie lange bleiben die Gifte im Körper? Was richten sie auf längere Sicht darin an? Wie interagieren sie mit anderen einverleibten Toxinen? Darüber schweigen Grenzwertbürokraten – notgedrungen. Eine Mogelpackung namens REACH „Um ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt sicherzustellen“, trat am 1. Juni 2007 EU-weit eine Chemikalien-Verordnung namens REACH in Kraft, ein Kürzel für „Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals“. Was bringt sie? Eine Registrierungspflicht, nach dem hehren Prinzip „no data, no market“. Eine „Nachweis“pflicht: Hersteller müssen zumindest für besonders gefährliche Stoffe belegen, dass sie sich in den „vorgesehenen Verwendungen” nicht negativ auf Mensch und Umwelt auswirken. Und ein „Informationsrecht“ für Verbraucher: Hersteller müssen auf Anfragen hin binnen 45 Tagen Auskunft geben. Bei näherer Betrachtung erweist sich REACH freilich als dreiste Mogelpackung – „aus dem Löwen ist ein zahmes Kätzchen geworden“, wie eine Greenpeace-Sprecherin feststellt. 1. Registrierungsfarce. Gemeldet werden müssen lediglich Stoffname, Nummer, Name und Anschrift des Herstellers sowie von Kontaktpersonen. Die genaue chemische Zusammensetzung bleibt Betriebsgeheimnis. Polymere, die molekularen Bausteine aller Kunststoffe, müssen bisher überhaupt nicht registriert werden, es sei denn, sie sind als „gefährlich“ einzustufen, d.h. ihre Konzentration überschreitet bereits bestehende Grenzwerte. 2. Absurde „Bewertung“. Nach Abgabe der Registrierungsunterlagen findet in der Regel lediglich eine „Vollständigkeitsüberprüfung“ statt: Wurde die Gebühr bezahlt? Liegen alle Daten vor? 3. Keine unabhängige Untersuchung. Wie bei Arzneimitteln, so darf die Industrie auch bei neuen Chemikalien den Unbedenklichkeitsbeweis mit eigenen Studien führen; es findet keine unabhängige Qualitätsprüfung statt. Ebensogut könnte man der Mafia gestatten, die Unbedenklichkeit der Drogen, mit denen sie dealt, mittels gekaufter Gutachter zu belegen. 4. Großzügige Ausnahmen. Für „besonders gefährliche“ Stoffe (SVHC: „substances of very high concern“ – kanzerogene, erbgut- und fortpflanzungsschädigende, toxische, hormonell wirksame – können Sondergenehmigungen beantragt werden. Bewilligt werden sie, (a) wenn die vom Stoff ausgehenden Risiken „ausreichend beherrscht“ werden können; (b) wenn geeignete Alternativstoffe nicht verfügbar sind bzw. ihr Einsatz „wirtschaftlich und technisch nicht tragfähig“ wäre. Mit anderen Worten: Die Illusion der Kontrolle und ökonomisches Kalkül genügen, um ausgerechnet die bedrohlichsten Substanzen marktfähig zu machen. 5. Unbedenklichkeit bei Einhaltung von Grenzwerten. Aber, wie oben erwähnt: Bei hormonell wirksamen Chemikalien gilt der simple Grundsatz „Die Dosis macht das Gift“ nicht; kleine Mengen können mehr Schaden anrichten als größere. 6. Kein Substitutionszwang. „Es ist ein Skandal, dass Stoffe, die Fehlgeburten oder Entwicklungsstörungen bei Föten hervorrufen können, nicht ersetzt werden müssen“, bemängelt die REACH-Expertin der Initiative Women in Europe for a Common Future (WECF), Daniela Rosche. (12) 7. Befangene Kontrolleure. Die für die Risikobewertung zuständigen Behörden ECHA (Europäische Chemikalienagentur) und EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) sind berüchtigt industrienah, erweisen sich immer wieder als von Lobbyisten beherrscht. 8. Schneckentempo. Durchschnittlich zehn Jahre (!) dauert es, einen einzigen Stoff zu regulieren, wie die Verbraucherschutzinitiative EEB im Juli 2022 feststellte. https://eeb.org/library/the-need-for-speed-executive-summary/ So kam es, dass das fortpflanzungsschädliche Bisphenol A erst seit März 2018 offiziell auf der Kandidatenliste steht – obwohl längst bekannt war, welchen Schaden es anrichtet. 9. Absurde Informationspflicht. In den meisten Fällen darf sich die „Auskunft“ des Herstellers darauf beschränken, den Namen des Stoffs zu nennen und ein kostenloses „Sicherheitsdatenblatt“ zur Verfügung zu stellen. Und sie gilt nur für diejenigen Chemikalien, die auf der offiziellen Liste der Europäischen Union für besonders gefährliche Substanzen stehen, der sogenannten "Kandidatenliste": So eingestuft werden sie, wenn bereits erwiesen ist, dass sie Krebs verursachen, das Erbgut schädigen, die Fruchtbarkeit einschränken, den Fötus schädigen können, nicht im Körper abgebaut werden, sich dort über einen längeren Zeitraum ansammeln und/oder giftig sind; in das Hormonsystem eingreifen können. Bisher sind 205 Stoffe derart klassifiziert. Nach Ansicht der Umweltschutzorganisation BUND „ist das viel zu wenig, denn Schätzungen der Europäischen Union gehen davon aus, dass etwa 1.500 Chemikalien als besonders gefährlich eingestuft werden müssen. (…) Das Auskunftsrecht gilt für die meisten Alltagsprodukte wie Spielzeug, Sportartikel, Textilien, Fahrzeuge oder Verpackungen. Ausgeschlossen sind aber viele ‚flüssige Produkte‘ wie Kosmetika, Wasch- und Reinigungsmittel und Arzneimittel. Auch Lebensmittel fallen nicht unter REACH. Wenn Sie zu solchen Produkten Anfragen stellen, gelten diese nur für die Verpackung.“ Gegenwärtig sind rund 140.000 Chemikalien auf dem europäischen Markt. Deren Risiken, Vor- und Nachteile sollte REACH ursprünglich ermitteln - umfassend. „Nach jahrelangem Gezerre und Gerangel mit der Industrie sind es dann letztlich 30.000 geworden“, kritisiert Greenpeace. Ausgerechnet ein eigenes Forschungsprojekt, die European Human Biomonitoring Initiative (HBM4EU) von 2017 bis 2022, https://www.hbm4eu.eu/wp-content/uploads/2022/05/HBM4EU-Newspaper.pdf führte der EU kürzlich vor Augen, wie weit es her ist mit REACHs „Schutz“funktion. Bei Kindern und Jugendlichen wies es derart hohe Konzentrationen von Kunststoffzusätzen wie Weichmachern oder poly- und perfluorierten Verbindungen (PFAS) nach, „dass gesundheitliche Schäden nicht mehr ausgeschlossen sind“. Im Rahmen ihres ehrgeizigen „Green Deal“ (13) – mit dem Ziel, bis 2050 giftfrei zu sein - wollte die EU-Kommission bis Ende 2022 einen Vorschlag vorlegen, wie REACH zu aktualisieren ist. Doch Lobbyisten bremsten erfolgreich – nun soll eine „gezielte Überarbeitung“ von REACH erst im vierten Quartal 2023 stattfinden. Wo kein Grenzwert, da keine Gefahr? Finden und kontrollieren lässt sich nur, wonach man sucht. Unsere Nahrungsmittel, unsere Atemluft, unser Trinkwasser sind mittlerweile voller Mikroplastik, winziger Kunststoffteilchen, im Bereich von Mikrometern (0,000 001 m) bis Nanometern (0,000 000 001 m), für das menschliche Auge unsichtbar. (Siehe KLARTEXT „Mikroplastik in uns: eine Zeitbombe“.) In unseren Körper geraten, kann es sich in allen Organen und Geweben einlagern, selbst Zellwände durchdringen. Schützt uns der Staat davor? Im Sommer 2018 wollten das mehrere Abgeordnete der Grünen-Fraktion von der Bundesregierung wissen. Deren trostlose Auskunft: Ein Dreivierteljahr zuvor hatte das Bundesforschungsministerium, im Rahmen eines neuen „Schwerpunkts“ namens „Plastik in der Umwelt“, 18 Projekte mit insgesamt 35 Millionen Euro gefördert. Mit „100 beteiligten Institutionen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Praxis“, so hieß es aus Berlin, sei dies „eine der größten Forschungsaktivitäten in diesem Bereich, auch im internationalen Vergleich“. Es „soll dem immer noch lückenhaften Kenntnisstand entgegenwirken.“ Geschieht dies wirklich? Allein schon die seltsam eingeschränkten Fragestellungen schüren Zweifel daran: Erst mal geht es bloß darum, geeignete „Untersuchungsmethoden“ herauszufinden, mit denen dann „biologische Wirkungen von Mikro- und Nanoplastik auf lebende Wasserorganismen“ erforscht werden. Aber wie steht es denn mit biologischen Wirkungen in unsereinem? Don´t worry, eine Gefährdung gibt es nicht, jedenfalls gemäß unseren Regierenden. Laut Bundesumweltministerium ist sie „nach gegenwärtigem Wissensstand (…) nicht zu befürchten“. Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) wiegelt ab: Es gebe „keine gesicherten Erkenntnisse“. Immerhin untersuche es derzeit aber schon mal Miesmuscheln auf Mikroplastik – na also. Solche kleinstformatigen „Forschungen“ sind Augenwischerei, und falls daraus nahe des Sanktnimmerleintags Grenzwerte abgeleitet werden sollten, so wären sie es ebenfalls. Denn jede endlich beschlossene Schutzmaßnahme, jedes Limit, jede Kontrolle verringert oder verhindert irgendwann bloß weitere Mikroplastik-Einträge in die Umwelt. Die Kontamination unseres Planeten, die bereits stattgefunden hat, lässt sich jedoch nicht mehr rückgängig machen. Aus Meeren lässt sich Mikroplastik nicht herausfiltern. Belastete landwirtschaftliche Flächen lassen sich global weder reinigen noch austauschen. Ebenso bedrohlich für unsere Gesundheit sind Nanoteilchen: Verbünde von wenigen bis einigen tausend Atomen oder oder Molekülen, in der Regel 1 bis 100 Nanometer (nm) groß. (Zum Vergleich: Ein Nanometer entspricht zehn nebeneinanderliegenden Wasserstoffatomen; ein Bakterium ist tausendmal größer. Das Größenverhältnis eines Siliziumoxid-Nanopartikels und einem Fußball ähnelt dem von einem Fußball und der Erde.) Immer mehr Lebensmitteln werden sie zugesetzt, wie auch Kosmetika; sie stecken in Verpackungen, Lacken, Reifen, Zahnfüllungen, Impfstoffen, Trinkwasser, in Pestiziden und Dünger. Na und? „Eine Gefährdung von Mensch und Umwelt durch die derzeit verwendeten Nanomaterialien ist nicht nachweisbar“, beruhigt Wikipedia im Eintrag über „Nanoteilchen“ – unisono mit dem Verband der Chemischen Industrie (VCI): „Es gibt keine Hinweise auf eine spezifische (Öko-)Toxizität von industriell hergestellten Nanomaterialien (…) Die Nanoskaligkeit eines Stoffes an sich ist keine Gefahreneigenschaft. Nanospezifische Vorschriften sind deshalb nicht erforderlich.“ (15) Tatsächlich? Wie Mikroplastik, so bedrohen Nanopartikel sämtliche Organe und Funktionen des menschlichen Organismus - bis hinab auf die Ebene von Zellen, Zellkernen und Erbgut. Dennoch gibt es bis heute keinerlei Sonderregelungen für künstlich miniaturisierte Substanzen. Gilt ein Stoff als unbedenklich, dann auch beliebig kleine Teile davon. Verkannt wird dabei, dass Mikro-/Nanoisierung zu völlig neuen physikalischen und chemischen Eigenschaften führt. Eine um ein Vielfaches vergrößerte Oberfläche macht die Stoffe reaktions- und bindungsfreudiger. Und je kleiner ein Teilchen ist, desto leichter passiert es physiologische Barrieren wie die Blut-/Hirn-Schranke, die Plazentaschranke, die Darmwand und Zellmembranen. Wo bleiben Grenzwerte, die uns vor dieser monströsen Gefahr bewahren? Auf eine Anfrage des Hessischen Rundfunks hin erklärte die EU-Kommission 2013: Und so gibt es innerhalb der Europäischen Union bis heute nicht einmal eine Meldepflicht für künstliche Nanopartikel. Eine Zulassungs- und Kennzeichnungspflicht gilt lediglich für Nano-Zusätze in Lebensmitteln und Kosmetika – ansonsten finden keinerlei gesonderte Prüfverfahren statt. Sie wären wachstumsfeindlich, so warnt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI): „Damit Deutschland der europäisch bedeutendste Standort für die Produktion und Anwendung von Nanomaterialien bleibt, sollten keine nanospezifischen regulatorischen Hindernisse aufgebaut werden.“ (16) Darum geht es. Zumindest die Versicherungsbranche scheint sich des wahren Ausmaßes der Nano-Gefahr längst vollauf bewusst. SwissRe, der weltgrößte Rückversicherer, unterscheidet drei Arten von neu auftauchenden Risiken. (17) Zu den „potentiell niedrigen“ Risiken zählt er soziale Unruhen, Ernteausfall, „Roboter unter uns“. Unter die „potentiell mittleren Risiken“ fallen für ihn Cyberangriffe, Epidemien, Schuldenkrisen, Versorgungsengpässe, Antibiotika-Resistenzen. Darüber hinaus rechnet er mit drei „potentiell hohen“ Risiken: Elektromagnetische Felder von Mobilfunkgeräten und –anlagen; „Endokrine Disruptoren“, hormonähnlich wirkende Chemikalien; und Nanotechnologie. Hier weist SwissRe auf „unvorhergesehene Folgen“ hin. Denn „Partikel in Nanogröße weisen im Vergleich zu größeren Partikeln desselben Stoffes einzigartige Eigenschaften auf. Das ermöglicht neue Anwendungen, kann aber auch neue Risiken mit sich bringen. Derzeit ist wenig über die Toxizität von Nanomaterialien oder das Potenzial für latente Krankheiten, die Arbeitnehmer und Verbraucher betreffen könnten. Zusätzliche Forschung zum Lebenszyklus von Nanomaterialien und Produkten, die Nanomaterialien enthalten, sind notwendig, um um die potenzielle Exposition besser einschätzen zu können. Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass bestimmte Nanostrukturen sich in Geweben und Organen anreichern und von einzelnen Zellen aufgenommen werden können. Nachteilige Auswirkungen auf die Gesundheit wurden in Studien mit Materialien wie Kohlenstoff-Nanoröhren, Nanopartikeln aus Titandioxid oder Siliziumdioxid-Nanopartikeln festgestellt. Aufgrund der relativ unbekannten Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsbelastungen, die von Nanomaterialien während ihres gesamten Lebenszyklus entstehen, stellt die Nanotechnologie die Versicherungsbranche vor große Herausforderungen. Von zentraler Bedeutung sind die verzögerten Auswirkungen, d.h. die Frage, ob Nanomaterialien eine latente Gefahr darstellen. Ähnlich wie im Fall von Asbest, kann es zu großen Verlusten bei der Produkthaftung, der Arbeiterunfallversicherung und der Umwelthaftpflichtversicherungen kommen.“ Wird der Staat irgendwann mit Nano-Geschädigten ebenso verfahren wie mit PostVac-Opfern des Corona-Regimes? Placebos zur Volksberuhigung Aus all diesen Gründen dienen Grenzwerte für Schadstoffe in erster Linie als Placebos zur Volksberuhigung: Der trügerische Anschein von wissenschaftlicher Erkenntnis und behördlicher Kontrolle sichert und verlängert das Geschäft mit medizinisch hochriskanten Produkten. Ein Musterbeispiel hierfür ist Asbest: Dass dieser Baustoff hochgradig kanzerogen ist, war Verantwortlichen spätestens im Jahre 1936 klar, als Asbestose, ein durch Asbest hervorgerufener Lungenkrebs, als Berufskrankheit anerkannt wurde. Trotzdem durfte Asbest in Deutschland weiterhin, bis in die siebziger Jahre hinein, höchst profitabel vertrieben werden; in beinahe jedem Gebäude kam es zum Einsatz. Erst nach 1981 galten Einsatzbeschränkungen, erst seit 1990 ist das gefährliche Material EU-weit verboten. Ähnlich lange dauerte es, bis Lindan und Formaldehyd, Polychlorierte Biphenyle (PCB) und Pentachlorphenol (PCP) endlich vom Markt verschwanden. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Absurde Umkehr der Beweislast Dass der Staat lieber die Interessen von Konzernen als die Gesundheit seiner Bürger schützt, verrät er daran, dass er eine absurde Umkehr der Beweislast zulässt. Sollte nicht derjenige, der uns einer giftigen Chemikalie aussetzt, vorher deren Unbedenklichkeit zweifelsfrei belegt haben? Müssen verantwortungsvolle Regierungen und Behörden bis dahin nicht strikt am Vorsorgeprinzip festhalten? Stattdessen darf der Produzent das Gift freisetzen, solange es keine unwiderlegbare „wissenschaftliche Evidenz“ dafür gibt, dass es uns tatsächlich schadet. Ein hieb- und stichfester Beweis, dass eine bestimmte Substanz eine bestimmte Krankheit erzeugt, ist naturgemäß nie zu erbringen – dafür sind die beteiligten Vorgänge im menschlichen Organismus viel zu komplex. Und immer spielen weitere Belastungsfaktoren mit, die sich ebenfalls für festgestellte Gesundheitsschäden verantwortlich machen lassen. (Dass es schier unmöglich sein kann, nicht genehme Evidenz auch nur öffentlich zur Diskussion zu stellen, mussten Kritiker von Lockdowns, Masken und Social Distancing, von PCR-Tests und als „Impfung“ getarnten Genspritzen in der unsäglichen Coronakrise erleben.) Konsequent umgesetzt, würde das Vorsorgeprinzip erfordern, „Nulltoleranz“ walten zu lassen: Künstliche Chemie darf in Lebens- und Futtermitteln erst gar nicht vorkommen, solange unklar ist, was sie über kurz oder lang in uns anrichtet. Entsprechende Verbote, so erläutert das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), erlasse der Gesetzgeber durchaus hin und wieder, um „Belastungen von Lebensmitteln auszuschließen, z.B. weil er dieRisiken für nicht ausreichend kalkulierbar bzw. für nicht tolerabel hält. (…) Auch bei unzureichender toxikologischer Datenlage“, so betont die Behörde, „oder bei hinreichendem Verdacht auf weitere mögliche gesundheitsschädliche Wirkungen können Nulltoleranzen festgesetzt werden“. (18) Sind diese Voraussetzungen bei chemischen oder hochfrequenten „Innovationen“ , mit denen Menschen in Kontakt kommen, etwa nicht immer erfüllt? Wie können wir uns schützen? Wie können wir unter solchen Umständen uns und unsere Liebsten überhaupt noch schützen? Indem wir größtmögliche Vorsicht walten lassen, offiziellen Verharmlosungen grundsätzlich misstrauen, bei beschwichtigenden Politikern und Experten grundsätzlich mit Lobbyismus und Korruption rechnen. Bei Kontakten mit Giftschleudern sollten wir auf alles Vermeidbare verzichten, um den unabsehbaren Schaden einigermaßen zu begrenzen, den das Unvermeidliche in uns anrichten könnte. Das gilt für Trinkwasser und Nahrung, für Waschmittel und Kosmetika, für Verpackungen und künstliche Strahlung, für Medikamente und Impfstoffe gleichermaßen. Wäre Außerirdischen unser Planet tatsächlich eine Beobachtungsmission wert, so würden sie staunend feststellen, dass hier offenkundig seit längerem ein globales Langzeitexperiment stattfindet, das Leib und Leben aller Erdbewohner bedroht. Die Studienfrage lautet anscheinend: Wie weitgehend muss diese Spezies vergiftet werden, um die Gesundheit möglichst vieler langfristig zu zerstören – ohne dass sie durchschaut, was mit ihr geschieht, und sich dagegen zur Wehr setzt? Was die Menschheit in geradezu apokalyptischem Maße bedroht, bedeutet für Wenige geradezu ein Geschenk des Himmels: für all jene nämlich, denen es umso besser geht, je schlechter es uns geht. Je mehr Menschen chronisch krank werden, je früher sie es tun, je länger sie es bleiben, desto prächtiger sprudeln die Gewinne von pharmazeutischer und medizintechnischer Industrie, von Apothekern, Klinik- und Pflegeheimbetreibern, von Laboren, von Therapeuten aller Art. Je mächtiger diese Profiteure, desto unwahrscheinlicher wird es, dass das Experiment ein baldiges Ende findet. Wird ET jemals aus dem Staunen herauskommen? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 https://www.q-s.de/pressemeldungen/verbraucher-vertrauen-der-sicherheit-von-lebensmit.html; https://www.q-s.de/services/files/pressemeldungen/pm-2021/QS_Pressegrafik_Verbrauchervertrauen_Lebensmittelsicherheit_Deutschland_300dpi-RGB.jpg 2 Andreas Kortenkamp u.a.: „Low-Level Exposure to Multiple Chemicals: Reason for Human Health Concerns?“, Environmental Health Perspectives 115, No. Suppl. 1, Dezember 2007, https://doi.org/10.1289/ehp.9358 3 Zit. nach https://www.welt.de/wissenschaft/article170262846/Im-Koerper-kann-man-locker-300-Stoffe-nachweisen.html 5 O. Wassermann/A. Carsten: Die gesellschaftspolitische Relevanz der Umwelttoxikologie, Berlin 1986; siehe auch O. Wassermann u.a.: Die schleichende Vergiftung. Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht, Frankfurt a. M. 1990. 6 Hermann H. Hahn/Thomas W. Holstein/Silke Leopold (Hrsg.): Risiko und Verantwortung in der modernen Gesellschaft, Berlin/Heidelberg/New York 2014, S. 22. 7 https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=1937; https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail?newsid=1910; https://www.diagnose-funk.org/download.php?field=filename&id=1555&class=NewsDownload 8 Süddeutsche Zeitung Nr. 91, 20.4.2018, S. 1: „Reizender Badespaß“. 9 https://www.epo.org/about-us/annual-reports-statistics/annual-report/2012/statistics-trends/patent-applications_de.html#tab5, abgerufen am 20.4.2018. 10 Zit. nach https://www.welt.de/wissenschaft/article170262846/Im-Koerper-kann-man-locker-300-Stoffe-nachweisen.html 11 Environmental Sciences Europe 2016; 28: 3, https://enveurope.springeropen.com/articles/10.1186/s12302-016-0070-0; JAMA Internal Medicine 2018;178(1):17-26, https://jamanetwork.com/journals/jamainternalmedicine/fullarticle/2659557 12 http://www.gmwatch.org/en/news/latest-news/17932-exposure-prevalence-to-glyphosate-has-increased-500-since-introduction-of-gm-crops) (https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/_migrated/publications/20050600_chemie_schadstoffe_muttermilch_studie.pdf 13 Women Engage for a Common Future (WECF), 2022: “Vorsicht! PFAS. #NotWastingOurFuture”, https://www.wecf.org/de/wp-content/uploads/2018/10/Vorsicht_PFAS_22.pdf 14 Europäische Kommission (2019): „Mitteilung der Kommission - Der Europäische Grüne Deal“, COM(2019) 640 final, (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex:52019DC0640 15 https://www.vci.de/top-themen/nanomaterialien.jsp, abgerufen am 5.11.2018. 16 BDI-Broschüre „Herausforderungen aus Sicht der Industrie“, S. 12, https://bdi.eu/media/presse/publikationen/Herausforderungen_Forschungs-_Innovations-_und_Technologiepolitik.pdf 17 SwissRe SONAR: „Emerging Risik Insights“ (2022), https://www.swissre.com/institute/research/sonar/swiss-re-sonar-2013-emerging-risk-insights.html 18 Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): „Nulltoleranzen in Lebens- und Futtermitteln“, Positionspapier des BfR vom 12.3.2007, www.bfr.bund.de/cm/343/nulltoleranzen_in_lebens_und_futtermitteln.pdf.

  • Zuchtlachs: giftiges Junk Food?

    Ist Zuchtlachs wirklich gesund? In Wahrheit handelt es sich um ein hochgradig schadstoffbelastetes Industrieprodukt, fünfmal giftiger als jedes andere getestete Lebensmittel. Vor „toxischem Junk Food“ warnt ein namhafter US-Mediziner, vor einem „tödlichen chemischen Cocktail“ ein erschütternder Dokumentarfilm. Einst Delikatesse, heute Massenprodukt: Lachs ist sehr gesund, nicht wahr? Schließlich liefert sein rosafarbenes Fleisch reichlich Omega-3-Fettsäuren, und die sind gut fürs Gehirn, senken den Cholesterinspiegel, beugen Herzinfarkten vor. Seine Antioxidantien hemmen Entzündungen. Sein Kalzium stärkt die Knochen. Eine ergiebige Jod- und Vitamin-D-Quelle ist er ebenfalls. Stammt er aus Aquakulturen? Um so besser, das schützt die Weltmeere vor Überfischung, so heißt es. Also können wir guten Gewissens zugreifen und genießen? Das tun Verbraucher immer ausgiebiger: Mehr als jeder zweite Fisch, der auf den Teller kommt, stammt inzwischen aus Zuchtfarmen (1); nach anderen Schätzungen sind es sogar schon über 90 Prozent. In Wahrheit ist die Lachszucht eine Katastrophe – für die menschliche Gesundheit ebenso wie für die Umwelt. Mit einer hervorragenden Dokumentation, „Fillet Oh Fish“, öffnet Filmemacher Nicolas Daniels die Augen dafür. In 54 Minuten bietet er exklusive Aufnahmen aus Fischfarmen und Fabriken rund um den Globus. Sein niederschmetterndes Fazit: „Das Fleisch der Fische, die wir essen, hat sich durch intensive Farmwirtschaft und globale Umweltverschmutzung zu einem tödlichen chemischen Cocktail entwickelt.“ Im Mittelpunkt von „Fillet Oh Fish“ steht Norwegen, größter Zuchtlachs-Produzent der Welt. Mehr als tausend Farmen, die seine Fjorde übersäen, liefern über 20 Millionen Lachse pro Jahr. Dass Aquakulturen, in riesigen Netzkäfigen, eine nachhaltige Alternative zur Überfischung der Weltmeere darstellen, ist ein umsatzfördendes Märchen. In Wahrheit dezimieren Fischfarmen die Bestände eher, als sie zu retten. Um ein Kilo Zuchtlachs herzustellen, werden 1,5 bis 8 Kilo Wildfisch benötigt. Wie gesund kann kranker Fisch sein? Industrielle Fischzucht bedeutet Massentierhaltung. In einer Lachsfarm werden bis zu zwei Millionen Tiere auf engstem Raum zusammengepfercht. Das begünstigt Krankheiten, die rasch um sich greifen. Wie der Umweltaktivist Kurt Oddekalv in „Fillet Oh Fish“ berichtet, haben sich in Norwegens Zuchtfischbeständen überall Seeläuse ausgebreitet: Quallenlarven, die durch die Fischhaut dringen, Gewebe und Blut fressen. Sie verursachen offene Wunden, die dann von Krankheitserregern befallen werden können. Auch die hochansteckende Infektiöse Pankreasnekrose (IPN) und die Lachsanämie drohen die Bestände zu dezimieren. Von diesen Fischpandemien erfährt der Verbraucher: nichts. Der Verkauf befallener Fische läuft uneingeschränkt weiter – mit unerforschten Auswirkungen auf den, der sie verzehrt. Um Krankheiten vorzubeugen und einzudämmen, setzten norwegische Züchter noch vor 30 Jahren pro Tonne Fisch fünf Kilogramm Antibiotika ein. Inzwischen sind es angeblich weniger als 0,9 Gramm pro Tonne. Dafür sorgen Impfungen der jungen Lachse, ehe sie ins Meeresgehege ausgesetzt werden. Ob die Vakzine so unproblematisch sind, wie Hersteller und Gesundheitsbehörden sie anpreisen? Wo keine Forschung, da keine Evidenz. Zur Abwehr krankmachender Schädlinge kommt darüber hinaus eine Reihe brandgefährlicher Pestizide zum Einsatz. Arbeiter müssen Schutzkleidung tragen, während sie die Chemikalien in offene Gewässer kippen. Die ausgebrachten Mittel wirken teilweise neurotoxisch. Andere Pestizide schädigen die DNA der Fische, sie führen zu Mutationen im Erbgut. Unter Zuchtkabeljauen ist deswegen jeder zweite deformiert. Weibliche Kabeljaue, die aus den Zuchtbetrieben entwischen, paaren sich mit freilebenden Artgenossen. So werden genetische Mutationen und Missbildungen in die Wildpopulationen eingeschleppt. Beim Zuchtlachs fallen solche abnormen Veränderungen im Erbgut an der merkwürdigen Konsistenz des Fleisches auf: Es ist seltsam spröde; wird es gebogen, so bricht es auseinander. Wer Lachszucht für eine saubere Sache hält, sollte schleunigst auf Tauchstation gehen. Unter den Farmen befindet sich eine meterdicke Abfallschicht, in der es von Fäkalien, verfaultem Futter, Arzneimittelresten und giftigen Pestiziden nur so wimmelt. Sie verseuchen das umliegende Meer, ihre Krankheitskeime stecken wilde Artgenossen an. Haarsträubend. Schwimmende Omega-6-Fettbombe Auch der Nährstoffgehalt ist abnormal. Wildlachse enthalten rund 5 bis 7 % Fett. Zuchtlachse bringen es hingegen auf 14,5 bis 34 % Fett. Woher kommt der drastisch erhöhte Fettgehalt? Dafür sorgt das verarbeitete, fettreiche Futter, das Zuchtlachse erhalten. Aber Zuchtlachs ist nicht bloß viel fettreicher. Das Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren ist darin radikal verzerrt. (2) Ein 170-Gramm-Filet von einem wilden Atlantiklachs enthält etwa 3934 Milligramm Omega-3 und 374 mg Omega-6. (3) In einem ebenso großen Zuchtlachsfilet hingegen steckt zwar etwas mehr Omega-3 – 4252 Milligramm -, jedoch erstaunliche 1132 mg Omega-6, also mehr als dreimal so viel wie im Wildlachs. (4) Zwar benötigt unser Körper beide Fettsäuren – idealerweise aber im Verhältnis von 1:1. Weil die westliche Standardernährung einen viel zu hohen Anteil an verarbeiteten Lebensmitteln aufweist, ist sie aber ohnehin schon stark Omega-6-lastig. Statt diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, verstärkt Zuchtlachs es noch. Einen Aprilscherz leistete sich insofern die Stiftung Warentest 2018, als sie von Wildlachs gerade wegen seines niedrigeren Fettgehalts abriet. Er schmecke nämlich nicht so gut – “weniger intensiv nach Lachs, nicht so buttrig, zart und saftig.” (5) Weil Fett als Geschmacksträger fungiert, haben gezüchtete Fische demnach einen klaren Vorteil, so befanden die Tester. In puncto Omega-Fettsäuren leiden sie offenbar unter Informationsdefiziten. Raubfische werden zu Vegetariern gemacht Aber wie kommt Zuchtlachs zu seinen überschüssigen Omega-6-Fetten? Das Infoportal “The Fish Site” klärt auf, was Zuchtfische aus dem Atlantik zu fressen bekommen. Im Jahr 2019 stammten drei Viertel des norwgischen Fischfutters aus Pflanzenprodukten vom Land, die im Meer gar nicht natürlich vorkommen: darunter Sojabohnenkonzentrat, ein aus Sojabohnen isoliertes Eiweiß, neben weiteren pflanzlichen Proteinquellen wie Weizen, Mais und Ackerbohnen. (6) Eine in Research Gate 2012 veröffentlichte Studie (7) listet darüber hinaus auf: Pressrückstände aus Sonnenblumenkernen, Weizengluten, Favabohnen, Erbsenprotein, Rapsöl. Bekommt ein Wildlachs irgendeine dieser Zutaten jemals ins Maul? "Wenn wir den Fisch nun mit pflanzlicher Nahrung füttern, dann hat der Fisch auch eine Fettsäurezusammensetzung, die dem Pflanzenmaterial entspricht", erklärt Ulfert Focken, Experte für Fischfutter am Thünen-Institut für Fischereiökologie. Von einer “artgerechten Ernährung” kann in der Lachszucht folglich keine Rede sein. Hier machen marine Eiweißquellen bloß 14,5 % der Futtermittelzutaten aus, Meeresöle weitere 10,4 %. (8) Wie werden Zuchtlachse dann überhaupt rötlich, wenn nicht durch die gefressenen Krebse? Ihnen werden künstlich hergestellte Carotinoide verabreicht. Fünfmal giftiger als jedes andere Nahrungsmittel Sein hoher Fettgehalt trägt dazu bei, dass Zuchtlachs weitaus mehr Schadstoffe enthält als seine wilden Artgenossen. Viele Toxine reichern sich leicht im Fett an – mit der fatalen Folge, dass Zuchtlachse unter ähnlich kontaminierten Bedingungen erheblich mehr Gifte aufnehmen. Woher stammen sie? Die größte Belastungsquelle stellen nicht etwa Pestizide oder Antibiotika dar. Es ist das Trockenfutter, in Form von Pellets. Darin gefunden wurden Dioxine, Polychlorierte Biphenyle (PCBs) und Pestizide, neben weiteren Medikamenten und Chemikalien. Frisst der Lachs sie, so reichern sie sich in seinem Fettgewebe an. Einer Studie zufolge, die 700 Lachsproben aus aller Welt einbezog, liegt die PCB-Konzentration im Zuchtlachs um ein Achtfaches höher als im Wildlachs. Als der norwegische Biologe und Toxikologe Jerome Ruzzin (9) von der Universität Bergen eine Reihe von Lebensmittelgruppen auf Giftstoffe prüfte, förderte er Überraschendes zutage: Die größte Menge an Giftstoffen steckte im Zuchtlachs. Mit großem Abstand. Er erwies sich als fünfmal giftiger als jedes andere getestete Lebensmittel: Hamburger, Vollmilch, Eier, Äpfel, Kartoffeln und Kabeljau. Was diese Gifte anrichten können, lassen Tierversuche erahnen. Mäuse und Ratten, die Futter mit Zuchtlachszusatz erhalten, werden adipös; dicke Fettschichten umgeben ihre inneren Organe. Außerdem entwickeln die zuchtlachsgefütterten Tiere Diabetes. Daraus schließt Ruzzin, dass die pandemisch um sich greifende Fettleibigkeit nicht nur auf zuviel Industriezucker, Kohlenhydrate und minderwertige Fette zurückgeht; immer mehr Schafstoffe tragen ebenfalls dazu bei. Wie Dioxine auf den Teller geraten Warum ist das Fischfutter so giftig? Um das herauszufinden, führt uns „Fillet Oh Fish“ in eine norwegische Fischpelletfabrik. Dort zeigt sich: Die Hauptzutaten sind Aal und andere Fische mit hohem Protein- und Fettgehalt. Woher stammen sie? Vornehmlich aus der Ostsee – einem hochgradig verschmutzten Binnenmeer. Zehn Anrainerstaaten leiten ihren Giftmüll hinein, überwiegend ungeklärt. Was in dieser Brühe herumschwimmt, nimmt die Toxine auf und lagert sie im Körperfett ein. Zumindest Schweden hat seine Fischhändler deswegen dazu verpflichtet, ihre Kunden vor der möglichen Giftigkeit von Ostseefischen ausdrücklich zu warnen. Das Gesundheitsministerium empfiehlt, fetten Fisch wie Hering höchstens einmal pro Woche zu essen; Schwangere sollten ihn völlig meiden. Was tun mit fetten Fischen, die für den menschlichen Verzehr ungeeignet sind? Man verarbeitet sie zu Fischfutter. Und so landen sie letztlich doch auf unseren Tellern. Monsanto-Pestizid - „das bestgehütete Geheimnis der Fischindustrie“ Weitere Giftstoffe steuert der Herstellungsprozess der Pellets bei. Der „Rohstoff“, fetter Fisch, wird zunächst gekocht. Dabei entstehen zwei separate Produkte: Öl, das einen hohen Gehalt an Dioxinen und PCB aufweist; und Proteinpulver, dem insgeheim ein „Antioxidans“ namens Ethoxyquin beigemengt wird – eine Chemikalie, die verhindern soll, dass die Fette im Fisch oxidieren und ranzig schmecken. Laut Filmemacher Nicolas Daniels verbirgt sich dahinter „das bestgehütete Geheimnis der Fischindustrie“. Und eines der giftigsten. Der skandalumwitterte Chemiegigant Monsanto brachte Ethoxyquin Ende der fünfziger Jahre auf den Markt – zunächst als Alterungsschutz für Gummi, dann zur Futtermittelkonservierung, schließlich als Pestizid. Seine Verwendung in Obst, Gemüse und Fleisch ist mittlerweile einigermaßen reguliert, mit einem Grenzwert von 0,05 Milligramm pro Kilo – nicht jedoch in Fisch, denn dafür war die Chemikalie nie vorgesehen. Die absehbare Konsequenz: Zuchtfische können bis zu 20-mal mehr Ethoxyquin enthalten als andere Lebensmittel. Wie sich Ethoxyquin auf die menschliche Gesundheit auswirkt, ist kaum erforscht. Eine norwegische Doktorandin, Victoria Bohne, berichtet in ihrer Dissertation von beunruhigenden Entdeckungen: Ethoxyquin ist imstande, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Und möglicherweise wirkt es krebserregend. Wie kann es sein, dass ein derartiges Gift überhaupt in der Fischzucht verwendet werden darf? Warum wird nicht längst wissenschaftlich untersucht, was es im menschlichen Organismus anrichtet? Verbraucherschützer weisen die Verantwortung dafür Lisbeth Berg-Hansen zu, von 2009 bis 2013 Norwegens Ministerin für Fischerei und Küstenschutz - zugleich Hauptaktionärin einer kommerziellen Lachszucht, Inhaberin hochrangiger Posten und Beteiligungen in der Fischereiindustrie. (10) Dass die Stiftung Warentest bei Zuchtlachs “keine nennenswerten” Schadstoffmengen festzustellen vermag (11), sorgt vor diesem Hintergrund für Kopfschütteln. Ist nicht immer der Rede wert, was Konsumenten schaden kann – zumal wenn unklar ist, in welchen Mengen aus unterschiedlichsten Quellen er es zu sich nimmt? Alternativen „Bio“ und „Sockeye“ Auf Wildfische auszuweichen, ist leider schon lange kein Ausweg mehr. Die meisten großen Gewässer unseres Planeten sind inzwischen belastet: mit Quecksilber, Schwermetallen, Dioxinen, PCBs, Agrarchemikalien, Industrieabfällen und Zerfallsprodukten wie Mikroplastik. Regelmäßig Fisch zu essen, ist für Gesundheitsbewusste daher längst keine gute Idee mehr – eine besonders schlechte Nachricht für Pescetarier, die auf den Verzehr von Rind, Schwein, Schaf und Geflügel verzichten, stattdessen Fisch und Meeresfrüchte auf den Speiseplan setzen. Wie steht es mit Zuchtlachs in Bio-Qualität? Unter 25 untersuchten Angeboten schafften es „Gut Bio Lachsfilets“ von Aldi Nord bei der Stiftung Warentest im März 2018 auf den zweiten Platz, Gesamtnote 1,9. (12) Ethoxyquin spielt hier keine Rolle, da es in der biologischen Landwirtschaft ohnehin verboten ist. Allerdings fanden die Prüfer minimale Spuren eines Abbau­produkts – andernfalls wäre der Bio-Fisch von Aldi, 250 Gramm für rund 6 Euro, sogar Testsieger geworden. (13) Auch andere Schadstoffe kommen im Bio-Produkt weitaus seltener vor. Dazu trägt die vorgeschriebene Haltung bei: In einem Kubikmeter Wasser dürfen sich nur halb so viele Lachse tummeln wie in konventionellen Farmen. Dadurch schwimmen sie mehr herum, bleiben fitter, werden von weniger Parasiten befallen. Gegen Schädlinge wie die Lachslaus setzen findige Bio-Züchter statt Pestiziden neuerdings “Putzerfische” ein. Aber auch Bio-Lachse werden nicht artgerecht ernährt. Mehr als 40 Prozent tierisches Eiweiß im Futter schreiben EU-Bio-Richtlinien nicht vor. Als “innovativ” gelten Unternehmen, die an Lachse Öl aus Meeresalgen oder gar Bio-Insekten verfüttern. (14) Wie sonst entgehen wir dem „toxischen Junk Food“, wie der US-Ganzheitsmediziner Dr. Joseph Mercola es nennt? Eine einzige Ausnahme von strikter Lachsabstinenz lässt er noch gelten: echten, wild gefangenen Sockeye, auch „Rotlachs“, aus Alaska. Dieser Nordpazifikschwimmer mit dem prächtig tiefroten Fleisch, für Kenner das edelste und feinste, frisst ausschließlich Plankton mit Minikrebsen und Shrimps. „Seine ernährungsphysiologischen Vorteile wiegen meines Erachtens immer noch schwerer als eine mögliche Verunreinigung. Das Risiko, dass Sockeye hohe Mengen an Quecksilber und anderen Giftstoffen anreichert, ist wegen seines kurzen Lebenszyklus von drei Jahren geringer.“ Dafür müssen Verbraucher allerdings tiefer in die Tasche greifen: Hundert Gramm Sockeye können über zehn Euro kosten. Discounter Aldi bietet eine 150 Gramm-Packung „Sockeye Wildlachs“ immerhin schon für 4,89 Euro an, Lidl für 3,25 Euro (15), Konkurrent Norma 100 Gramm für 2,53 Euro – von „Öko-Test“ Ende 2022 mit „gut“ bewertet. (16) Wie viel ist uns unsere Gesundheit wert? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 Live Science 8.9.2009, https://www.livescience.com/5682-milestone-50-percent-fish-farmed.html 2 Global Seafood Alliance, 30. Januar 2017, https://www.globalseafood.org/advocate/omega-6s-and-the-threat-to-seafoods-healthy-halo/ 3 My Food Data. Wild Atlantic Salmon Cooked, https://tools.myfooddata.com/nutrition-facts/171998/wt9/1 4 My Food Data. Farmed Atlantic Salmon Cooked, https://tools.myfooddata.com/nutrition-facts/175168/wt9 5 Zit. nach https://www.eatclub.tv/aktuelles/verbraucherthemen/lachsfilets-bei-stiftung-warentest-111664; https://www.chip.de/artikel/der-beste-lachs-testsieger-der-stiftung-warentest_104665 6 The Fish Site. 3. September 2019, https://thefishsite.com/articles/whats-salmon-feed-really-made-of 7 Research Gate. Norwegian Salmon Feed, https://www.researchgate.net/figure/Feed-ingredients-used-in-Norwegian-salmon-feed-in-2012-Data-are-reported-by-EWOS-BioMar_tbl1_279752594 8 Fish Site, a.a.O. 9 Siehe https://www.uib.no/en/rg/toxicology/56874/what-%E2%80%93-eating-salmon-may-not-be-good-me und https://www.uib.no/filearchive/final.pdf 10 Diese Interessenkonflikte beleuchtete 2014 die TV-Dokumentation „Giftiger Fisch – Die große Gesundheitslüge“ https://www.youtube.com/watch?v=8_Sl_wjiOyI; siehe dort ib. Minute 31:26 bis 34:36. 11 Siehe https://www.24vita.de/verbraucher/lachs-stiftung-warentest-fisch-wildfang-zuchtlachs-aquakultur-discounter-frankfurt-main-90943826.html 12 Auch bei Öko-Test schnitt die Aldi-Marke „gut“ ab. https://www.heidelberg24.de/verbraucher/lachs-test-oekotest-vergleich-produkte-ergebnis-discounter-marke-lidl-wuermer-zr-91138930.html; https://www.stern.de/genuss/lachs-bei--oeko-test----nur-ein-raeucherlachs-ist--sehr-gut--30961356.html 13 https://www.chip.de/artikel/der-beste-lachs-testsieger-der-stiftung-warentest_104665 14 https://www.oekolandbau.de/bio-im-alltag/einkaufen-und-kochen/produktinfos/lebensmittel/bio-lachs-in-massen-geniessen/ 15 Privateinkauf am 23.3.2023. 16 https://www.ruhr24.de/service/oekotest-lachs-fisch-lidl-aldi-discounter-ergebnisse-raeucherlachs-sieger-preis-sehr-gut-test-zr-91139814.html

  • Borreliose: eine fehlgeleitete Biowaffe?

    Stammt der Erreger der Lyme-Borreliose, einer der tückischsten Infektionskrankheiten, aus einem amerikanischen Biowaffenprogramm? Hinweise darauf will eine US-Journalistin entdeckt haben. Es beginnt typischerweise mit einem Hautausschlag, der sich kreisförmig ausbreitet. Man fühlt sich abgeschlagen und fiebert, Kopfweh und Schüttelfrost stellen sich ein. Schreitet die Erkrankung fort, so bringt sie weitere, heftigere Beschwerden mit sich: Muskeln krampfen, die Motorik wird unkoordinierbar. Betroffene sehen und hören schlechter, klagen über Gelenkschmerzen und Herzprobleme. Es kommt zu Hirnhautentzündungen und kognitiven Störungen, sogar psychiatrische Symptome können auftreten. Nicht rechtzeitig therapiert, führt die Lyme-Borreliose zu irreversiblen Organschäden. Eine von fast 400.000 US-Amerikanern, die Jahr für Jahr daran erkranken, war die Wissenschaftsjournalistin Kris Newby. Im Jahre 2002 infizierten sie und ihr Mann Paul sich während eines Urlaubs auf Martha´s Vineyard, einer Insel vor der Südküste von Massachusetts. "Es ist, als hätte man Multiple Sklerose, Alzheimer, chronische Müdigkeit und Gelenkschmerzen, alles zur gleichen Zeit”, so beschreibt sie ihre persönliche Erfahrung. “Es handelt sich in erster Linie um eine neurologische Krankheit, die zu einer Hyperinflammation führt. Und die Symptome wandern häufig durch den Körper. Du kannst sehr geschwächt sein, unfähig, die Aufgaben eines normalen Erwachsenen zu erfüllen. Wir waren verzweifelt und ein Jahr lang ohne Diagnose.” Bei zehn Ärzten war sie. Keiner erkannte, woran sie litt. Keiner wusste Rat. “Ich dachte, das wäre das Ende meines Lebens, wie ich es kannte.” "Diese Zeckenbisse raubten uns unsere Gesundheit", schreibt Newby, "und schickten mich auf die Suche nach einer fast unvorstellbaren Möglichkeit: dass wir Kollateralschäden in einem biologischen Waffenrennen waren, das während des Kalten Krieges begonnen hatte." “Vier bis fünf Jahre dauerte es, bis wir uns vollständig erholt hatten.” (1) Ihr überstandenes Martyrium motivierte Kris Newby 2008 zu einem bewegenden Dokumentarfilm “Under Our Skin”, der für einen Academy Award nominiert wurde; sechs Jahre später produzierte sie eine Fortsetzung: “Under Our Skin 2: Emergence”. Die “unsichtbare Krankheit” Eine besondere medizinische Herausforderung stellt die Borreliose unter anderem deshalb dar, weil ihre Symptome viele andere Krankheiten imitieren, darunter Multiple Sklerose, Arthritis, chronisches Müdigkeitssyndrom, Fibromyalgie, CFS und sogar Morbus Alzheimer-Krankheit. Sie zu identifizieren, wird dadurch schwierig und zeitaufwändig. (2) Erschwerend kommt hinzu, dass viele Borreliosekranke äußerlich gesund aussehen. Auch ihre Blutwerte geben oft keinen Anlass zur Sorge. Nicht von ungefähr gilt Borreliose als “unsichtbare Krankheit". Von Ärzten, die deswegen skeptisch sind, müssen sich Betroffene häufig unterstellen lassen, ihr Problem sei psychischer Natur, ihre Beschwerden würden sie sich "bloß einbilden". Bis endlich die richtige Diagnose gefunden ist, verstreicht kostbare Zeit, in der die Krankheit chronifiziert, für immer größeren Leidensdruck sorgt und immer schwieriger zu behandeln ist. Übertragen wird die Borreliose von Zecken – sowie manchmal auch von anderen Stechinsekten -, die mit dem Bakterium Borrelia burgdorferi infiziert sind. Mit diesem Erreger kommen die Blutsauger nicht zur Welt. Sie nehmen ihn von einem Wirtstier auf, das sie befallen (3), in erster Linie von Mäusen und Ratten. (4) Die Lebensräume deren wichtigster natürlicher Fressfeinde – darunter Füchse, Raubvögel und Schlangen – zerstört eine immer intensivere Landwirtschaft und Zersiedelung. Deshalb konnten die Populationen der kleinen Nagetiere immer stärker ansteigen. Borrelia burgdorferi stellt aus mehreren Gründen eine besonders heimtückische Bedrohung dar. Zum einen ist dieses Bakterium fähig, je nach Milieu im befallenen Organismus unterschiedliche Gestalten anzunehmen, womit es geschickter manövrieren, sich leichter verstecken und überleben kann. Zudem zählt es zu den Spirochäten: Unter dem Mikrosop erscheint es als spiralig gekrümmtes, sehr langes und bewegliches Stäbchen. Die korkenzieherartige Form versetzt es in die Lage, sich in vielerlei Körpergewebe tief einzugraben, weshalb es so oft für eine weitreichende Multisystembeteiligung sorgt. Früh erkannt, lässt sich der Borreliose in vielen Fällen mit einem Antibiotikum beikommen: Doxycyclin, Ceftriaxon, Vancomycin. Jedoch ist das Bakterium häufig imstande, um sich herum einen schützenden Biofilm zu bilden, wodurch es seine Resistenz gegen Medikamente erhöht. Konfrontiert mit einem Antibiotikum oder Killerzellen des Immunsystems, verwandelt es sich in eine “schlafende” Zyste, die sich für Monate und Jahre verstecken kann, um aufs Neue zuzuschlagen, sobald eine geschwächte biologische Abwehr ihm die Chance dazu gibt. Schwer zu behandeln ist die Borreliose außerdem deswegen, weil Zecken auch weitere Krankheitserreger übertragen können. Solche Koinfektionen können zusätzliche, sehr unterschiedliche Symptome heraufbeschwören; häufig sprechen sie nicht auf Maßnahmen gegen das Bakterium burgdorferi an. Sämtliche Infektionen in den Griff zu kriegen, erfordert somit einen anspruchsvollen mehrgleisigen Ansatz. Die offizielle Version Als Entdecker der Borreliose gilt der Mann, der ihrem Erreger den Namen gab: Willy Burgdorfer, ein aus der Schweiz stammender Bakteriologe und Parasitologe. Sein ganzes Berufsleben lang arbeitete er in den Rocky Mountain Labs, einem Institut der höchsten Biosicherheitsstufe 4 (BSL 4) in Montana, betrieben von den National Institutes of Health (NIH), einer Einrichtung des US-Gesundheitsministeriums, als deren wichtigste Behörde für biomedizinische Forschung. Mitte der siebziger Jahre, so besagt das offizielle Narrativ, erhielt Burgdorfer den Auftrag, den Ausbruch einer neuartigen Krankheit in Old Lyme, Connecticut, und Long Island zu untersuchen. Mehrere Kinder und Erwachsene hatten dort eine Reihe von ungewöhnlichen Symptomen entwickelt, darunter Hautausschläge, Fieber, Müdigkeit und Gelenkschmerzen. Woran sie litten, blieb zunächst schleierhaft, wurde schließlich aber auf Zecken zurückgeführt, die in den örtlichen Wäldern gefunden wurden. In den Blutsaugern soll Burgdorfer 1981 das Bakterium entdeckt haben, das heute zu seinen Ehren so heißt wie er; Borrelia burgdorferi. Wie er feststellte, verursachte es die Krankheit. Daraufhin veröffentlichte er einen Artikel, in dem er erklärte, mittels Penicillin sei das Bakterium zuverlässig abzutöten. Seither hält sich die Vorstellung, Borreliose sei recht leicht behandelbar. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Wachsende Zweifel Wie kam Kris Newby dazu, an dieser Geschichte zu zweifeln? Einen eindeutigen Gegenbeweis habe sie nicht, bloß Indizien, so räumt sie ein. Zusammengenommen ergeben sie in Newbys Augen jedoch ein höchst verdächtiges Bild. Warum ist die Lyme-Borreliose ausgerechnet in den Vereinigten Staaten verbreiteter als irgendwo sonst auf unserem Planeten? Auf einer Party lernte die Journalistin einen ehemaligen CIA-Agenten kennen. Er prahlte mit einer Operation zu Zeiten des Kalten Kriegs, bei welcher infizierte Zecken auf Kuba abgeworfen wurden. "An diesem Punkt wusste ich, dass ich mit der Sache noch nicht fertig war", sagt Newby. “Ich fing an zu recherchieren, interviewte diesen CIA-Typen mehrmals und fand heraus, dass es eine nachprüfbare Geschichte war." Dass sie einer heißen Spur folgte, bestätigte sich, als sie während der Dreharbeiten zu ihrer Doku “Under Our Skin” Willy Burgdorfer persönlich begegnete. "Gegenüber mehreren Leuten hat er einen unnatürlichen Ursprung des Ausbruchs angedeutet", so berichtet sie. "Wie sich herausstellte, stand er auch bei Fort Detrick unter Vertrag": jenem berüchtigten Standort der US-Streitkräfte in Maryland, wo seit dem Zweiten Weltkrieg biologische Waffen entwickelt und getestet wurden. (5) “Als ich Burgdorfer interviewte, sagte er: 'Ja, ich war im Biowaffenprogramm. Ich hatte die Aufgabe, Zecken und Moskitos in Massen zu produzieren.'” Dies sei im Rahmen von Gain-of-Function-Experimenten erfolgt, “indem sie Krankheitserreger - Bakterien und Viren - in Zecken mischten, um effektivere Biowaffen zu entwickeln”. Newby erstellte eine Animation des ursprünglichen Ausbruchs, der angeblich an der Mündung des Connecticut River in der Nähe von Long Island begann. Dabei machte sie eine aufschlussreiche Entdeckung: "Als ich einen 50-Meilen-Radius um diesen Punkt gezogen habe, gab es drei neue, hochvirulente, von Zecken übertragene Krankheiten, die zur gleichen Zeit, Ende der sechziger Jahre, auftraten. Das war 13 Jahre bevor das Lyme-Bakterium 1981 zur Ursache der ‘Lyme-Borreliose’ erklärt wurde.” Nun begann Newby, “die Militärakten zu durchsuchen, um herauszufinden, ob der Ausbruch mit Biowaffenunfällen in Verbindung gebracht werden konnte. Dabei entdeckte ich ein umfangreiches Programm zur Herstellung von Insektenwaffen und ein Programm, bei dem Keime aus Flugzeugen über großen Gebieten versprüht wurden, das Projekt 112”: ein angeblich 1973 eingestelltes experimentelles Programm des US-Verteidigungsministeriums, dessen Existenz bis Mai 2000 kategorisch bestritten worden war. (6) “Einige dieser Erreger waren von Zecken übertragene Krankheiten, die gefriergetrocknet und als Aerosol versprüht wurden.” “Burgdorfer hatte mit Q-Fieber und Zecken gearbeitet, Erfahrungen, die die Rocky Mountain Labs für ihre Biowaffenarbeit brauchten. Sobald er eine Sicherheitsfreigabe erhalten hatte, begann er damit, die Pest in Flöhe und das tödliche Gelbfieber in Moskitos einzuschleusen und dann Viren und Bakterien in Zecken zu mischen, um die Virulenz dieser lebenden Waffen zu erhöhen.” “Die Waffenkonstrukteure in Detrick suchten nach Zecken, die man auf einen Feind abwerfen konnte, ohne Verdacht zu erregen, und die mit Erregern gefüllt waren, gegen welche die Zielbevölkerung keine natürliche Immunität besaß (...) Zecken waren die perfekte Tarnkappenwaffe, unauffindbar und mit langer Wirkungsdauer (...) Es geht darum, was Burgdorfer gesagt hat, dass sie es vertuschen wollen: 1) dass ein anderes Bakterium, vielleicht eine Rickettsie, die mit dem Rocky Mountain Fleckfieber verwandt ist, im Kalten Krieg als Biowaffe entwickelt wurde; 2) dass es eine Kombination von Bazillen in den Zecken sein könnte, die Menschen krank macht." Stutzig macht zudem, dass die US-Regierung keine zehn Kilometer Luftlinie von Old Lyme entfernt - dem Ort des ersten amtlichen Borreliose-Ausbruchs -, auf Plum Island, seit 1945 eine biologische Forschungseinrichtungen betrieb – zugangsbeschränkt, hochgradig gesichert, geheimnisumwittert. Von dort bis Long Island ist es gerade mal eine Meile, rund 1600 Meter. Wie ein Bericht des U.S. Government Accountability Office (GAO) aus dem Jahr 2005 enthüllte, wurde auf Plum Island mit tödlichen Krankheitserregern experimentiert, darunter das West-Nil-Virus, das Nipah-Virus und das Rifttalfieber. (7) Auch der prominente Enthüllungsjournalist Karl Grossman hat Plum Island im Verdacht, die weltweite Epidemie der Lyme-Borreliose ausgelöst zu haben. (8) Was Kris Newby herausfand, präsentierte sie 2019 in ihrem Buch “Bitten: The Secret History of Lyme Disease and Biological Weapons” – einem wahren Thriller, der Wellen schlug. Einen Kongressabgeordneten, den Republikaner Chris Smith, beeindruckten die zusammengetragenen Indizien derart, dass er eine Überprüfung beantragte. Damit hatte er Erfolg: Im Juli 2019 wies das US-Repräsentantenhaus den Generalinspekteur des Pentagon tatsächlich an, zu untersuchen, ob das Verteidigungsministerium "zwischen 1950 und 1975 mit Zecken und anderen Insekten im Hinblick auf die Verwendung als biologische Waffen experimentierte” – und infizierte Zecken “versehentlich oder durch einen Versuch” auf die ahnungslose amerikanische Öffentlichkeit losgelassen hat. (9) Offene Fragen an die Verschwörungstheoretikerin Wie zu erwarten, verlief die Untersuchung im Sande. Stichhaltige Beweise fehlten, namhafte Experten erklärten Newbys Verdacht umgehend für absurd. “Zecken und Borreliose wären eine sehr merkwürdige Wahl für eine gezielte Biowaffe, denn Zecken sind schwer zu handhaben, haben keine Flügel, und Borreliose wäre kaum ein Krafträuber", erklärte Robert Peterson, Professor für Entomologie an der Montana State University. “Das ist eine wirklich schwache Anschuldigung", so befand auch Jeffrey Lockwood, der an der Universität von Wyoming Natur- und Geisteswissenschaften unterrichtet. In seinem Buch "Six-Legged Soldiers: Using Insects as Weapons of War" hatte er im Jahr 2010 über Versuche der US-Army zur biologischen Kriegsführung mit Zecken, Fliegen und Flöhen berichtet. Während des Kalten Krieges erforschte sie, ob Zecken zur Verbreitung von Tularämie, Rückfallfieber und Colorado-Fieber eingesetzt werden können. Trotzdem bleibt Lockwood "zutiefst skeptisch", dass das Militär Zecken zur Übertragung von Borreliose eingesetzt hat. „Zecken sind nicht der beste Vektor für die Verbreitung von Biowaffen, weil sie nicht sehr weit kommen und die Borreliose ein langsam wirkender Erreger ist.“ Andere von Zecken übertragene Krankheiten seien für den Menschen viel schlimmer. "Die Borreliose mit einem Zeckenvektor als Waffe einzusetzen, macht einfach keinen Sinn", so Lockwood – was freilich nicht ausschließt, dass dennoch eine Zeitlang daran herumgebastelt wurde. "Andererseits war die Entwicklung von US-Militärwaffen ehrlich gesagt auch nicht immer sinnvoll.“ Zwar kommen Fälle von Borreliose nahe der Nordostküste der USA, dem angeblichen Testgebiet, tatsächlich auffallend häufiger vor als in den meisten übrigen Regionen – sind dort aber nicht verbreiteter als beispielsweise in Teilen Wisconsins, über 1500 km weiter westlich: Falls Militärs in Connecticut tatsächlich Zecken mit biotechnisch scharfgemachten Erregern freigesetzt haben – müssten seither dort nicht viel schlimmere Krankheitsverläufe auftreten als in anderen US-Bundesstaaten, geschweige denn in Europa und Nordasien, wo sich die Lyme ja ebenfalls seit Jahrzehnten epidemisch verbreitet? Die vermeintliche “Waffe” wurde wohl eher zum Rohrkrepierer. Kronzeuge Burgdorfer selbst kann hierzu leider nicht mehr Stellung nehmen. Er starb 2014. Mit Gain-of-Function-Forschung muss endlich Schluss sein. Sofort. Ob Lyme-Borreliose, Covid-19 oder sonstige Infektionskrankheiten auf biotechnologische Tüfteleien in Laboratorien zurückgehen oder nicht; wenn ja, ob solche teuflischen Kreationen versehentlich entwichen oder absichtlich freigesetzt wurden: Kommt es letztlich darauf an? Entscheidend ist: Es könnte so gewesen sein. Und jederzeit könnte es sich wiederholen, mit katastrophalen Folgen, die bei weitem schlimmer wären als jeder atomare Super-GAU. Rund um den Globus arbeiten Heerscharen fleißiger Wissenschaftler, im Auftrag von Militärs, Geheimdiensten und Konzernen, in Hunderten von Hochsicherheitslaboren wie von Sinnen daran, ohnehin gefährliche Krankheitserreger noch ansteckender, noch pathogener, noch tödlicher zu machen. Immer wieder kommt es zu Lecks. Schon das nächste könnte das Ende der Menschheit bedeuten. Oder es beschert uns eine umfassend “beschützende”, biofaschistische Hygienediktatur, worauf uns drei Corona-Pandemiejahre erst einen vergleichsweise harmlosen Vorgeschmack geboten haben. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 So Newby in einem Interview mit dem Journalisten Paul D. Thacker, veröffentlicht am 28. Februar 2023. 2 Symbiosis (2009) 47/2009, S. 51-58 (PDF) http://www1.biogema.de/WEK/312-Margulis-final.pdf 3 Tickencounter.org 4 Journal of Infectious Diseases 1996 Nov;174(5):1108-11, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/8896518 ; Journal of Medical Entomology 1997 Jul;34(4):489-93), https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9220684 5 Offizielle Historie von Fort Detrick, Memento vom 21. Januar 2012, https://web.archive.org/web/20120121062629/http:/www.detrick.army.mil/cutting_edge/index.cfm?chapter=contents; B.D. Green, L. Battisti and C.B. Thorne, "Involvement of Tn4430 in Transfer of Bacillus anthracis Plasmids Mediated by Bacillus thringiensis Plasmid pX012a", J. of Bacteriology, 171 (1989), S. 104–113; „Gefährliche Viren sind weg“, Frankfurter Rundschau, 25. September 1986. 6 https://en.wikipedia.org/wiki/Project_112, Abschnitt “Declassification” 7 news.cn, 25.8.2021: “Interview: U.S. bioweapon lab suspected of source of lyme disease: expert”, http://www.news.cn/english/2021-08/25/c_1310146419.htm 8 http://www.news.cn/english/2021-08/25/c_1310146419.htm 9 Siehe British Medical Journal 366/2019: “US Pentagon is told to investigate claims that Lyme disease is escaped bioweapon from cold war”, https://doi.org/10.1136/bmj.l4784; nj.com, 24.9.2021: “Did Pentagon turn ticks into bioweapons that spread Lyme Disease? House just approved a study”, https://www.nj.com/politics/2021/09/did-pentagon-turn-ticks-into-bioweapons-that-spread-lyme-disease-house-just-approved-a-study.html Bildquellen: Bakterium Borrelia burgdorferi: Von Photo Credit:Content Providers(s): CDC - Dieses Medium stammt aus der Public Health Image Library (PHIL), mit der Identifikationsnummer #6631 der Centers for Disease Control and Prevention.Hinweis: Cropped and uploaded originally to (http://en.wikipedia.org/wiki/Image:Borrelia_image.jpg), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=302837 Foto Zecke: Sven/Nicooografie – Pixabay Grafik Verbreitung Lyme-Borreliose in USA: https://www.forbes.com/sites/judystone/2019/05/29/more-ticked-off-the-growing-threat-of-lyme-and-tick-borne-diseases/

  • Wow! Fledermaus wird Gentechnikerin

    Wie haben es chinesische Fledermäuse bloß hingekriegt, eine patentierte Gensequenz des Corona-Spritzenherstellers Moderna in ihr Erbgut zu kopieren? Eine harte Nuss für „Faktenchecker“. Als die Bombe explodierte, tat sie es völlig geräuschlos, denn Leitmedien sorgten für perfekte Schalldämmung: Im Genom des SARS-CoV-2-Virus, des Erregers von Covid-19, stieß ein internationales Forscherteam um den US-Molekularbiologen Kenneth Lundstrom auf eine überaus verdächtige Abfolge von 19 Nukleinsäuren: CTCCTCGGCGGGCACGTAG. (1) Wie die Wissenschaftler in einem peer-geprüften Artikel der Fachzeitschrift Frontiers in Virology darlegen, handelt es sich bei dieser Nukleotidkette um das exakte Spiegelbild, “Komplement”, einer genetischen Sequenz namens “MSH3”, die der Impfstoffhersteller Moderna am 4. Februar 2016, knapp vier Jahre vor dem offiziellen Ausbruch der Corona-Seuche, zum Patent Nummer 9,587,003 anmeldete. Wie schafften es Fledermäuse in südchinesischen Höhlen bloß, Modernas patentierte Gensequenz Baustein für Baustein zu spiegeln, um sie dann in ihr Erbgut hineinzukopieren? Natürlich überforderte sie ein solches Kunststück – und darin liegt ein weiterer stichhaltiger Beweis dafür, dass sich SARS-CoV-2 nicht auf natürliche Weise entwickelte, sondern im Biolabor künstlich geschaffen wurde: Offenbar wurde das Virus in Kulturen gezüchtet, die MSH3-mutierte Zelllinien verwendeten. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass die 19-teilige Gensequenz zufällig entstanden ist, liegt bei weniger als Eins zu einer Milliarde. Wer auch immer das Virus zurechtbastelte, benutzte dafür Modernas gentechnisch veränderte Zelllinien. Somit wird auch klar, wie Moderna ein wahres Wunder vollbringen konnte, das in der Medizingeschichte seinesgleichen sucht: “Nur zwei Tage” benötigte das Unternehmen nach eigenen Angaben, um den Impfstoff gegen ein völlig neues Virus zu entwickeln. Des Rätsels Lösung lautet natürlich: Moderna hatte jede Menge Zeit, das Vakzin im voraus zu produzieren. Denn wirklich neu war der Erreger zumindest für Moderna keineswegs: Es enthielt eine von ihm patentierte Sequenz. Triftige Anhaltspunkte dafür, dass der Covid-19-Erreger eine Laborkreation ist, lagen bereits im Frühjahr 2020 vor. Ende Mai/Anfang Juni jenes ersten Pandemiejahres präsentierte ich sie im Facebook-Account meiner Stiftung Auswege in einer Serie, die abrupt abriss, als zunehmende Social-Media-Zensur zuschlug: Angeblich verstieß ich gegen "Gemeinschaftsstandards". Wie von Geisterhand verschwanden einzelne Folgen aus fast allen Gruppen, deren Admins sie bereits angenommen hatten. Die Reichweite meiner Beiträge schrumpfte um 90 %, selbst unsere Abonnenten erreichten wir von da an kaum noch. Also machte ich ein Buch daraus: “Corona-Rätsel – Was steckt wirklich hinter dieser Pandemie?” erschien im Juni 2020, zu bestellen ist es seither hier. (Harald Wiesendanger) Anmerkung 1 “C” steht für die Nukleinsäure Cytosin, “T” für Thymin, “G” für Guanin”, “A” für Adenin.

  • Zur Goldenen Nase

    Die “Meinungsführer” der Ärzteschaft einzuspannen, ist für Arzneimittelhersteller von allergrößter Bedeutung. Doch woher wissen Pharmafirmen eigentlich, wie wichtig und wertvoll ein bestimmter Weißkittel ist? Für Durchblick sorgen professionelle Datenbeschaffer – für astronomisch hohe Vergütungen. Einfluss ist relativ. Je größer, desto lukrativer – für die “Influencer” ebenso wie für den, der sie für eigene Zwecke einspannt. Den geschäftlichen Nutzen medizinischer Silberrücken abschätzen und angemessen belohnen hilft „Cutting Edge Information“ (CEI) in Durham, North Carolina, ein auf die Pharmabranche spezialisiertes Beratungsunternehmen, 2002 gegründet. Von den 25 größten Arzneimittelherstellern der Welt nutzen 22 die CEI-Dienste. (1) Ihre alljährlichen „Pharmaceutical Compliance“-Kongresse ziehen jeweils rund 500 Topmanager an. (2) Dank CEI wissen wir endlich, dass Mediziner ebenso einen „fairen Marktwert“ (FMV) aufweisen wie Waren, Wertpapiere, Unternehmen und jedes sonstige ökonomische Gut – und dass ihn Big Pharma zu Marketingzwecken messerscharf kalkulieren kann, sobald sie die Expertise von CEI gekauft hat. Über 140 CEI-Studien (3) verdeutlichen, wie generalstabsmäßig durchdacht die Branche begehrte KOLs, „Key Opinion Leaders“, ködert, hegt und pflegt - und generalstabsmäßig benutzt. Sie legen dar, wie man solche Topleute „managt“, ihnen angemessene „Kompensationen“ zukommen lässt – und misst, inwieweit sie von geschäftlichem Nutzen sind („Return on Investment“). Welch enormen Wert Konzerne solchen Infos beimessen, lassen die verlangten Preise erahnen: Ein einzelner Besteller zahlt pro CEI-Bericht 7.695 US-Dollar („single-user license“). Eine „unlimited license“ für mehrere Leser kostet schlappe 23.995 Dollar. (4) Der “faire Marktwert” des Meinungsführers Was kriegt Big Pharma dafür? Ein Elaborat mit dem Titel „Verwaltung/Management von pharmazeutischen Meinungsführern“ beispielsweise: Es soll firmeneigene „Teams befähigen, Beziehungen zu Meinungsführern aufzubauen und KOL-Datenbanken zu betreiben“. Außerdem zeigt es auf, „welche KOL-Aktivitäten die nützlichsten für das Unternehmen sind“, wobei es „Übergebrauch“ („overusing“) von einzelnen Meinungsführern zu vermeiden gelte. Ein weiterer CEI-Report, „Rednerprogramme zu Werbezwecken“, bietet „innovative, leicht umsetzbare Strategien und bewährte Praktiken, um Vortragsveranstaltungen effektiver und rentabler zu machen“ – wobei es unter anderem darauf ankommt, dass der Redner sämtliche „Fragen über die Produkte auf eine positive Art und Weise beantwortet“. Im CEI-Report über ärztliche Weiterbildung heißt es, ihr „Erfolg“ hänge „davon ab, die richtigen Redner mit einer großen Einflusssphäre anzuwerben“. Weiteres CEI-Material hilft, „den fairen Marktwert von KOLs“ zu messen, sie adäquat zu entlohnen – und dabei selbstverständlich den Anschein von Korruption zu vermeiden. (5) CEI-Daten zufolge schmieren Pharmakonzerne weltweit bis zu 16.500 „führende“ Mediziner, damit sie auf vielfältige Weise die Werbetrommel rühren – im Schnitt 259 pro Firma. Einem pharmazeutischen Großkonzern ist das „Opinion Leader Management“ durchschnittlich 61 Millionen US-Dollar pro Jahr wert, vereinzelt bis zu 300 Millionen. Der Verkaufswert eines KOL bemisst sich demnach an zehn Merkmalen: (6) • Jahre Berufserfahrung (years of experience) • Anzahl Veröffentlichungen pro Jahr (number of publications per year) • Anzahl Vorträge pro Jahr (number of speeches delivered per year) • Arztkategorie (provider category) • Geographische Reichweite (geographic influence) • Klinischer Forschungshintergrund (clinical research background) • Schnelles Einsetzen von Neuem (early-adopter profile) • Ausbildungsniveau (education level) • Höhe der jährlichen Beraterhonorare (level of annual advising fee funding) • Höhe der jährlichen Forschungsförderung (level of annual grant funding) Niemand weiß besser als CEI, wie sich all dies quantifizieren lässt – kein KOL soll auch nur einen Cent zuviel erhalten, aber auch keinen zuwenig. So gibt die Wissenschaftsdatenbank Web of Science Aufschluss darüber, welche Autoren zu welcher Erkrankung wie viel publiziert haben. Beispielsweise erfährt man darin, dass im Jahre 2011 unter den 100 häufigsten Autoren von Veröffentlichungen zu Multipler Sklerose zwei Koryphäen aus Italien top-performten: vorneweg ein gewisser Massimo Filippi mit sage und schreibe 606 Artikeln, gefolgt von Giancarlo Comi mit 453. (7) Dass diese beiden Herrschaften als allererste ins Visier jedes Konzerns geraten, der ein brandneues MS-Präparat hochjubeln lassen will, versteht sich von selbst. Auf mehreren hundert Dokumentseiten listet CEI auf, welche Honorare die 46 weltweit größten Arzneimittelhersteller, von Bayer über Novartis, Roche und Pfizer bis zu Eli Lilly und Bristol-Myers Squibb, an Meinungsbildner ausschütteten – je nach deren „fairem Marktwert“ (FMV). Zwischen Champions League und Stadtmeisterschaft Beim Ranking folgt der Spezialist für Pharmamarketing und „ärztliche Meinungsmacherschaft“, gefragter Marktführer in diesem Bereich, einem branchenüblichen Fünf-Stufen-Modell (8), das an Ligastrukturen im Fußball erinnert. Rang 1: In der Champions League spielen die internationalen Stars der Medizin. Sie gelten unter Fachkollegen als äußerst einflussreich, genießen weltweites Ansehen, bringen es auf mindestens acht Veröffentlichungen und elf Werbevorträge pro Jahr, haben an Therapie-Leitlinien mitgewirkt und Symposien mitorganisiert. Sie haben an einer bestens beleumundeten Universität studiert und lehren an einer solchen. Sie sind rhetorisch gewandt und verfügen über ausgeprägten Geschäftssinn. Auf ihre Konten fließt ein Drittel des Gesamtbudgets für „Meinungsführer“. Ihr üblicher Stundensatz liegt bei 578 US-Dollar, in der Spitze bei 3000. Rang 2 und 3: In der Ersten und Zweiten Bundesliga spielen Ärzte, die sich auf nationaler Ebene einen Namen gemacht haben. Zweitklassige kassieren durchschnittlich 385 Dollar pro Stunde (maximal 2500), drittklassige 244 Dollar (maximal 1000). Rang 4: Zur Regionalliga gehören Ärzte, die im weiteren Einzugsgebiet ihrer Praxis hochangesehen sind. Ihr Einsatz ist der Branche im Schnitt 205 Dollar pro Stunde wert (maximal 300). Rang 5: Bei den Spitzenreitern von Stadtmeisterschaften handelt es sich um Ärzte, die an ihrem Praxisort besonders bekannt sind. Ihr üblicher Stundensatz in Pharmadiensten liegt bei 184 Dollar, höchstens 300. Diese, wie auch die Regionalligisten, dürfe man allerdings keinesfalls unterschätzen, mahnt „Cutting Edge“; gerade sie könnten sich als vorzügliche „Arbeitspferde“ erweisen und vor Ort ein therapeutisch minderwertiges Mittel zu einem Verkaufshit machen. Darüber hinaus kann ein kooperativer Arzt jeden Ranges erkleckliche „Extravergütungen“ ergattern. (9) Im Durchschnitt fließen für einen Vortrag bei einem Marketing-Event 2111 Dollar; für einen wissenschaftlichen Vortrag 3145; für einen kurzen Review, also eine Zusammenfassung von bereits veröffentlichten Studien 2725; fürs Verfassen eines Manuskripts 3726 Dollar; für die Teilnahme an einer Sitzung des firmeninternen „Berater­gremiums“ (advisory board) 2940; für deren Moderation 3607; für deren Vorsitz 3664. Je nach Fachgebiet sind sogar noch mehr drin: Ist der Mit“beratende“ ein namhafter Krebsspezialist, streicht er pro Einsatz im Schnitt 5388 Dollar ein, ein Magen-Darm-Experte 7753 Dollar. Weil herausragende „Meinungsführer“ nicht bloß für eine, sondern zumeist für mehrere Firmen tätig sind – die Fleißigsten bringen es auf ein bis zwei Dutzend -, sind für sie durchaus Pharma- zuwendungen von jährlich über einer Viertelmillion Dollar drin. In Europa dürften die branchenüblichen Honorarsätze nicht allzu stark von amerikanischen Verhältnissen abweichen. Die hier genannten Zahlen sind auf dem Stand von 2007, der Medizinjournalist Hans Weiss stieß auf sie in CEI-Dokumenten. Mittlerweile gesunken sein dürften sie eher nicht. Sind “geldwerte Vorteile in angemessener Höhe” unbedenklich? Schmiergelder fließen an Silberrücken oft auch in Form von Provisionen, wie Ende 2018 die „Implant Files“ vor Augen führten, der Skandal um das schmutzige Geschäft mit minderwertigen medizinischen Hilfsmitteln. Ein leitender Chirurg, der jahrelang die Implantate eines bestimmten Herstellers bevorzugt, kann durchaus auf sechsstellige Umsatzprämien kommen. Anstatt dem zwielichtigen Treiben entschlossen ein Ende zu setzen, segnet die Musterberufsordnung für Ärzte es, mit einer halbherzigen Einschränkung, weitgehend ab: „Die Annahme von geldwerten Vorteilen“, so regelt deren Paragraph 33, Absatz 4, „für die Teilnahme an wissenschaftlichen Fortbildungsveranstaltungen ist nicht berufswidrig“, solange sie „in angemessener Höhe“ bleibe. Wie wäre es, darin endlich eine Anregung des US-Mediziners Edwin Fuller Torrey unterzubringen? Bei jedem Kongressreferat sollte an sichtbarer Stelle neben dem Vortragspult ein Hinweis angebracht sein wie: „Für diesen Beitrag erhält Dr. Smith 3500 US-Dollar, ein Flugticket der Business Class sowie die Unterkunft in einem Vier-Sterne-Hotel von Eli Lilly & Co.“ (10) Im Vordergrund steht bei all diesen Vergünstigungen das Bemühen, einen Erwartungsdruck zur Gegenleistung und einen dauerhaften, engen Kontakt aufzubauen, im Zuge dessen der Umworbene die Distanz verlieren soll. Und oft genug gelingt das offenkundig. Dass eine noch so ausgeprägte, überaus einträgliche Industrienähe eines Professors gänzlich unbeeinflusst lässt, wie er seine Studenten ausbildet, was er in Vorträgen äußert, in seine Manuskripte schreibt, bei Kongressen, in Fachgremien von sich gibt, ist eine äußerst gewagte, alles andere als evidenzbasierte Hypothese - eher aber ein frommer Wunsch. Das Unwesen der KOLs zählt zu den Auswüchsen eines auf “pathologischen Profit” ausgerichteten Gesundheitswesens, das “so viele skandalöse Fehlanreize setzt, dass von einer Medizin für die Menschen kaum mehr zu sprechen ist”. So deutliche Worte finden zumindest die “Ärzte für Aufklärung”. Wann erreichen solche Initiativen endlich genügend Standeskollegen, damit die Humanmedizin humaner wird? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 www.cuttingedgeinfo.com/, abgerufen am 18.5.2019. 2 Siehe www.cuttingedgeinfo.com/events. 3 www.cuttingedgeinfo.com. Siehe die CEI-Schriften Pharmaceutical Thought Leaders 2007, Thought Leader Compensation: Establishing Fair-Market Value Procedures; Pharmaceutical Opinion Leader Management – Cultivating Today´s Influential Physicians for Tomorrow 2007, und Pharmaceutical Thought Leaders – Determining Fair Market Value and Measuring ROI, zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin (2008), S. 77-86. Mit seinen hartnäckigen Undercover-Recherchen hat sich Weiss bleibende Verdienste um mehr Ethik in der Medizin erworben. 4 Nach Patientensicht, 18.2.2016: „Das Beratungsunternehmen "Cutting Edge Information" und dessen Berichte über KOL und ROI“, https://patientensicht.ch/artikel/beratungsunternehmen-cutting-edge-information-dessen-berichte-ueber-kol-roi, abgerufen am 18.5.2019. 5 Zit. nach Patientensicht, 18.2,2016, a.a.O. 6 CEI-Bericht PH122: „Key Opinion Leaders“ (2009), zit. nach Patientensicht, a.a.O. 7 Nach Patientensicht, 7.10.2012: „Die häufigsten Multiple Sklerose Publikationsautoren“, https://patientensicht.ch/artikel/haufigsten-multiple-sklerose-publikationsautoren, abgerufen am 18.5.2019. 8 Hans Weiss: Korrupte Medizin (2008), S. 80 ff. 9 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O. 10 E. F. Torrey: „The going rate on shrinks“, American Prospect 13 (13) 2002. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Als KOL zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken

    “Mietmäuler” sind in der Medizin keineswegs Sonderfälle. Unter den Meinungsführern der Ärzteschaft, den imposanten “Silberrücken” ihrer Gorillaherde, ist kaum einer über jeden Verdacht erhaben, mit der Industrie lukrativ verbandelt zu sein. Die Verflechtungen sind vielfältig. Kommen “Mietmäuler” in der Ärzteschaft äußerst selten vor? In Wahrheit ist kaum jemand, der in der Medizin etwas zu sagen hat, inniger Industrieverflechtungen unverdächtig – und kaum einer legt sie freiwillig offen. Wer in den erlauchten Kreis der „Meinungsführer“ aufgenommen ist und „an prominenter Stelle auf einem riesigen Kongress sprechen darf - der kann nicht anders, als wichtig, ein Führer zu sein“, erhellt der Ex-Pharmamanager John Virapen die Tiefenpsychologie des Bauchpinselns. „Und durch die Kontakte, die wir ihm mittels unseres Programms und mittels der Teilnahme am Kongress erst ermöglichen, steigt er im allgemeinen Ansehen noch höher.“ (1) Meinungsführer sind für Big Pharma „unersetzlich“, deshalb müssen „meist Leute aus dem höheren Management ran“, um sie einzuwickeln, erläutert der Whistleblower. „Das sind ja auch besonders distinguierte Menschen, Spezialisten und Gourmetfreunde. Mittel der Wahl sind hier Symposien zur Erhärtung des eigenen Status, teure medizinische Geräte oder Computer, Reisen und ganz schlicht: Geld.“ (2) Die „Silberrücken“ der Ärzteschaft – Alpha-Männchen mit unschlagbarem Imponiergehabe - sind vielfältig einsetzbar: - als Berater im „advisory board“ von Pharmakonzernen; - als bezahlte Redner, „key note speakers“,für Vorträge, Pressekonferenzen, Symposien, Kongresse und ärztliche Fortbildungsveranstaltungen; - als offizielle (Mit-)Autoren von Artikeln, die in Wahrheit häufig Ghostwriter verfassen: Mitarbeiter der Pressestellen von Pharmakonzernen oder von PR-Agenturen, oft auch freie Medizinjournalisten (3); - als Mitwirkende in Gremien, die für die Ärzteschaft „Leitlinien“ festlegen, wie Krankheiten nach neuestem Forschungsstand zu behandeln sind – sie geben vor, worin „good clinical practice“ (GCP), ein „evidenzbasierter“ Umgang mit Patienten zu bestehen hat; - als Mitglieder jener mächtigen Kommissionen, welche Diagnosekriterien, Schwellen- und Grenzwerte festlegen. Jeder Millimeter, um den sie beispielsweise die Symptomatik einer „Störung“ erweitern, kann Milliardengewinne mit passenden Arzneimitteln bedeuten. Und jede neu eingeführte „Störung“ erschließt zusätzliche Absatzmärkte. Sissi lässt grüßen Um ein Haar geklappt hätte das beispielsweise bei der Erfindung des „Sissi-Syndroms“: einer angeblich viel zu lange verkannten, bestürzend weitverbreiteten Seelenpein, die bereits der österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sissi“, 1837-1898) schmerzlichst zu schaffen gemacht haben soll. Auf die Idee zu dieser Kreation waren Mitarbeiter der Firma GlaxoSmithKline gekommen: Wie wäre es mit einer neuen Form von Depression, die besonders schwer zu diagnostizieren ist, weil die Betroffenen sie mit Frohsinn, gesteigerter Aktivität, ausgeprägtem Körperkult und offenkundiger Zufriedenheit gekonnt überspielen? Welch glücklicher Zufall: Eine Tablette mit passendem Wirkstoff war bereits zur Hand: Paroxetin, Handelsname „Seroxat“. Der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erhöht bei trächtigen Ratten die Anzahl der Totgeburten, verringert das Geburtsgewicht und lässt Neugeborene häufiger sterben. (4) Menschlichen Weibchen hingegen bekomme er bestens, hieß es. Den putzigen Namen „Sissi-Syndrom“ erfand eine PR-Agentur. Nun galt es bloß noch, die Nachfrage zu wecken – und dafür stellten sich zwei angesehene deutsche Mediziner zur Verfügung. Gegen stattliches Honorar referierte A.R., die Leiterin des Bereichs Gynäkologische Psychosomatik des Universitätsklinikums Bonn, über „Kaiserin Sissi als Prototyp eines verkannten Patientenbildes“, wobei sie psychopathologische Untersuchungen des angeblichen Syndroms vorstellte. Ihr zur Seite sprang der Psychologe H.-U. W., Leiter des Instituts für Klinische Psychologie der Technischen Universität Dresden, Mitwirkender am „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ (DSM), in deren 160-köpfiger Expertenkommission er sich in bester Gesellschaft befand: Mehr als die Hälfte der dort beteiligten Mediziner und Psychologen haben eingeräumt, mit der Pharmaindustrie monetentechnisch verbandelt zu sein. Drei Millionen Deutsche seien vom Sissi-Syndrom betroffen, so schwadronierte W., als Berater sechs Pharmafirmen zu Diensten. (5) Doch enttäuschend wenig Sissis ließen sich den Bären aufbinden. Ertragreicher verliefen Bemühungen, ein angebliches „Viagra für die Frau“ im Markt zu platzieren. Im August 2015 ließ die FDA es für den US-amerikanischen Markt zu, wo es unter dem Namen „Addyi“ eine Zeitlang auf Milliardenumsätze zuzusteuern schien. Der Wirkstoff Flibanserin war ursprünglich als Antidepressivum gedacht, erwies sich in klinischen Tests dafür aber als ungeeignet. Obendrein brachte er üble Nebenwirkungen mit sich: Häufig löste er Schwindel, Müdigkeit und Übelkeit aus, gelegentlich auch Schlaflosigkeit, Angstzustände, Mundtrockenheit, Unterleibsschmerzen, Verstopfungen, nächtliches Bettnässen, Herzrasen, anhaltende Stresszustände und Ohnmachtsanfälle. Allerdings wollten einige weibliche Versuchspersonen eine gesteigerte Libido bemerkt haben. Daraufhin erledigte man, wie so oft, die Erfindung eines Medikaments und des entsprechenden Krankheitsbilds Hand in Hand. „Wir haben es geschafft, führende Denker für die sexuelle Dysfunktion der Frau zu interessieren“, verlautbarte der Manager einer beteiligten Firma, „und wir haben eng mit ihnen zusammengearbeitet, um diese Krankheit als Ganze so zu entwickeln, dass sie Sinn ergab.“ (6) So erlangte, mit Hilfe williger Experten, die Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD) – auch „Sexuelle Appetenzstörung“ - den Rang einer Massenepidemie, von der schon jede dritte erwachsene Frau befallen sein soll: ein „ausgeprägtes Defizit bis zum völligen Mangel an sexueller Phantasie und dem Wunsch nach sexueller Aktivität, was ausgeprägten Distress und interpersonelle Schwierigkeiten nach sich ziehen kann“. (7) In der Fachwelt angekommen war die HSDD spätestens, als sie Eingang in die International Classification of Diseases (ICD) fand, Klassifikationsnummer F52.0. Über die weiterhin heftigen Nebenwirkungen ging die US-Zulassungsbehörde seltsam blind hinweg: Viermal häufiger setzen Schwindel und Müdigkeit ein; das Risiko für Übelkeit verdoppelt sich; zusammen mit Alkohol lässt Flibanserin den Blutdruck gefährlich absinken. Ebenso einerlei waren der FDA offenkundig die eher enttäuschenden Ergebnisse von insgesamt acht klinischen Studien mit fast 6000 Teilnehmerinnen: Diese hatten mitnichten ein stärkeres Sexualverlangen nach Einnahme gemessen, sondern lediglich einen leichten Anstieg der sexuellen Befriedigung. Und der bestand worin? Innerhalb von zwei Monaten erlebten Frauen, die „Pink Viagra“ schluckten, durchschnittlich einen Orgasmus mehr als jene, die darauf verzichteten. (8) Das ist zumindest eines nicht: zuviel. Trotzdem gaben sich Koryphäen der Sexualforschung und Gynäkologie - wie peinlicherweise auch Frauenrechtsorganisationen (9) - schamlos dafür her, Flibanserin zu einer epochalen Wunderpille hochzujubeln, welche die weibliche Lust endlich von ihren Fesseln befreie. Unter den Teppich kehrten sie, wie sehr sexuelles Verlangen vom Verhalten des Partners und der Qualität einer Beziehung abhängt. Und sie missachteten einen wesentlichen Unterschied: Viagra hilft dem Mann, der zwar will, aber nicht kann, indem es binnen einer Stunde die Blutzirkulation in den Geschlechtsorganen soweit verbessert, dass eine Erektion eintritt. Flibanserin hingegen sensibilisiert das Gehirn der Frau, die könnte, aber nicht will, erst nach Wochen regelmäßiger Einnahme - ein bisschen. Das Präparat endete, verdientermaßen, als hämisch belächelter Ladenhüter. (10) Derart willfährig zu Diensten zu sein, zahlt sich für Silberrücken reichlich aus: Die Zuwendungen enden beileibe nicht bei der Kostenerstattung von Tagungsgebühren, Reise- und Hotelkosten. Sie reichen von Einladungen in Edelrestaurants über Luxusreisen, auch für die Frau Gemahlin, in die Karibik und Freitickets zu großen Kultur- und Sportevents bis hin zu Entspannungs- und Vergnügungstouren, besser ohne Gemahlin, mit „Tauchen, Surfen, Segeln, hübschen Mädchen und heißen Nächten“ (11), sowie zu Aktienpaketen und üppigen Vergütungen für Autoren- und Referententätigkeiten, vereinzelt im hohen sechsstelligen Bereich. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 John Virapen: Nebenwirkung Tod. Ein Ex-Manager der Pharmaindustrie packt aus, Kleinsendelbach 2009, S. 70 f. 2 Virapen: a.a.O. 3 J. S. Ross/K. P. Hill u.a.: “Guest authorship and ghostwriting in publications related to rofecoxib: a case study of industry documents from rofecoxib litigation”, Journal of the American Medical Association 299/2008, S. 1800-1812; S. Sismondo: “Ghosts in the Machine”, Social Studies of Science 39/2009, S. 171-198. 4 Deroxat: „Fachinformation“, Stand Juni 2009. 5 Der Spiegel 20/2011, S. 118-119. 6 zit. nach Marie Schmidt: „Was will sie denn?“, Die Zeit Nr. 35, 27.8.2015, S. 42. 7 Nach J. J. Warnock: „Female hypoactive sexual desire disorder: epidemiology, diagnosis and treatment“, CNS Drugs 16 (11) 2002, S. 745-753. 8 Nach Loes Jaspers u.a.: „Efficacy and Safety of Flibanserin for the Treatment of Hypoactive Sexual Desire Disorder in Women: A Systematic Review and Meta-Analysis“, Journal of the American Medical Association, online 29.2.2016: http://archinte.jamanetwork.com/article. aspx?articleid=2497781, abgerufen am 1.3.2016. 9 Apotheke Adhoc, 22.9.2015: „Frauenrechtler lobbyierten für ‚Pink Viagra‘“, www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/internationales/pink-viagra-addyi-flibanserin-sprout-pharmaceuticals-even-the-score/, abgerufen am 18.5.2019. 10 Apotheke Adhoc, 22.10.2016: „Addyi: Lustpille als Ladenhüter“, www.apotheke-adhoc.de/ nachrichten/detail/internationales/pharmakonzerne-unlust-auf-lustpille/, abgerufen am 18.5.2019. 11 John Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Nimmersatte Mietmäuler - Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer

    Wer ein Produkt verkaufen will, muss nicht jeden einzelnen Konsumenten ansprechen. Es genügt, ein paar ausgewählte, gut vernetzte, überaus populäre Leute, „Influencer“, dafür zu gewinnen, es lautstark anzupreisen. Dann ist es bloß eine Frage der Zeit, bis sich ihre Empfehlung wie ein Lauffeuer verbreitet. Das macht die Meinungsführer der Ärzteschaft so ungeheuer wertvoll für die Pharmaindustrie – und die evidenz- zur eminenzbasierten Medizin. Sie wollten immer schon für umme in der Suite eines Fünf-Sterne-Hotels nächtigen? In Nobelrestaurants auf Michelin-Niveau speisen, ohne dass der Kellner Sie am Ende mit einer Rechnung belästigt? Freikarten für Olympische Spiele oder eine Fußball-WM ergattern, Logenplatz inclusive? Einen kostenlosen Strandurlaub in Florida oder auf Hawaii verbringen? Dorthin in der Business Class fliegen, ohne sich dafür ein Ticket besorgen zu müssen? Umsonst in exklusiven Nightclubs den Augenschmaus aufreizender Girls genießen, deren Dienstkleidung eher nach Geschenkverpackung aussieht? Sich in feucht-fröhlicher Männerrunde für null Cent in einem Edelbordell vergnügen? Sie wären gerne so wichtig, dass Sie vor über tausend Kollegen eine vielbeklatschte Rede halten dürfen - und dafür rund 5000 Euro zugesteckt bekommen? Für die Teilnahme an einer sechsstündigen Gesprächsrunde möchten Sie fast 7.000 Euro einstreichen, für einen Aufsatz knapp 16.000 Euro? (1) Ihr guter Rat, acht Tage lang erteilt, sollte über 350.000 Euro wert sein? (2) Dann werden Sie Arzt. Und bringen Sie es zu was. Leiten Sie ein größeres Krankenhaus, am besten eine Uniklinik. Besetzen Sie einen Lehrstuhl. Gehören Sie dem Vorstand Ihrer Fachgesellschaft an. Geben Sie eine medizinische Zeitschrift heraus. Lassen Sie sich in Kommissionen wählen. So oder so klappt es dann ziemlich sicher. Aber wer bezahlt all die offenen Rechnungen, wer lässt die traumhaften Honorare springen? Und wozu überhaupt? Die Macht der Silberrücken Unter Gorillas geht es seltenst zu wie in einem basisdemokratischen Debattierklub. An ihrer Spitze steht mindestens ein älteres Männchen mit silbergrauem Rückenfell – ein Insignium der Macht, das sich entwickelte, als sein stolzer Träger voll ausgewachsen war. Ihre Gruppe dirigieren die Chef-Primaten mit Imponiergehabe und Gebrüll. Artgenossen versperren sie den Zugang zur Macht. Mit plötzlichen aggressiven Ausrastern ist jederzeit zu rechnen, wie auch mit dem Ausstoß von Duftmarken, bei Ärger und Gefahr: Stinkt der Silberrücken, hat er was zu sagen. Von „Silberrücken“ wimmelt es, im übertragenen Sinne, in der Medizin wie in kaum einem anderen Lebensbereich. Das Sagen haben etwas ältere Männer, häufig mit grauen Schläfen und stets mit überaus dominanter Ausstrahlung. Auf sie hört, ihnen folgt die Herde. Wer sich ihnen widersetzt, kann was erleben. Für ihre soziale Position werden Silberrücken im Affenreich mit der leichten Verfügbarkeit von Weibchen belohnt - unter Menschen des öfteren ebenfalls, vor allem aber mit Geld und Ansehen. Was Verhaltensforscher „Alphatiere“ nennen, bezeichnen Sozialwissenschaftler als opinion leaders oder influencers: Menschen, die innerhalb einer Gruppe als „Meinungsführer“ größten Einfluss ausüben. Sie genießen hohes Ansehen. Ihnen hört man besonders aufmerksam zu. Recht häufig schließt man sich ihren Meinungen an, folgt ihren Empfehlungen, richtet eigene Entscheidungen daran aus. Für jeden, der ein Produkt verkaufen will, sind menschliche „Silberrücken“ von allergrößter Bedeutung. Warum sollten sich Werbung und Marketing darauf beschränken, direkt beim Endverbraucher Interesse und Kauflust zu wecken? Geht es auf Umwegen nicht viel einfacher, billiger und wirkungsvoller? Genügt es nicht, einige ausgewählte, gut vernetzte, überaus populäre Leute dafür zu gewinnen, die Ware möglichst begeistert und lautstark anzupreisen? Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich ihr Lob wie ein Lauffeuer verbreitet. Der gefeierte Propagandist dieses Ansatzes, der kanadische Unternehmensberater Malcolm Gladwell, schwärmt in seinem Bestseller Tipping Point – Wie kleine Dinge Großes bewirken können (2001): „Eine totgesagte Schuhmarke, die über Nacht zum ultimativ angesagten Modeartikel wird. Ein neu eröffnetes Restaurant, das sofort zum absoluten Renner wird. Der Roman einer unbekannten Autorin, der ohne Werbung zum Bestseller wird. Für den magischen Moment, der eine Lawine lostreten und einen neuen Trend begründen kann, gibt es zahlreiche Beispiele. Wie ein Virus breitet sich das Neue, einer Epidemie gleich, unaufhaltsam flächendeckend aus. So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt ein winziger, gezielter Schubs, um einen Modetrend zu setzen, ein neues Produkt als Massenware durchzusetzen (...) Wenig Aufwand kann zu einem Mega-Erfolg führen.“ Auch Pharmaunternehmen wissen das. Eine Arznei zu vermarkten, ist überall dort, wo Rezeptpflicht herrscht, allerdings weitaus heikler als bei anderen Produkten. Wenn nicht der Konsument selbst entscheidet, ob er sie braucht, sondern sein Arzt, der den Bezugsschein ausstellt, so gilt es, diesen zum Verschreiben zu bewegen. Einerseits erleichtert sein unerreichtes Sozialprestige die Mühsal des Überredens, denn der Patient vertraut seinem Arzt in einem Maße, wie er es den Werbe- botschaften eines Herstellers gegenüber niemals täte. Ärzte als Umsatzförderer einzuspannen, ist andererseits aber viel schwieriger, als ein zeigefreudiges Girlie als Youtube-“Influencerin“ für Klamotten oder Schminke anzuheuern. Schließlich handelt es sich bei Ärzten um überdurchschnittlich kluge, gebildete, kritische Zeitgenossen. Durchschauen sie schnöde Geschäftsinteressen nicht viel eher als Otto Normalversteher? Halten sie nicht weitaus größeren inneren Abstand zu aufdringlichen Pillenverkäufern? Eminenz- statt evidenzbasierte Medizin Aus dieser Klemme helfen die Meinungsführer des Medizinbetriebs vorzüglich - die KOLs, vom englischen „Key Opinion Leaders“, wie die Masterminds des Pharma-Marketings sie nennen. Denn zu KOLs schaut der praktizierende Arzt auf. Sie lehren und forschen als Professor. Bei der ärztlichen Fortbildung stehen sie am Rednerpult. In Unikliniken sitzen sie auf Chefsesseln, stehen ärztlichen Standesorganisationen vor. Sie organisieren und leiten große Fachkongresse. Als Verfasser von Standardwerken, als Herausgeber oder ständige Autoren angesehener Fachjournale haben sie sich hervorgetan. Sie beraten und entscheiden in gewichtigen Ausschüssen und Gremien mit. Als Gutachter finden sie bei politisch Verantwortlichen offene Ohren. Zum Beispiel der Anästhesist J.B. Eine große Nummer war er mal in Deutschlands Spitzenmedizin. Bei Kongressen, in seinen Lehrveranstaltungen galt der Chefarzt am Klinikum Ludwigshafen als brillanter Redner. Dass er seinem beeindruckten Publikum oft vorsätzlich Humbug auftischte, war erst klar, nachdem er 2010 als dreister Datenfälscher entlarvt wurde. Als echtes Wundermittel hatte er jahrelang das Medikament Hydroxylethylstärke (HES) angepriesen, einen aus Mais- oder Kartoffelstärke hergestellten Blutplasmaersatz. Wie er in mehreren eigenen Studien herausgefunden haben wollte, stabilisieren HES-Infusionen den Kreislauf von Patienten auch bei immensem Blutverlust und machen Transfusionen überflüssig. Seinen Job, seine Professur, sein Ansehen verlor J.B., als aufflog, dass er emsig gefälscht hatte: In Wahrheit half HES nicht nur keineswegs, es konnte erheblichen Schaden anrichten. (3) Jeglicher Industrieferne unverdächtig machte sich Professor H.-J. M., von 1994 bis 2012 Direktor der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein Topmann seines Fachs war er: als Autor oder Mitverfasser von mehreren Lehrbüchern und über 1100 wissenschaftlichen Aufsätzen, als Herausgeber führender Fachzeitschriften, als Mitglied und Präsident zahlreicher Fachgesellschaften. Eifrig „beriet“, forschte und referierte er für mindestens 14 Pharmariesen, von Astra Zeneca über Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly und GlaxoSmithKline bis hin zu Janssen-Cilag, Lundbeck, Merck, Novartis und Pfizer. Das Abmagerungsmittel Acomplia pries er in einer Werbeveranstaltung des Herstellers sowie einem Artikel für das hochangesehene British Medical Journal für ein „günstiges Nutzen-Risiko-Profil“ – teilweise sogar noch, nachdem die US-Gesundheitsbehörde dem Appetitzügler schon die Zulassung verweigert hatte, wegen schwerer Nebenwirkungen: Depressionen, Suizidgedanken, Angstzustände, Gedächtnisstörungen, Krampfanfälle, Atemwegsinfektionen, Übelkeit, Durchfall. Ebenso nachdrücklich lobte M. das Antidepressivum Valdoxan – Wirkstoff Agomelatin -, dem die europäische Arzneimittelagentur wegen fehlender Wirksamkeit die Anerkennung verweigerte. (4) M. befindet sich in bester Gesellschaft. Für Bristol-Myers Squibb und Otsuka referierte, für sechs weitere Pharmariesen forschte Professor W. M., Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn, Sprecher zweier vom Bundesforschungsministerium geförderter „Kompetenznetze“ für Demenz, federführender Herausgeber der maßgebenden Fachzeitschrift Der Nervenarzt; von 2012 bis 2014 war M. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), mehrfach leitete er deren Jahreskongresse. (5) Einer von W.M.´s Vorgängern im DGPPN-Vorsitz (2001/2002), Professor M. S., machte sich auf Werbeveranstaltungen von Pfizer, Merz, Pharmacia und Lundbeck für die umstrittenen Antidepressiva Cymbalta, Solvex und Cipralex sowie die Neuroleptika Zeldox und Abilify stark. (6) Als „Consultant“ und Vortragender für ein rundes Dutzend Pharmagiganten legte sich Professor S. K. von der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien ins Zeug. (7) Von 2005 bis 2009 war er Präsident einer der drei weltweit führenden Gesellschaften seines Fachs, der World Federation of Societies of Biological Psychiatry; er saß der Sektion Pharmakopsychiatrie der World Psychiatric Association (WPA) vor; von 2012 bis 2016 gehörte er dem Führungsgremium des International College of Neuropsychopharmacology (CINP) an. Preisfrage: Welche Art von Behandlung seelisch Belasteter stellen solche Leute wohl in ihren Kliniken sicher? Standesethik verhöhnt Eine vielsagende Probe aufs Exempel machte der österreichische Journalist Hans Weiss. Getarnt als „Peter Merten, freier Strategischer Berater“ eines Wiener Pharmaunternehmens, wandte er sich in den Jahren 2007 und 2008 an fünf weltweit angesehene Psychiater in leitenden Positionen an Unikliniken oder Großkrankenhäusern. (8) Seine Firma habe ein tolles neues Antidepressivum entwickelt, so schwindelte er – und unterbreitete ihnen ein verlockend unmoralisches Angebot. Würden sie sich dafür kaufen lassen, eine klinische Studie durchzuführen, die der Weltärztebund als unethisch einstuft, zumindest aber als ethisch fragwürdig: eine an schwerkranken Patienten mit stärksten Depressionen? Die nötige „Placebokontrolle“ hätte erfordert, jedem Zweiten monatelang ihre bewährte Therapie vorzuenthalten, stattdessen bloß eine unwirksame Scheinarznei zu verabreichen – und das, obwohl Medizinstudenten schon in ihren ersten Semestern lernen, wie entsetzlich bei höchstgradig Depressiven der Leidensdruck, wie erheblich das Selbstmordrisiko ist. Für den Studienleiter sah Mertens Offerte ein Honorar von 8000 Euro vor. Pro teilnehmendem Patienten, versteht sich. Ergäbe bei fünfzig Probanden happige 400.000 Euro. Das niederschmetternde Ergebnis: Alle fünf Geköderten erklärten sich bereit einzusteigen oder mochten sich näheren Verhandlungen zumindest „nicht verschließen“. Könnten sie klarer gegen die ärztliche Standesethik verstoßen? „Die Gesundheit meines Patienten“, heißt es in der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes, „soll mein vornehmstes Anliegen sein. Der Arzt soll bei der Ausübung seiner Tätigkeit ausschließlich im Interesse des Patienten handeln. In der medizinischen Forschung haben Überlegungen Vorrang, die das Wohlergehen der Versuchspersonen betreffen.“ (9) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Berechnet nach dem jeweils üblichen durchschnittlichen Stundensatz und Zeitaufwand, nach dem die Pharmabranche Einsätze von Meinungsbildnern um Jahre 2007 vergütete, s. Cutting Edge: Pharmaceutical Opinion Leader Management - Cultivating Today´s Influential Physicians for Tomorrow (2007), zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne, 3. Aufl. Köln 2008, S. 84-86. Gewiss kam seither noch ein großzügiger „Inflationsausgleich“ hinzu. 2 R. Abelson: „Whistle-blower suit says device maker generously rewards doctors“, New York Times 24.1.2006. 3 Veronika Hackenbroch: „Zu schön, um wahr zu sein“, Spiegel Online vom 29. November 2010: www.spiegel.de/spiegel/print/d-75376536.html. 4 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne, a.a.O., S. 148 f., 259. 5 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 163, 258., Eintrag zu W. M. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016. 6 Nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 169 f., S. 261; Eintrag zu M. S. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016. 7 Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 171 f. und 265; Eintrag zu S. K. bei Wikipedia.de, abgerufen am 30.12.2016. 8 Siehe Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 141-191. 9 Siehe „WMA Deklaration von Helsinki“, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/Deklaration_von_Helsinki_2013_DE.pdf, abgerufen am 30.12.2016. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Weichgespült - Ärztliche Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche

    Der Medizinstudent von heute ist der Rezeptaussteller von morgen. Deshalb umgarnt die Pharmabranche angehende Ärzte bereits vom ersten Semester an. Praktizieren sie, so setzt sich die Gehirnwäsche unerbittlich fort – bei der obligatorischen Weiterbildung. „Die Studenten werden schon früh an der Uni eingelullt“, schreibt die Politologin Ina Brzoska, „indem die Firmen ihnen kleine, harmlose Annehmlichkeiten im Klinikalltag bereiten, sie bezahlen Fortbildungen und gutes Essen“, wobei sie „stets höflich und zuvorkommend“ sind. „So vermittelt Big Pharma den angehenden Ärzten ein positives Bild von ihrer Tätigkeit.“ (1) In ihrem dritten Studienjahr sehen sich 93 Prozent der Medizinstudenten mindestens einmal pro Woche mit industriegesponsterten Geschenken oder Aktionen bedacht; ausnahmslos alle sind schon zu mindestens einem pharmafinanzierten Essen eingeladen worden. (2) Den meisten ist durchaus bewusst, dass Industrieeinflüsse ihre Ausbildung mitbestimmen und von Semester zu Semester zunehmen. (3) „Diese fortwährende Exposition“, stellt eine britisch-amerikanische Forschergruppe fest, sorge schleichend für „eine Gehirnwäsche, welche die Einstellungen von Medizinstudenten zu den vermarkteten Produkten verändert“. (4) Die Versuchung, Big Pharma gefällig zu sein und dadurch anfällig dafür zu werden, dass Industrieinteressen die Agenda mitbestimmen, die vielbeschworene Freiheit von Forschung und Lehre verhöhnend, steigt an klammen Universitäten, die notgedrungen nach Pharmamitteln lechzen – und reichlich bekommen: beispielsweise die Uni Köln von Bayer, die Freie Universität Berlin von Sanofi-Aventis, die Uni Mainz von Merck. (5) Der Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen, einst Vorsitzender der deutschen Arzneimittelkommission und als geläuterter Querkopf inzwischen für die Pillenbranche ein rotes Tuch, sähe pharmakritische Seminare am liebsten fest in der Prüfungsordnung aller angehenden Ärzte verankert. „Sie müssen gegen die Meinungsmanipulation der Pharmaindustrie widerstandsfähiger werden“, sagt er. (6) Häufig hält er Seminare über „Advert Retard“ ab - „langanhaltende, nachhaltige Werbung“ -, in denen Medizinstudenten lernen sollen, wie trickreich die Pharmaindustrie sie zu umgarnen trachtet – und wie sie damit umgehen können. Warum beschreibt der Dozent nur die positiven Eigenschaften eines Medikaments, verschweigt aber mögliche Nebenwirkungen? Wieso verwendet er keine eigenen Folien, sondern vorgefertigte des Herstellers? Wie findet man heraus, welche Nebentätigkeiten er ausübt – und wer ihn dafür bezahlt? Wie unterscheiden sich Fachzeitschriften, die keine Inserate drucken, von jenen, die für Pharmawerbung Druckseiten freihalten? Zumindest an der Berliner Charité ist „Advert Retard“ neuerdings Wahlpflichtfach. Aus CME wird CMM: Continuing Medical Manipulation Ärzte müssen sich fortbilden lassen, das schreiben ihnen der Gesetzgeber und die Berufsordnung vor. Dabei mischen Pharmafirmen nach Kräften mit. Für Continuing Medical Education (CME) geben sie allein in den USA jährlich 1,2 Milliarden Dollar aus, womit sie 50 bis 60 Prozent der Gesamtkosten tragen. (7) Als Sponsoren nehmen sie größtmöglichen Einfluss auf Fortbildungsprogramme und –inhalte: Sie finanzieren die Vorbereitung, Ausrichtung und Durchführung entsprechender Veranstaltungen. Sie lassen professorale Mietmäuler ihre neuesten Produkte anpreisen, bequemerweise mit Powerpoint-Präsentationen, die der Hersteller fix und fertig bereitstellt. (8) Sie übernehmen Reise- und Übernachtungskosten rund um Fortbildungen, Tagungs- und Teilnahmegebühren, samt Rahmenprogramm. Sie bezahlen die Mahlzeiten. All das rentiert sich nachweislich: Gesponserte CME verleitet die teilnehmenden Ärzte nachweislich, für höhere Verschreibungsraten zu sorgen. (9) Wer legt diesen Sumpf endlich trocken? Welcher Sumpf trockengelegt werden müsste, führte 2018 der Skandal um den CME-Anbieter Omniamed vor Augen, verdienstvollerweise aufgedeckt von der Ärzte-Initiative MEZIS. Die meisten Referenten der Omniamed-Veranstaltungen hatten Gelder von eben jenen Pharmafirmen eingestrichen, welche diese Veranstaltungen sponserten, im Schnitt mit 100.000 bis 200.000 Euro. (10) Die Vortragsthemen entsprachen den Produkten der Sponsoren. Erst infolge des Medienechos (11) verweigerten die Landesärztekammern Baden-Württemberg (12) und Münster (13) Omniamed erstmals die CME-Zertifizierung von Veranstaltungen - wegen »mangelnder Produktneutralität«. Daraufhin beendete Omniamed seine Geschäftstätigkeit, zumindest in Deutschland. (14) Warum haben Ärzteverbände, und notfalls der Gesetzgeber, dem hanebüchenen Treiben nicht längst einen Riegel vorgeschoben - generell? Bemisst sich die Qualität einer Tagung etwa an der Sternezahl des Hotels? Wer rechnet denn allen Ernstes damit, dass ein Pillenproduzent bei solchen Anlässen nachdrücklich die Risiken und Nebenwirkungen seines Produkts hervorhebt, zur Zurückhaltung beim Verschreiben ermahnt, den Vergleich mit Präparaten der Konkurrenz nicht scheut, die Vorzüge von Naturheilverfahren und bewährten Hausmitteln, von Psychotherapie und sozialer Unterstützung lobt? Für die Arzneimittelindustrie ist nichts geschäftsschädigender als umfassende, ausgewogene Information über alle verfügbaren Behandlungsoptionen. In der ärztlichen Fortbildung haben Pharmakonzerne deshalb definitiv nichts zu suchen. Wozu der ganze Aufwand, um unbestechliche Ärzte nicht zu beeinflussen? Welch irrwitzigen Aufwand Unternehmen treiben, um Ärzte auf den neuesten „Wissensstand“ zu bringen, förderte beispielhaft ein Strafverfahren zutage, das der Generalstaatsanwalt des Südlichen Distrikts von New York Ende März 2016 gegen den Schweizer Giganten Novartis einleitete – wegen massiver Bestechung. Die Ermittlungen in Gang gebracht hatte ein ehemals in Novartis´ Diensten stehender Whistleblower: Er enthüllte, dass sein früherer Arbeitgeber in den USA allein zwischen 2002 und 2011 zu sage und schreibe 25.000 „wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen“ geladen hatte. Bei ihnen allen handelte es sich in Wahrheit um verkappte Marketing-Events, deren Fortbildungswert gegen Null ging. Ihr einziger Zweck: Zehntausende von teilnehmenden Ärzten dazu zu bringen, Novartis-Präparate zu verschreiben. Das Muster war stets dasselbe: Gegen üppiges Honorar referierten willige Mediziner über Medikamente des Pharmakonzerns, während sich die Zuhörer luxuriös verköstigen ließen – auf Konzernkosten, versteht sich. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit über zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr“, so schätzen Analytiker der US-Bankengruppe Citigroup, dürfte Novartis diese Korruptionspraxis gekostet haben. Reichlich ausgezahlt hat sie sich bisher wohl. (15) Warum sonst gäbe es sie? „Wieso nur“, wundert sich der leitende Arzt Markus Pawelzik von der Münsteraner EOS-Klinik, „gibt die Industrie so viel Geld aus, um unbestechliche Ärzte nicht zu beeinflussen?“ Seine Antwort schiebt er sogleich nach: „Weil es sich rechnet.“ (16) Blind für organisiertes Verbrechen Ein „erschreckendes Maß an Verblendung“ innerhalb der Ärzteschaft, so dass „man schon fast von einer kollektiven Psychose sprechen kann“, beklagt auch der dänische Mediziner und Pharmakritiker Peter Gøtzsche. Um wachzurütteln, provoziert er Standeskollegen bei Vorträgen gerne mit einem deftigen Vergleich. Was würden sie von einem Richter halten, der vor Beginn eines Prozesses gegen die Mafia erklärt: „Ich habe Reisestipendien von Silvio Berlusconi erhalten. Ich sitze im beratenden Ausschuss der Unbarmherzigen Kredithaie. Ich habe Geld von Drogenhändlern genommen. Ich habe frei verfügbare Ausbildungsbeihilfen von der Camorra erhalten. Ich berate den Sprecher der Mord-GmbH.“ Warum, so fragt Gøtzsche dann sein Publikum, sollten wir „Geld von der Industrie annehmen, von kriminellen Vereinigungen aber ablehnen“ – wo doch „das organisierte Verbrechen im Vergleich mit der Pharmaindustrie deutlich weniger Menschen tötet“? (17) Solange es in Praxen und Kliniken an Einsicht mangelt, täten berufsständische Kodices not. Ärzte sollten verpflichtet werden, keinen einzigen Pharmareferenten mehr zu empfangen (18), Pharmaeinladungen auszuschlagen, Pharmahonorare abzulehnen - ausnahmslos. Und wie wäre es mit einem Zwangsbeitritt zu MEZIS? Die gemeinnützige Initiative „Mein Essen zahl´ ich selbst“, 2007 von unbestechlichen Ärzten ins Leben gerufen, bringt es bisher gerade mal auf tausend Mitglieder. Für die übrigen 380.000 Ärzte in Deutschland schlage ich einen Zwangsbeitritt vor. Nützliche Idioten – insgeheim verhöhnt Im Management der Pharmakonzerne lacht man sich insgeheim ins Fäustchen darüber, wie widerstandslos sich ein Großteil der Ärzte dazu verführen lässt, nützliche Idioten abzugeben. Das wurde dem österreichischen Medizinjournalisten Hans Weiss klar, als er undercover recherchierte. Um an einer brancheninternen Konferenz teilnehmen zu können, gab er sich als „Pharmaconsultant“ in Diensten einer frei erfundenen Firma namens „Solutions“ aus, für die Eintrittskarte berappte er knapp 4000 Euro. „Da waren etwa 500 Topleute aus der Pharmabranche unter sich, keine Öffentlichkeit, keine Journalisten, ungefähr 30 Top-Pharmamanager aus Deutschland. Und da hören Sie dann halt ganz unverblümte Wahrheiten, wie etwa die: ‘Wir kotzen den Ärzten einen Marketingmix ins Gesicht, und das Erstaunliche ist: die schlucken das. Und solange die das schlucken, gibt es keinen Grund, unsere Geschäftspolitik zu ändern.“ (19) In diesem Dschungel muss sich Klaus Lieb als nostalgischer Vertreter einer aussterbenden Spezies vorkommen. In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Mainz, deren Direktor er seit 2007 ist, setzte er klare Grenzen durch: „Bei uns kommt kein Pharmareferent auf Station.“ Es fänden keine von der Industrie bezahlten „Anwendungsbeobachtungen“ statt, die Annahme von Präsenten und Medikamentenmustern wird verweigert, Fortbildungen werden vollständig aus eigener Kasse bezahlt. (20) „Wir Ärzte haben bezüglich Interessenskonflikten einen blinden Fleck“, beklagt er. (21) „Wenn wir Marionetten der Gesundheitsindustrie werden, verspielen wir das Vertrauen der Patienten.“ (22) Deren Präferenz ist eindeutig. 96 Prozent möchten über finanzielle Verbindungen ihres Arztes zur Pharmaindustrie Bescheid wissen. Und 79 Prozent fordern, dass Ärzte, statt Pharmareferenten zu empfangen, sich aus unabhängigen Quellen informieren sollten. (23) Ihr Wunsch in des weißen Halbgotts Ohr. Über Halbgöttern thronen indes oberste Gottheiten: die Opinion Leaders der Zunft. Und letztlich sind sie es, die vorgeben, was in den unteren Sphären stattzufinden hat. Ihnen widme ich den Rest dieser Artikelreihe. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Ina Brzoska: „Die leisen Lobbyisten“, Uni-Spiegel 5/2012, S. 24. 2 F. S. Sierles u.a..: “Medical students’ exposure to and attitudes about drug company interactions”, Journal of the American Medical Association 294/2005, S. 1034-1042. 3 K. E. Austad u.a.: “Medical students’ exposure to and attitudes about the pharmaceutical industry: a systematic review”, PLoS Medicine 8/2011 :e1001037. 4 Ina Brzoska: „Die leisen Lobbyisten“, Uni-Spiegel 5/2012, S. 23. 5 Emmanuel Stamatakis, a.a.O., S. 472; s. hierzu auch D. Grande/D. L. Frosch u.a.: „Effect of exposure to small pharmaceutical promotional items on treatment preferences”, Archives of Internal Medicine 169/2009, S. 887-893. 6 zit. nach Brzoska, a.a.O. 7 Stand 2007. M. A. Steinman/C. S. Landefeld/ R. B. Baron: “Industry support of CME — are we at the tipping point?”, New England Journal of Medicine 366/2012, S. 1069-1071. 8 J. Avorn/N. K. Choudhry: “Funding for medical education: maintaining a healthy separation from industry”, Circulation 121/2010, S. 2228-2234. 9 A. Wazana: “Physicians and the pharmaceutical industry: is a gift ever just a gift?”, Journal of the American Medical Association 283/2000, S. 373-380. 10 MEZIS, CME-Arbeitsgruppe: Omniawatch-Analyse. (Nicht mehr online verfügbar.) 11 Medizin: Das umstrittene Geschäft mit Ärztefortbildungen. Abgerufen am 10. Februar 2019; Deutsches Ärzteblatt: Interessenkonflikte: Ärger um CME-Zertifizierung. 8. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019; Sebastian Carlens: Punkten für Bayer. 10. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019. 12 Hanno Charisius: Behörde verweigert Zertifikat für umstrittene Ärztefortbildung. In: sueddeutsche.de. 13. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019. 13 Sebastian Carlens: Deckmantel für Pharmalobby. 9. Februar 2019, abgerufen am 10. Februar 2019. 14 ende Geschäftsstätigkeit Deutschland. (Nicht mehr online verfügbar.) In: OmniaMed, abgerufen am 27. Juli 2019 15 Handelszeitung, 29.3.2016: „Novartis: US-Justiz weitet Untersuchung aus“; Neue Zürcher Zeitung, 30.3.2016: „Novartis unter dreifachem Verdacht“. 16 Zit. nach Harro Albrecht: „Ärzte, Pillen und Moneten“, a.a.O. 17 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, München 2. Aufl. 2015, S. 410. 18 Dies fordert der Wiener Arzt Dr. Fahmy Aboulenein in seinem Buch Die Pharma-Falle. Wie uns die Pillen-Konzerne manipulieren, Wien 2016. 19 „Es gibt keine Branche, die so hohe Gewinne macht“, Interview mit Hans Weiss im Deutschlandradio Kultur - Thema, 12.2.2010, www.deutschlandradiokultur.de. 20 Nach Harro Albrecht: „Ärzte, Pillen und Moneten“, Die Zeit Nr. 51, 11.12.2008. 21 Zit. nach Markus Grill u.a.: „Seid umschlungen, Millionen!“, Correct!v, 14.7.2016, https:// correctiv.org/recherchen/euros-fuer-aerzte/artikel/ 2016/07/14/seid-umschlungen-millionen, abgerufen am 24.10.2016. 22 Zit. nach Christoph Link: „Korruption in der Medizin - ‘Was mache ich hier eigentlich?’“, Stuttgarter Zeitung, 18.3.2013. 23 Nach einer Online-Umfrage des British Medical Journal mit 1479 Teilnehmern, zit. nach Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • „Wie du mir, so ich dir“ - Ärzte einwickeln: Reziprozität als Erfolgsrezept

    Do ut des, „ich gebe, damit du gibst“: Dem sozialen Grundprinzip der Gegenseitigkeit können sich auch Ärzte schwerlich entziehen. Nicht erst Zuwendungen im fünf- bis sechsstelligen Bereich, schon relativ kleine Gefälligkeiten machen Menschen geneigt, sich erkenntlich zu zeigen. Das macht sich Pharma-Marketing zunutze. „Eine Hand wäscht die andere“: Wohltaten jeglicher Art machen Menschen geneigt, sich beim Geber zu revanchieren. Dafür anfällig zu sein, wenn Pharmafirmen sie großzügig in Versuchung zu bringen versuchen, weisen die meisten Ärzte von sich – zumindest was sie selbst anlangt. Für Kollegen möchten sie freilich nicht die Hand ins Feuer legen. Viele erliegen dem Glauben, sie selbst seien weniger leicht manipulierbar als der Rest ihrer Zunft, wie eine Befragung unter 208 niedergelassenen Fachärzten für Neurologie/Psychiatrie, Allgemeinmedizin und Kardiologie zum Einfluss von Pharmavertretern ergab. Nur sechs Prozent erklärten sich für „häufig“ oder gar „immer“ beeinflussbar. Zugleich vermutete aber mehr als jeder Fünfte, das treffe auf seine Standeskollegen sehr wohl zu. (1) Die Fehleinschätzung, für Marketingeinflüsse immun zu sein, ist sogar „dosisabhängig“: Je mehr Zuwendungen Ärzte von Firmen erhalten, desto häufiger geben sie an, dass derartige Gaben ihr Verordnungsverhalten mitnichten beeinflussen. (2) Mit solchen Zusammenhängen werden die Klinkenputzer der Arzneimittelindustrie während ihrer Ausbildung wohlvertraut gemacht. Pharmareferenten eignen sich werbepsychologisch ausgeklügelte Strategien an, wie besuchte Ärzte früher oder später rumzukriegen sind, zu höheren Verkaufszahlen der angepriesenen Produkte beizutragen. Dabei genießt kaum ein Wissenschaftler unter Marketingprofis höheres Ansehen als der US-amerikanische Psychologe Robert Cialdini. Während er an der Arizona State University einen Lehrstuhl für Psychologie und Marketing innehatte, leitete er zugleich eine Unternehmensberatung namens Influence at Work. (3) Sein bekanntestes Werk, Die Psychologie des Überzeugens (1997), verkaufte sich über drei Millionen Mal und wurde in dreißig Sprachen übersetzt. Sein Buch Pre-suasion: Wie Sie bereits vor der Verhandlung gewinnen erschien 2017 auf Deutsch. Cialdini wird gefeiert dafür, Marketingkonzepte an einer fundamentalen sozialwissenschaftlichen Erkenntnis auszurichten: der Reziprozitätsregel. Gegenseitigkeit: eine grundlegende soziale Norm In der einfachsten Form kennzeichnet Reziprozität eine soziale Interaktion, die sich in drei Schritten vollzieht: Jemand gibt etwas; der Andere muss die Gabe annehmen - und sich mit einer Gegengabe erkenntlich zeigen. Die Regel, dass wir uns für Gefälligkeiten, Geschenke, Einladungen und dergleichen zu revanchieren haben, weil jegliches Miteinander auf Gegenseitigkeit beruhen muss, ist tief in allen menschlichen Gesellschaften verwurzelt. Indem sie Beziehungen auf Geben und Nehmen gründet, schafft sie Vertrauen gegenüber Mitmenschen. Dadurch ermöglicht sie überhaupt erst Gruppenbildung, Arbeitsteilung und Systeme gegenseitigen Helfens. Alle Kulturen sanktionieren Verstöße gegen diese grundlegende Norm: Wer bloß nimmt und nie gibt, oder wer auf Dauer mehr nimmt als gibt, der wird geächtet. Der Drang, Anderen zurückzugeben, was wir zuvor erhalten haben, scheint so tief in der menschlichen Psyche verankert, dass es bewusster Anstrengung bedarf, die Reziprozitätsregel nicht zu befolgen. Wie Cialdini erkannte, gilt diese Regel weitgehend unabhängig davon, wie stattlich die Gabe ist. Ausnahmslos jedes Präsent, und sei es noch so klein, veranlasst zu Gegengaben; diese weisen manchmal sogar einen unverhältnismäßig höheren Wert auf. Demnach existiert keine Schwelle, unterhalb derer eine Beeinflussung ausgeschlossen ist. Umso fragwürdiger sind Regelungen zu Interessenkonflikten, die es erlauben, „angemessene“ Zuwendungen anzunehmen, wie die Berufsordnung für Deutschlands Ärzte vorsieht. (4) Als besonders anfällig für Beeinflussung haben sich in sozialpsychologischen Experimenten Menschen erwiesen, die sich der Reziprozitätsregel zwar bewusst sind, sich selbst aber für resistent dagegen halten, auf diese Weise manipuliert zu werden. Sie erliegen einer „Illusion der Unverwundbarkeit“. (5) Demnach waltet verkaufspsychologisches Kalkül, wenn der Rep den Doc mit Wohltaten überschüttet. Und die Rechnung pflegt aufzugehen. Das US-amerikanische Recherchezentrum ProPublica, das seit 2010 Zahlungen an US-Ärzte veröffentlicht, fand einen deutlichen Zusammenhang: zwischen den Beträgen, die ein Arzt von Pharmafirmen einstreicht, und der Anzahl an teuren Originalpräparaten, die er verordnet. Unter Augenärzten, denen kein Geld zufloss, verschrieben bloß 46 Prozent Originalia anstelle preiswerterer Generika; bei Kollegen, die über 5000 Dollar erhielten, stieg der Anteil auf 65 Prozent. (6) „Mein Essen zahl´ ich selbst“ Selbst simple Einladungen zum Essen verfehlen ihre Marketingwirkung nicht. Dies stellten Mediziner der University of California in San Francisco fest, als sie Daten von 280.000 Ärzten auswerteten: Gesponserte Mahlzeiten erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass der Bewirtete ein Medikament des Sponsors verschrieb. Psychiater beispielsweise, die keine solche Einladung annahmen, verordneten das Antidepressivum Desvenlafaxin mit einer Häufigkeit von 0,5 Prozent unter Präparaten dieser Klasse. Bei Fachkollegen, die sich ein Essen im Wert von unter 20 Dollar bezahlen ließen, verdreifachte sich dieser Wert auf 1,5 Prozent. Bei Nebivolol, einem Betablocker zur Blutdrucksenkung, erhöhte sich die Verschreibungsrate nach einem Essen von drei auf acht Prozent, nach drei Essen sogar auf 14 Prozent. (7) Um ihre Kollegen gegen solche Versuchungen zu immunisieren, haben unbestechliche Ärzte im Jahr 2007 MEZIS ins Leben gerufen. „MEZIS“ steht für „Mein Essen zahl´ ich selbst“. Rund 1000 Mitglieder hat die gemeinnützige Initiative inzwischen. Es sollten viel mehr sein. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Klaus Lieb/Simone Brandtönies: „Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern“, Deutsches Ärzteblatt 107/2010, S. 392-398; www.aerzteblatt.de/archiv/76324/Eine-Befragung-niedergelassener-Fachaerzte-zum-Umgang-mit- Pharmavertretern. 2 A. Wazana: „Physicians and the pharmaceutical industry: is a gift ever just a gift?“, Journal of the American Medical Association 283 (3) 2000, S. 373-380. 3 Siehe www.influenceatwork.com 4 Bundesärztekammer (Hrsg.): (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte, § 32, Stand 2018, www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf, abgerufen am 30.5.2019. 5 B. J. Sagarin/R. B. Cialdini u.a.: „Dispelling the illusion of invulnerability: Themotivations and mechanisms of resistance to persuasion“, Journal of Personality and Social Psychology 83/2002, S. 526-54114; Dana J, Loewenstein: „A Social Science Perspective on Gifts to Physicians From Industry“, JAMA 290/2003, S. 252-255. 6 Nach Spiegel online, 26.7.2015: „Zahlungen an Ärzte - Keiner ist so nett wie der Pharmareferent“, www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/zahlungen-an-aerzte-der-nette-pharmareferent-a-1104739.html 7 Colette de Jong u.a.: „Pharmaceutical Industry-Sponsored Meals and Physician Prescribing Patterns for Medicare Beneficiaries“, JAMA Internal Medicine 2016 Aug 1;176 (8) 2016, S. 1114-1122, doi: 10.1001/jamainternmed.2016.2765. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ – Ärzte einwickeln: Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen

    „Du steigerst meinen Profit, im Gegenzug beteilige ich dich daran“: Keine Form der Korruption ist verbreiteter, auch in der Medizin. „Kick-back“, zu deutsch Rückvergütung, heißt dieses Prinzip. Ärzte, die sich derart schmieren lassen, richten im Gesundheitswesen gewaltigen Schaden an. Erschreckend verbreitet ist die sogenannte „Kick-back“-Masche. Hierbei fließen versteckte Umsatzprämien, Provisionen. Sie gilt als bedeutendste Form ärztlicher Korruption. Kick-Backs beschränken sich nicht auf Rezepte - bei ärztlichen Leistungen jeglicher Art können sie stattfinden. Da überweist ein Allgemeinmediziner oder ein Orthopäde seinen Patienten zu einer Kernspintomografie. Dabei empfiehlt er ausdrücklich einen bestimmten Radiologen – nicht, weil er von dessen überragenden Fähigkeiten überzeugt ist, sondern um sich einen finanziellen Vorteil zu sichern. Der Empfohlene erweist sich erkenntlich, indem er einen Teil seines Honorars dem Überweiser rückvergütet. „Ein befreundeter Radiologe“, so erinnert sich der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik, „hat mir berichtet, wie Orthopäden 100 Euro Kick-Back für jede Zuweisung zum Kernspintomogramm von ihm verlangen, sonst müssten die Patienten zu einem anderen Radiologen gehen, der entsprechend zahlen würde. Tägliche Praxis.“ (1) Nicht immer fließt ausschließlich Geld, Kick-backs können auch Sachleistungen einschließen. Ein Augenarzt überweist einen Katarakt-Betroffenen zur Operation an ein bestimmtes Ophthalmologisches Zentrum. Dafür werden ihm, unentgeltlich oder gegen einen symbolischen Betrag, modernste Praxisgeräte überlassen. (2) Weithin üblich sind Kopfgelder und Umsatzprämien für Chirurgen, die bei Implantationen die Erzeugnisse eines bestimmten Medizinprodukteherstellers bevorzugen. So erhob die Staatsanwaltschaft Osnabrück Ende 2018 Anklage gegen den ehemaligen Leiter der Abteilung für Wirbelsäulenchirurgie des Klinikums Leer: Er setzte am liebsten Implantate eines bestimmten Herstellers ein – unter anderem Bandscheibenprothesen, die im Körper der Patienten auf Wanderschaft gingen, zerbröselten und heftige Schmerzen auslösten. Als Gegenleistung beteiligte die Firma den gewieften Chirurgen prozentual an den Umsätzen mit dem Produkt; zwischen 2011 und 2016 sollen sich die Zahlungen auf mehr als 128.000 Euro belaufen haben. (3) Und natürlich rentiert es sich für Ärzte, gewisse Medikamente besonders häufig zu verschreiben. Dafür streichen sie von Pharmafirmen üblicherweise stattliche Provisionen ein – zwischen drei und acht Prozent des Preises, wie ein Insider verrät. (4) Oder sie heimsen lukrative „Berater“verträge ein, kassieren großzügig bemessene Vortragshonorare, heimsen Tickets für teure Veranstaltungen ein. Topverschreiber bekommen luxuriöse Urlaube spendiert. Besonders hohe Vergütungen schlagen wohlorganisierte Ärztenetzwerke heraus, die viele Einzel- und Gruppenpraxen einbeziehen. Wie das Schweizer Verbrauchermagazin „Saldo“ im Sommer 2013 aufdeckte, setzte beispielsweise der Medix-Ärzteverbund Aargau damals vorzugsweise Generika-Cholesterinsenker der Firma Spirig Healthcare ein, Antidepressiva oder Blutdruckmittel der Firma Actavis sowie Mittel gegen Sodbrennen von Sandoz. Von diesen Einschränkungen erfahren die Patienten nichts. Schon gar nicht wissen sie, dass bis zu 25 Prozent des Preises, den sie in der Apotheke zahlen, zurück an das Ärztenetzwerk fließen – gewissermaßen als Belohnung für die Rezepte. „Das ist kein Einzelfall“, stellte die Redaktion fest. Nach ihren Recherchen „verpflichten sich viele Ärztenetzwerke per Vertrag mit Pharmafirmen, Patienten im Hausarztmodell vorzugsweise gewisse Präparate abzugeben. Dafür erhalten die Netzwerke die Medikamente günstiger – die Patienten zahlen aber gleich viel.“ Der Generikahersteller Actavis bestätigte „Saldo“, er räume Netzwerken Rabatte bis 45 Prozent auf den Herstellerpreis ein. Laut Pharma-Insidern „liegen sogar Rabatte bis 80 Prozent drin. Kein Beteiligter wollte auf Anfrage seinen Vertrag offenlegen.“ (5) Juristische Scherereien? Achselzuckend hingenommen. Unter großen Arzneimittelkonzernen findet sich kaum einer, der wegen solcher Bestechungspraktiken nicht schon juristische Scherereien bekam. Johnson&Johnson kosteten sie im November 2013 immerhin 2,2 Milliarden US-Dollar; der Konzern hatte Ärzte dafür prämiert, das Antipsychotikum Risperdal auch an Demenzkranke und ADHS-Kinder zu verschreiben. Abbott blechte 1,5 Milliarden Dollar wegen einer Off-Label-Marketingkampagne für das Antiepileptikum „Depakoke“ (Valproat), bei der reichlich Kick-Backs im Spiel waren; jede zehnte Frau, die ein valproinsäurehaltiges Präparat während der Schwangerschaft einnahm, brachte ein missgebildetes Kind zur Welt, bei 30 bis 40 Prozent traten schwere Entwicklungsstörungen auf. (6) 2015 stimmte Bristol-Myers Squibb einer Zahlung von mehr als 14 Millionen US-Dollar zu, um Vorwürfe zu beseitigen, nach denen das Unternehmen staatliche Krankenhäuser in China mit Schmiergeldern zur Verschreibung von Medikamenten bewogen haben soll. (7) 27 Millionen Dollar Strafe zahlten Teva Pharmaceuticals im März 2016 an das US-Justizministerium, weil die Firma einen Chicagoer Psychiater dafür „belohnt“ hatte, in über 30 Pflegeheimen das Neuroleptikum Clozapin zu verschreiben – auf über 50.000 Rezepten. Im selben Jahr handelte Teva die höchste jemals einem Pharmaunternehmen auferlegte Strafe – und die branchenübergreifend vierthöchste Vergleichszahlung – wegen Verstößen gegen das US-Korruptionsgesetz aus, den Foreign Corrupt Practices Act (FCPA). Das Unternehmen verständigte sich mit dem US-Justizministerium und der US-Börsenaufsicht gegen eine Zahlung von 519 Millionen US-Dollar auf eine Vereinbarung, die weitere Strafverfolgung auszusetzen. Ihm war vorgeworfen worden, in der Ukraine, in Mexiko und in Russland gegen den FCPA verstoßen zu haben. (8) Im Jahr 2015 willigte Novartis in eine Strafzahlung von 390 Millionen Dollar ein – unter anderem wegen Kickbacks zugunsten seines Immunsuppressivums Myfortic. (9) Der Schweizer Pharmamulti hatte Apotheker in den USA bestochen, ihren Kunden bestimmte Medikamente zu empfehlen. Im Frühjahr 2019 traf es Jazz Pharmaceuticals, Lundbeck und Alexion: (10) Insgesamt 122,6 Milionen Dollar kosteten sie Kick-Backs zugunsten von Arzneien gegen Narkolepsie, Chorea Huntington, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) – eine seltene Erkrankung blutbildender Stammzellen – sowie das atypische hämolytisch-urämische Syndrom (aHUS), bei dem im ganzen Körper Blutgerinnsel entstehen, was die Durchblutung lebenswichtiger Organe beeinträchtigt. Bußgelder in Milliardenhöhe: Peanuts, gemessen an kriminellen Umsätzen Rekordhalter ist Pfizer, mit nicht weniger als 34 juristischen Vergleichen, auch wegen Kick-backs, seit 1991 – darunter Bußgelder in Höhe von 4,7 Milliarden und 2,3 Milliarden US-Dollar. (11) „Die Gesetzesverstöße“, so prangert der dänische Mediziner und Pharmakritiker Peter C. Gøtzsche an, sid derart verbreitet, häufig und vielfältig, dass nur eine Schlussfolgerung möglich ist: Sie werden vorsätzlich begangen, weil Verbrechen sich auszahlen. Die Unternehmen betrachten die Strafen als Betriebsausgaben und setzen ihre illegalen Aktivitäten fört, als wäre nichts gewesen.” (12) Viele Straftaten wären unmöglich, wenn Ärzte nicht mitspielen würden. Kaum zu fassen, aber wahr: Mindestens 30 Prozent aller deutschen Akutkrankenhäuser haben Kick-back-Verträge abgeschlossen. (13) Kick-backs sacken aber auch Pflegeheime, Apotheken, Stiftungen und Patientenorganisationen ein, mitunter sogar staatliche Stellen. 45 Millionen Dollar blechte Pfizer im Jahre 2012 dafür, Behörden in Bulgarien, China, Kroatien, Tschechien, Italien, Kasachstan, Russland und Serbien bestochen zu haben. (14) 25 Millionen US-Dollar zahlte Novartis im März 2016, nachdem die US-Börsenaufsicht SEC ihm vorgeworfen hatte, zur Absatzförderung Mitarbeiter des chinesischen Gesundheitswesens bestochen zu haben. Im Frühjahr 2019 blechten Amgen und Astellas Pharma knapp 125 Millionen US-Dollar. Sie hatten zwei Stiftungen „Spenden“ zukommen lassen, bei denen es sich in Wahrheit um verkappte Kick-backs handelte. Als Gegenleistung sollte die „gemeinnützigen“ Einrichtungen Patienten mit Prostatakrebs bzw. mit sekundärem Hyperparathyreoidismus - einer Hormonstörung infolge einer Niereninsuffizienz - dazu bewegen, ausschließlich zu den Mitteln „Xtandi“ bzw. „Sensipar“ zu greifen. (15) Ende 2018 willigten Actelion Pharmaceuticals – 2017 von Johnson&Johnson übernommen - in eine Zahlung von 360 Millionen US-Dollar ein. Die Firma hatte eine gemeinnützige Hilfsorganisation, die „Caring Voice Coalition“ - Motto: „We improve the lives of those with chronic illnesses“ (16) - mit großzügigen Spenden bedacht. Allerdings flossen die Gelder zweckgebunden. Sie sollten ausschließlich Patienten zugute kommen, die zu Actelion-Medikamenten griffen – unter anderem zum Kassenschlager „Tracleer“, einem Mittel gegen Pulmonare Hypertonie (PAH), die den Blutdruck im Lungenkreislauf bedrohlich ansteigen lässt. Preisanhebungen 2014 und 2015, welche die Inflationsrate um das 30-fache übertrafen, hatten Tracleer-Tabletten zu echten Kostbarkeiten gemacht: 60 Stück kosteten nun 14.500 US-Dollar. (17) Solche „pseudo-gemeinnützigen Vereine, die nichts zu tun haben, außer ‚‘Spenden‘ einzusammeln von Anbietern für Anwender, die diese Anwendung wiederum privat abrechnen dürfen“, bringen Thomas Fischer, Bundesrichter in Karlsruhe, seit langem auf die Palme. (18) Im August 2016 geriet Novartis ins Fadenkreuz der türkischen Behörden, nachdem ein anonymer Hinweisgeber die Anschuldigung erhoben hatte, Novartis habe sich durch die Zahlung von Schmiergeldern an staatliche Krankenhäuser geschäftliche Vorteile in Höhe von 85 Millionen US-Dollar verschafft. Diese Vorwürfe ließen bis heute nicht erhärten, aber auch nicht entkräften. (19) Ebenfalls im August 2016 wurden in Südkorea sechs frühere und derzeitige Mitarbeiter von Novartis angeklagt, Ärzten „Rabatte" angeboten zu haben, um den Medikamentenabsatz anzukurbeln. Die Untersuchung endete im April 2017 mit einem Strafurteil über 48,3 Millionen US-Dollar. Im November 2010 räumte Omnicare ein, 19,8 Millionen Dollar an zwei Pflegeheime dafür gezahlt zu haben, dass sie seine Medikamente anboten und einsetzten. (20) Merck wurde 2011 wegen Kick-backs zu einer Strafe von 950 Millionen Dollar verdonnert. (21) Um Spuren zu verwischen, fließen Kick-backs oftmals aus schwarzen Kassen. Geld wird heimlich bar ausbezahlt – oder, gut versteckt vor dem Fiskus, auf Privatkonten im Ausland überwiesen. Unbelastet von jeglichem Unrechtsbewusstsein Ärzten, die routinemäßig solche Rückvergütungen einstreichen, mangelt es im allgemeinen an jeglichem Unrechtsbewusstsein. Schließlich, so wiegeln sie ab, profitieren beide Seiten, der gefällige Leistungserbringer wie auch derjenige, der sich erkenntlich zeigt. Und dem betreffenden Patienten entstehe ja kein finanzieller Nachteil. Immer mehr Gerichte sehen das freilich anders: Sie werten Kick-backs als verbotene Bereicherung und Vorteilsgewährung, derentwegen Kranke nicht die bestmögliche Therapie erhalten, sondern diejenige, die sich für ihren Arzt am meisten auszahlt. Weil diese Therapie in der Regel höhere Kosten verursacht, entsteht den Krankenversicherungen ein beträchtlicher Schaden, somit letztlich der Solidargemeinschaft der Beitragszahler. Hinzu kommt die Gefahr, dass unnötige Untersuchungen und Behandlungen stattfinden – nur damit Prämien fließen. „Kick-Backer“: hanebüchene Kostentreiber In der Schweiz fielen jahrelang nirgendwo pro Versicherten höhere Laborgebühren an als im Kanton Genf: um rund 70 Prozent übertrafen sie den Kanton mit den zweithöchsten Laborkosten, um das Sechsfache den günstigsten. Wie die Neue Zürcher Zeitung recherchierte, spielten dabei Kick-back-Zahlungen eine Hauptrolle. So hatte sich ein Genfer Arzt verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Labor jährlich Leistungen in Höhe von 166.000 Franken bei den Kassen abrechnen konnte. Im Gegenzug erhielt er zehn Prozent davon, zuzüglich eines Vorschusses von 50.000 Franken, um seine Praxis umzubauen. Ärztliches Standesrecht verbietet Kick-backs; nach § 31 der Berufsordnung verstoßen sie gegen das Prinzip der freien Arztwahl, häufig auch gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot. Der Bundesgerichtshof wertet sie als Betrug. Heuchlerische Empörung Die wachsende Empörung über Kick-back-Praktiken, zumal wenn Politiker sie äußern, kommt Bernd Hontschik freilich recht heuchlerisch vor: „Krankenhäuser stehen ökonomisch mit dem Rücken zur Wand. Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal, alle Angestellten arbeiten unter kaum noch erträglichem Erfolgsdruck. Chefärzte werden mit Bonuszahlungen dazu verführt, ihre Behandlungszahlen hochzutreiben. Fangprämien sind da nur ein winziges Teilchen am Rand dieses Überlebenskampfes. Man kann nicht ein Sozialsystem zerstören und in einen Wirtschaftszweig umwandeln wollen, aber dann laut aufheulen, wenn es dort auch zugeht wie in der Wirtschaft.“ (22) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln 1 Frankfurter Rundschau, 29.5.2012: „Treuepunkte für den Arzt“, www.fr.de/wissen/treuepunkte-arzt-11358180.html, abgerufen am 16.5.2019. 2 Siehe ZWP online, 16.9.2011: „Verhängnisvolle Kick-Back-Vereinbarungen“, „Fall 4“, www.zwp-online.info/zwpnews/wirtschaft-und-recht/recht/verhaengnisvolle-kick-back-vereinbarungen, abgerufen am 16.5.2019. 3 Süddeutsche Zeitung, 11.12.2018, S. 20: „Anklage gegen Chirurgen“. 4 www.cbgnetwork.org/5731.html, abgerufen am 16.5.2019. 5 Saldo 13/2013: „Pharmafirmen belohnen Ärzte und Apotheker – den Preis bezahlen die Patienten“, www.saldo.ch/artikel/d/pharmafirmen-belohnen-aerzte-und-apotheker-den-preis-bezahlen-die-patienten, abgerufen am 16.5.2019. 6 Salvatore Saporito: „Bestechungsvorwürfe gegen Novartis verdeutlichen Compliance-Risiken im Pharmasektor“, LexisNexis, 12.6.2017; www.justice.gov/opa/pr/abbott-labs-pay-15-billion-resolve-criminal-civil-investigations-label-promotion-depakote, abgerufen am 16.5.2019. 7 www.lexisnexis.de/blog/compliance/korruptionsvorwuerfe-gegen-novartis, abgerufen am 16.5.2019. 8 Nach Saporito, a.a.O. 9 Chemistry World, 9.1.2015: „Pharma kickback claims lead to individual prosecutions“, https://www.chemistryworld.com/news/pharma-kickback-claims-lead-to-individual-prosecutions/9137.article, abgerufen am 16.5.2019. 10 Pharmaceutical Business Review, 5.4.2019: „Three pharma firms agree to pay $122.6m to settle kickback allegations“, www.pharmaceutical-business-review.com/news/three-pharma-kickback-allegations; www.marketwatch.com/story/jazz-pharma-alexion-and-lundbeck-to-pay-1226-million-to-resolve-kickback-allegations-2019-04-04; abgerufen am 16.5.2019. 11 Gardiner Harris: “Pfizer Pays $2.3 Billion to Settle Marketing Case“, NewYorkTimes,´2.9.2009, www.nytimes.com/2009/09/03/business/03health.html., siehe www.oxfam. de/system/files/oxfam_prescription_for_poverty_full_report_090518.pdf, S. 49. 12 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, München 2. Aufl. 2015, S. 77. 13 www.arzt-wirtschaft.de/verbotene-verlockungen-kickback-zahlungen-an-aerzte/, abgerufen am 16.5.2019. 14 “Pfizer Settles US Charges of Bribing Doctors Abroad“, New York Times, 7.8.2012, www.nytimes.com/2012/08/08/business/pfizer-settles-us-charges-of-overseas-bribery.html; SEC complaint to US District Court, District of Columbia: US Securities and Exchange Commission vs. Pfizer Inc., www.sec.gov/litigation/complaints/2012/comp-pr2012-152-pfizer.pdf, s. Oxfam, a.a.O., S. 49. 15 European Pharmaceutical Rebiew, 2.5.2019: „Amgen and Astellas Pharma US agree to settlement costs for kickback charges“, www.europeanpharmaceuticalreview.com/news/86976/ amgen-and-astellas-pharma-us-agree-to-settlement-costs-for-kickback-charges, abgerufen am 16.5.2019. 16 www.caringvoice.org/ 17 New York Times, 6.12.2018: „Drug Maker Pays $360 Million to Settle Investigation Into Charity Kickbacks“, www.nytimes.com/2018/12/06/health/actelion-johnson-and-johnson-kickback-medicare.html, abgerufen am 16.5.2019. 18 Thomas Fischer: „Nieder mit der Ärzte-Korruption“, Zeit online, 4.8.2015, https://www.bdnc.de/fileadmin/Media/bdnc/pdf/meldungen/20150804_Kolumne_Die%20Zeit_aerzte-bestechung-korruption-pharmaindustrie.pdf. 19 Nach Saporito, a.a.O. 20 Medslawsuit: „What is a Pharmaceutical Kickback?“, https://medslawsuit.com/frauds/ what-is-a-pharmaceutical-kickback/, abgerufen am 19.5.2019. 21 David Ingram/Ros Krasny: “Johnson&Johnson to Pay $2.2 Billion to End US Drug Probes“, Reuters, 4.11.2013, www.reuters.com/article/us-jnj-settlement/johnson-johnson-to-pay-2-2-billion-to-end-u-s-drug-probes-idUSBRE9A30MM20131104; Michael S. Schmidt/Katie Thomas: “Abbott Settles Marketing Lawsuit“, New York Times, 7.5.2012, www.nytimes.com/ 2012/05/08/business/abbott-to-pay-1-6-billion-over-illegal-marketing.html; Duff Wilson: “Merck to Pay $950 Million over Vioxx“, New York Times, 22.11.2011. 22 Hontschik in Frankfurter Rundschau, a.a.O. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird

    Viele Ärzte lassen sich von Pharmafirmen in „Anwendungsbeobachtungen“ einspannen: wissenschaftlich wertlose Untersuchungen ohne Kontrollgruppe. Überaus nützlich sind solche Pseudostudien trotzdem, zumindest für die Auftraggeber: Sie schaffen willkommene Gelegenheiten, dem Arzt und seinen Patienten ein neues Medikament näherzubringen. Kritiker sprechen von legalisierter Korruption. Jeder zehnte niedergelassene Arzt, neben tausenden Klinikärzten, macht bei sogenannten „Anwendungsbeobachtungen“ (AWB) mit, auch „nicht-interventionelle Studien“ genannt: wissenschaftlich wertlose Untersuchungen ohne Kontrollgruppe, meist ohne Versuchsplan und vorab festgelegtes Ziel - sei es vor der Markteinführung eines Präparats, als sogenannte „Seeding Trials“ (von engl. to seed: säen), sei es nach erfolgter Zulassung. Eine Veröffentlichungspflicht gibt es nicht. Mindestens 1300 derartige Pseudo-Studien fanden in Deutschland zwischen 2009 und 2014 statt – so viele meldeten „forschende“ Pharmaunternehmen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Um die Jahrtausendwende waren es 400 pro Jahr gewesen, 2005 schon etwa 700. (1) 17.000 Ärzte strichen 2014 Geld für umstrittene Studien ein. Ärzte erhalten dabei einen stattlichen Vorrat eines neuen Medikaments, mit dem Ansinnen, es an ihren Patienten auszuprobieren und zu „beobachten“, wie es wirkt. Dazu genügt es, ein paar Formulare auszufüllen und den Patienten zu fragen, wie ihm das Mittel bekommt. Die als „Gebühr“ getarnten Bestechungsgelder, die hierbei fließen, liegen pro Patient bei 25 bis 600 Euro (2), können aber auch vierstellig ausfallen (3), bis zu geradezu obszönen 7000 Euro. Verkappte Korruption Das ist verlockend: An einem Krebskranken verdient ein Kassenarzt pro Quartal weniger als 200 Euro. Verschreibt er ihm das Krebsmittel Avastin aber im Rahmen einer AWB, honoriert der Hersteller Roche einen einzigen flüchtig ausgefüllten Bogen mit bis zu 1260 Euro. Zahlreiche Konzerne betreiben einen gigantischen Aufwand: So startete AstraZeneca 2005 eine Anwendungsbeobachtung bei sage und schreibe 17.000 Ärzten für den Protonenpumpenhemmer Esomeprazol; Altana ließ das Konkurrenzpräparat Pantoprazol von 6000 Ärzten „beobachten“. Auch Lipidsenkern (Ezetimib, Simvastatin) sowie Mitteln gegen Bluthochdruck (Irbesartan), Harninkontinenz (Duloxetin) und Neurodermitis (Pimecrolimus) widmeten sich AWBs mit jeweils mehreren tausend Ärzten. (4) Allein im Jahr 2014 schütteten Pharmafirmen über hundert Millionen Euro an knapp 20.000 deutsche Ärzte aus, die in AWBs zu Diensten waren. „Anwendungsbeobachtungen“ sind getarnte Marketingaktionen, häufig für Mittel, die ein Vielfaches teurer sind als gleichwertige andere: Ärzte und Patienten sollen mit dem Präparat vertraut gemacht und zu Verschreibungen verleitet werden. (5) Kritiker wie der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, plädieren daher für ein Verbot. Lachhafte Erkenntnissuche Den Vorwurf der „legalisierten Korruption“, den Transparency International deswegen seit langem erhebt, weisen Pharmafirmen selbstredend weit von sich: Bei AWBs, so versichern sie scheinheilig, gehe es allein darum, „weitere Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit unter Praxisbedingungen zu generieren“. (6) Das ist lachhaft: Ohnehin sind Ärzte verpflichtet, Nebenwirkungen an die Arzneimittelkommission oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden – und zwar, ohne dafür Geld zu bekommen. Vereinzelt richten sich „Anwendungsbeobachtungen“ auf Medikamente, die seit Jahrzehnten auf dem Markt sind; welche weiteren neuen „Erkenntnisse“ hinsichtlich ihrer Wirksamkeit wären da noch zu erwarten? Im April 2015 startete Pfizer eine AWB zu seinem Rheumamittel Enbrel - 15 Jahre nach dessen Zulassung und kurz bevor erste Konkurrenz-Arzneien auf den Markt kamen. Ärzten, die mitmachten, winkten 650 Euro - pro Patient wohlgemerkt. Und musste der Hersteller von Klosterfrau Melissengeist deutschen Ärzten 225 Euro pro “beobachtetem” Patient zahlen, um zu erproben, ob das Produkt beruhigend wirkt - wie man schon seit rund 190 Jahren weiß? (7) “Das Geld wird aus wissenschaftlicher Sicht verschwendet", ärgert sich Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Nutzen und Unschädlichkeit von Arzneimitteln nach Markteinführung durch Langzeitbeobachtungen zu überprüfen, ist natürlich sinnvoll. Dafür gibt es allerdings PASS- oder PAES-Studien. (Die Abkürzungen stehen für „Post Authorisation Safety“ bzw. „Post Authorisation Efficacy“.) Gesundheitsbehörden wie das BfArM können sie offiziell anordnen, sofern sie Nachforschungsbedarf sehen, weil Sicherheit und/oder Wirksamkeit eines neuen Medikaments nicht hinlänglich belegt scheinen. (8) (Nebenbei gefragt: Wann ist das denn nicht der Fall?) In jüngster Zeit fanden solche Untersuchungen beispielsweise für „moderne“ Antibabypillen, für Krebsmittel oder Medikamente gegen Multiple Sklerose statt. Das Niveau derartiger Studien erreichen AWBs von Pharmafirmen nicht annähernd. Therapeutisch bedenklich, moralisch fragwürdig Niemand neidet Ärzten ein Zubrot. Therapeutisch bedenklich und moralisch fragwürdig werden „Anwendungsbeobachtungen“ vielmehr, indem sie dazu verleiten, einem Patienten unter mehreren möglichen Präparaten nicht das wirksamste, verträglichste und billigste zu verschreiben, sondern jenes, das für den Rezeptaussteller wie für den Hersteller am lukrativsten ist. Wie steht es um die Ethik von Ethikkommissionen, die dieses Treiben dulden und absegnen? Wer meint, die horrenden Summen, die zur Bestechung gutverdienender Ärzte nötig wären, könne sich kein Pharmakonzern leisten, irrt gehörig. Bis zu 90 Prozent des Marketingbudgets der US-Pharmaindustrie zielen auf Ärzte ab. (9) Und so können „beratende“ Fachärzte Vergütungen zwischen 4.000 und 60.000 Euro einstreichen. (10) Manche Klinikärzte kassieren bis zu 90.000 Euro „Beratungshonorar“, wenn sie sich zu einer Konferenz der Pharmaindustrie einladen lassen (11), im Einzelfall 400.000 Dollar für acht Tage Beratertätigkeit. (12) Vier der größten Hersteller von Hüft- und Knieimplantaten schütteten zwischen 2002 und 2006 mehr als 800 Millionen Dollar an Ärzte aus, die mit ihnen „Berater“verträge abgeschlossen hatten. (13) Das rechnet sich, denn geköderte Ärzte sind weitaus bessere Produkt-Promoter als Pharmareferenten. So verrieten interne Berechnungen des Pharmariesen Merck, dass er für jeden Dollar, den er in Vortragshonorare für Ärzte steckte, 3,66 Dollar zurückbekam. (14) Wes Brot ich ess … Würden sich derartige Investitionen nicht auszahlen - wozu gäbe es sie überhaupt? Laut einer Studie, die Daten von fast 7000 Ärzten berücksichtigte, verordneten Teilnehmer einer AWB das entsprechende Medikament um acht Prozent häufiger. Auch ein Jahr nach Ende einer AWB lagen die Verschreibungen noch sieben Prozent höher als in der Vergleichsgruppe. Die Bereitschaft von Ärzten, ein Arzneimittel für Fälle zu verschreiben, für die es gar nicht zugelassen ist - „Off-Label Use“ -, wächst um 70 Prozent, nachdem der Hersteller sie zu einem Essen eingeladen hat, bei dem über unzulässige Anwendungen gesprochen wird. (15) Selbst die Qualität des Menüs beeinflusst die Verschreibungsquote. (16) Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Nicht immer muss Geld fließen, ehe sich Ärzte an die Leine legen lassen. Beim Anwerben für „Anwendungsbeobachtungen“ etwa betonen Pharmavertreter gerne, der betreffende Doktor sei „aufgrund seiner überragenden Arbeit ausgewählt worden, an dieser Testphase teilzunehmen“, wie ein Ex-Pharmamanager aus dem Nähkästchen plaudert. „Wir würden die Ergebnisse, die sie mit ihren Patienten erzielen, sorgfältig auswerten und selbstverständlich den Namen des teilnehmenden Arztes in der Studie maßgeblich erwähnen. Das allein ist für viele schon Anreiz genug, mitzumachen. Den eigenen Namen gedruckt in einer Studie sehen, ist verlockend für einen Arzt, der in der Routine des Alltags vom frischen Wind der empirischen Wissenschaft nichts mitbekommt. Einmal Forscher sein! Und dann auch gleich in einer Veröffentlichung namentlich genannt werden! Die offizielle Bestätigung: Der Mann ist mehr als nur ein Krankenbettverschieber!“ Solche Aussichten „streicheln das Ego“. (17) Kaum einer der 71.000 Ärzte in Deutschland, die zugaben, im Jahr 2015 Geld von der Pharmaindustrie kassiert zu haben (18), räumt freimütig ein, derlei Annehmlichkeiten könnten jemals seine Urteilskraft trüben, seine Ratschläge für Patienten beeinflussen, sich auf sein Verschreibungsverhalten auswirken. Tatsächlich? Allein fürs Reisen zu Fortbildungszwecken strich ein deutscher Urologe und Oberarzt im Jahr 2015 Pharmazuwendungen von 25.357 Euro ein, ein Essener Neurologe für „Beratungen und Dienstleistungen“ 134.078 Euro und weitere 60.820 Euro als „Erstattung von Auslagen“. (19) Und solche Summen sollen psychologisch effektfrei sein, zumindest in Medizinerhirnen? Beispiel Rosiglitazon - Handelsname „Avandia“ -, ein Diabetesmittel. Im Jahre 2007 hatte eine Meta-Analyse von 42 Studien belegt, dass es die Gefahr von Herzinfarkten um 43 Prozent erhöht. (20) Trotzdem verschrieben zahlreiche Ärzte es weiterhin, weil sie das Risiko für vertretbar hielten. Eben diese Mediziner, so brachte 2010 eine Studie zum Vorschein, waren vom Rosiglitazon-Hersteller besonders häufig mit Zahlungen bedacht worden. (21) Wes Brot ich ess … (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 Arznei-Telegramm 37/2006, S. 93-94: „Kurz und bündig“ 2 ebda. 3 Peter Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität – Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, München 2. Aufl. 2015, S. 131. 4 Arznei-Telegramm 37/2006, s. 93-94. 5 Gøtzsche: Tödliche Medizin ..., a.a.O., S. 130 ff. 6 Zahlenangaben und Zitat Roche nach Süddeutsche Zeitung Nr. 58, a.a.O. 7 Nico Damm: „Heilung um jeden Preis?“ 8 Nach § 4 Abs. 34 und § 28 Abs, 3 a und b des Arzneimittelgesetzes. 9 T. A. Brennan u.a.: „Health Industry Practices That Create Conflicts of Interest“, Journal of the American Medical Association 295/2006, S. 429-433. 10 S. Boseley: „Junket time in Munich for the medical profession – and it´s all on the drug firms“, The Guardian 5.10.2004. 11 J. Moore, „Medical device payments to doctors draw scrutiny“, Star Tribune 8.9.2008. 12 R. Abelson: „Whistle-blower suit says device maker generously rewards doctors“, New York Times 24.1.2006. 13 J. Lenzer: „Doctor´s group files legal charges against nine French doctors over competing interests“, British Medical Journal 338/2009, S. 1408. 14 „Can I buy you a dinner? Pharmaceutical companies increasingly use doctors´ talks as sales pitches“, August 2004; www.worstpills.org. 15 Das belegt eine interne Aktennotiz des Neurontin-Herstellers, s. G. Harris: „Pfizer to pay $ 430 million over promoting drug to doctors“, New York Times 14.5.2004. 16 Nach Kim Björn Becker: „Wes Brot ich ess …“, Süddeutsche Zeitung, 20.6.2016, www.sueddeutsche.de/ wissen/gesundheitswesen-wes-brot-ich-ess-1.3042404. 17 John Virapen: Nebenwirkung Tod, 7. Aufl. 2015, S. 106, 108. 18 Spiegel Online, 14.7.2016: „Pharmahonorar für Ärzte - Vielen Dank für die Millionen“. 19 Nach https://correctiv.org. 20 Steven E. Nissen/Kathy Wolski: „Effect of Rosiglitazone on the Risk of Myocardial Infarction and Death from Cardiovascular Causes“, New England Journal of Medicine 356 (24) 2007, S. 2457-2471. 21 Charles Ornstein u.a.: „Now There’s Proof: Docs Who Get Company Cash Tend to Prescribe More Brand-Name Meds“, ProPublica 17.3.2016, online: www.propublica.org/article/doctors-who-take-company-cash-tend-to-prescribe-more-brand-name-drugs, abgerufen am 18.7.2016. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufte Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Off-Label – Grenzverletzungen als Routine

    Arzneimittel „off-label“ anzuwenden, außerhalb ihrer Zulassung, ist häufig medizinisch sinnvoll, manchmal sogar notwendig. Allerdings immer hochriskant - und überaus lukrativ. Ärzte dazu anzustiften, eröffnet Herstellern ein „riesiges Geschäft, das gezielte Desinformation beinhaltet“, wie ein ehemaliger Pharmamanager einräumt. Wenn Behörden ein neues Arzneimittel zulassen, dann immer nur für ein bestimmtes Anwendungsgebiet: eine Erkrankung, ein Beschwerdebild, eine Personengruppe – beispielsweise für akute Schmerzen bei Erwachsenen. Ebenso festgelegt wird, wie es verabreicht werden muss – etwa als Tablette, als Tinktur oder als Spritze unter die Haut -, wie es zu dosieren ist, wie lange es angewandt werden soll. Für jeden beantragten Einsatzbereich muss die Pharmafirma Studienergebnisse vorlegen, aus denen hervorgeht, dass die vorgesehene Anwendung wirksam und sicher ist. In der Praxis erweist sich ein Medikament aber auch als hilfreich bei anderen Indikationen oder Patientengruppen als den ursprünglich vorgesehenen. Die Pharmafirma könnte dann auch hierfür eine Zulassung beantragen. Weil diese Prozedur zeitaufwändig und teuer ist, verzichten Hersteller aber oft darauf. So kommt es, dass Ärzte viele Arzneimittel „off label“ anwenden, anders als im Beipackzettel vermerkt – unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise wenn sich ein nicht zugelassenes Medikament hierfür bewährt hat, etwa ein Antiepileptikum gegen Migräne, ein Antidepressivum gegen eine Angststörung -, oder wenn sich einer Krankheit mit zugelassenen Medikamenten nicht ausreichend beikommen lässt. Off-Label-Use steht jedem Arzt grundsätzlich frei. Er sollte sich sogar dafür entscheiden, wenn seines Erachtens das betreffende Präparat für einen bestimmten Patienten die beste Behandlungsoption darstellt. Falls schwere Nebenwirkungen auftreten, haftet allerdings nicht der Hersteller, sondern er selbst. Soweit die Theorie. Sie klingt vernünftig und ist dies auch, solange über Off-Label-Anwendungen allein medizinische Gesichtspunkte entscheiden. Gezielte Desinformation für Profite Doch aus Herstellersicht zählt eher Profitabilität: Jede Erweiterung von Einsatzbereichen erhöht Umsätze, jedes Zögern mindert sie. Auch hierum geht es dem Pharmareferenten bei seinen Arztbesuchen. Auf Anstiftungen, Medikamente riskanterweise auch außerhalb des Anwendungsbereichs einzusetzen, für den sie zugelassen sind, verwendet er besonders viel Energie. (1) Denn Off-Label Use eröffnet Pharmakonzernen ein „riesiges Geschäft, das gezielte Desinformation beinhaltet“, wie ein ehemaliger Eli-Lilly-Geschäftsführer einräumt. (2) In vielen medizinischen Gebieten, vor allem in der Kinderheilkunde, der Geriatrie, der Onkologie und der Psychiatrie, kommt ein Großteil der Medikamente off-label zum Einsatz - im Durchschnitt aller Verschreibungen zu 40 bis 60 Prozent. (3) Weil behandelnde Ärzte in solchen Fällen für etwaige Nebenwirkungen zur Rechenschaft gezogen werden können, zögern allerdings viele. Um diese Bremse zu lockern, halten gutgeschulte Pharmavertreter in ihren Aktenkoffern stets passende Empfehlungen gewogener „Experten“ und Fachgesellschaften sowie Reprints genehmer „wissenschaftlicher Studien“ griffbereit. Zwar ist es inzwischen selbst in den USA ausdrücklich untersagt, für Off-label-Anwendungen zu werben. Trotzdem nehmen die großen Pharmaunternehmen immer wieder enorme Bußgelder in Kauf, teilweise in Milliardenhöhe, um die Grenzen dieser gesetzlichen Regeln auszutesten und routinemäßig zu überschreiten. Zum Spitzenreiter brachte es GlaxoSmithKline im Juli 2012 mit einer Geldstrafe von drei Milliarden Dollar. Es rentiert sich anscheinend. Therapeutischer Blindflug mit ahnungslosen Versuchskaninchen Abermillionen bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit, ja ihrem Leben. Dass etwa Antipsychotika off-label an ältere Demenzkranke verfüttert werden, „wohlwissend, dass sie zu Herzinfarkten und Schlaganfällen und plötzlichem Tod führen können, ist nichts anderes als Euthanasie“, wie das Wall Street Journal anprangert. (4) Noch schändlicher sind viele Off-Label-Verschreibungen von Psychopharmaka für Kinder. „Die paradoxe Realität ist: Je kleiner und kränker das Kind, desto seltener bekommt es eine offiziell zugelassene Arznei“, schreibt der Medizinjournalist Martin Lindner über den therapeutischen Blindflug mit ahnungslosen Versuchskaninchen. „So verwenden niedergelassene Pädiater 10 bis 30 Prozent der von ihnen verschriebenen Mittel außerhalb der Marktlizenz. In Kinderkliniken steigt der Anteil auf rund 50 Prozent. Und auf Neugeborenen-Stationen können bis zu 90 Prozent der Substanzen off-label verabreicht werden. (...) Eine neuere Studie in knapp 40 französischen Kinderarztpraxen bestätigt, dass eine Off-Label-Behandlung die Nebenwirkungsrate erhöht, manchmal auf mehr als das Dreifache einer zugelassenen Therapie.“ (5) Dass der Nutzen sich im selben Maße vervielfacht, harrt des Beweises. Ein Augenöffner: der Cytotec-Skandal Wie brandgefährlich ausufernder Off-Label-Use sein kann, führte jedem, der sehen will, Anfang 2020 der Cytotec-Skandal vor Augen. Pfizers Magenschutz vor Geschwüren verschwand 2006 zumindest in der Bundesrepublik offiziell vom Markt – trotzdem setzte es jede zweite deutsche Geburtsklinik weiterhin ein (6), weil sich zufällig herausgestellt hatte, dass der Wirkstoff Misoprostol recht zuverlässig Wehen fördert. Dafür war Cytotec aber gar nicht zugelassen, schon gar nicht in der verbreiteten, vermeintlich praxisbewährten Dosierung, die in den Kreißsälen oft um das Doppelte bis Vierfache über dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Wert von 25 Mikrogramm lag. Das führte in mehreren Fällen zu schweren Komplikationen bei der Geburt: Die Gebärmutter riss, ein „Wehensturm“ setzte ein, Babies kamen mit Hirnschäden zur Welt, Mütter und Neugeborene verstarben. Keine Behörde hatte davor gewarnt, keine war eingeschritten. Erst im April 2021 wurde der Import von Cytotec gestoppt. (7) Neurontin: ein Antiepileptikum für beinahe alles Beim Off-Label-Business geht die Rechnung für Big Pharma garantiert immer auf – selbst wenn Rechtsbrüche ausnahmsweise drakonisch sanktioniert werden, wie im Fall von Neurontin. (8) Zugelassen war der Kassenschlager mit dem Wirkstoff Gabapentin ausschließlich bei therapieresistenter Epilepsie. Trotzdem bewarb Pfizer es für nicht weniger als 48 weitere Indikationen – unter anderem bei Migräne und sonstigen Schmerzzuständen, ADHS, Restless Legs Syndrom, bipolaren Störungen, Alkohol- und Drogensucht. Dazu verwendete die Firma manipulierte und unvollständig publizierte Daten aus Studien, die sie selbst gesponsert hatte. (9) Allein auf die Überredungskünste seiner Pharmareferenten verließ sich Pfizer selbstverständlich nicht. Neurontin off-label unters Volk zu bringen, war der Hauptzweck sogenannter „Fortbildung“sveranstaltungen, bei denen stattliche Honorare manchmal nicht nur für die Referenten flossen, sondern auch für die teilnehmenden Ärzte. Ködern ließen sie sich unter anderem mit Luxusreisen nach Florida, Hawaii oder zu den Olympischen Spielen. (10) Wer besonders viele Neurontin-Rezepte produzierte, durfte als bestens bezahler Redner auftreten oder als „Berater“ fungieren. Geld floss auch an Ärzte, die ihren Namen für Artikel hergaben, in denen Ghostwriter in Pfizer-Diensten „bewiesen“, wie fabelhaft Neurontin jenseits seiner Zulassungsgrenzen wirkt. (11) Renommierte Meinungsführer der Schulmedizin – darunter Fachbereichsleiter von Universitäten, Leiter von Forschungsprogrammen und Klinikabteilungen - kassierten fürstliche Prämien dafür, in Vorträgen zu Off-Label-Rezepten anzustiften: Sie verlangten und erhielten zwischen 10.250 und 158.250 Dollar. Einer strich sage und schreibe 308.000 Dollar dafür ein, bei Konferenzen wortgewaltig die Werbetrommel für Neurontin zu rühren. (12) Um eine drohende Anklage abzuwenden, räumte Pfizer im Jahr 2004 Gesetzesverstöße ein und leistete eine Strafzahlung von 430 Millionen Dollar (13) - ein Pappenstiel, gemessen an den 2,7 Milliarden Dollar, welche die Firma mit Neurontin allein im Jahr 2003 umsetzte; ein Jahr darauf waren es 3 Milliarden Dollar. (14) Rund 90 Prozent der Verkäufe stammten aus zulassungsüberschreitenden Anwendungen. (15) Missbrauchte Therapiefreiheit Geschickt macht sich die Pillenbranche ein Standesprivileg des Arztes zunutze: seine Therapiefreiheit. Niemand darf ihm vorschreiben, wie er zu behandeln hat. Er allein wählt und entscheidet, auf welche Weise er hilft. Immer ist er in erster Linie dem individuellen Patienten verpflichtet, dessen Besonderheiten er nach bestem Wissen und Gewissen berücksichtigen muss; auch kann er ernsthafte, wohlbegründete Bedenken gegenüber einer gängigen Methode hegen. Freiheit bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Ein Arzt unterliegt der Sorgfaltspflicht, er muss sich am fachärztlichen Standard orientieren und sich stetig weiterbilden, damit er auf dem aktuellen Stand medizinischer Erkenntnis bleibt. Eben dabei sind ihm Arzneimittelhersteller herzlich gerne zu Diensten: Muss ein Arzt, der Therapiemöglichkeiten gewissenhaft ergründet, nicht die grandiosen Vorteile des Präparats XY, dessen erfreulich harmloses Nebenwirkungsprofil zur Kenntnis nehmen, wie ihm pharmafinanzierte Gefälligkeitsstudien und bestellte Fachartikel bezahlter Schreibtischtäter vorgaukeln? Wäre es nicht zutiefst unethisch, einem leidenden Hilfesuchenden die ungeheuren Chancen vorzuenthalten, die das Präparat ihm eröffnet? Vernachlässigt ein Arzt nicht seine Fortbildungspflichten, wenn er über die allerneuesten pharmazeutischen Durchbrüche, die jüngste bahnbrechende Pilleninnovation ignorant hinweggeht? Überschaubares Haftungsrisiko Gewiss nimmt der Arzt erhebliche Risiken auf sich, wenn er Arzneien bei Indikationen einsetzt, für die sie nicht zugelassen sind: Er haftet für Schäden, die das Medikament anrichtet. Doch greift die Haftung nur, wenn ihm nachzuweisen ist, dass er es versäumt hat, den genannten Pflichten nachzukommen. Die nötigen „Beweise“, dass er sie erfüllte, liefern ihm Arzneimittelhersteller: indem manipulierte Studien, eine korrumpierte Fachpresse, auf Linie gebrachte Aus- und Fortbildungseinrichtungen, gekaufte Meinungsführer und einschlägige Gremien über den „Stand der Forschung“, die maßgebliche „Evidenz“ bestimmen. Ärztliche Skrupel gegenüber Off-Label-Therapien räumt Big Pharma also mit einer cleveren Doppelstrategie aus: Einerseits verschafft sie dem Arzt „evidenzbasierte“ Gründe, Zulassungsgrenzen zu überschreiten. Für den Fall, dass etwas schiefgeht, versorgt sie ihn andererseits mit den nötigen Alibis. Off-Label erspart den Herstellern zudem Kosten im Multimilliardenbereich. Wozu erst noch teure und langwierige klinische Prüfungen anleiern, wo sich das Präparat im alltäglichen Einsatz doch längst „bewährt“? (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 A. Fugh-Berman/S. Ahari: “Following the script: how drug reps make friends and influence doctors”, PLoS Medicine 4 (4) 2007: e150; M. A. Steinman/G. M. Harper u.a.: “Characteristics and impact of drug detailing for gabapentin”, PLoS Medicine 4 (4) 2007: e134; A. F. Shaughnessy/D. C. Slawson/J. H. Bennett: “Separating the wheat from the chaff: identifying fallacies in pharmaceutical promotion”, Journal of General Internal Medicine 9/1994, S. 563–568. 2 John Virapen: Nebenwirkung Tod, 5. Aufl. 2009, S. 193. 3 Bernadette Tansey: „HARD SELL: How Marketing Drives the Pharmaceutical Industry“ (2005), www.sfgate.com/health/article/HARD-SELL-How-Marketing-Drives-the-2676193.php, abgerufen am 25.11.2016. 4 Barbara Martinez/Jacob Goldstein: „Big Pharma Faces Grim Prognosis“, Wall Street Journal, 6.12.2007. 5 Martin Lindner: „Versuchskaninchen“, Die Zeit Nr. 36, 31.8.2006. 6 https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/gesundheit/im-wehensturm-e688113/?reduced=true; https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/geburtseinleitung-aerzte-geben-gefaehrliche-tablette,Rq6JTvb, abgerufen am 12.2.2023. 7 tagesschau.de: Importstopp für umstrittenes Medikament Cytotec, https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/cytotec-importstopp-101.html, abgerufen am 3. April 2021. Im Cytotec-Fall war es ausnahmsweise der Hersteller selbst, der die Notbremse zog: Vom Markt genommen hatte Pfizer das Medikament mit der Begründung, der “Missbrauch” sei zu hoch. 8 C.S. Landefeld/M.A. Steinman: “The Neurontin Legacy - Marketing through Misinformation and Manipulation”, New England Journal of Medicine 360/2009, S. 103-106. Auszug; M.A. Steinman u.a.: “Narrative Review: The Promotion of Gabapentin: An Analysis of Internal Industry Documents”, Annals of Internal Medicine 145 (4) 2006, S. 284-293. Volltext. 9 S.Swaroop Vedula u.a.: „“Outcome Reporting in Industry-Sponsored Trials of Gabapentin for Off-Label Use”, New England Journal of Medicine 361/2009, S. 1963-1971; arznei-telegramm 39/2008, S. 121; https://www.iqwig.de/veranstaltungen/2009-11-27_becker-brueser_objektive_forschung_ist_nicht_moeglich.pdf 10 Bernadette Tansey: „Huge penalty in drug fraud: Pfizer settles felony case in Neurontin off-label promotion“, San Francisco Chronicle 14.5.2004 11 M. Petersen: „Suit says company promoted drug in exam rooms“, New York Times 15.5.2002; Marcia Angell: The Truth about the Drug Companies: how they deceive us and what to do about it, New York 2004. 12 M. Petersen: „Suit says company promoted drug in exam rooms“, New York Times 15.5.2002. 13 B. Tansey: „Huge penalty in drug fraud“, a.a.O. 14 http://forum-gesundheitspolitik.de/artikel/artikel.pl?artikel=1489 15 B. Tansey, a.a.O.; O. Harris: „Pfizer to pay $430 million over promoting drug to doctors“, New York Times 14.5.2004; Jeannev Lenzer: „Pfizer pleads guilty, but drug sales continue to soar“, British Medical Journal 328/2004, S. 1217. Foto von pressfoto auf Freepik: Bild von pressfoto auf Freepik Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Anwendungsbeobachtungen – Der Arzt als „Forscher“ 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Der gläserne Doc

    Was für Arzneimittelhersteller am Arzt letztlich zählt, ist sein „Verschreibungswert“: Wie emsig stellt er Rezepte aus? Aber woher wissen Pharmareferenten das überhaupt, ehe sie ihm zum ersten Mal auf die Pelle rücken? Wie finden ihre Auftraggeber heraus, bei welchen Ärzten sich die Mühsal des Anbaggerns lohnt? Durchblick verschaffen gigantische Datenbanken, anzuzapfen gegen horrende Gebühren. Durchblick verschaffen dubiose Datenbanken, zugänglich gegen horrende Gebühren. Woher weiß Big Pharma, welchen Arzt ihre Abgesandten worauf ansprechen müssen? Wie sie ihn einfangen, bei der Stange halten und motivieren können? Woher kennen sie seinen „Verschreibungswert“, den Prescribing Value, kurz PV? (1) Dazu bedarf es keiner Wanzen, keiner Lauschangriffe, keiner eingeschleusten Spione. Durchblick verschaffen Firmen wie IQVIA, ein monströser, weltweit agierender Unternehmensdienstleister mit Stammsitz in Durham, North Carolina. Mit 79.000 Mitarbeitern, verteilt auf über hundert Länder, erzielt er einen Jahresumsatz von knapp 14 Milliarden US-Dollar. (2) Dieser Goliath steht auf zwei Beinen. Zum einen hat es Iqvia zur weltweit größten Contract Research Organisation (CRO) gebracht; als solche betreibt sie klinische Auftragsforschung für die Pharma-, Biotech- und Medizingeräte-Industrie. Zum zweiten fungiert sie als beinahe allwissender Beschaffer jeglicher Art von Informationen, die für Medizinmarketing von Bedeutung sein könnten. Seine Datenpools, 56+ Petabytes umfassend, gelten branchenintern als pures Gold, so gut wie jeder Pharmakonzern greift darauf zu. (3) Eine Goldgrube namens IQVIA Dabei heißt „Iqvia“ erst so, seit der Firmenvorläufer Quintiles im Oktober 2016 einen 17,6 Milliarden Dollar teuren merger mit einer Geistesverwandten vollzog: der umstrittenen Marktforschungsfirma IMS Health, dem damals weltweit führenden Lieferanten von Informationen über ärztliches Verschreibungsverhalten sowie zu Verkaufszahlen von Arzneimitteln. (4) Mit jährlich 45 Milliarden Daten über „Transaktionen im Gesundheitswesen“, die 14.000 Mitarbeiter zusammentrugen oder anderswo einkauften, dann auswerteten und aufbereiteten – davon über 300 in der deutschen Zentrale in Frankfurt am Main -, setzte IMS pro Jahr 2,6 Milliarden Dollar um. (5) Nach eigenen Angaben erfasste IMS „85 Prozent der weltweiten Verschreibungen“ und bot „annähernd 400 Millionen umfassende Langzeitberichte über Patienten“. (6) Zu ihren Kunden zählten die Top 100 der Pharma- und Biotech-Branche. Ab April 2014 wurden IMS-Aktien an der New Yorker Börse gehandelt. Wie überaus kostbar diese Schätze für Big Pharma sind, lassen die verlangten Preise erahnen. Um auch nur einen elektronischen Zugang zu einer von rund 40 angebotenen Datenbanken zu erhalten – der „IMS DPM“, die minutiös Verkaufszahlen und Umsätze jedes einzelnen Medikaments auflistete -, wurden 40.000 bis 60.000 Euro pro Jahr fällig. Was IMS Health konnte, kriegt Iqvia erst recht hin. Seine „OneKey“-Datenbank verschafft minutiöse Verhaltens- und Einstellungsprofile von 14,3 Millionen Heilberuflern in über hundert Ländern, darunter 2,1 Millionen prescribers; präzise erfasst sie Verschreibungs- und Überweisungsverhalten von niedergelassenen und Klinikärzten. Wer Iqvias Service nutzt, weiß genauestens, wie viele Rezepte über welche Wirkstoffe welcher Marken ein Arzt welchen Patienten mit welcher Indikation ausstellt, welche Therapieentscheidungen er trifft oder eher vermeidet. Er kennt „Arztcharakteristika und Praxismuster“, wie Iqvia hervorhebt. Er weiß, wie rasch oder zögerlich ein Arzt „neue“ Behandlungsweisen einsetzt, von altbewährten Mitteln auf „Innovationen“ umsteigt, Originalpräparate oder Generika bevorzugt. Ein Iqvia-Service namens „Patient Journey“ zeichnet „die Reise des Patienten von der Diagnose zur Therapie“ nach, insbesondere „die Rollen der mitwirkenden Ärzte“. Ein weiterer Dienst, „Expert Profiling“, hilft Unternehmen einzuschätzen, wie wertvoll ein Arzt fürs Marketing sein könnte; er analysiert dessen „wissenschaftlichen, indikationsspezifischen Footprint“, messbar „zum Beispiel an Publikationen, klinischen Studien, Kongressaktivitäten“. So „können Sie Ihre Marketingmaßnahmen punktgenau ausrichten und entscheiden, wen Ihre Botschaften erreichen“, versichert Iqvia auf seiner Homepage. Und natürlich gibt es auch Tools, mit denen sich „die Außendienst-Performance messen“ lässt – was taugt der Pharmareferent? Gnadenlos ausgespäht „OneKey“ knüpft an einen noch von IMS Health entwickelten Datenpool an: ScripTrac, welches mittlerweile der US-Unternehmensdienstleister Medacist fortführt. Auch hiermit bot IMS „Informationen zur treffsicheren Arztbeschreibung“ – einschließlich Namen und Adressen von über 31.000 niedergelassenen Ärzten in Deutschland, also jedem dritten. (7) Gefüttert wurde „ScripTrac“ zum Teil mit den Einträgen aus Formularen, die Ärzte einmal pro Jahr gegen Honorar ausfüllten. Sage und schreibe 600 Fragen erkundeten nicht nur das Verschreibungsverhalten, sondern auch die Patientenstruktur der Praxis, ihre Organisation, ja sogar Interessenschwerpunkte, Einstellungen und Charakterzüge. So bekundete der ausgespähte Arzt auf einer fünfteiligen Skala - von 1: „stimme nicht zu“ bis 5: „stimme völlig zu“ -, inwieweit er mit Aussagen einig geht wie: „Ich habe gerne viele Leute um mich“, „Ich probiere etwas Neues aus, auch wenn mal ein kleines Risiko dabei ist“, „Ich habe Spaß, mich mit neuen Theorien und neuen Ideen zu beschäftigen“, „Wenn ich Erfolg habe, möchte ich das auch nach außen zeigen“, „Das Ansehen, das man als Arzt genießt, ist mir wichtig“, „Es gelingt mir meistens, andere von meiner Meinung zu überzeugen“. ScripTrac steht für „Prescription Tracking“: das Nachverfolgen ärztlicher Verschreibungen, mit geradezu erkennungsdienstlicher Tiefenschärfe. Welcher Arzt stellte welche Rezepte aus, wie oft, wofür? Verordnet er Pharmazeutika besonders häufig, durchschnittlich oft oder eher selten? Welche Originale, welche Generika? Über welchen Zeitraum? Wie rasch ab Markteinführung einer „Innovation“ begann er sie zu verordnen? Bei welchen Indikationen? Verschrieb er ein bestimmtes Medikament ausschließlich für zugelassene Anwendungen, oder auch darüber hinaus, off label? Wie weit ging er dabei? Bevorzugte er Präparate bestimmter Hersteller? Solche aufschlussreichen Einblicke schätzt die Pharmaindustrie dermaßen, dass sie kein noch so dreistes Preisschild abschreckt. Entsprechend heiß umkämpft ist der Markt. Mit Iqvia und Medicast wetteifern etliche weitere Serviceunternehmen, die meisten mit mehreren hundert bis tausend Mitarbeitern und Umsätzen mindestens im dreistelligen Millionenbereich. Sie tragen Namen wie Dendrite – seit 2007, nach einer Übernahme, Cegedim Dendrite -, SDI Health und Wolters Kluwer. Der älteste Arztdatenhändler, Medical Marketing Service (MMS), agiert von Schaumburg, Illinois aus seit 1929. Manche bieten Zusatzleistungen wie E-Mail-Marketing; spezielle Software, welche die Performance der Außendienstler ebenso einschätzen hilft wie den Ertrag bestimmter Maßnahmen zur Verkaufsförderung; oder Statistiken darüber, wonach ein Arzt im Internet suchte, wie oft er beispielsweise die Website eines bestimmten Pharmaunternehmens besuchte. Manche beschränken sich auf den Hauptmarkt USA, andere verschaffen Einblicke in viele weitere nationale Märkte. Manche konzentrieren sich auf niedergelassene Ärzte, andere beziehen auch Kliniken, Heime, Apotheken ein. Doch eines verbindet sie alle: ihr Kerngeschäft, das Bereitstellen von Daten, Daten, Daten. Woher stammen die Daten? Woher die Daten stammen, lässt sich großteils bloß erahnen. Die meisten Quellen liegen im Dunkeln, die Anbieter hüten sie wie einen Goldschatz, und das ist er auch. Zumindest eine Hauptquelle ist allerdings seit langem hinlänglich bekannt: die älteste und größte Standesvertretung der US-amerikanischen Ärzteschaft, die American Medical Association (AMA). Ihre Ärztedatenbank, das Physician Masterfile, gilt weithin als die ausgefeilteste der Welt. Sie bietet demografische Angaben über sämtliche 900.000 US-Ärzte, lebende wie verstorbene, AMA-Mitglieder wie Nichtmitglieder, praktizierende und im Ruhestand befindliche. Und damit betreibt die AMA ein einträgliches Geschäft: Allein im Jahr 2005 verdiente sie daran 44,5 Millionen Dollar. (8) Die allererste Nutzungslizenz vergab sie bereits im Jahr 1929 – an MMS. Datenschutz pflegt man in Amerika eher locker zu handhaben. Aber selbst dort nahmen seit der Jahrtausendwende die Widerstände gegen den ausufernden Datenhandel zu. Im Jahr 2006 verbot New Hampshire den Verkauf von Verschreibungsdaten zu kommerziellen Zwecken (9), weitere Bundesstaaten folgten inzwischen diesem Beispiel. Daraufhin sah sich die AMA veranlasst, ein offizielles „Prescribing Data Restriction Program“ zu beschließen. (10) Seither können US-Ärzte auf einer AMA-Website per Online-Formular Widerspruch dagegen einlegen, dass ihre Daten an Reps und ihre Firmen weitergegeben werden. Doch weiterhin floriert das Datenbusiness prächtig. Denn der AMA liegt daran, dass Verschreibungsdaten nach wie vor „für nutzbringende Zwecke“ verfügbar bleiben, zum Beispiel „für evidenzbasierte medizinische Forschung, zum Strukturieren von klinischen Studien, für wirksame Arzneimittelrückrufe, zur Abschätzung von Nutzen und Risiken nach erfolgter Zulassung und für viele weitere Zwecke“. (11) Und irgendeiner dieser Zwecke findet sich für clevere Datenbeschaffer weiterhin immer. Das erklärt, dass Reps heutzutage kein bisschen weniger als Jahrzehnte zuvor im Bilde darüber sind, wie das Verschreibungsverhalten von Ärzten aussieht. Zudem stellt der Datenschatz ärztlicher Standesorganisationen nur eine Quelle unter mehreren dar. Die Analysekunst besteht darin, sie mit dem zu verknüpfen, was andere liefern. So verfügte IMS Health über Protokolle von über 70 Prozent aller Rezepte, die in Apotheken eingelöst wurden. Die Namen von Patienten sind darin zwar anonymisiert. Trotzdem lassen sich die verschreibenden Ärzte ausfindig machen, auch wenn sie darin nicht namentlich auftauchen - nämlich über ihre staatliche Lizenzierungsnummer, einen von der US-amerikanischen Drogenvollzugsbehörde (DEA) zugeteilten Code ( „Drug Enforcement Administration Number“) oder einen „Identifier“, den jede Apotheke vergibt. (12) Aber woher wissen Reps vorab, noch ehe sie erstmals eine Praxis betreten, darüber hinaus genauestens Bescheid über Einstellungen, Gewohnheiten, Interessen, Vorlieben des besuchten Arztes? Verräterische Surf-Spuren Das Internet macht´s möglich. Auch Ärzte nutzen es, während der Arbeit wie auch in ihrer knappen Freizeit. Wie wir alle, so hinterlassen sie dabei aufschlussreiche Spuren, für die sich gewisse Unternehmen brennend interessieren. Auch solche Daten sammeln und speichern sie – und verkaufen sie meistbietend weiter. Davon leben sie, allen offiziellen Beteuerungen zum Trotz; ihr Geschäftsmodell beruht darauf. Ob eingetippte Anfragen in Suchmaschinen oder Bestellungen in Online-Warenhäusern, Aufrufe bestimmter Websites, das Liken gewisser Posts, das Folgen bestimmter Links, Eingaben in Chatrooms und Foren, das Downloaden von Dokumenten, Bildern und Filmen: In Hülle und Fülle liefert all dies den Stoff, aus dem sich beklemmend präzise Persönlichkeitsprofile erstellen lassen. Dem professionell vorbereiteten Rep des 21. Jahrhunderts liegen sie selbstverständlich vor. Weitere Daten liefern manche Ärzte unentwegt online, oft freiwillig, manchmal auch unwissend. Praxissoftware, die sie sich von Pharmafirmen schenken lassen, leitet über eine installierte Schnittstelle Verschreibungsdaten zu Analysezentren (13); von dort geraten sie auf die Monitore der auftraggebenden Konzerne, schließlich erscheinen sie auf den Laptops der Vertreter. Die sind folglich bestens vorbereitet: Im voraus wissen sie, wo anzusetzen ist. Auch kommt es vor, dass dem Arzt die Dienste eines „Sachverständigen für ärztliche Abrechnung“ ans Herz gelegt werden. Das Angebot: Der Arzt kopiert seine sämtlichen Patientendaten auf einen Stick, den der Pharmareferent an einen Firmenmitarbeiter weiterleitet; dieser erteilt dem Arzt daraufhin unentgeltlich Tipps, wie sich Abrechnungskosten senken lassen. Eine Kontrolle, was letztlich mit den Daten geschieht, gibt es nicht. Recherchen des Spiegel förderten 2012 diese krasse Verletzung des Arztgeheimnisses zutage. (14) Am Horizont: der RoboDoc als industriegesteuerter Vollzugshelfer Es gehört wenig Phantasie zur Prognose, dass in Kürze Daten auch in Gegenrichtung fließen – von Iqvia-Rechnern auf Praxis- und Klinikcomputer. Es wird so kommen, weil die Medizin dabei ist, ins Zeitalter der Digitalisierung einzutreten. Während es über die Arbeitswelt hereinbricht, entmündigt es den praktizierenden Arzt, der empathische Heilkünstler endet als industriegesteuerter Vollzugshelfer, den die KI eines RoboDoc irgendwann überflüssig machen könnte. Denn einerseits soll der Arzt möglichst „evidenzbasiert“ handeln – andererseits besteht diese „Evidenz“ aus einer stetig anschwellenden Informationsmenge, die auch das brillanteste menschliche Hirn überfordert; jährlich kommen weltweit 9000 klinische Studien hinzu. Um Big Data auszuwerten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, bieten sich Dienstleister wie Iqvia an, dazu beauftragt von übermächtigen Industrien, welche Big Business wittern. In die Zukunft sehen hilft der Wirtschaftsingenieur Frank Wartenberg, Iqvias Deutschland-Repräsentant und Vorsitzender einer „Bundesfachkommission Digital Health“, die „eine zukunftsfähige E-Health-Strategie für Deutschland entwickeln“ und „konkreten Nutzen für Big Data schaffen“ will. (15) Die Behandlungspläne des Arztes „werden stärker überprüfbar“, freut sich Wartenberg. „Denn je besser die Dokumentation über Therapieansätze und Behandlungen ist, desto besser lässt sich nachvollziehen, ob die richtigen Entscheidungen getroffen wurden.“ Dies mache Ärzten „verständlicherweise auch Angst“, räumt Wartenberg ein. „Die andere Seite ist die Vielfalt der Therapien. 300.000 Therapiealternativen hat heute ein Arzt für einen Krebspatienten. Vor 50 Jahren hat man noch „Erkrankungen des Blutes“ gesagt, heute unterscheidet man 200 verschiedene Blutkrebsarten. Die Vielfalt nimmt gigantisch zu, ebenso wie die Erkenntnisse und die Therapiealternativen. Das alles zu überblicken wird für Ärzte immer schwieriger, und dann die richtige Entscheidung zu treffen, ist nicht einfach. Dafür wird es Systeme geben, die Ärzten helfen können. Wenn der Patient z.B. bestimmte Eigenschaften hat, wenn man die Behandlungshistorie anschaut, dann kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit abschätzen, ob eine bestimmte Therapie besser anschlägt als eine andere. (…) Die Ärzte werden sich auf Systeme verlassen müssen, die von anderen entwickelt und teilweise mit Inhalten gefüttert werden.“ (16) Demnächst braucht ein Arzt bloß noch die ICD-verschlüsselte Diagnose eines Patienten sowie ein paar weitere personbezogene Daten einzugeben – Sekundenbruchteile später liefern ihm Algorithmen einen perfekt leitlinienkonformen, dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechenden Therapievorschlag. Da die „Evidenzen“ großteils aus pharmagesponserten Forschungsergebnissen bestehen, ist mühelos zu erahnen, wie der Vorschlag aussehen wird. Vom Rep verschont: die „Forget-it-Praxis“ Schon heute verschaffen Datenpools wie „OneKey“ und „Scriptrac“ Pharmafirmen und ihren Abgesandten ein beklemmend genaues Bild jedes einzelnen erfassten Arztes. Der Medizinjournalist Hans Weiss fand darin Einträge wie (17) - „Eine Forget-it-Praxis, klein, wenig innovativ, ohne ausgeprägte Praxisstärken, mit mittlerer bis niedriger Punktzahl, bevorzugt Generika.“ - „Allrounder, große, innovative Praxis, kein Interesse an Naturheilkunde, schwach bei Demenz und Gastro.“ - „Exzentriker, (…) verspricht viel, (…) probiert alles aus, Typ ‘Schmetterling‘, führt häufig Anwendungsbeobachtungen durch, reagiert mit überdurchschnittlichem Verordnungszuwachs.“ - „Vorsichtiger Introvertierter, (…) vermeidet Risiken, baut auf Gewohntes, wenig kommunikativ, (…) eher Nachzügler.“ Derart aufschlussreiche Konterfeis sollen „die Kommunikation zwischen Arzt und Hersteller bedarfsgerecht optimieren“, um „das Maximum an Wachstum herauszuholen“. Es eröffnet sich eine „neue Dimension, Arztprofile zu definieren und das Verordnungspotenzial auszuschöpfen“. (18) Auf fünf Schubladen verteilt auch ein Topmanager von Eli Lilly die Ärzteschaft, je nach ihrem Verschreibungspotential, aber auch nach ihren charakterlichen Qualitäten. Seine Marketingpläne schneidet er auf zwei davon zu: „Überflieger“ (High Flyer) halten sich nicht an Regeln, probieren gerne neue Arzneien aus. „Sie neigen dazu, sehr aggressiv zu behandeln, mit sehr hohen Dosen und auch bei Anwendungsgebieten, die von der Behörde nicht zugelassen sind.“ „Konformisten“ (Rule Bound) hängen ihre Fähnchen nach dem Wind, und „meist verhalten sie sich sehr loyal gegenüber einer Marke“. (19) „Fortbildungen“ zwischen Strand, Bordell und Casino Vor allem gesellige Anlässe öffnen erfahrungsgemäß auch bei Halbgöttern in Weiß Ohren, Herz und Hirn. Industriegesponserte Reisen „schaffen gemeinsame Erinnerungen“, erklärt der frühere Geschäftsführer eines Pharmakonzerns den bestens bewährten Hintergedanken. „Auf Reisen kommt man Menschen näher, zu denen einem der Zugang sonst vielleicht verschlossen bleibt. Reisen schaffen Freiräume, man bewegt sich außerhalb des gewohnten Rahmens lockerer, und man entdeckt vernachlässigte Seiten seiner Persönlichkeit. Kurzum: Reisen können enthemmend wirken. Besonders wenn man ohne die bessere Hälfte reist.“ Offiziell heißen solche Ausflüge, die für eingeladene Ärzte komplett kostenlos sind, natürlich „Fortbildung“, und selbstverständlich gibt es auch eine offizielle Agenda. „Aber glauben Sie, wir fliegen die sonnenentwöhnten Ärzte um den halben Globus, um sie zwei Wochen lang in einem Seminarraum einzusperren, in dem es wieder nur Neonlicht gibt (...) und Tabellen mit endlosen Zahlenkolonnen an die Wand geworfen werden? (...) Nein, die Herren sollen ihren Spaß haben, und sie bekommen ihn. Der Strand ist nicht weit, Bordell und Spielcasino auch nicht. Wir sorgen dafür, dass es ein herrliches Erlebnis wird. Und es funktioniert - die eingeladenen Ärzte erinnern sich gern an uns und haben immer ein offenes Ohr, wenn unsere Vertreter bei ihnen klingeln. Sie setzen unsere Produkte bei ihren Patienten ab.“ (20) Auch ein kulturelles Highlight wie etwa ein Musikfestival zieht - „von da an haben unsere Vertreter leichtes Spiel“. Sie bringen entstandene Schnappschüsse vorbei, die man gemeinsam betrachtet. Man schwärmt nochmals vom tollen Abend, „man tauscht kleine Anekdoten aus, man versteht sich prächtig - unsere Produkte abzusetzen ist jetzt überhaupt kein Problem mehr. Ganz ohne jeglichen Austausch sachlicher Informationen.“ (21) Karnevalesk: „Beratender Ausschuss“ aus 19.000 Ärzten Auch niedergelassene Ärzte – insbesondere, wenn sie in der Fachwelt durch fleißiges Publizieren, Rednertalent, hohe Verschreibungszahlen und einen besonders guten Ruf unter Kollegen aufgefallen sind – kommen vielfach in den Genuss jener Wohltaten, mit denen die medizinische Elite bedacht und eingewickelt wird: sei es als „Autoren“ und „Sprecher“, sei es als „Berater“. Wer meint, das könnten nur ein paar wenige sein, unterschätzt den Branchenbedarf an freien Mitarbeitern gewaltig: Der „beratende Ausschuss“ der Firma Forest etwa umfasste 2009 sage und schreibe 19.000 Mitglieder. (22) Wie eine australische Umfrage ergab, gehörte jeder vierte Facharzt binnen eines Jahres dem Beratungsgremium mindestens einer Pharmafirma an. (23) Prima pflegt bei der Ärzteschaft auch die Offerte anzukommen, einen Vortrag zu organisieren: sei es fürs breite Publikum, sei es vor Fachkollegen. Das schmeichelt dem Arzt: Immerhin wird ihm zugetraut, seine medizinische Kompetenz, seinen gesammelten Erfahrungsschatz, sein rhetorisches Geschick öffentlich unter Beweis zu stellen. Und es nützt ihm, weil es seinen Bekanntheitsgrad erhöht, neue Kundschaft aufmerksam macht. Obendrein bleibt ihm jegliche Mühsal erspart: Um die Durchführung kümmert sich der Pharmavertreter. Für Big Pharma findet dabei ein aufschlussreiches Schaulaufen statt: Wie sicher tritt der Arzt auf? Wie gut kommt er bei seinen Zuhörern an? Wie souverän geht er mit kritischen Fragen um? Bewährt er sich als Referent in kleinerem Kreis, bei einer lokalen Veranstaltung, so hat er sich für höhere Aufgaben qualifiziert. Er verdient sich Einladungen, bei Kongressen oder im Rahmen der ärztlichen Fortbildung aufzutreten, als offizieller „Speaker“, wenn nicht gar als „Keynote Speaker“. Gegen stattliches Honorar, versteht sich. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 Das Branchenmagazin Pharmaceutical Enquirer definiert diese Kennzahl als „eine Funktion der Gelegenheit zu verschreiben sowie der Einstellung dazu, plus äußere Einflüsse. Ärzteprofile, welche diese vielfältigen Dimensionen einbeziehen, ermöglichen es, das ‘Warum‘ hinter dem ‚‘Was‘ und ‚‘Wie‘ ärztlichen Verhaltens zu analysieren.“ C. Nickum/T. Kelly: „Missing the mark(et)“, Pharmaceutical Executive, 1.9.2005, www.pharmexec.com/pharmexec/article/articleDetail.jsp?id=177968, abgerufen am 30.5.2019. 2 https://en.wikipedia.org/wiki/IQVIA, abgerufen am 10.2.2023. 3 Siehe www.iqvia.com, www.thehealthcareprof.com, www.imshealth.com. 4 Zur Kritik an IMS Healths Datensammeln siehe DiePresse.com, 26.8.2013: „Patientendaten: Korruptionsstaatsanwalt ermittelt“; DiePresse.com, 22.8.2013: „Was Ärzte für 432 Euro verkaufen“; Kurier.at, 22.8.2013: „Ärztekammer will Datenhandel verbieten“. 5 Nach Wikipedia.com und Wikipedia.de, Einträge „IMS Health“, abgerufen am 29.12.2016. 6 Zit. Adam Tanner: "Company that Knows What Drugs Everyone Takes Going Public", Forbes 6.1.2014, www.forbes.com/sites/adamtanner/2014/01/06/company-that-knows-what-drugs-everyone-takes-going-public, abgerufen am 29.12.2016. 7 Siehe Hans Weiss: Korrupte Medizin - Ärzte als Komplizen der Konzerne (2008), S. 27 ff. 8 R. Steinbrook: „For sale: Physicians' prescribing data“, New England Journal of Medicine 354/2006, S. 2745–2747. 9 P. C. Remus: „First-in-the-nation law pits NH against drug industry“, New Hampshire Business Review, 10.11.2006. 10 https://assets.ama-assn.org/resources/doc/dbl-public/x-pub/pdrp_brochure.pdf, abgerufen am 29.5.2019. 11 https://apps.ama-assn.org/PDRP/, abgerufen am 29.5.2019. 12 Nach R. Steinbrook, aa.a.O. 13 Der Standard, 29.8.2013: „Softwarefirma installierte bei Ärzten Schnittstelle zu Marktforscher“, abgerufen am 17.5.2019. 14 Tagesanzeiger.ch, 26.3.2012: „Krasse Verletzung des Arztgeheimnisses“. 15 www.wirtschaftsrat.de/wirtschaftsrat.nsf/id/bundesfachkommission-digital-health-de, abgerufen am 17.5.2019. 16 Im Interview mit Health Relations, 11.10.2018: „Digitale Trends in Healthcare: Dr. Frank Wartenberg von IQVIA“, www.healthrelations.de/dr-frank-wartenberg-iqvia/, abgerufen am 17.5.2019. 17 Zit. nach Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 30. 18 zit. nach Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 28-30. 19 Zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin, a.a.O., S. 130 ff. 20 John Virapen: Nebenwirkung Tod. Scheinwissenschaftlichkeit, Korruption, Bestechung, Manipulation und Schwindel in der Pharma-Welt (2012), S. 90 f. 21 Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O., S. 92 f. 22 J. Edwards: „Suit vs. Forest Labs names execs linked to alleged lies about Lexapro, Celexa“, CBS News, Moneywatch 26.2.2009. 23 D. Henry/E. Doran/I. Kerridge u.a.: „Ties that bind: multiple relationships between clinical researchers and the pharmaceutical industry“, Archives of Internal Medicine 165/2005, S. 2493-2496. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch

    Wie gelingt es Arzneimittelherstellern, praktizierende Ärzte einzuwickeln? Geben sie sich besonders viel Mühe mit überzeugend argumentierenden Briefen? Setzen sie auf E-Mail-Werbung, die ins Auge fällt? Verschicken sie brillant gestaltete Hochglanzbroschüren? Nichts dergleichen. Wie viele Ärzte nähmen sich schon Zeit für eine solche Lektüre, zumal wenn sie unverlangt eintrifft, von einem Absender, mit dem bisher wenig bis gar kein Kontakt besteht, schon gar kein persönlicher? Nein, die Pillenbranche kennt weitaus wirkungsvollere Werkzeuge, die strategisch ausgeklügelt ineinandergreifen. Sie unterwandert die ärztliche Aus- und Fortbildung. Sie macht sich Meinungsführer geneigt. Sie ködert Fachgesellschaften. Sie kauft Verlage und Redaktionen einschlägiger Medien. Und sie setzt auf Marketing vor Ort - auf leibhaftige Begegnungen, Auge in Auge. Dazu dirigiert sie eine Armee von Pharmareferenten. Rund 20.000 sind deutschlandweit im Außendienst unterwegs (1), vornehmlich in Arztpraxen und Kliniken, aber auch in Apotheken, bei Heimbetreibern, Krankenkassen, Verbänden. In den Vereinigten Staaten stieg ihre Zahl allein zwischen 1995 und 2005 von 38.000 auf 100.000 (2) – somit käme dort einer auf sechs Ärzte. Rechnet man nichtpraktizierende Ärzte und „Geringverschreiber“ (low prescribers) heraus, welche von Pharmagesandten ökonomischerweise links liegengelassen werden, so läge das Verhältnis sogar bei 1 zu 2,5. Das deutet auf intensivste Betreuung hin, in welcher Form auch immer. Solches Vor-Ort-Marketing verläuft offenkundig zur größten Zufriedenheit der Auftraggeber - warum sonst findet es statt, wieso wird es fürstlich entlohnt? In Deutschland verdienen Pharmavertreter als Anfänger im Schnitt 35.000 Euro, Profis 60.000 Euro, Topleute 110.000 Euro, zuzüglich Prämien und Firmenwagen. (3) In den USA lag das Durchschnittseinkommen eines „Rep“ – so heißt der sales representative, der Handelsvertreter, branchenintern – schon in den Nullerjahren bei 81.700 Dollar pro Jahr; dabei addiert sich zur Grundvergütung von 62.400 Dollar ein erfolgsabhängiger Bonus von 19.300 Dollar. Um so jemanden anzuwerben, zu trainieren, im Einsatz zu beaufsichtigen und seine Rückmeldungen auszuwerten, wenden Pharmafirmen im Schnitt weitere 89.000 Dollar auf. Somit fallen pro Rep Gesamtkosten von rund 170.000 Dollar pro Jahr an; bei specialty reps, Vertreter für „besondere Aufgaben“, sind es sogar 330.000 Dollar. (4) Bis zu 35.000 Euro – pro Arzt Und das bedeutet unterm Strich? 416.000 Ärzte praktizierten Ende 2021 in Deutschland; davon arbeitet mehr als die Hälfte im Krankenhaus, 114.000 sind niedergelassen. (Weitere 130.000 sind nicht berufstätig.) (5) Selbst wenn Reps nur einen kleineren Teil davon bearbeiten würden, sorgen ihre Bemühungen für gewaltige Ausgaben. Von US-Zahlen ausgehend, würde allein schon eine deutsche Bodentruppe von 20.000 Pharmareferenten ein Jahresbudget von drei Milliarden Euro erfordern – das wären aber bloß die Personalkosten. Hinzu kämen weitere Milliarden für vielerlei Hilfsmittel des Umgarnens, von denen gleich noch die Rede sein wird. Alles in allem wenden Pharmakonzerne für Vor-Ort-Marketing jährlich zwischen 8.000 und 35.000 Euro auf - pro niedergelassenem Arzt wohlgemerkt. (6) Egal wieviel: Die Branche kann´s verschmerzen. Für jegliches Minus beim Klinkenputzen und Schmieren kommt letztendlich eh die Gemeinschaft der Krankenversicherten auf - über erhöhte Medikamentenpreise und Kassenbeiträge. Doch es gibt kein Minus. Für jeden Euro, den Pharmafirmen ins Vor-Ort-Marketing stecken, fließen vielmehr 1,96 Euro zu ihnen zurück. (7) Aber wie könnte sich ein solches Investment jemals rentieren? Welchen Dreh haben Pharmareferenten raus, wie gelangen sie zum Ziel? Der Pharmareferent als Überzeugungskünstler Verbreitete Klischees hierüber sind lächerlich. Weder trägt ein Pharmareferent einen Koffer voll Bargeld bei sich, noch appelliert eine weibliche Industrievertreterin bei männlichen Praxisbetreibern mit kurzem Röckchen und schwülem Parfum, den slipfreien Po auf dem Schreibtisch, an niedere Instinkte. Aber worin sonst besteht ihr Erfolgsgeheimnis? Wie uns Wikipedia weismacht, bestehe die Aufgabe von Pharmareferenten darin, zu „informieren und beraten“, und zwar „fachlich, kritisch und vollständig“ – über „neueste Forschungsergebnisse, Produktentwicklung, neue Therapie- und Versorgungsansätze“. (8) Erfüllen sie diese Funktion als Wissensquelle und Mentor einfach in hervorragender Weise, weshalb Ärzte ihren Besuch außerordentlich schätzen? Fachlich recht gut mithalten können die meisten Pharmagesandten mittlerweile durchaus. Vorbei sind die Zeiten pfiffiger Quereinsteiger, die ihre Eignung schon hinlänglich unter Beweis stellten, indem sie zuvor reihenweise Luxuskarossen, überflüssige Versicherungen und windige Kapitalanlagen verkauft hatten. Der Pharmareferent von heute darf vor dem Arzt keinesfalls als blutiger Laie dastehen, im Fachgespräch soll er eine einigermaßen gute Figur machen. Das erfordert recht umfangreiche medizinische und pharmazeutische Kenntnisse. Um sie sich anzueignen, durchläuft ein Rep inzwischen eine Ausbildung mit mindestens 1000 Unterrichtsstunden, die er mit einer Prüfung bei der örtlichen Industrie- und Handelskammer abschließt; Einzelheiten regelt seit 2007 bundeseinheitlich die „Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Abschluss Geprüfte/r Pharmareferent/in“ (PharmRefPrV). (9) Eine Bildungsstufe höher angesiedelt ist neuerdings der „Pharmaberater“; er benötigt hochspezialisiertes Fachwissen, wie auch juristische Kenntnisse. Immer öfter handelt es sich dabei um Naturwissenschaftler und Mediziner, auch mit Promotion. Nach dem Arzneimittelgesetz (§ 75, Abs. 1 bis 3) muss ein Pharmaberater ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Pharmazie, der Chemie, der Biologie, der Humanmedizin oder der Veterinärmedizin vorweisen können, zumindest aber eine Ausbildung zum technischen Assistenten der Pharmazie (PTA), der Chemie (CTA), der Biologie (BTA), der Human- (MTA) oder Veterinärmedizin (VTA). (10) Verschreibungsgewohnheiten ändern: allein darum geht es Aber wozu setzt ein Pharmareferent sein beachtliches Expertenwissen ein? Um „zu informieren“ und „aufzuklären“, sachlich und neutral? Seine eigentliche Aufgabe bringt ein ehemaliger Rep des Pharmariesen Lilly, Shahram Ahari, unverblümt auf den Punkt: „Ändere die Verschreibungsgewohnheiten des Arztes!“ – ausschließlich darum geht es. (11) Bringe ihn dazu, anstelle des alten billigen Präparats das teure neue zu verordnen; ein Original statt eines Generikums; ein Medikament des Herstellers XY, nicht dasjenige einer Konkurrenzfirma; bei mehr Patienten, bei mehr Krankheitsbildern als bisher, möglichst frühzeitig, möglichst häufig, möglichst lange. Auf diese Ziele hin sind die Firmenvertreter darauf aus, eine persönliche, möglichst enge und langfristige Beziehung zum Arzt aufzubauen, seine Verschreibungsgewohnheiten, persönlichen Einstellungen, Ansichten und Vorlieben auszukundschaften, ihm ein bequemes Zusatzsalär für Gegenleistungen zu verschaffen, ihm umsatzförderliche „wissenschaftliche Evidenzen“ näherzubringen, ihm Bedenken wegen Nebenwirkungen auszureden, Konkurrenzprodukte und chemiefreie Alternativen madig zu machen. Ihm soll bewusst werden, wie „altmodisch“ seine Verordnungen sind, solange er ein bewährtes Medikament der wie immer bahnbrechenden Neuheit vorzieht, statt teuren Originalen lieber billigere Generika rezipiert. „Eine typische Gefahr der Vertretergespräche“ sieht das Arznei-Telegramm, ein Infodienst für Ärzte und Apotheker, in der „Strategie der Desinformation. Die bisherige Therapie des Arztes wird als veraltet dargestellt und der Arzt durch den Verweis auf den ‘Experten’ XYZ in seinen therapeutischen Entscheidungen verunsichert, um eine Bresche für die Verbreitung eines neuen Präparats, meist einer Scheininnovation, zu schlagen.“ (12) Je mehr Verschreibungen der Pharmareferent letztlich anstößt, desto üppiger fällt seine Provision aus (13) - ein mächtiges Motiv, beharrlich subtilen Dauerdruck auszuüben, an medizinischen Fakten und Notwendigkeiten vorbei. Verlogene Freundschaft Und wie kriegt man das hin? „Warum”, rätselt das Arznei-Telegramm, “erlauben 80 bis 95 Prozent der (besuchten) Ärzte - trotz Arbeitsbelastung und Kostendruck -, dass Pharmareferenten ihnen ihre Zeit mit fachlich und inhaltlich fragwürdiger Produktpromotion stehlen?“ (14) Dazu setzt der Pharmareferent eine breite Palette bewährter Maßnahmen ein. Welche er bevorzugt, in welcher Dosierung und Kombination, hängt davon ab, mit welchem Typ von Arzt er zu tun bekommt und wie sich die Beziehung zu ihm entwickelt. Bei jedem Praxisbesuch lautet das A und O: „Schließe Freundschaft!“ Oberstes Ziel ist es, das Vertrauen des Arztes zu gewinnen. Gelingt das, hat man auch schon seine Patienten in der Tasche. Denn „deren Vertrauen in den Arzt als Menschen erstreckt sich automatisch auch auf das Vertrauen in die Medikamente, die er ihnen verschreibt. Auf eben diesen Vertrauenstransfer zielen die Bemühungen der Pharmaindustrie“, erläutert ein ehemaliger Manager mehrerer Branchenriesen. (15) Zu diesem Zweck wird der besuchte Arzt regelrecht überschüttet mit Nettigkeiten, Aufmerksamkeit, Zeichen aufrichtigen Interesses an der ganzen Person hinter dem Weißkittel. „All meinem Tun gebe ich den Anschein von Freundschaft“, so plaudert ein ehemaliger Lilly-Rep aus dem Nähkästchen. „Wenn ich dem Arzt ein Präsent überreiche, dann nicht, weil das mein Job ist, sondern weil ich ihn ganz arg mag. Ich bringe ihm ein Bürolunch mit, weil für mich ein Termin bei ihm eine angenehme Abwechslung zu dem darstellt, was ich bei anderen Docs erlebe. (…) Während meiner Ausbildung ist mir eingetrichtert worden: Beim gemeinsamen Dinner isst der Arzt mit einem Freund. Du isst mit einem Kunden.“ (16) Auch bei Arzthelferinnen und Sekretärinnen, wichtigen Türöffnern zu ihrem Chef, pflegen tadellose Manieren, beste Laune und antrainierter Charme der stets gutgekleideten, überaus wortgewandten Pharmagesandten in der Regel recht gut anzukommen. Der Pfizer-Vertreter Jamie Randall im US-Spielfilm „Love and other Drugs“ (2010), ein unwerfender Womanizer, repräsentiert den Berufsstand insofern durchaus würdig. Nichts lässt ein guter Freund unbeachtet, an allem und jeglichem nimmt er Anteil. „Wir werden darauf trainiert“, so enthüllt der Ex-Pharmareferent, „die Persönlichkeit des Arztes einzuschätzen, die Art seiner Praxisführung und seine Vorlieben – und diese Informationen an das Unternehmen weiterzumelden. Dabei kann Persönliches bedeutsamer sein als Verschreibungspräferenzen. Reps erkundigen sich nach Details aus dem Familienleben des Arztes und behalten sie in Erinnerung. Sie fragen nach seinen beruflichen Interessen und seiner Freizeitgestaltung. Ihr geschulter Blick sucht das Büro nach Gegenständen ab, die dazu dienen können, eine persönliche Verbindung zum Doc aufzubauen – ein Tennisschläger beispielsweise, russische Novellen, eine CD mit Rockmusik der Siebziger, ein Modemagazin, Urlaubserinnerungen, kulturelle oder religiöse Symbole. Ein Foto auf dem Schreibtisch eröffnet eine Gelegenheit, etwas über Angehörige herauszufinden, einschließlich ihrer Namen, Geburtstage und Eigenheiten. All dies pflegt der Rep gleich nach der Begegnung in eine Datenbank einzugeben.“ (17) Im Rahmen eines solch freundschaftlichen Verhältnisses genügt es in der Regel, Medikamente bloß beiläufig zu erwähnen. „Ärzte sind für Firmeneinflüsse empfänglich, weil sie überarbeitet sind, überfordert von der Informationsflut und Papierkram, und weil sie sich nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen. Indem zuvorkommende Reps gute Laune, Sympathie und Geschenke mitbringen, verschaffen sie dem Arzt eine Verschnaufpause. Sie würdigen, was für ein hartes Dasein er fristet, und scheinen bloß darauf aus, seine Last zu erleichtern. Jedoch ist jedes Wort, jede Gefälligkeit, jede Gabe sorgfältig geplant – nicht um Ärzten und Patienten weiterzuhelfen, sondern allein um den Marktanteil gewisser Medikamente zu erhöhen.“ Rückblickend kann der reumütige Rep Ärzten nur dringend raten, sich „Freunde ausschließlich unter Leuten zu suchen, die nicht dafür bezahlt werden, Freunde zu sein“. (18) Wahrhaftigkeit: kaum zweckmäßig Überhaupt ist Wahrhaftigkeit beim Vor-Ort-Marketing nicht unbedingt zielführend. In dem Werbematerial, das der Pharmareferent überreicht – von der Produktbroschüre bis zum Sonderdruck eines Testberichts -, sind 90 Prozent aller Aussagen medizinisch irrelevant, nicht belegt, einseitig oder falsch, wie eine Untersuchung des Kölner Instituts für evidenzbasierte Medizin (DIeM) ergab. Nur acht Prozent aller medizinisch-pharmakologischen Angaben werden belegt und stimmen mit der genannten Quelle überein. (19) Trotzdem bezeichnen mehr als 80 Prozent der Besuchten den Pharmaberater bzw. –referenten als „wichtigste Informationsquelle ihrer therapeutischen Tätigkeit und Verordnungen“. (20) Als hilfreich erweisen sich Geschenke aller Art. Im Koffer führen Pharmaberater allerlei feine Präsente mit: von edlen Kugelschreibern und Taschenrechnern über Arzneimittelmuster, Prospekte und Nachdrucke vielversprechender Forschungsberichte bis hin zu Einladungen zu pharmafinanzierten Veranstaltungen mit exquisitem Freizeitprogramm. Gegenleistungsabhän- gig wird schon mal hochwertige Elektronik spendiert, wie ein niedergelassener Arzt vom Besuch einer Pharmareferentin der Firma Aventis Pasteur MSD berichtet: „Um den Umsatz eines neuen Pneumokokken-Impfstoffs anzukurbeln, eröffnete sie mir die Möglichkeit, bei Abnahme einer größeren Menge würde ich ein Handy gratis erhalten.“ (21) Auch mit kostenlosen Installations-CDs für hochwertige Praxissoftware können die Besucher aufwarten: Kaum hat der Arzt die Symptome eines Patienten eingegeben, schon blinkt auf dem Monitor das „passende“ Medikament derjenigen Firma auf, von der das Softwaregeschenk stammt. Bis zum ausgedruckten Rezept übernimmt das Programm sämtliche Arbeitsschritte. (22) Zu den beliebtesten Geschenken, die Praxistüren besonders zuverlässig öffnen, zählen „Muster“: Arzneimittel, die in geringen Mengen abgegeben werden. Dabei handelt es sich stets um neue, besonders teure Präparate. Ein kleiner Vorrat davon soll den Arzt in Versuchung bringen, auf die „Innovation“ umzusteigen, und daran gewöhnen, sie zu verschreiben. Und oftmals geht er gerne darauf ein. Griffbereite Muster eignen sich dazu, eine Therapie unverzüglich zu beginnen. Auch Patienten erfreut ein solches Präsent. Studien zufolge wechseln die meisten von ihnen zum neuen Präparat, falls sie zunächst Muster davon erhalten haben. (23) “Wir konzentrieren uns auf die Top-Verschreiber” Bekommen denn alle niedergelassenen Ärzte derartigen Besuch? So vielen Doctores unentwegt auf die Pelle zu rücken, sei rausgeschmissenes Geld, erklärt ein Verkaufsmanager von Bayer. Letztlich „konzentrieren wir uns auf die 25 Prozent, die wir beeinflussen können“ – die Top-Verschreiber. Mit denen „machen wir unser Geld. Alle anderen lassen wir links liegen.“ (24) (Harald Wiesendanger) Anmerkungen Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. 1 Nach Audimax: „Pharmaberater: Ein Beruf mit Zukunft“, www.audimax.de/ingenieur/branchen/medizin-pharma-chemie/pharmaberater-ein-beruf-mit-zukunft/, abgerufen am 29.5.2019. 2 M. Goldberg u.a.: „PE's annual sales and marketing employment survey: The big squeeze“, Pharmaceutical Executive 24/2004, S. 40–45 3 Nach https://hitec-consult.de/de/firmenhistorie-hitec, abgerufen am 29.5.2019. 4 „Hard sell: As expanding the sales force becomes a less attractive option, pharmaceutical companies are reevaluating their sales strategies“, Med Ad News 23/2004, S. 1. 5 „Nachgezählt“, Der Spiegel Nr. 21, 21. Mai 2022, S. 19; nach Angaben der Bundesärztekammer, www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-2021 6 www.kvpm.de/fakten/fakten zur psychiatrie, abgerufen am 22.10.2016; John Virapen: Nebenwirkung Tod, 7. Aufl. 2015, S. 49; Magnus Heier: „Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 48, 3.12.2006, www.faz.net/aktuell/wissen/medizin- ernaehrung/finanzierung-von-selbsthilfegruppen-wer-soll-das-bezahlen-wer-hat-so-viel-geld-1381620.html? printPagedArticle=true#pageIndex_2, abgerufen am 25.11.2016. 7 „Can I buy you a dinner? Pharmaceutical companies increasingly use doctors´ talks as sales pitches“, August 2004; www.worstpills.org. 8 Siehe die Wikipedia-Einträge „Pharmareferent“ und „Pharmaberater“; jeweils abgerufen am 22.5.2019. 9 Siehe www.bmbf.de/upload_filestore/upload/fvo_pdf/17_11_30_Pharmareferent.pdf, abgerufen am 29.5.2019. 10 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) – Vierzehnter Abschnitt – Informationsbeauftragter, Pharmaberater – § 75 und § 76, siehe www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/BJNR024480976.html#BJNR024480976BJNG001406310. 11 Adriane Fugh-Berman/Shahram Ahari: „Following the Script: How Drug Reps Make Friends and Influence Doctors“, PLoS Medicine 4 (4) 2007, S. 623, https://doi.org/10.1371/journal.pmed.0040150 12 Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90: „Brauchen wir Pharmareferenten?“ 13 Nach Angaben der früheren Pharmareferentin Kathleen Slattery-Moschkau, zit. nach Jeanne Lenzer: „What Can We Learn from Medical Whistleblowers?“, PLoS Medicine 2 (7) 2005. 14 Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90: „Brauchen wir Pharmareferenten?“ 15 Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O., S. 58. 16 Fugh-Berman/Ahari, a.a.O., S. 621, 622. 17 Fugh-Berman/Ahari, a.a.O., S. 621. 18 Fugh-Berman/Ahari, a.a.O., S. 625. 19 T. Kaiser u.a.: „Sind die Aussagen medizinischer Werbeprospekte korrekt?“, arznei telegramm 35 (2) 2004, Sonderbeilage S. 21-23. 20 Nach Wikipedia: „Pharmareferent“, abgerufen am 29.5.2019. 21 Arznei-Telegramm 32/2001, S. 54: „Immer wieder Bestechungsversuche“ 22 Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O., S. 50-52. 23 L. D. Chew u.a.: „A physician survey of the effect of drug sample availability on physicians' behavior“, Journal of General Internal Medicine 15/2000, S. 478–483; K. E. M. Groves u.a.: „Prescription drug samples—Does this marketing strategy counteract policies for quality use of medicines?“, Journal of Clinical Pharmacy and Therapeutics 28/2003, S. 259–271; R. F. Adair u.a.: „Do drug samples influence resident prescribing behavior? A randomized controlled trial“, American Journal of Medicine 118/2005, S. 881–884. 24 zit. nach Hans Weiss: Korrupte Medizin (2008), S. 34. Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben

  • Dressierte Halbgötter - Wie Ärzte zu Drogendealern werden

    Soweit der Arzt entscheidet, welche Medikamente ein Patient bekommt, sind Pharmahersteller auf seine Kooperation angewiesen. Wie lassen sich Verschreibungsgewohnheiten industriefreundlich ändern? Die Rezeptpflicht haben bekanntlich ultralinke Saboteure freier Marktwirtschaft ausgeheckt. Sie bezweckt, dem mündigen Bürger von oben herab gewisse Waren vorzuenthalten, es sei denn, er liefert sich der Willkür eines Weißkittels aus, der ihm nach eigenem Gutdünken einen Berechtigungsschein ausstellen, aber auch verweigern kann. Diese autoritäre Verschreibungspraxis hemmt den Absatz von Produktneuheiten auf vielerlei Weise, die für Hersteller und ihre Aktionäre überaus ärgerlich sind. Allzu vielen Ärzten kommen die grundsätzlich bahnbrechenden, stets evidenzbasierten Innovationen auf dem Arzneimittelmarkt nicht umgehend zu Ohren. Oder sie ziehen ihnen, grundlos risikoscheu, schon eingeführte, meist preiswertere Medikamente vor, mit weitgehend bekannten Wirkungen und Nebenwirkungen. Oder, schlimmer noch: Sie verordnen zu wenig, zu spät oder erst mal gar nix, plädieren fürs Abwarten, raten zu bewährten Hausmitteln, womöglich im Irrglauben, Pharmaprodukte seien manchmal höchstens die zweitbeste Lösung. Solche auf den Rezeptblock bezogene Schreibblockaden zu beseitigen, ist kein Kinderspiel. Schließlich zählen Ärzte zu den hellsten Köpfen im Land – hochgebildet, geistreich, kritisch. Durchschaut so jemand nicht mühelos jedes Manöver, ihn für schnöde Geschäftszwecke einzuspannen? Im übrigen verdienen Ärzte bekanntlich prächtig, so dass sie es gar nicht nötig haben, sich bestechen zu lassen, nicht wahr? Außerdem lässt ihnen der übliche Arbeitsalltag, in dem Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage die Regel sind, ja überhaupt keine Zeit, in Situationen zu geraten, in denen sie Zielscheibe von Korruptionsversuchen werden könnten. Hinzu kommt, dass strenges Standesrecht Vorteilsnahme ausschließt; sie würde unerbittlich sanktioniert, kein Arzt riskiert das. Wer sich mit diesen Beruhigungspillen zufriedengibt, benötigt schleunigst Nachhilfeunterricht in Pharma-Marketing. Diese Artikelserie bemüht sich darum: 1) Dressierte Halbgötter – Wie Ärzte zu Drogendealern werden 2) Besuch vom Rep - Verlogene Freundschaft nach Drehbuch 3) Der gläserne Doc 4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine 5) Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird 6) Wie geschmiert – Wenn Ärzte „Kick-back“ spielen 7) „Wie du mir, so ich dir“ - Reziprozität als Erfolgsgeheimnis 8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche 9) Nimmersatte Mietmäuler – Die unheimliche Macht gekaufter Meinungsführer 10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken 11) Zur Goldenen Nase – Warum „Key Opinion Leaders“ ausgesorgt haben Anmerkung Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“. (Harald Wiesendanger)

  • Albtraum Alzheimer: Rettet uns der Darm?

    Vor keiner Krankheit graut Menschen mehr als vor Alzheimer, der häufigsten Form der Demenz: einem schleichenden geistigen Verfall, an dessen trostlosem Ende nichts mehr davon übrig bleibt, was einen Körper zur Person macht. Die Neurodegeneration im Gehirn, die dazu führt, gilt als unheilbar. Doch jüngste Studien machen Hoffnung. Sie verdeutlichen die Schlüsselrolle des Darms: bei der Entstehung des Leidens, womöglich auch bei seiner Heilung. Betroffene ereilt demnach kein unabänderliches, vermeintlich „altersbedingtes“ Schicksal – sie büßen für jahrzehntelange Ernährungssünden und andere ungesunde Gewohnheiten. Den meisten von uns fällt jemand im Bekanntenkreis ein, der Krebs überlebte. Aber kennen wir irgendwen, der seine Alzheimer-Erkrankung überstand? Hans Jäger* zählte nicht dazu. Obwohl nur drei Häuser entfernt, hatte sich unsere Nachbarschaft jahrelang auf ein flüchtiges „Hallo!“ beschränkt, wenn wir einander ab und zu über den Weg liefen. Das änderte sich erst, als meine treulose Hauskatze beschloss, zu Herrn Jäger und seiner Frau umzuziehen, weil sie bei dem kinderlosen Ehepaar stets einen vollen Fressnapf vorfand. Mit meinem fruchtlosen Protestbesuch begannen regelmäßige Treffen, bei denen ich Herrn Jäger, Anfang Siebzig, als einen klugen, hochgebildeten Zeitgenossen kennenlernte. Seine Rente stockte er auf, indem er für einen größeren Verlag kunstvoll Haikus übersetzte, eine traditionelle japanische Gedichtform. Um so bestürzter war ich, als eines Tages in unserer Straße eine unfassbare Neuigkeit die Runde machte: Herr Jäger war mit seinem Auto ungebremst gegen einen Baum gerast. Absichtlich. Den offenkundigen Selbstmordversuch überlebte er nahezu unverletzt. Kurz zuvor hatte er die Diagnose Alzheimer erhalten. Der beginnende geistige Verfall hatte ihn in die Verzweiflung getrieben. Dass er fortschreitet, wollte der Unglückliche sich und seiner geliebten Frau ersparen. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, versuchte Jäger seinen Ersatzwagen in einen Fluss zu steuern. Die Leitplanke einer Brücke verhinderte es. Wochen später brachte ihn sein dritter Versuch schließlich ans Ziel: Spaziergänger fanden ihn erhängt im Wald. Vor keinem Leiden graut Menschen mehr Mehr als jede Statistik, jedes Lehrbuch führte mir diese Tragödie unvergesslich vor Augen, wie grauenvoll es sein muss, mit der Gewissheit leben zu müssen, von Morbus Alzheimer betroffen zu sein: der häufigsten Form der Demenz, mit rund zwei Drittel aller Fälle. Nicht einmal vor Krebs haben Menschen mehr Angst als davor, sich bei lebendigem Leib schleichend aufzulösen – nach und nach alles zu verlieren, was sie ausmacht: ihre Erinnerungen, ihr Denkvermögen, ihre Sprache und Motorik, ihre emotionalen und sozialen Fähigkeiten, ihre Wesensmerkmale, zuletzt ihr Bewusstsein, ihr Ich, ihre Identität. Von dem, was sie einst waren, bleibt im Endstadium bloß noch eine erbärmliche Hülle, deren Aussehen schmerzlich an ihr einstiges Selbst erinnert. Die Person, die diesen Zellhaufen beseelte, ist verschwunden, unwiederbringlich. Zurück bleibt ein desorientierter, inkontinenter Idiot, pflegebedürftig rund um die Uhr, ein Albtraum für Angehörige. In Deutschland leiden 1,7 Millionen Menschen unter Demenz, bis 2050 dürften es drei Millionen sein. Dem World Alzheimer Report (1) zufolge waren im Jahr 2019 weltweit 55 Millionen von Demenz betroffen; bis zur Jahrhundertmitte werden 139 Millionen prognostiziert. (2) Hundert Millionen Alzheimer-Kranke werden dazuzählen. Das Risiko steigt im höheren Alter exorbitant. Kaum mehr als 25.000 haben noch nicht das 65. Lebensjahr erreicht. Von den 65-jährigen sind zwei Prozent betroffen. Unter 70-jährigen sind es schon drei Prozent, bei den 75-jährigen sechs Prozent. Unter 85-jährigen zeigt schon jeder Fünfte Symptome der Krankheit, unter 90-jährigen jeder Dritte. (3) Ab dem Zeitpunkt, zu dem ein Arzt die Alzheimer-Demenz feststellt, verbleibt eine mittlere Lebenserwartung von 1,5 bis 8,5 Jahren. (4) In den USA stirbt bereits einer von drei Senioren an Alzheimer oder einer anderen Art von Demenz – mehr als durch Brust- und Prostatakrebs zusammen. Trotz eines gewaltigen Forschungsaufwands gilt Alzheimer weiterhin als unheilbar. Das war es, was Herr Jäger von seinen Ärzten gehört haben dürfte: Nix zu machen, finde dich damit ab. Bestenfalls lassen sich vereinzelte Symptome zeitweilig lindern, ein Fortschreiten ein wenig verlangsamen. Schulmediziner mögen Herrn Jäger Acetylcholinesterase- und nichtsteroidale Entzündungshemmer wie Ibuprofen verschrieben haben; Thiethylperazin und dessen Derivate; oder Memantin, ein NMDA-Rezeptor-Antagonist, der den Botenstoff Glutamat beeinflusst. Andere haben ihn vielleicht auf die Vorzüge von Denksport, Ergo- und Psychotherapie hingewiesen. Doch lässt sich die zugrundeliegende Neurodegeneration stoppen? Oder gar rückgängig machen? Offenbar fand mein Nachbar niemanden, der ihm da glaubhaft Hoffnung machen konnte. Ihm schien, als ereile ihn das Unheil so unausweichlich wie das Jüngste Gericht. Zu früh resigniert? Aber womöglich gab Hans Jäger zu früh auf. Wie viel wusste er wirklich – über seine Erkrankung, über Heilungschancen, über Möglichkeiten, sich selber zu helfen? Proteine sind die Bausteine unseres Körpers, einschließlich der 86 Milliarden Nervenzellen (5), die unser Gehirn bilden. Fehler in ihrer Struktur können zu Chaos führen. An Alzheimer hauptbeteiligt scheinen zwei Arten von abnormen Eiweißablagerungen im Gehirn. Die einen bilden sich im Interstitium, dem Zwischenraum zwischen Nervenzellen. Unter dem Mikroskop fallen sie als Flecken, französisch „Plaques“, deutlich ins Auge. Diese Ablagerungen setzen sich aus dem abnorm gefalteten Protein-Fragment Beta-Amyloid zusammen. Im gesunden Gehirn werden sie abgebaut. Bei Alzheimer hingegen verbleiben sie als harte, unauflösliche Strukturen. Hinzu kommen sonderbare Knäuel von Fibrillen: gedrehten Fasern, die sich aus Tau-Proteinen zusammensetzen. Dieses Eiweiß ist ein wichtiges Bauteil von Transportstrukturen innerhalb der Nervenzellen: den Mikrotubuli. Diese winzigen Röhrchen befördern unter anderem wichtige Nährstoffe. Wie Klammern stabilisieren Tau-Proteine deren Außenhülle. Bei Alzheimer lösen sie sich davon ab, binden an andere Tau-Moleküle und verklumpen mit ihnen zu fasrigen Bündeln. Sie treten aus dem Zellkörper aus und lagern sich an die Axone an, die Fortsätze der Nervenzelle, die elektrische Impulse weiterleiten. Beide fatalen Proteinansammlungen, die „senilen Plaques“ und die „Tau-Klumpen“, blockieren das Transportsystem der Nervenzellen und stören die Kommunikation zwischen ihnen. Nach und nach sterben sie ab. Kein gesundes Gehirn ohne gesunden Darm Wie kommt es dazu? Immer deutlicher wird, wie die Gesundheit unseres Gehirns mit dem Mikrobiom unseres Darms zusammenhängt. Jüngste Forschung legt nahe, dass die Darmbakterien die Gehirnfunktionen beeinflussen und sogar die Neurodegeneration fördern können. Diesen Zusammenhang ergründet seit Jahren ein Team von Wissenschaftlern aus der Schweiz und Italien. In ihre jüngste Studie bezogen sie 89 Personen im Alter zwischen 65 und 85 Jahren ein. (6) Ein Teil von ihnen litt an Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die übrigen waren geistig gesund und hatten keine Gedächtnisprobleme. Um Amyloid-Ablagerungen in ihren Gehirnen aufzuspüren, setzten die Forscher auf PET-Bildgebung. In Blutproben maßen sie Entzündungsmarker und Proteine, die von Darmbakterien produziert werden. Dabei ergab sich, dass große Amyloid-Plaques im Gehirn mit hohen Blutspiegeln von Lipopolysacchariden (LPS) verbunden waren. Bei LPS handelt es sich um Zellwände von toten Bakterien. Das Immunsystem behandelt sie aber als aktive Erreger und leitet Abwehrmaßnahmen gegen die vermeintlichen Eindringlinge ein. So fördern LPS Entzündungen. Auch in Amyloid-Plaques im Gehirn von Alzheimer-Patienten kommen sie vor. Darüber hinaus fielen in den Blutproben der Alzheimer-Betroffenen, wie auch in deren Hirnplaques, kurzkettige Fettsäuren auf (SCFAs), nämlich Acetat und Valerat. Auch sie stammen von Darmbakterien. Andere kurzkettige Fettsäuren, nämlich Butyrat, schienen hingegen schützend zu wirken. Hohe Butyratspiegel gingen mit weniger Amyloid einher. Butyrat wird von Darmbakterien produziert, wenn sie Ballaststoffe fermentieren. Im Gehirn aktiviert es die Absonderung des neurotrophen Faktors (BDNF), der das Nervenwachstum anregt. Bei Alzheimer ist dessen Konzentration vermindert. „Unsere Ergebnisse sind unbestreitbar“, erklärt eine beteiligte Wissenschaftlerin, Moira Marizzoni vom Fatebenefratelli Center in Brescia: „Bestimmte bakterielle Produkte des Darmmikrobioms korrelieren mit der Menge der Amyloid-Plaues im Gehirn.“ Damit knüpft das Team an frühere Forschungsarbeiten an, bei denen es feststellte: Die Darmmikrobiota von Menschen mit und ohne Alzheimer unterscheiden sich erheblich voneinander. Bei Betroffenen ist ihre Vielfalt stark eingeschränkt; bestimmte Bakterien sind überrepräsentiert, andere fehlen. „Darüber hinaus", so der Neurologe Giovanni Frisoni, Mitautor und Direktor des Memory Center der Universitätskliniken Genf (HUG) in der Schweiz, "haben wir auch einen Zusammenhang zwischen einem im Blut nachgewiesenen Entzündungsphänomen, bestimmten Darmbakterien und der Alzheimer-Krankheit entdeckt. Daher wollten wir hier die Hypothese testen: Könnte die Entzündung im Blut ein Vermittler zwischen der Mikrobiota und dem Gehirn sein?" Lektionen aus dem Mäusekäfig Wie eng ein bakterielles Ungleichgewicht im Verdauungstrakt mit der Alzheimer-Krankheit verbunden ist, bestätigen Tierversuche. Eine 12-köpfige Forschergruppe aus Bern, Genf, Lausanne und Tübingen nutzte dazu Zuchtlinien von Mäusen, die speziell für die Alzheimerforschung entwickelt wurden: Im fortgeschrittenen Alter von zwölf Monaten bilden sie eine alzheimerähnliche Erkrankung aus, bei der ebenfalls die typischen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn auftreten. Wie die Wissenschaftler feststellten, weisen diese Tiere eine andere Darmflora auf als gesunde Artgenossen. Was geschieht, wenn man Darmbakterien der erkrankten Tiere auf Mäuse überträgt, deren Darm zuvor völlig keimfrei gemacht wurde? Der Mikrobentransfer führt dazu, dass sich auch in den Gehirnen der derart „Geimpften“ vermehrt Plaques bilden. (7) Hoffnung auf probiotischen Cocktail Da sich dieser Verdacht immer stärker aufdrängt, plant das Team weitere Forschungen, um herauszufinden, welche spezifischen Bakterien oder Bakterienstämme für die vermuteten Wirkungen verantwortlich sein könnten. Daraus könnte sich letztendlich die Rezeptur eines probiotischen Cocktails ergeben - mit einem neuroprotektiven Effekt zumindest in einem frühen Stadium der Krankheit, ja bereits bei mutmaßlichen Hochrisikopersonen, lange bevor erkennbare Symptome auftreten. Dass nützliche Bakterien die Hirngesundheit von Dementen fördern, ist seit längerem bekannt. Eine Studie aus dem Jahr 2016 mit 60 Alzheimer-Patienten untersuchte, wie sich probiotische Nahrungsergänzungsmittel auf kognitive Funktionen auswirken - mit vielversprechenden Ergebnissen. Bei denjenigen Teilnehmern, die probiotikahaltige Milch tranken, verbesserte sich die geistige Leistungsfähigkeit deutlich – gemessen mit der Mini-Mental State Examination (MMSE). Hingegen sank die MMSE-Punktzahl in der Kontrollgruppe, die normale Milch zu sich nahm. Was könnte für die festgestellten Verbesserungen verantwortlich sein? Die Forscher tippen auf mehrere positive Stoffwechselveränderungen, die sie bei der Probiotikagruppe feststellten: darunter niedrigere Triglyceride, Lipoprotein sehr niedriger Dichte und C-reaktives Protein, ein Maß für Entzündungen, sowie geringere Marker für Insulinresistenz. Wie eng Darm und Gehirn miteinander verbunden sind, erläuterte Walter Lukiw, ein Professor an der Louisiana State University, gegenüber dem Online-Fachdienst Medical News Today: Die Befunde der italienisch-schweizerischen Forschergruppe „decken sich mit einigen unserer jüngsten Studien, die darauf hindeuten, dass das Mikrobiom des Magen-Darm-Trakts bei Alzheimer im Vergleich zu altersgleichen Kontrollen in seiner Zusammensetzung deutlich verändert ist (…) und dass sowohl der Magen-Darm-Trakt als auch die Blut-Hirn-Schranke mit zunehmendem Alter deutlich undichter werden, so dass mikrobielle Exsudate“, d.h. Absonderungen, „des Magen-Darm-Trakts - z. B. Amyloide, Lipopolysaccharide, Endotoxine und kleine nicht-kodierende RNAs - in die Kompartimente des zentralen Nervensystems gelangen können." Als Kompartiment bezeichnen Biologen einen durch Membranen abgegrenzten Reaktionsraum innerhalb einer Zelle. Probiotika können die Neurodegeneration hemmen Offenbar beeinflussen Probiotika – Zubereitungen aus lebenden Mikroorganismen, zum Beispiel Bifidobakterien und Laktobazillen - das zentrale Nervensystem und das Verhalten über die Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse. Somit könnten sie gegen Alzheimer sowohl präventiv als auch therapeutisch zur mächtigen Waffe werden, indem sie unter anderem den Entzündungsprozess modulieren und oxidativem Stress entgegenwirken. (8) Dies bestätigte sich bei einer Meta-Analyse von fünf Studien mit 297 Probanden. Dabei ergab sich, dass sich in Probiotika-Gruppen die kognitiven Fähigkeiten signifikant verbesserten; ebenso deutlich verringerten sich Malondialdehyd und hochsensitives C-reaktives Protein, zwei Biomarker für Entzündungsprozesse und oxidativen Stress. Welche Bakterien für Prävention und Therapie von Alzheimer am vorteilhaftesten sind, wird weitere Forschung erst noch klären müssen. Schon jetzt zeichnet sich aber ab, dass der Stamm A1 von Bifidobacterium breve von besonderem Nutzen sein könnte. Bei Mäusen konnten die Forscher bestätigen, dass sich die kognitiven Funktionsstörungen, die normalerweise durch Amyloid beta ausgelöst werden, deutlich verringern, wenn den Tieren täglich B. breve A1 oral verabreicht wird. Die Zufuhr unterdrückte anscheinend die durch Amyloid-Beta verursachten Veränderungen der Genexpression im Hippocampus. Daher könnte der schützende Effekt rühren. (9) Im Frühjahr 2018 präsentierte das japanische Molkereiunternehmen Morinaga Milk ein neues Probiotikum mit Bifidobacterium breve A1. Studienergebnisse scheinen zu belegen, dass es die räumliche Wahrnehmung sowie Lern- und Erinnerungsfähigkeiten von Mäusen mit kognitiven Defiziten verbessert. (10) Zeichnet sich hier die Zukunft der Alzheimer-Prävention ab? „Wir sollten uns nicht zu früh freuen“, so dämpft Giovanni Frisoni vom Genfer Universitätsspital überzogene Erwartungen. „Zuerst müssen wir die Stämme des Cocktails identifizieren.“ (11) Die „Darm-Hirn-Achse“: Was steuert sie? Auf der Suche nach den vielerlei Faktoren und Prozessen, die entlang der „Darm-Hirn-Achse“ am Werk sind, stochern Forscher noch im Nebel. Doch allmählich lichtet er sich. An der Emory University in Atlanta, Georgia, stieß ein Team um Dr. Chun Chen in Neuronen von Alzheimer-Kranken auf einen womöglich mitentscheidenden Signalweg. (12) Ausgangspunkt ist ein Transkriptionsfaktor namens C/EBPβ – ein Protein, das an bestimmte DNA-Abschnitte bindet und reguliert, wie viel Boten-RNA – mRNA - davon hergestellt wird. Dadurch steuert es die Expression des Gens, so dass die kodierten Proteine in der richtigen Menge und zum richtigen Zeitpunkt produziert werden. Was bewirkt C/EBPβ? Es regt die Produktion von Asparagin-Endopeptidase (AEP) an – eines Enzyms, das alzheimer-typische Ablagerungen begünstigt. In Testreihen mit Mäusen bestätigte sich: Eine veränderte Darmflora unter Alzheimer geht einher mit einer verstärkten Aktivität des C/EBP/AEP-Signalwegs. Frida Fåk von der Lund-Universität vermutet des Rätsels Lösung im Immunsystem. „90 Prozent all seiner Abwehrzellen sitzen im Darm. Daher beeinflussen die Vorgänge dort immunologische Prozesse im ganzen Körper, auch im Gehirn.“ (13) Stoffwechselprodukte der Mikroben könnten auch dort Entzündungsprozesse in Gang setzen. Das italienisch-schweizerische Wissenschaftlerteam um Moira Marizzoni geht davon aus, dass das Darmmikrobiom über mehrere weitere Wege zum Alzheimer-Risiko beitragen kann, unter anderem indem es Blutzucker, Schlaf und tägliche Biorhythmen beeinflusst. Darüber hinaus könnte die Blut-Hirn-Schranke gestört sein: eine physiologische Barriere, die normalerweise verhindert, dass schädliche Stoffe und Krankheitserreger ins Gehirn gelangen. Dort eingedrungen, können sie eine neuroinflammatorische Reaktion auslösen. Tatsächlich hat sich inzwischen gezeigt, dass diese Schranke bei Alzheimer-Patienten durchlässiger ist als bei Gesunden. Aber wie kommt es dazu? Ein Mikrobiologe von der Keck School of Medicine in Los Angeles, Berislav Zlokovic, vermutet dahinter eine Störung der Perizyten: Bindegewebszellen, welche die Blutgefäße wie eine Isolierschicht umgeben. (14) Sie schirmen das Zentralnervensystem gegen toxische Einflüsse ab. Bei Mäusen, deren Perizytenfunktion wegen eines Gendefekts gestört ist, lagern sich vermehrt Beta-Amyloide ab – die Tiere werden dement. (15) Was vermittelt diese Störung? Die Blut-Hirn-Schranke entsteht relativ früh im Mutterleib - bei Mäusen normalerweise um den 17. Entwicklungstag. Danach konnte Viorica Braniste vom Karolinska Institut in Stockholm das Gehirn der Feten nicht mehr mit Raclopid markieren: einem Pharmakon, das im Rahmen von PET-Untersuchungen verwendet wird, um bestimmte Rezeptoren darzustellen. Wurden die Muttertiere allerdings während der Schwan­gerschaft keimfrei aufgezogen, ohne Bakterien im Darm, so drang Raclopid weiterhin in das Gehirn der Feten ein. Braniste sieht darin einen klaren Hinweis darauf, dass sich bei den Tieren keine intakte Blut-Hirn-Schranke ausgebildet hatte. Diese Störung hielt auch nach der Geburt der Tiere an, wenn der Wurf keimfrei gehalten wurde. (16) Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Störung vermutlich auf der verminderten Bildung der Proteine Occludin und Claudin 5 beruhte. Diese beiden Eiweiße sind normalerweise Bestandteil der sogenannten Tight Junctions (engl. für „dichte Verbindung“), die unter anderem Endothelzellen wie ein Gürtel zusammenhalten. Diese Verbindungen finden sich auch im Darm. Wie Braniste vermutet, bedarf es noch während der vorgeburtlichen Entwicklung eines Anreizes, um die Lücken im Darm und im Gehirn mit Tight Junctions zu schließen. Welche Signale aus dem Darm dabei eine Rolle spielen, ist noch unklar. Es könnte sich beispielsweise um kurzkettige Fettsäuren handeln, die von Darmbakterien produziert und über die Schleimhaut resorbiert werden. Sofern diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, werfen sie ein neues Licht darauf, welche fatalen Folgen der Einsatz von Antibiotika in der Schwangerschaft und der frühen Kindheit haben kann. Könnten sie zu einer bleibenden Störung der Blut-Hirn-Schranke beitragen, die dann die Entwicklung von neurologischen Erkrankungen begünstigt? „Vom vergessenen Organ zum Hauptakteur“ Jedenfalls „gibt es immer mehr Beweise dafür, dass das Darmmikrobiom mit der Alzheimer-Pathogenese interagiert, indem es die Neuroinflammation fördert und die Stoffwechselhomöostase stört", so die Forscher. "Die Darmmikrobiota hat sich von einem vergessenen Organ zu einem potenziellen Hauptakteur in der Alzheimer-Pathologie entwickelt.“ (17) In jedem fünften Fall geht Alzheimer mit einer anderen Form von Demenz einher: der vaskulären, bedingt durch Durchblutungsstörungen im Gehirn. Auch dahinter stecken Ernährungssünden, wie überhaupt ein ungesunder Lebensstil, der Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes und andere Risikofaktoren heraufbeschwört. (18) Dass sich Alzheimer buchstäblich wegessen lässt, legte kürzlich die aufsehenerregende Genesung einer 85-jährigen Engländerin nahe, Sylvia Hatzer. Eine radikale Ernährungsumstellung, zusammen mit regelmäßiger Bewegung und kognitiven Übungen, führte offenbar dazu, dass ihr Geist wieder erwachte. Die britische Alzheimer-Gesellschaft empfiehlt sie Mitbetroffenen inzwischen als Vorbild. (Siehe KLARTEXT „Demenz wegessen?“.) Mut macht zudem ein globaler Vergleich. Würden sich Senioren „altersbedingt“ Morbus Alzheimer einhandeln, dann in allen Altersklassen ungefähr gleich häufig – überall, mit zunehmender Lebenserwartung gleichmäßig ansteigend, ob in den USA, am Persischen Golf oder im Fernen Osten. Tatsächlich fallen aber enorme Unterschiede auf: Besonders hohe Zuwachsraten verzeichnen unter anderem die USA, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate; einen auffallend niedrigen Anstieg meldet hingegen Japan (19) – trotz einer der ältesten Bevölkerungen der Welt. Unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten erklären dies zumindest teilweise. Vielfältige Ursachen erfordern mehr als eine Gegenmaßnahme Kausal eingleisig zu denken, ist immer töricht, erst recht in der Medizin. Einerseits kann die Bedeutung der Bakteriengemeinschaft, welche die Oberfläche der Darmschleimhaut besiedelt, kaum überschätzt werden: nicht nur für unsere Verdauung, auch für unser Immunsystem, für den Alterungsprozess, für die Entstehung vieler Krankheiten, von Parkinson (20) über psychiatrische Leiden bis hin zu stressbedingtem Verhalten (21), zu Stimmungen und Gefühlen (22), zu Autismus (23) und Multipler Sklerose (24) Andererseits verengt der jüngste Hype um den Darm leicht den Blick; er verleitet dazu, allzuviel allein oder vor allem auf den Zustand unseres Verdauungstrakts zurückzuführen. Das wiederum verführt zu übereilten, einseitigen Maßnahmen. Trotz umfassendster Darmreinigung verbessert sich die Darmflora nicht nachhaltig, solange die Ernährung nicht langfristig und konsequent umgestellt wird. Manche schwören auf Probiotika (25) aus nützlichen Bakterienstämmen; auch sogenannte Präbiotika (26) mit Ballaststoffen, die Darmbakterien als Nahrung dienen, gelten als heißer Tipp. Doch beide wirken nur dann optimal (27), wenn das große Ganze der täglichen Nahrungszufuhr stimmt: möglichst wenig Industriezucker, Kochsalz und minderwertige Fette, keine hochverarbeiteten Fertiggerichte, keine Süss-, Konservierungsstoffe und Emulgatoren; weniger Fleisch, mehr Pflanzen, mehr Bio; mehr prä- und probiotische Lebensmittel; mehr Ballaststoffe (28); kleinere Mahlzeiten, möglichst frisch zubereitet, reichlich reines Wasser. Bloß anders zu essen, genügt ebensowenig. Keine Krankheit hat eine einzige Ursache, und das gilt auch für Alzheimer. Entsprechend viele Einflussgrößen gilt es bei Diagnostik, Prävention und Therapie zu berücksichtigen. Sie reichen von Entzündungen, Infektionen und Prionen über Risikofaktoren wie Vitaminmangel, Cholesterin, Traumata, Diabetes, Stress und Bluthochdruck bis hin zu Belastungen durch Rauchen, Alkohol und Arzneimittel; durch Pestizide und andere Umweltgifte, durch Chlor und Fluoride im Leitungswasser, durch Feinstaub, Aluminium und Schwermetalle. Couch-Potatoes neigen zu Demenz Schöngeist Jäger war Kopfarbeiter, passionierter Stubenhocker. Hätte ich frühzeitig geahnt, dass ihm Alzheimer droht, so hätte ich ihm reichlich Bewegung ans Herz legen können. Ich hätte ihm von Versuchen an der University of Colorado in Boulder erzählt, wo ältere Laborratten animiert wurden, regelmäßig das Laufrad zu benutzen. Die tägliche Fitnessübung aktivierte in ihrem Gehirn insbesondere jenen Bereich des Hippocampus, der an Lernprozessen und Gedächtnisfähigkeit beteiligt ist. (29) Arzneimittel können dement machen Auch in Hans Jägers Medikamentenschrank hätte ich einen Blick werfen sollen. Von etlichen Arzneimitteln ist längst bekannt, dass sie die geistige Leistungsfähigkeit einschränken; dauerhaft eingesetzt, erhöhen sie das Demenzrisiko erheblich. Dazu zählen Hormonpräparate, Cholesterinsenker (Statine) (30), Säureblocker – sogenannte Protonenpumpeninhibitoren (31) - und Antibiotika. Massenhaft Hirnschäden richten Psychopharmaka an, die in vielen Alten- und Pflegeheimen routinemäßig zum Einsatz kommen – skandalös häufig ohne medizinische Indikation, um unruhige, verwirrte Senioren ruhigzustellen. In einer 17-jährigen Studie erhöhten Antidepressiva das Demenzrisiko um rund 50 Prozent. (32) Insbesondere Benzodiazepine – altbewährte Angstdämpfer, Sedierer und Schlafförderer - verdoppelten es. (33) Altersdemenz ist großteils ein iatrogenes Phänomen – verursacht.von verschreibungsfreudigen Ärzten. Dem geistigen Verfall pharmazeutisch abzuhelfen, ist weiterhin ein uneingelöstes Versprechen. Bisher hat kein Antidementivum in der Praxis auch nur annähernd gehalten, was herstellerfinanzierte Studien hoffen ließen. Jüngstes Beispiel dafür ist das umstrittene Alzheimer-Medikament Aducanumab: Bei jährlichen Therapiekosten von 100.000 Dollar beschert es jedem dritten Patienten Hirnödeme, jedem fünften Hirnblutungen. (34) Auch erholsamer Schlaf schützt Darüber hinaus hätte ich ernster genommen, was Hans Jäger einmal beiläufig erwähnte: Eine Nachteule sei er, besonders produktiv weit nach Mitternacht – notgedrungen, weil er nachts kaum Schlaf finde. Dass Schlafstörungen das Gehirn belasten und Langzeitschäden anrichten könnten, legen Tierversuche von Neurologen der Washington University in St. Louis nahe. Unter andauerndem Schlafentzug lagerte sich in den Gehirnen von Labormäusen vermehrt Amyloid-Beta ab; zugleich entwickelten die Nager demenzähnliche Symptome. (35) Wie eng Schlafhygiene und Alzheimer zusammenhängen könnten (36), lässt auch eine 2019 im Fachblatt Neurology veröffentlichte Studie (37) ahnen: Nach einer einzigen schlaflosen Nacht steigt schon bei jungen Erwachsenen den Tau-Proteingehalt im Blutplasma um 17 % an. Frühere Untersuchungen hatten ergeben, dass Schlafentzug bei älteren Menschen zu einer Zunahme von Tau-Proteinen im Liquor führt, der Hirnflüssigkeit. (38) Bei 298 älteren Frauen im Schlaflabor zeigte sich: Wer von ihnen unter Schlafapnoe litt – mit mindestens 15 Atemunterbrechungen pro Schlafstunde -, zeigte eher Erinnerungslücken und andere leichte kognitive Störungen; die Wahrscheinlichkeit einer Demenz stieg. (39) Woran könnte das liegen? Fast ausschließlich während des Schlafs aktiv ist ein erst 2012 entdeckter Mikrokreislauf in Gehirn und Rückenmark: das glymphatische System. Es dient als Müllabfuhr des Zentralnervensystems: Überflüssiges und schädliches Material schwemmt es aus – täglich rund sieben Gramm potenziell giftiger Proteinabfälle und zellulären Schrotts, der Hirnfunktionen stören könnte. (40) Auch Beta-Amyloide und Tau-Proteine transportiert es aus dem Zellzwischenraum ab (41) – bei Mäusen während des Schlafs doppelt so schnell wie in Wachphasen, bei anderen Tieren sogar um 95 % mehr. (42) In höherem Alter funktioniert dieses Drainagesystem zunehmend schlechter. (43) Bei Alzheimer-Kranken, wie bei allen neurodegenerativen Erkrankungen, scheint es erheblich gestört. (44) Dass Schlafstörungen den Morbus Alzheimer nicht bloß begleiten, sondern seine Ausprägung mitbedingen und verstärken, legen Tierversuche am Baylor College of Medicine in Houston, Texas nahe. (45) Sie konzentrierten sich auf eine bestimmte Region im Zwischenhirn (Thalamus), dem Nucleus reticularis. Dessen Aufgabe könnte darin bestehen, das Gehirn nachts von äußeren Sinnesein­drücken abzuschirmen, die einen erholsamen Schlaf verhindern. Bei Alzheimer-Mäusen ist er weniger aktiv. Wie eine ständige EEG-Ableitung belegte, geht dies mit Schlafstörungen einher: Die Tiere wachten zu 50 % häufiger auf als gesunde Artgenossen. Das glymphatische System wirkt hierbei mit. Im Schlaf erweitern sich die Zwischenräume zwischen den Nervenzellen zu einer „Drainage“, über die Ablagerungen und Stoffwechselprodukte in den Liquorraum abgeführt werden, einen flüssigkeitsgefüllten Hohlraum im Gehirn. Andererseits verhält es sich mit dem Schlafquantum ähnlich wie mit Arzneien: Mehr bringt nicht unbedingt mehr, eine Überdosis verwandelt Heilmittel in Gifte. Dies verdeutlichte eine dreijährige Studie des Universitätsklinikums 12 de Octubre in Madrid anhand von 3300 Männern und Frauen über 65 Jahren. Diejenigen Teilnehmer, die nachts und tagsüber mehr als neun Stunden schliefen, trugen ein doppelt so hohes Demenzrisiko wie jene, denen sieben Stunden Schlaf genügten. Im Studienzeitraum entwickelten über fünf Prozent der Langschläfer eine Demenz. Bei den 7-Stunden-Schläfern hingegen erkrankten weniger als zwei Prozent; bei den 8-Stunden-Schläfern waren letztlich vier Prozent betroffen. Studienleiter Julian Benito-Leon betrachtet Tagesschläfrigkeit bei Senioren, wie auch ein exzessiv gesteigertes Schlafbedürfnis, als ernstzunehmenden Frühindikator für eine Demenz. (46) Dabei könnten beide auf eine tieferliegende gemeinsame Ursache verweisen, etwa eine Depression oder Arzneimittelwirkungen. Schwerhörigkeit: ein unterschätztes Demenzrisiko Das menschliche Gehirn ist ein überaus stimulushungriges Organ. Bleibt es insofern andauernd unterversorgt, so verkümmert es. Diese Gefahr droht auch, wenn es an akustischen Reizen mangelt. Eine Metaanalyse aus Singapur, die Daten von über 137.000 Menschen auswertete, belegt einen auffälligen Zusammenhang: Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen, die ein Hörgerät trugen, hatten ein signifikant geringeres Risiko, ihre geistigen Fähigkeiten einzubüßen als diejenigen, deren Schwerhörigkeit unkorrigiert blieb. Das Verwenden von Hörhilfen verringerte die Wahrscheinlichkeit langfristiger kognitiver Beeinträchtigungen um 19 Prozent. Auch davon ahnte Hans Jäger offenbar nichts. Meine Gespräche mit ihm verliefen mühsam, weil ich Äußerungen häufig wiederholen musste, ehe er sie ganz verstand. Um mich möglichst deutlich zu hören, rückte er mir oft unangenehm nahe. Hörgeräte trug er nicht. Hätte er sich dazu entschlossen: Womöglich hätte diese Maßnahme, im Bund mit weiteren, dazu beigetragen, ein Fortschreiten der Alzeimer-Erkrankung zu verlangsamen, im Frühstadium vielleicht sogar zu stoppen, ja umzukehren. Alleinsein ist Gift fürs Gehirn Hans Jäger lebte zurückgezogen. Vermutlich war ich der einzige Nachbar, mit dem er öfters zusammensaß. Ansonsten hatte er nur seine Ehefrau und, wie gesagt, meine treulose, eher mäßig kommunikative Katze. Solche soziale Isolation erhöht das Demenzrisiko ebenfalls, wie im Jahr 2022 Forscher der chinesischen Fudan-Universität belegten. Unter 463.000 Studienteilnehmern, deren Gesundheit und Lebensumstände sie beobachteten, erkrankten während des zwölfjährigen Beobachtungszeitraums knapp 5000 an einer Demenz. Ein um 26 Prozent erhöhtes Risiko hierfür trugen Menschen, die angaben, sicb einsam zu fühlen. Zum selben Ergebnis war zwei Jahre zuvor eine US-amerikanische Langzeituntersuchung mit über 12.000 Frauen und Männern über 50 Jahren gekommen, die „Health and Retirement Study“. Dabei kommt es weniger auf die Häufigkeit sozialer Kontakte an als auf ihre Qualität: Ausgerechnet in der Gruppe mit den meisten sozialen Kontakten war Einsamkeit sogar mit einem um über 50 Prozent erhöhten Demenzrisiko verbunden. Kognitive Resilienz: geistig fit trotz Alzheimer Hätte es Hans Jäger nicht getröstet zu erfahren, dass Kopfarbeiter wie er das Fortschreiten der Demenz erheblich verzögern können? Wer ein Leben lang in Beruf und Freizeit intellektuell aktiv war, kann im Alter lange seine kognitiven Fähigkeiten erhalten, auch wenn sein Gehirn am Morbus Alzheimer erkrankt ist. Vor allem mit der berühmten „Nonnenstudie“ hätte ich meinem Nachbarn Mut machen können: einer Längsschnittuntersuchung, in die der Epidemiologe David Snowdon von der University of Kentucky in Lexington 678 amerikanischen Ordensschwestern im Alter zwischen 75 und 106 Jahren einbezog. Ab 1986 lief sie knapp 15 Jahre lang. Sowohl Laborwerte als auch psychologische Parameter und histologische Schnitte des Gehirns konnte der Forscher heranziehen. Über die Archive der Klöster verschaffte er sich Einblicke in die Lebensläufe der Teilnehmerinnen und deren geistige Aktivitäten vor Jahrzehnten. Viele waren an Alzheimer erkrankt. Umso mehr verblüft, was Snowdon feststellte: Der pathologische Gehirnbefund - multiple Plaques - war unabhängig von der wiederholt erhobenen intellektuellen Leistungsfähigkeit der betreffenden Personen zu Lebzeiten. Das bedeutet: Auch Personen, bei deren Sektion stark veränderte Gehirnbefunde auffielen, konnten bis zu ihrem Tod geistig anspruchsvolle Aufgaben ausführen. (47) US-Forscher führen dieses Phänomen neuerdings auf den Transkriptionsfaktor MEF 2 zurück: ein weiteres Protein, das an bestimmte DNA-Sequenzen bindet, um die Expression eines bestimmten Gens zu steuern. Dessen Bildung schützt Mäuse vor einer Demenz. Auch im Gehirn von geistig regen Menschen wird es im Alter vermehrt gebildet. (48) Bereits in epidemiologischen Untersuchungen wie der „Religious Orders Study“ (49) ab 1994 oder dem „Memory and Aging Project“ (50) ab 1979 war aufgefallen, dass Senioren seltener an einer Demenz litten, wenn sie als junge Menschen eine Hochschule besucht hatten, anschließend in intellektuell anspruchsvollen Berufen gearbeitet und ihr Gehirn im Ruhestand mit anregenden Tätigkeiten wie Lesen oder Kreuzworträtsel trainiert hatten. Worauf beruht diese „kognitive Resilienz“? Ein Team um Li-Huei Tsai vom Picower Institute for Learning and Memory in Cambridge/Massachusetts untersuchte bei Mäusen, wie sich eine geistig stimulierende Umgebung auf das Gehirn auswirkt. Während einige Tiere in leeren Käfigen aufgezogen wurden, stand anderen ein Laufrad und Spielzeug zur Verfügung, das alle paar Tage ausgetauscht wurde. Anschließende Untersuchungen der Gehirne ergaben, dass sich die anregenden Tätigkeiten auf das Epigenom ausgewirkt hatten. Es bestimmt, welche Gene in einer Zelle aktiviert werden können. Bei den stimulierten Mäusen zählte das Gen MEF2C dazu. MEF2, „Myocyte Enhancer Factor 2“, ist ein Transkriptionsfaktor, der nicht nur am embryonalen Wachstum des Herzmuskels mitwirkt, sondern auch an der Entwick­lung und Funktion von Nervenzellen beteiligt ist. Die von MEF2 aktivierten Gene enthalten Baupläne für Ionenkanäle in der Zellmembran,welche die Erregbarkeit eines Neurons und damit die Nervensignale beeinflussen. In zwei Biobanken, die die Hirnzellen von Verstorbenen untersucht hatten, korrelierte die Aktivität von MEF2 und die von ihm gesteuerten Gene mit der kogni­tiven Resilienz vor dem Tod. Die Forscher erzeugten „Knockout-Mäuse“, indem sie einzelne Gene aus dem Erbgut eliminierten. Ohne MEF2 profitierten die Tiere nicht mehr von der anregenden Umgebung in ihrem Käfig: Genauso schnell wie die anderen Tiere erkrankten sie an einer Demenz. In einem weiteren Experiment wurden die Tiere genetisch so verändert, dass sie vermehrt das Tauprotein produzierten. Normalerweise entwickeln sie daraufhin rasch eine Demenz. Dies verhinderte jedoch ein zweiter Eingriff, der zu einer vermehrten Bildung von MEF2 führte. Daraus ergeben sich womöglich neue therapeutische Ansätze. Medikamente, welche die Aktivität von MEF2 steigern, könnten die Entwicklung einer Demenz auch bei Menschen ohne geistige Interessen hinausschieben. Fasten aktiviert Selbstreinigung – auch von Alzheimer-Plaques Die Art und Weise, wie der Körper biologischen Müll entsorgt, Aufbau und Vermehrung neuer, gesunder Zellen fördert, nennen Biologen „Autophagie“. Fasten aktiviert sie. (51) Dies ist ein Hauptgrund, warum es sich bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer als vorteilhaft erweist, in täglichen Intervallen von mindestens 12, besser 18 Stunden oder ein, zwei Wochen lang durchgehend auf Nahrungsaufnahme völlig zu verzichten. Dass Fasten den Darm von entzündungsfördernden Prozessen befreit, steht für den amerikanischen Arzt Dr. Steven R. Gundry fest. „Wir haben ein erstaunliches Reparatursystem, das beim Fasten seine Arbeit aufnimmt“, so führte Gundry in einem Interview 2017 aus. „Dabei ruht der Darm. Es ist wahrscheinlich eines der klügsten Dinge, die jeder von uns tun kann: die Darmwand zur Ruhe kommen lassen, keine Nährstoffe aufnehmen müssen, nicht mit dem ständigen Zustrom von Lektinen oder Toxinen umgehen müssen. Aber ich glaube, was noch wichtiger ist: Fasten gibt dem Körper die Chance, endlich eine ernsthafte Reinigung des Gehirns vorzunehmen. (…) Alzheimer und Parkinson haben eine gemeinsame Ursache: Das Gehirn verteidigt sich gegen eine wahrgenommene Bedrohung. Diese geht auch von LPS aus. Wenn Sie Ihren Darm zur Ruhe bringen und keine LPS in Ihr System eindringen lassen, und je länger Sie das aufrechterhalten können, desto besser geht es Ihnen.“ Geistigen Verfall rückgängig machen? Wie viel ein entsprechend komplexer Ansatz erreichen kann, beweist Dr. Dale Bredesen, Professor für molekulare und medizinische Pharmakologie an der University of California, Los Angeles School of Medicine, Autor von "The End of Alzheimer's: The First Program to Prevent and Reverse Cognitive Decline“. (Näheres über Bredesens Arbeit im KLARTEXT-Beitrag „Neurologe belegt: Alzheimer ist heilbar“.) Für einen gesunden Darm zu sorgen, ist nur einer von vielen Parametern, die sein ReCODE-Konzept berücksichtigt. Es erfasst und bewertet 150 Faktoren, von denen bekannt ist, dass sie zur Alzheimer-Krankheit beitragen. Auf diese Weise identifiziert er den jeweiligen Subtyp der Krankheit - oder eine Kombination von Subtypen. Auf dieser Grundlage erstellt er ein hochwirksames Behandlungsprotokoll. Es schließt Fasten ein, ebenso das Vermeiden von Gluten und verarbeiteten Lebensmitteln, die Reduzierung der Aufnahme von mehrfach ungesättigten Fettsäuren, auch PUFAs genannt, die in minderwertigen Speiseölen und Transfetten vorkommen. Eine ketogene Diät mit hohem Fettanteil, mäßigem Proteingehalt und wenig Kohlenhydraten hält Bredesen für ideal, um der Degeneration vorzubeugen, die zu Alzheimer führen kann, und sie trägt auch zu einem gesunden Darm bei. Darüber hinaus setzt Bredesen auf eine bessere Mundhygiene, Vitamin D und B12, Mikronährstoffe, einen ausbalancierten Hormonspiegel, Entgiftung, Meditation, mehr und besseren Schlaf. Insgesamt 36 Stoffwechselaspekte berücksichtigend, die einen gesunden Lebensstil kennzeichnen, erzielt Bredesen beeindruckende Behandlungsergebnisse. Von den ersten zehn Patienten, die sein ReCODE-Protokoll folgten, machten neun innerhalb von drei bis sechs Monaten deutliche Fortschritte. Vereinzelt ließ sich der kognitive Verfall nicht bloß stoppen oder zumindest verlangsamen, sondern sogar rückgängig machen. (52) Seitdem zeigten sich bei Hunderten weiterer Patienten ähnliche Resultate. In seinem aufsehenerregenden Buch The End of Alzheimer's: The First Program to Prevent and Reverse Cognitive Decline legte Bredesen 2017 für ein breites Publikum von Patienten, Pflegepersonal, Ärzten und Behandlungszentren ein Step-by-Step-Programm vor, mit dem sich Alzheimer verhindern und beikommen lässt. Die Quintessenz ist simpel: Dass unser Gehirn bis ins hohe Alter gesund bleibt, können wir ohne weiteres sicherstellen: durch eine umfassend gesunde Lebensweise. Und deshalb sollten wir stets protestieren, wenn man uns „das Alter“ als Risikofaktor für alles und jegliches weismachen will. Man stellt uns dabei eine rhetorische Falle, die uns davon abhalten soll, die Kontrolle über unsere eigene Gesundheit zu übernehmen. „Wir können unser Risiko nicht dadurch senken, dass wir unsere Geburtsurkunde ändern; darum ist das Alter kein veränderbarer Risikofaktor, sondern die unvermeidliche Folge des Weiterlebens“, gibt der dänische Medizinprofessor Peter C. Gøtzsche zu bedenken. „Wer darauf besteht, das Alter als Risikofaktor zu bezeichnen, sollte bedenken, dass die Geburt ebenfalls ein Risikofaktor ist, der irgendwann mit Sicherheit zum Tod führt.“ (53) Aber Vorbeugen ist geschäftsschädigend Einen Demenzkranken medizinisch zu versorgen und zu pflegen, belastet die Kostenträger zur Zeit mit durchschnittlich knapp 21.000 Euro pro Jahr; bei einer Leidensdauer von 1,5 bis 8,5 Jahren ab Diagnose bis zum letztem Atemzug – im Schnitt fünf Jahre - fallen demnach rund 100.000 Euro pro Betroffenem an. (Bei schwerer Alzheimer-Demenz sind es jährlich 45.000 Euro.) (54) 34 Milliarden Euro waren es allein in der Bundesrepublik bereits im Jahr 2016. (55) Dieser Betrag wird drastisch steigen – in Deutschland bis 2060 voraussichtlich auf 90 Milliarden Euro. (56) Denn in einer individualisierten Single-Gesellschaft werden Angehörige seltener, die pflegen können und möchten; immer früher, immer ausgiebiger müssen bezahlte Profis ran. Zugleich werden Diagnostik und Therapeutika immer aufwändiger und teurer. Um herauszufinden, welch fabelhaftes Geschäftsfeld diese Trends eröffnen, genügen Grundrechenarten. Falls sich die Zahl der Demenzkranken weltweit bis 2050 tatsächlich nahezu verdreifacht, auf rund 140 Millionen (57), dann werden sie für Umsätze weit jenseits der Billionengrenze sorgen. Aus ökonomischer Sicht sind Gesunde Konsumverweigerer, die sich erst noch aus potentiellen in tatsächliche Patienten verwandeln müssen. Wer an Alzheimer verdienen will – sei es mit Diagnostik, Medikamenten, Therapien oder Pflegeleistungen -, kann nicht tatenlos zusehen, wie sich Erkenntnisse und Erfolge wie Bredesens herumsprechen. Er muss verhindern, dass sie in die ärztliche Aus- und Fortbildung einfließen, Eingang in Behandlungsleitlinien von Fachgesellschaften finden, über Massenmedien ein allzu breites Publikum erreichen. Er muss alles in seiner Macht Stehende tun, damit möglichst viele Menschen weiterhin an die Mär vom „altersbedingten“ geistigen Abbau glauben, den man nur schicksalsergeben abwarten und tapfer ertragen kann, solange Big Pharma noch nicht mit innovativen Arzneimitteln und Impfungen aufwarten kann. Wem Geduld und Zuversicht fehlen, solcher Durchbrüche zu harren, dem bleibt anscheinend nur noch der Ausweg, keinen mehr zu sehen – wie dem unglückseligen Herrn Jäger. Fünfzehn Jahre nach seinem entsetzlichen Ende steht für mich fest: Dieser Mann könnte noch leben – bei ziemlich wachem Geist, den japanische Haikus weiterhin nicht überfordern würden. Kein unabwendbares Verhängnis war es, das seine finale Verzweiflungstat, mit einem Strick im Wald, erzwang. Sondern ein haarsträubendes Informationsdefizit, vorsätzlich erzeugt durch Profiteure massenhaften Leids, aufrechterhalten durch ihre Lobbyisten, begünstigt durch ein chronisch krankes Gesundheitswesen, das finanzielle Fehlanreize zuhauf setzt: Statt zuallererst jene zu honorieren, die Gesundheit bewahren und wiederherstellen, belohnt es jene am üppigsten, die den Verlust von Gesundheit aufwändig verwalten – evidenzbasiert, versteht sich. Die Parallelen zur Coronakrise liegen auf der Hand. Wie viele Abermillionen SARS-CoV-2-Infizierte könnten noch leben, wenn sie sich nicht hätten einreden lassen, sie seien einem „neuen“ Killervirus „schutzlos ausgeliefert“, solange es keine Impfstoffe gibt? Wie vielen wären schwere Verläufe, Hospitalisierung, Verlegung auf die Intensivstation, vorzeitige Friedhofsruhe erspart geblieben, wenn sie rechtzeitig erfahren hätten, worauf zensierte, als „Fake-News“-Verbreiter verunglimpfte Ärzte und Wissenschaftler von Pandemiebeginn an hinzuweisen versuchten: dass sich Covid-19 mittels längst bewährter, preiswerter Arzneien und Nahrungsergänzungsmittel hochwirksam verhindern und in jedem Stadium behandeln lässt? (Sie z.B. hier und hier.) Für Covid wie für Alzheimer, Krebs, Diabetes, Bluthochdruck, Herz-/Kreislaufleiden und alle übrigen Zivilisationskrankheiten gilt: An Gesunden gibt es nichts zu verdienen. An Toten ebensowenig. Interessant sind die dazwischen: die chronisch Kranken. Je mehr es davon gibt, je länger sie es bleiben, desto besser für die Umsätze der Gesundheitswirtschaft, für die Renditen ihrer Investoren, für die Honorare ihrer akademischen Mietmäuler, für Fördertöpfe im Drittmittelbordell. Heilungschancen entscheiden sich heutzutage weniger in medizinischen Forschungseinrichtungen als auf den Vorstandsetagen von Big Pharma, Blackrock und Vanguard. Zumindest Hans Jäger hat keine Gelegenheit mehr, sich darüber klar zu werden. (Harald Wiesendanger) * Pseudonym Anmerkungen 1 https://www.alzint.org/u/WAR-Launch-Slides-2021-4.10.pdf 2 DOI: 10.1016/S2468-2667(21)00249-8 3 Skript (Memento vom 21. September 2008 im Internet Archive) (PDF; 612 kB) der Sendung Quarks & Co zum Thema Alzheimer 4 https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/wissen/alzheimer-demenz/hintergrund 5 https://www.helmholtz.de/newsroom/artikel/wie-viele-nervenzellen-hat-das-gehirn/ 6 Moira Marizzoni u.a.: „Short-Chain Fatty Acids and Lipopolysaccharide as Mediators Between Gut Dysbiosis and Amyloid Pathology in Alzheimer's Disease“, Journal of Alzheimer Disease 78 (2) 2020, S. 683-697, doi: 10.3233/JAD-200306 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33074224/ 7 T. Harach u.a.: „Reduction of Abeta amyloid pathology in APPPS1 transgenic mice in the absence of gut microbiota“, Scientific Reports 7 (41802) 2017, https://www.nature.com/articles/srep41802 8 Elmira Akbari u.a.: „Effect of Probiotic Supplementation on Cognitive Function and Metabolic Status in Alzheimer's Disease: A Randomized, Double-Blind and Controlled Trial“, Frontiers in Aging Neuroscience, 10. November 2016, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnagi.2016.00256/full; „Probiotics may boost learning, memory for Alzheimer's patients“, Medical News Daily11. November 2016, https://www.medicalnewstoday.com/articles/predicting-alzheimers-risk-why-cognitive-testing-alone-may-not-work#What-is-the-significance-of-the-study?; Chyn Boon Wong u.a.: „Probiotics for Preventing Cognitive Impairment in Alzheimer’s Disease“, IntechOpen 5. 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Harach u.a.: „Reduction of Abeta amyloid pathology in APPPS1 transgenic mice in the absence of gut microbiota“, Scientific Reports 7 (41802) 2017, https://www.nature.com/articles/srep41802 14 Berislav Zlkokovic u.a.: „Pericyte loss influences Alzheimer-like neurodegeneration in mice“, Nature Communications 4 (2932) 2013; doi: 10.1038/ncomms3932, https://www.nature.com/articles/ncomms3932 15 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/60954/Darmbakterien-errichten-Blut-Hirnschranke-in-utero 16 Viorica Braniste u.a.: „The gut microbiota influences blood-brain barrier permeability in mice“, Science Translational Medicine 6 (263) 2014, http://stm.sciencemag.org/content/6/263/263ra158, https://www.science.org/doi/10.1126/scitranslmed.3009759 17 Dong-Oh Seo u.a.: „Gut Microbiota: From the Forgotten Organ to a Potential Key Player in the Pathology of Alzheimer’s Disease“, The journals of gerontology. 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  • Liebe heilt

    Liebe versöhnt und verbindet, sie beseelt und beflügelt, sie inspiriert und erfüllt. Sie macht glücklich. Mehr noch: Sie kann heilen. Ihre ungeheure therapeutische Kraft nutzt eine spirituelle Medizin. Wie viel sie damit zustande bringen kann, belegen seit 2007 die Therapiecamps der Stiftung Auswege. Durch ständigen Missbrauch abgenutzt, kommen manche Ausdrücke derart phrasenhaft-hohl daher, dass man ihre Weiterverwendung am liebsten verbieten würde. Dergestalt haben sich Politiker am „Sozialen“ und „Liberalen“ vergangen, der Online-Allesvernetzer Facebook an „Freundschaft“, werbetreibende Lebensmittelhersteller am „Genuss“, die FIFA an „Ethik“, Faktenchecker an „Tatsache“, „Wahrheit“ und „Desinformation“ – und eine Koalition aus überschwänglich Verknallten, Songtextern der Popindustrie, Hollywoods Drehbuchschreibern und abgehobenen Esoterikern am Begriff der Liebe. Um so schwerer fällt es uns zu bekennen: Wir lieben die Menschen, die in die Therapiecamps unserer Stiftung Auswege kommen, einen wie den anderen – den äußerlich entstellten, geistig zurückgebliebenen, körperlich aufs Extremste eingeschränkten Behinderten ebenso wie den von Krämpfen geschüttelten Epileptiker und das hyperaktive, aggressive Kind; gestresste, hadernde, fordernde Eltern ebenso wie mürrische, uneinsichtige, verklemmte, selbstgerechte, ver­kopfte, undankbare erwachsene Patienten und distanzierte, argwöhnische, besserwisserische Angehörige. Genauso empfinden die allermeisten, die sich uns anvertrauen: Am Ende einer Therapiewoche schwärmen sie von einem Übermaß an Liebe, das sie bei uns erfahren ha­ben. Begriff missbraucht? Benötigen beide Seiten, Helfer wie Hilfe­­suchende, dringend Nachhilfeunterricht in Semantik? Liebe ist die stärkste Zuneigung und Wertschätzung, die Men­schen einander entgegenbringen können; ge­prägt wird sie von einer innigen, tiefen Ver­bun­­denheit, die ihren Nutzwert über­steigt. Schon in der Antike un­ter­schieden Dichter und Philosophen drei Arten von Lie­be. Im Sinne der ersten, Eros, geht es bei uns durchweg lieblos zu: Wir füh­len uns Teilnehmern gewiss nicht sinnlich-erotisch verbunden, durch leidenschaftliches Begehren. Wohl aber verbinden uns Philia - die freund­schaftliche Form von Liebe, die auf gegenseitiger Anerkennung und Verständnis beruht – und Agape, der es selbstlos fördernd um das Wohl des Nächsten geht. Inwiefern? Wie alle psychischen Zu­stände, so ist auch Liebe mit be­stimm­ten Gefühlen, Einstellungen und Ausdrucksformen verbunden. Und in jeder dieser Hinsichten passt der Begriff durchaus auf unsere innige Beziehung zu Campteilnehmern: Emotional verbinden uns mit ihnen Sympathie und Mitgefühl. Unsere Haltung ihnen gegenüber ist geprägt von bedingungsloser Wertschätzung, aufrichtigem Interesse, Anteilnahme und Fürsorge. Beides verbergen wir nicht, sondern bringen es im Camp­alltag bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck - durch Äußerungen bei Heilsitzungen und Beratungstermi­nen, in Gruppenzusammenkünften und Gesprächen außerhalb des Ta­ges­programms, ebenso durch non­ver­bale Signale in Mimik, Gestik, Körperhaltungen und Verhaltens­wei­sen, die uns weder Überwindung kosten noch irgendeinem Kalkül folgen: Teilnehmer freundlich anzulächeln, zwischendurch ihre Hand zu halten, sie zu umarmen, fällt uns keineswegs schwer. „Kann Wunder bewirken“ Darin sehen wir weitaus mehr als bloß wellnessförderliches Beiwerk zur therapeutischen Arbeit – es gehört essentiell dazu. Denn wir sind fest davon überzeugt: Liebe heilt. Darin stimmen wir ganzheitlichen Ärzten, Therapeuten und Heilern zu, die diesen Aspekt nachdrücklich betont haben (1). Ein literarisches Manifest dieser Gesinnung ist die um 1990 erschienene Aufsatzsammlung Was ist heilen? (2). Ein amerikanisches Autorenduo, Richard Carlson und Benjamin Shield, ließ darin 28 berühmte Heiler, sympathisierende Ärzte und wissenschaftliche Experten in kurzen Essays Stellung nehmen. "Liebe ist der Heiler", fassen die Herausgeber einleitend den Grundtenor der meisten Beiträge zusammen. "Liebe wird als der kleinste gemeinsame Nenner betrachtet, der jeder erfolgreichen Heilung zugrunde liegt und alle wirkungsvollen Heilmethoden unterstützt. Ohne Liebe gibt es keine wirkliche Heilung." (3) "Es ist die Liebe, die heilt", lehrte eine der prominentesten Heilerinnen im Therapeuten-Netzwerk der Stiftung Auswege, die viel zu früh verstorbene Pamela Sommer-Dickson - "eine ganz starke, aber auch ganz fein schwingende Energie, die uns berühren kann, wenn wir bereit sind, unsere Herzen zu öffnen und uns selbst anzunehmen (...) Dann erleben wir, wie sie Wunder wirken kann." (4) Doch wie sollte Liebe eine heilsame Kraft entfalten können? Sie tut es auf beiden Seiten der therapeutischen Beziehung: Helfer, die lieben, sind besonders motiviert, ihr Bestes zu geben. Hilfesuchende, die sich ge­liebt fühlen, vertrauen, öffnen sich, kooperieren mehr. Offenkundig uneigennützige, rein ehrenamtliche Hilfe zu finden, ist für die meisten Campteilnehmer eine völlig neue Erfahrung, die ihr Vertrauen stärkt und sie kooperativer macht: „Wir waren umgeben von Engeln, die uns bestens versorgten, jeder war herzlich und hilfsbereit", schwärmt die Mutter eines schwerbehinderten Jungen. „Diese Atmosphäre war ansteckend. Hier hat keiner an Geld oder seinen eigenen Vorteil gedacht. Ich bin hier einem ganzen Haus voller guter Menschen begegnet. Ich nehme Mut, Hoffnung und Kraft mit." Der Mutter eines epileptischen Fünfjährigen „war es nicht möglich, mich in der abschließenden Runde zu bedanken, sonst hätte ich nur geweint. Euer aller selbstlose Art ist fast nicht zu verstehen. Danke, dass es euch gibt, und Danke dafür, was ihr für uns alle tut." Was viele Campteilnehmer verblüfft: Auch Ärzte bringen diesen besonderen Geist in den Campalltag ein. „Es fällt uns schwer, von der Apparatemedizin auf adäquate Menschlichkeit umzuschalten“, räumte der frühere Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Frank Ulrich Montgomery ein (5) – den Ärzten in unseren Camps gelingt dies mühelos, ohne Selbstüberwindung. „Echte Anteilnahme ist vielleicht wertvoller als jede rein medizinische Behandlung“, konstatiert der amerikanische Kardiologe Brian Olshansky. (6) Bei uns gibt es „Liebe statt Valium“, wie ein Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats unserer Stiftung, der frühere Berliner Ärztekammerpräsident Dr. Ellis Huber, eine vieldiskutierte Streitschrift betitelte. (7) Für den Geist, in dem wir uns ins Campgeschehen einbringen, haben Hilfesuchende feine Antennen, und dies erzeugt willkommene therapeutische Nebenwirkungen. „Das nenne ich Hingabe", sagte uns die Mutter eines fünfjährigen, von Neurodermitis geplagten Jungen. „Davon bin ich gerührt und tief berührt. Ich verneige mich vor euch." Psychologie plus Paraphysik Aber wie heilt Liebe? Zu psychologischen Faktoren tritt womöglich ein paraphysikalischer hinzu – eben jener, den Heiler meinen, wenn sie versichern, Gedan­ken seien „Schwingungen“ im „Fein­stofflichen“, liebevolle Gedanken deren höchste. Nach über einem Jahr­hundert parapsychologischer Forschung sind solche Spekulationen längst nicht mehr abwegig: Unzäh­lige Tests und Experimente, darunter viele auf gehobenem naturwissenschaftlichem Niveau, deuten mittlerweile darauf hin, dass geistige Ereig­nisse, Vorgänge und Zustände messbare physische Veränderungen auslösen können: bei „verblindeten“ Ver­suchspersonen, bei Tieren und Pflan­zen, bei Pilzen und Bakterien, bei Zel­len und Zellbestandteilen, selbst in an­­organischem Material. (8) Und in manchen Studien zeigte sich, dass liebevolle Intentionen einen besonderen Unterschied machen: Sie synchroni­sie­ren Hirnwellenmuster (9), sie be­schleunigen das Wachstum von Pfla­nzen (10) – wie Hobbygärtner mit „grünem Daumen“ immer schon wussten -, und sie verändern die Struktur von Wasser (11), was insofern medizinisch hochbedeutsam ist, als der menschliche Körper zu zwei Drittel aus H2O besteht, das Gehirn zu 85 Prozent, das Blutplasma sogar bis zu 95 Pro­zent. Liebe heilt – auch deshalb ist heilsam, was in unseren Camps ge­schieht. (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 Siehe H. Wiesendanger: Fernheilen, Band 1: Die Vielfalt der Methoden, Kap. „Die Liebenden – Fernheilen mit dem höch­­sten aller Gefühle“, S. 286 ff. 2 Original: Healers on Healing, hrsg. R. Carlson/B. Shield, Los Angeles o.J.; die deutsche Übersetzung erschien 1992 unter dem Titel Was ist heilen? Berühmte Heilerinnen und Heiler antworten. 3 a.a.O., S. 10 4 in H. Wiesendanger (Hrsg.): Geistiges Heilen für eine neue Zeit - Vom "Wunder­hei­len" zur ganzheitlichen Medizin, München 1999, S. 17-30, sowie in ders. (Hrsg.): Wie Jesus heilen. Geistiges Heilen: ein Akt christlicher Nächstenliebe, 4. überarb. Aufl., Schönbrunn 2008, S. 305-315. 5 Der Spiegel 6/2014, S. 35 6 zit. nach https://www.spiegel.de/politik/wundermittel-im-kopf-a-8f9507f3-0002-0001-0000-000052032649 7 Ellis Huber: Liebe statt Valium – Konzepte für eine neue Gesund­heitsreform, Berlin 1993 8 Eindrückliche Forschungsergebnisse stelle ich vor in Fernheilen, Band 2: Fall­beispiele, Forschungen, Einwände, Erklärun­gen, Schönbrunn 2004, S. 115-210 sowie in Das Große Buch vom Geistigen Heilen – Mög­lichkeiten, Grenzen, Gefahren, Schön­brunn 2002, S. 259-304. 9 s. Fernheilen, Band 2, a.a.O., S. 179 f.. sowie Harald Wiesendanger: Die Jagd nach Psi – Über neue Phänomene an den Grenzen unseres Wissens, Freiburg i. Br. 1989, S. 243 ff. 10 Ende der siebziger Jahre berichtete eine führende Fachzeitschrift für Parapsycho­lo­gie über ein Experiment, in dem ein Heiler mit zwei Gruppen von jeweils 19 Rettichen arbeitete; den einen widmete er einen Monat lang täglich 15-20 Minuten lang „liebevolle, fürsorgliche Gedan­ken“, die anderen ignorierte er. Beide Pflan­­zengruppen hatten hinsichtlich Licht, Wärme, Wässerung, Erde die gleichen physikalischen Bedingungen. Am Ende der Versuchsphase wiesen die „geistig“ behandelten Radieschen ein statistisch signifikant höheres Gewicht auf. Chris Nicholas: „The effects of loving atten­tion on plant growth“, New England Journal of Parapsychology 1/1977, S. 19-24. 11 Der japanische Parawissenschaftler und Alternativmediziner Masaru Emoto – er starb 71-jährig im Oktober 2014 – lieferte aufsehenerregende Beiträge zum Phänomen des „Wassergedächtnisses“: Nach seiner Auffassung kann es die Ein­flüsse von Gedanken und Gefühlen speichern, wobei es seine Qualität ändert. Dazu veranlassten ihn Experimente, in denen er Wasserproben entweder positiven Botschaften wie „Danke“ und „Freu­de“ oder negativen Botschaften wie „Hass“ und „Krieg“ aussetzte – teils mit­tels beschrifteter Zettel, die ins Wasser eingetaucht oder an der Behälterwand befestigt wurden, teils durch rein geistige Einwirkungsversuche – und anschließend gefror; die entstehenden Eiskristal­le fotografierte und deutete er anhand von ästhetisch-morphologischen Kriteri­en. „Positiv“ beeinflusstes Wasser, so fand er, bilde stets ausgesprochen harmonische, meist symmetrische Formen, wäh­­rend „negativ“ belastetes Wasser miss­gebildete, amorphe Strukturen auspräge. Kritiker halten Emoto allerdings Un­sauberkeiten beim Untersuchungsab­lauf und der „Analyse“ vor. (Harald Wiesendanger) Dieser Betrag enthält Auszüge aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015)

  • Neun Tage im Übermorgen - Vom „Auswege“-Camp zur Klinik der Zukunft

    Wer ein Therapiecamp der Stiftung Auswege besucht, begibt sich auf eine Zeitreise: Er betritt den Heilungsort der Zukunft – einen, an dem vielen chronisch Belasteten nicht bloß effektiver geholfen wird, sondern auch humaner und für alle Beteiligten befriedigender als in jenem „Krankenhaus“, das Patienten von der pharmalastigen, technophilen, profitorientierten Schulmedizin zugemutet wird. Es sind Nebensächlichkeiten, die den Blick darauf verstellen. Eine Klinik ist definitionsgemäß eine Einrichtung, in der durch ärztliche, therapeutische und pflegerische Hilfeleistung gesundheitliche Schäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden. In diesem Sinne betreiben wir mit unseren Camps längst eine Klinik, und zwar eine mobile: In bestimmten Kalenderwochen öffnen wir sie für eine kurze Weile, betreuen Patienten vollstationär, geben am Ende den Schlüssel ab, zahlen unseren Gastgebern für Miete und Verpflegung, frei von jeglichen weiteren Verpflichtungen – und öffnen sie Wochen, Monate später andernorts erneut, immer dann, wenn sich genügend qualifizierte Helfer aus unserem Therapeuten-Netzwerk Zeit für ehrenamtlichen Einsatz nehmen können. Angenommen, diese Camps fänden irgendwann an einem festen Standort statt, sie bekämen ein ständiges Zuhause, das ganzjährig geöffnet bliebe: Was würde ihnen dann noch zu einer vollwertigen Klinik fehlen? - In den „Auswege“-Camps findet bisher keine Diagnostik statt; das angebotene Therapiespektrum ist begrenzt; keinerlei Apparate sind vorhanden; es gibt kein Labor; Pflege, Rehabilitation, Nachsorge und Prävention fehlen. Doch all dies ließe sich eingliedern oder in enger Zusammenarbeit mit Praxen, Kliniken und Diensten in der näheren Umgebung sicherstellen. - Bisher reisen Therapeuten für jeweils acht bis neun Tage an, anschließend kehren sie zu ihren Wohnorten zurück. Ein ständiger Klinikbetrieb müsste ihnen Unterkunft und Praxisräume bieten oder Anreize schaffen, sich in unmittelbarer Nähe niederzulassen. - Eine Klinik verursacht Kosten, die unseren Camps erspart bleiben: für den Erwerb einer geeigneten Immobilie; für Umbau, Renovierung und Einrichtung zum vorgesehenen Zweck; für den laufenden Betrieb (Strom, Wasser, Heizung; Versicherungen, Steuern und Abgaben; Instandhaltung, Reparaturen); für Therapeuten, Pflegekräfte und sonstiges Personal - wie Sekretariat, Hausmeister, Gärtner, Reinigungskräfte, Küchenhelfer, Handwerker, Kinderbetreuer etc. -, von denen die meisten nicht länger ehrenamtlich mitwirken könnten, sondern auf ein ständiges Einkommen angewiesen wären. Würden die damit verbundenen organisatorischen, architektonischen und Finanzierungsprobleme gelöst, so könnten die „Auswege“-Camps ohne weiteres in eine Klinik übergehen, die herkömmlichen Krankenhäusern vieles voraus hat: 1. Es wäre eine ganzheitliche Klinik, die nicht nur manifeste Beschwerden und deren organischen Ursachen beseitigen, sondern „Gesundheit“ in einem umfassenden Sinn wiederherstellen will, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon 1946 in ihrer Verfassung weise definierte als einen „Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Nicht bloß ums Kurieren ginge es hier, sondern ums Heilen; nicht nur um Symptomfreiheit, sondern ums Heilsein. 2. Ein Gebäude, das Beklemmungen auslöst, behindert Heilungsprozesse. Die „Auswege“-Klinik wäre ein Ort zum Wohlfühlen: draußen eine idyllische Natur fernab von städtischem Lärm und Smog, von trister Nachbarschaft, von Asphalt- und Betonwüsten; drinnen frohe Farben, organische Formen, warme Materialien, natürliches Licht, angenehme Gerüche, reichlich Bilder an den Wänden, überall Pflanzen. Denn ein ästhetisches Ambiente ist heilsam. Anstelle der gefürchteten Krankenhauskost, die der Schweizer Politologe und Gesundheitsökonom Gerhard Kocher als „Form der aktiven Sterbehilfe“ verspottet (1), würde schmackhaftes, möglichst vollwertiges, frisch zubereitetes Essen in Bio-Qualität geboten. 3. Sie wäre ein Ort des Verstehens. Damit sich Patienten dafür öffnen, was ihnen geboten wird, und bereitwillig mitwirken, müssen sie sich als Teil eines sinnvollen Ganzen begreifen können. Warum, so fragt der frühere Berliner Ärztekammerpräsident (1987-1999) und „Auswege“-Beirat Ellis Huber, „beginnt der ohnehin lange Krankenhaustag mit Wecken und Waschen im Morgengrauen, kommt das Frühstück erst Stunden später, dafür das Abendbrot weit vor der Sandmännchenzeit? Warum hat der Professor bei der Visite so wenig Zeit, und warum erklärt der junge Assistenzarzt die bevorstehende Operation im Medizinerkauderwelsch?“ (2) Der Gesundheitsökonom Gerhard Kocher ätzt: „Frühstück um 6, Mittagessen um 11, Abendessen um 5 – wer zweifelt da noch, dass unsere Krankenhäuser der Zeit voraus sind?“ (3) In „Auswege“-Camps sind Abläufe und Regeln transparent, sie werden erläutert und begründet, vorab und während des Aufenthalts. Immer bleiben sie auf dem Prüfstand, dem kritischen Feedback von Patienten und Mitarbeitern ausgesetzt. Laufend werden sie überdacht und gegebenenfalls modifiziert. Therapien werden nicht bloß durchgeführt, sondern erklärt – einfach und anschaulich, ohne Fachchinesisch; nicht nur auf seitenlangen Infoblättern, die weniger der Aufklärung des Patienten dienen als der juristischen Absicherung der Klinik, in einer Detailfülle, für deren sorgfältiges, kritisches Nachvollziehen und Überprüfen der gesamte Klinikaufenthalt nicht ausreichen würde. 4. Die „Auswege“-Klinik wäre ein Menschenhaus, ein Genesungshaus, kein „Krankenhaus“: kein „Gebäude, wo Kranken im allgemeinen zwei Arten von Behandlung zuteil werden – medizinische vom Arzt und menschliche vom Personal“, wie der Satiriker Ambrose Bierce witzelte. Bei uns fühlen sich Hilfesuchende nicht auf eine Patientenrolle reduziert, in der es ausschließlich um ihre Symptome, ihre funktionellen Beeinträchtigungen und organischen Defekte geht; sie sehen sich als Individuen angenommen, mit ihrer einmaligen Geschichte, ihren besonderen Lebensumständen, ihren Wesensmerkmalen, ihren Bedürfnissen, Sorgen und Ängsten. Ihnen würde Respekt zuteil. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, garantiert Artikel 1 des Grundgesetzes, unseres Wissens ohne den Zusatz „es sei denn, er muss ins Krankenhaus“. Unsere Therapeuten kümmern sich nicht um „die Schrumpfniere von Zimmer 13“, sondern um eine ganze Person. 5. Sie wäre ein Ort des Vertrautseins. Die Behandler bleiben keine Fremden. In vorweg zugesandten Profiltexten, in einführenden Veranstaltungen stellen sich alle Therapeuten vor, schildern ihren Lebensweg, erläutern ihre Qualifikationen, ihre Praxisschwerpunkte und ihre Vorgehensweise, anschließend lassen sie sich darüber ausfragen. Bezugspersonen wechseln nicht unentwegt, wie im Schichtdienst üblicher Krankenhäuser, sondern bleiben Hilfesuchenden vom ersten bis zum letzten Tag erhalten. Man bekommt sie nicht nur bei offiziellen Terminen zu Gesicht; von früh bis spät bleiben sie Teil des Geschehens: beim morgendlichen Yoga, am Frühstückstisch, bei der gemeinsamen Wanderung, in der Warteschlange am Essensbuffet, in Plauderrunden während Pausen. 6. Vertrauen braucht Zeit. Verhindert und zerstört wird es bei Hilfesuchenden, die schon nach durchschnittlich 15 Sekunden von ihrem Arzt unterbrochen werden, wenn sie ihre Probleme und Leidensgeschichte schildern wollen. (4) Deshalb sind „Auswege“-Camps Orte einer „sprechenden“ und „hörenden“ Medizin, bei der keiner ungeduldig auf die Uhr schaut und einen Dialog brüsk abbricht, ehe er richtig begonnen hat. 7. Wie in Urlaubsparadiesen, so in „Auswege“-Camps: Wenn zuviele den Zauber eines Orts suchen, verflüchtigt er sich. Statt in riesigen Gebäuden, auf verschiedene Stockwerke und Stationen verteilt, zu Hunderten nebeneinanderher zu wohnen, werden in „Auswege“-Camps maximal zwei Dutzend Patienten und ihre Angehörigen zu moderierten Heilgruppen zusammengeführt. In solchen überschaubaren sozialen Einheiten finden sie ständig Ansprechpartner, die zuhören, unterhalten, trösten, auf andere Gedanken bringen, ermutigen können. Im Rahmen eines Klinikbetriebs derartige Kollektive zu bilden, stellt eine organisatorische Herausforderung dar, die durchaus zu bewältigen ist. 8. Sie böte verbindende Rituale, die den Übergang aus/die Rückkehr in den Alltag erleichtern, Sicherheit geben und das Miteinander fördern: von Begrüßungs- und Verabschiedungszeremoniellen über gemeinsames Singen, Vorlesen, Tanzen, Trommeln und Spielen im täglichen „Morgenkreis“, der sich ans Frühstück anschließt, und gemeinsames Meditieren am Ende der Mittagspause bis zur abendlichen Gesprächsrunde im Anschluss an eine Filmvorführung, einen Workshop, einen Vortrag. 9. Die „Auswege“-Klinik ließe Hilfesuchenden größtmögliche Freiheit. Eine stationäre Unterbringung erleben Patienten gewöhnlich als drastische Einschränkung ihrer Selbstbestimmung. Über ihre Köpfe hinweg wird festgelegt, wer was wann wo mit ihnen macht; ihnen wird vorgeschrieben, was sie zu tun und zu unterlassen haben. In unseren Camps hingegen können Therapien und Therapeuten selbst gewählt werden, auf der Grundlage eingehender Vorinformationen und erläuternder Gespräche, im Vertrauen auf den mündigen Bürger im Patienten. Termine werden nicht vom Behandler diktiert, sondern mit ihm vereinbart. Ihre freie Zeit zwischen den Terminen können Teilnehmer nach eigenem Gutdünken gestalten, sei es im Haus oder außerhalb. 10. Sie wäre ein systemischer Ort, an dem Hilfesuchende nicht von ihrem vertrauten sozialen Netz abgeschnitten und isoliert betreut werden, sondern gemeinsam mit Menschen, die ihnen am nächsten stehen. Nicht nur zu festgelegten Besuchszeiten, sondern ständig sind begleitende Lebensgefährten, Kinder, Eltern willkommen, sie wohnen mit im Haus, sie werden in Konsultationen, in Therapien und das gesamte übrige Campgeschehen einbezogen. Ihre Angaben haben Gewicht, ihre Mitwirkung ist unverzichtbar. Auch sie werden beraten und behandelt. 11. Sie wäre ein Ort liebevoller Zuwendung. Dort verrichten Helfer nicht bloß professionell unterkühlt, gnadenlos zweckorientiert, profitmaximierend und jederzeit leitlinienkonform irgendwelche Maßnahmen – sie schenken Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Fürsorge. „Das zukunftsorientierte Krankenhaus muss ein besonderes Maß an Gemeinschaftlichkeit, an Menschlichkeit und Nächstenliebe möglich machen“, betont Ellis Huber. (5) Pflege, das Versorgen und Betreuen Kranker und Behinderter, wäre kein minderwertiges, zweitrangiges Anhängsel der „eigentlichen“ Therapie, sondern deren integraler, unabdingbarer Bestandteil. Die menschliche Nähe, die dabei gegeben und gespürt wird, „vermittelt Geborgenheit und damit etwas, aus dem man wieder Kraft schöpfen kann“, wie einer der namhaftesten Fürsprecher einer „liebevollen Medizin“ betont, Dietrich Grönemeyer, Professor für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke. (6) Liebe heilt. 12. Sie wäre ein Ort der dreifachen Gemeinschaft: Hilfesuchende werden angeregt, aufeinander zuzugehen, sich füreinander zu öffnen, sich mit ihnen auszutauschen, Zeit miteinander zu verbringen, einander zuzuhören, Anteil am Schicksal des Anderen zu nehmen, mitzuhelfen. Die Therapeuten stehen nicht besserwissend und autoritär über ihnen, sondern als freundliche, wohlwollende Wegbegleiter an ihrer Seite. Untereinander bilden die Helfer ein hierarchiefreies, von gegenseitiger Wertschätzung getragenes Team. Gegenseitiges Duzen empfindet niemand als peinlich. 13. Sie wäre ein sinnstiftender Ort. Hier beginnen Hilfesuchende, in ihrer Erkrankung nicht mehr die Ungerechtigkeit eines blinden Schicksals walten zu sehen, mit dem sie verbittert hadern müssen – sondern als Chance zu innerem Wachstum zu begreifen, als Türöffner zu einem bewussteren Leben mit neuen Perspektiven. 14. Die „Auswege“-Klinik wäre ein Ort erfüllten Helfens. Über Standesgrenzen hinweg fühlen sich alle Teammitglieder gleichermaßen geachtet. Keiner ist wichtiger. Jeder findet Gehör mit Einschätzungen, Anregungen und Kritik. Unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen greifen gleichwertig ineinander. Entschieden wird gemeinsam. Autorität beruht auf Kompetenz, Erfahrung und besseren Argumenten, nicht auf Positionen und akademischen Meriten. Hier gibt es keine Ober- und Unterärzte, keine Chefs und Untergebene, keine Profis über Laien. Entsprechend entspannt, harmonisch, vertrauensvoll, kooperativ ist die Arbeitsatmosphäre. Niemand muss sich überfordert fühlen: Wer Auszeiten benötigt, sieht in seinen Terminlisten Pausen vor, zieht sich für mehrere Stunden oder einen ganzen Tag zurück. Helfer können sich voll und ganz ihrer eigentlichen Aufgabe widmen: dem Dienst an Patienten; von aufwändigen Dokumentationspflichten werden sie weitgehend entlastet, von Organisationsabläufen, Verwaltungs- und Abrechnungsroutinen vollständig. „Auswege“-Camps sind frei von alledem, woran Umfragen zufolge zwei Drittel aller Klinikärzte und die Hälfte aller Pflegekräfte leiden: zuviel Bürokratie, zuwenig Entscheidungsbefugnisse, Zeitmangel, Leistungsdruck, Überforderung, schlechtes Arbeitsklima, mangelnde Anerkennung. (7) Wann immer sich Ärzte unseren Helferteams anschlossen, genossen sie das „Auswege“-Kontrastprogramm zu ihrem üblichen Arbeitsalltag – wie die Fachärztin Dr. Gisa Gerstenberg im Herbst 2022. „Für mich war es eine bewegende und bereichernde Erfahrung! Besonders beeindruckte mich das Arbeitssetting: die Möglichkeit, so menschlich simpel zusammenzuleben, dass dabei in jedem Moment ein Austausch, Therapie, Heilung möglich wurde - und das Ganze in größtmöglicher Selbstbestimmung - Wer arbeitet mit wem/ wie lange/mit welchem Inhalt -, in Ruhe und Freiheit. Dies war für mich ein großartiges Geschenk. Und eine Reflektionsmöglichkeit auf all das, wodurch ich mich in unserem Gesundheitssystem eingeengt fühle. Sehr gerne möchte ich weiter in diese wunderbare und erfrischende Gemeinschaft von Menschen eintauchen.“ 15. Es wäre ein heiterer Ort. Humor hilft heilen – nicht durch Fließbandproduktion von Witzen, sondern als eine Form menschlichen Verstehens und Umgehens miteinander, die dem Ernst der Lage trotzt, ohne ihn kleinzureden. Helfern wie Hilfesuchenden tut Humor im Sinne der sprichwörtlichen Begabung gut, trotzdem lachen zu können: der Unzulänglichkeit der Welt, der Mitmenschen und seiner selbst, den alltäglichen Schwierigkeiten und Missgeschicken mit heiterer Gelassenheit zu begegnen. (8) 16. Um einen Ort der Barmherzigkeit zu schaffen, ist kein Zeitalter zu modern. Weiterhin, wie bei all unseren Camps seit 2007, bliebe die „Auswege“-Klinik eine karitative Einrichtung: Wie bisher würden arme Hilfesuchende kostenlos beraten und behandelt, notfalls sogar kostenlos untergebracht und verpflegt. Leisten könnten wir uns das, wenn uns ausreichend Spenden zufließen – und weiterhin allen Mitwirkenden die Erfüllung im Helfen wichtiger ist als Einkommensmaximierung. Welche Art von "Optimierung" benötigen Kliniken? Brauchen wir wirklich neuartige Krankenhäuser dieser Art? Immerhin äußern sich 83 Prozent aller stationär Versorgten im nachhinein zufrieden mit der dortigen ärztlichen Versorgung, 82 Prozent mit der pflegerischen Betreuung, 79 Prozent mit Organisation und Service; 82 Prozent würden ihr Krankenhaus weiterempfehlen: Das ergab die Zwischenauswertung einer seit November 2011 laufenden Mammutstudie, bei der bundesweit bislang mehr als 1,5 Millionen Krankenversicherte im Anschluss an einen Klinikaufenthalt befragt worden sind. (9) Aber wie aussagekräftig ist solcherlei Lob? Zufrieden ist, wessen Erwartungen erfüllt oder übertroffen werden. Weil ein Großteil der Patienten vor Krankenhausaufenthalten eher mit dem Schlimmsten rechnet, sind sie leicht zufriedenzustellen und angenehm zu überraschen. Die meisten erwarten von vornherein nicht mehr, als sie aus ihren bisherigen Kontakten mit dem konventionellen Medizinbetrieb zu erwarten gelernt haben: dass dort Defekte der Körpermaschine festgestellt und repariert werden. Wievielen ist klar, was Heilwerden bedeutet; dass es darauf ankommt; was auf dieses Ziel hin nötig wäre? Vom „Krankenhaus der Zukunft“ wird indes nicht nur innerhalb der Stiftung Auswege geträumt, sondern seit längerem allerorts in unserem Gesundheitswesen: allerdings nicht aus wiederentdecktem Humanismus und einer breiten Trendwende zur Ganzheitsmedizin, sondern wegen materieller Sachzwänge. Angesichts explodierender Kosten für Therapien, Techniken, Betrieb und Personal fühlen sich Kliniken im Überlebenskampf genötigt, von einem fiskalischen, aus Steuermitteln finanzierten System zum kaufmännischen überzugehen. Im Hinblick darauf gilt es Strukturen, Prozesse und Ergebnisse zu „optimieren“. Dazu verhelfen soll professionelles „Qualitätsmanagement“, das in unserem Gesundheitswesen neuerdings zum Zauberwort geworden ist. Damit Praxen und Kliniken eine bessere Medizin bieten, hat der Gesetzgeber Institute beauftragt, Ausschüsse eingerichtet, Richtlinien erlassen, Regelwerke verbindlich gemacht, das Sozialgesetzbuch angepasst, einen Zertifizierungszwang angedacht. Im Vordergrund stehen dabei Faktoren wie organisatorische Abläufe, technische Ausstattung, Aus- und Fortbildungsstand des Personals, Dokumentation, Infektions- und Hygiene“management“, Sicherheit, Brandschutz, Arbeitsschutz, Abrechnungsverhalten, Arzneimittelverbrauch, Anzahl durchgeführter Maßnahmen, Beschaffung von Equipment, Rationalisierungspotentiale, Rentabilität. Das „Krankenhaus der Zukunft“, wie es betriebswirtschaftlichen und technologischen „Optimierern“ vorschwebt, ist papierlos, erstellt, archiviert und versendet Befunde elektronisch, schafft Online-Diktiergeräte und mobile OP-Tische an, computerisiert Patientenaufnahme und Anamnese, Gebührenerfassung und die Verarbeitung von Versicherungsansprüchen, „plant“ im voraus sogar „die Anzahl notwendiger Arzt/Patienten-Kontakte“ (10) führt Labor- und Radiologieinformationssysteme ein, setzt auf „Mobile Computing“ und „Hospital Engineering“. Anschließend müssen nur noch der Patient sowie das Klinikpersonal „optimiert“ werden, damit sie derart zurechtgemanagte Qualität tatsächlich als hilfreich und heilsam empfinden, sich freudig einfügen und „Optimiertes“ als optimal zu würdigen wissen. In einem derart reformierten Gesundheitswesen ist der Therapeut umso besser, je effizienter er immer bessere Maschinen und Software einzusetzen versteht – und der Hilfesuchende umso besser, je anspruchsloser er anstelle echter Fürsorge eine oberflächliche Kundenorientiertheit goutiert, die ihn zum Konsumenten, seine Gesundheit zur Handelsware macht. Kein „alternativer“ Außenseiter, sondern der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, prangert diese Fehlentwicklungen an: „Die Ökonomisierung schreitet ungebrochen voran. Daraus wird ein gefährlicher Trend“, warnte er bei der Eröffnung des 116. Deutschen Ärztetags im Mai 2013 in Hannover. „Im Krankenhaus bekommt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einen höheren Stellenwert als die medizinische Leistungsfähigkeit, die Qualität der Patientenversorgung und die Humanität in der Daseinsvorsorge für die uns anvertrauten Patienten.“ (11) Eine unzweifelhaft optimale Goldgrube stellt diese Art von Gesundheitsreform für Unternehmensberater, IT-Dienstleister, Softwareentwickler und Zertifizierer dar, weshalb die von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag vom November 2013 ausgerufene „Qualitätsoffensive“ (12) in erster Linie von Akteuren vorangetrieben und dominiert wird, deren geschäftliche Interessen sie maximal befriedigt – von finanziellen Nutznießern der „Optimierungsrevolution“. (13) Unter ihrer opinion leadership haben sich Prioritäten grotesk verschoben. Von den Betroffenen ausgehend, hätte „Ergebnisqualität“ unbedingt Vorrang: Welche Art von Klinik macht Patienten am ehesten wieder gesund – und schafft jenen, die dabei helfen, möglichst befriedigende, erfüllende Arbeitsbedingungen? Einer humanen Krankenhausreform hätte eine Kulturreform vorauszugehen, die Veränderungen von den beteiligten Menschen her denkt und plant: Was ist zu tun, damit es ihnen besser geht? Vor allem daraufhin müssten Strukturen und Prozesse optimiert werden. Die Propagandisten der „Optimierung“ hingegen treibt die Frage um: Wie bringen wir Heilungsuchende und Heilende dazu, Strukturen und Prozesse optimal zu finden, die es aus betriebswirtschaftlicher und technologischer Sicht sind – sowie politische Entscheider und Klinikbetreiber dazu, hierfür teuer zu bezahlen? Dabei wäre, worauf es bei medizinischer Qualität eigentlich und zuallererst ankommt, mühelos feststellbar: durch Besuche in unseren Therapiecamps. „Qualitätsmanager“ sind dort nicht anzutreffen, reichlich Qualität hingegen durchaus. Und deshalb sind zwei Wochen „Auswege“-Campklinik pro Jahr im Grunde viel zu wenig. „Warum sollten solche Gesundheitscamps nicht irgendwann das ganze Jahr ablaufen?“, fragt uns Dr. Johannes Engesser, ein Arzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren, nachdem er drei Tage lang ins Campgeschehen eintauchte – „immer mit verschiedenen Ärzten und Therapeuten, die ihr Potenzial gerade zur Verfügung stellen können, immer an anderen geeigneten Orten, immer mit anderen Patienten, so oft und so lange die das brauchen?“ (Harald Wiesendanger) Anmerkungen 1 Gerhard Kocher: Vorsicht, Medizin! 1555 Aphorismen und Denkanstöße, Bern, 3. Aufl. 2006. 2 Ellis Huber: Liebe statt Valium – Konzepte für eine neue Gesundheitsreform, München 1993, aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe 1995, S. 91 f. 3 in Vorsicht, Medizin!, a.a.O. 4 Nach Journal of the American Medical Association 298/2007, S. 993. 5 In einem Interview mit Weleda Nachrichten 216/1999, S. 6 ff.: „Das Krankenhaus der Zukunft – Vom Überlebensraum zum Lebensraum“, dort S. 11. 6 In seinem Beitrag „Eine liebevolle Medizin ist keine Utopie“, in Arnulf Thiede/Heinz-Jochen Gassel (Hrsg.): Krankenhaus der Zukunft, Heidelberg 2006, S. 81-87, dort S. 82. 7 Katharina Janus/Volker E. Amelung u.a.: „German physicians ‚on strike’ - Shedding light on the roots of physician dissatisfaction“, Health Policy 82 (3) 2007, S. 357–365; Werner Schweidtmann: „Berufszufriedenheit und Identität bei Ärzten und Pflegepersonal im Krankenhaus“, Prävention 21 (4) 1998, S. 120-123; F. W. Schwartz/P. Angerer (Hrsg.): Arbeitsbedingungen und Befinden von Ärztinnen und Ärzten – Befunde und Interventionen, Köln 2010; Bettina Dilcher/Lutz Hammerschlag (Hrsg.): Klinikalltag und Arbeitszufriedenheit, 2. Aufl. Wiesbaden 2013. 8 So definiert der Duden: Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1989, S. 294. 9 Achim Kleinfeld/Marcel Weigand u.a.: „Patientenperspektiven als Element der Krankenhaus-Qualitätssicherung“, BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2014, S. 76–89. 10 Nach European Health Forum Gastein (EHFG), der führenden gesundheitspolitischen Konferenz für Experten und Entscheidungsträger in der Europäischen Union: „Das Krankenhaus der Zukunft: Betten zählen war gestern“, online hier. 11 Pressemitteilung der Bundesärztekammer: „116. Deutscher Ärztetag in Hannover eröffnet“, online hier. 12 Online nachzulesen hier. 13 Siehe hierzu beispielsweise das Krankenhaus-IT Journal 2/2007, S. 76 ff.: „Führungskräfte skizzieren das Krankenhaus der Zukunft“; www.behoerden-spiegel.de: „Krankenhaus der Zukunft“; www.hospital-engineering.org: „Hospital Engineering – Innovationspfade für das Krankenhaus der Zukunft“; Hospital Engineering Magazin 4/2014: „Koloss Krankenhaus – Strategien zur Steuerungsfähigkeit eines schwerfälligen Giganten“; Elektronik Praxis Nov. 2012: „Blue Hospital – Wie das Krankenhaus der Zukunft aussehen könnte“, online hier. 14 Veröffentlicht in Berliner Ärzte 9/2002, online nachzulesen hier. 15 Online nachzulesen hier.

  • Unter den Teppich gekehrt

    Unterschätzte Amateure können mit Seelenheilberuflern zumeist mithalten, wann immer Therapieforscher beide gegeneinander antreten lassen. Diese oberpeinliche Faktenlage birgt gesundheitspolitischen und –ökonomischen Sprengstoff ohnegleichen. Deshalb scheint in Fachkreisen ein stillschweigendes Einvernehmen zu herrschen, sie tunlichst nicht an die große Glocke zu hängen. Viele Laien helfen psychisch Belasteten nicht schlechter als Psycho-Profis: In der Seelenheilbranche würde dies weiterhin zu den bestgehüteten Betriebsgeheimnissen zählen und tunlichst unter Verschluss gehalten, wie die Wahrheit um manipulierte Motorsteuerungen bei Deutschlands größten Autokonzernen - wenn nicht aufsässige Systemkritiker sie blöderweise in Fachzeitschriften und Internetportalen aufgestöbert hätten. Unter den Teppich kehren klappt nicht mehr. Der Geist ist aus der Flasche, darauf harrend, Nebelwerfer fortzuscheuchen und eine überfällige Debatte über den psychologischen Zweig unseres Gesundheitswesens anzuzetteln. Der Preis ist heiß: Auf dem Spiel stehen für die Akteure und Profiteure der heutigen Psychomedizin nicht weniger als Expertenstatus, Einkünfte und Einfluss, Pfründe und Privilegien, Sozialprestige und Selbstverständnis. Evidenzbasierte Blamage Den Stein ins Rollen brachte einer der in Fachkreisen meistzitierten Sozialwissenschaftler unserer Zeit: der US-Psychologe Robert Carkhuff, dessen Bestseller weltweit über eine Million Mal verkauft wurde. 1968 legte er eine Auswertung von 30 Studien vor, die verglichen hatten, was unausgebildete und akademisch geschulte Seelenhelfer zustande bringen. (1) An Eindeutigkeit ließ sie nichts zu wünschen übrig: Profis erwiesen sich durchweg als unterlegen. „Es ist offensichtlich“, so Carkhuff, „dass Laien in kurzer Zeit lernen können, günstige Veränderungen in Klienten hervorzurufen. (…) Wir können uns nicht länger, auf deren Kosten, den Luxus leisten, von einer höheren Wirksamkeit professioneller Behandlungen auszugehen.“ Sechs Jahre später nahm sich Averil Karlsruher, ein kanadischer Psychologe von der University of Manitoba in Winnipeg, 27 Untersuchungen vor, die professionelle und Laienbehandler in stationären psychiatrischen Einrichtungen verglichen hatten. In 26 schnitten die Profis schlechter ab, in einer einzigen erreichten sie annähernd gleich viel wie die Amateure. (2) Beide Arbeiten fanden in Fachkreisen zunächst keine nennenswerte Beachtung – erstaunlicherweise, in Anbetracht ihrer Brisanz. Ihr beschämender Befund erhitzte die Gemüter erst, als ein Professor für Klinische Psychologie an der Loyola-Universität von Chicago, Joseph A. Durlak, ihn mit einer weiteren, noch umfangreicheren und anspruchsvolleren Metaanalyse untermauerte. Er konzentrierte sich auf 42 Vergleichsstudien, die gewissen Mindestanforderungen zur Vorgehensweise genügt hatten, und gewichtete sie nach der Güte ihres Designs. Bloße Einzelfallschilderungen hatte er vorher aussortiert, ebenso Arbeiten, die als Erfolgskriterium lediglich die subjektive Einschätzung der Behandler herangezogen hatten. Aber auch nach dieser Vorauswahl - mit zwei Veröffentlichungen aus Carkhuffs Datenbasis, fünf aus der von Karlsruher und 35 weiteren – konnte Durlak keine Entwarnung geben, im Gegenteil: In zwölf Studien erwiesen sich Laienhelfer als deutlich überlegen, in 28 immerhin als gleichwertig; bloß in einer – einem Projekt mit 234 übergewichtigen Erwachsenen – hatten Profis ein bisschen mehr bewegt. Amateure, so fasste Durlak zusammen, „erreichen im klinischen Bereich gleiche oder deutlich bessere Ergebnisse als Professionelle“. Demnach sind „Ausbildung, Training und Erfahrung im klinischen Bereich keine notwendigen Voraussetzungen für eine wirksame Helferpersönlichkeit.“ (3) Jetzt endlich setzte in Fachkreisen eine heftige Auseinandersetzung ein. An Gehässigkeit war sie mitunter kaum zu überbieten. Aufgebrachte Kritiker unterstellten „Irreführungen“ und „betrügerische Darstellungen“. So kam es binnen acht Jahren zu vier weiteren aufwändigen Metaanalysen; allesamt zielten sie darauf ab, Durlak schwerwiegender Versäumnisse und Fehlschlüsse zu überführen. Der erste namhafte Zweifler, der sich Durlaks Ausgangsstudien vorknöpfte und vermeintlich unzulängliche ausklammerte, war Michael T. Nietzel, Professor an der Missouri State University in Springfield und sechs Jahre lang deren Präsident. Nach Maßstäben, die ihm streng genug vorkamen, musste er 1981 kleinlaut einräumen: Tatsächlich „erzielen Laienhelfer (…) gleiche oder bessere Ergebnisse als Therapeuten mit höchsten Abschlüssen.“ (4) 1984 machte sich ein Professor aus Neuseeland, John Allan Hattie von der Universität Auckland, ebenfalls daran, Durlaks Daten zu zerpflücken – und konnte dessen Schlüsse letztlich bloß bestätigen. (5) „Macht professionelles Training einen Therapeuten effektiver?“, fragte kurz darauf der Psychologieprofessor Jeffrey S. Berman von der Universität Memphis. „Wie wir einräumen müssen, lautet die Antwort: nein“, schloss 1985 auch dessen Metaanalyse. „Ausgebildete und unausgebildete Therapeuten erzielen vergleichbare Ergebnisse. (…) Die Überlegenheit des professionell ausgebildeten Therapeuten bleibt eine unbewiesene Behauptung.“ (6) Die größte Anzahl an Vergleichsstudien sichtete 1987 ein deutsches Forscherteam: Thomas Gunzelmann von der Abteilung für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Leipzig, Günter Schiepek vom Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung der Paracelsus-Universität Salzburg, sowie Hans Reinecker, Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Bamberg. Nach aufwändiger Literaturrecherche berücksichtigten sie nicht weniger als 184 Vergleichsstudien, neben Durlaks und Hatties Ausgangsmaterial noch 142 weitere. Und auch sie mussten Laienhelfern verschwurbelt eine „adäquate therapeutische Effektivität“ bescheinigen, weil sie „tatsächlich einige Argumente“ fanden, die sie „in einem günstigen Licht erscheinen lassen“. (7) Aus diesem Diskussionsverlauf zog der zuerst gescholtene, dann entlastete Durlak den naheliegenden Schluss: „Wenn widerstreitende Autoren zu ähnlichen Ergebnissen gelangen, dürfte dies besonderes Gewicht haben.“ (8) Nüchtern festzustellen, dass diese verstörende Sachlage von der Fachwelt seither „nicht gebührend aufgegriffen“ wurde (9), wäre krass untertrieben. Hätten Durlaks mehrfach bestätigte Erkenntnisse nicht umgehend höchste Wellen schlagen müssen, zumal sie dem akademischen Selbstverständnis krass zuwiderliefen? Still ruht der See Nichts dergleichen geschah. Still ruht der See seither, die Fachwelt schweigt. Seit nunmehr über einem halben Jahrhundert liegt Durlaks Diskussionsfaden abgerissen herum, und keiner denkt im Traum daran, ihn aufzuheben. Kongresse, Symposien, Tagungen darüber? Null. In Fachgremien und Ausschüssen: kein Thema. In Lehrplänen und Veranstaltungen der psychologischen Fakultäten: nicht vorgesehen. In gängigen Lehrbüchern für Studenten: inexistent. In Zeitschriften, Infobroschüren, Internetseiten der Standesorganisationen: kein Wort darüber. Branchenintern sorgt das Stichwort „Durlak“ freilich ebenso zuverlässig für steilgestellte Nackenhaare wie „Snowden“ bei amerikanischen Geheimdienstlern, „Küng“ bei katholischen Klerikern, „Wagenknecht“ bei Mitgliedern der “Linken”. Mucksmäuschenstill hütet die Zunft ein hochbrisantes Geheimnis: In ihrem Zuhause lagert tonnenweise Sprengstoff, mindestens so explosiv wie alles, was bombende Dschihadisten jemals herankarren können, zwar nicht tödlich, wohl aber existenzgefährdend. Hielte jemand ein Zündholz an die Lunte, flöge ihnen womöglich der ganze Laden um die Ohren. Offenkundig geht es hier um „die Unterdrückung von Erkenntnissen“, schwant der Erziehungs- und Kulturwissenschaftlerin Hildegard Müller-Kohlenberg von der Universität Osnabrück, die dem Thema „Laienkompetenz im psychosozialen Bereich“ ein fachkritisches Buch widmete. (10) Eine Revolution tut not Und deshalb tut eine Revolution not -  im ursprünglichen Wortsinn. Das spätlateinische Wort revolutio bedeutet ein „Zurückwälzen“, und eben darum geht es: nicht um ein utopieberauschtes Einführen von etwas noch nie Dagewesenem, sondern ums Rückbesinnen und Wiederherstellen. In der Betreuung psychisch Belasteter spielte Laienpsychotherapie nämlich jahrtausendelang eine überragende Rolle, bis vor kurzem war sie weitgehend konkurrenzlos, und außerhalb der Ersten Welt ist sie das weiterhin. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geriet ein psychisch Belasteter erst unter fachmännische Aufsicht, wenn er derart verwirrt, Anderen und sich selbst so gefährlich war, dass es seinen überforderten Angehörigen das beste schien, ihn einer Irrenanstalt zu überlassen. Minder schwere Seelennöte hingegen stand man entweder ohne fremde Hilfe durch, mittels Beten, Arbeiten, Selbstdisziplin, Ablenkung, geduldigem Abwarten. Oder ihrer nahm sich die Sippe an, der Familienverband, die besten Freunde, ein guter Nachbar, die Kirchengemeinde. Für professionelle Psychotherapie bestand weder Bedarf noch Nachfrage, und zumindest außerhalb der westlichen Industrienationen und aufstrebender Entwicklungsländer hat sich daran bis heute nichts geändert. Auf Haiti und Madagaskar, in Mali und der Mongolei, in Bolivien und Botswana, in Polynesien und Usbekistan boomt Seelenschürferei nicht im entferntesten. (11) Triumphzüge feiert sie hingegen, wo sich das soziale Bindegewebe auflöst. Wo zwischenmenschliche Nähe und Tiefe verlorengeht. Wo Freunde fürs Leben vornehmlich in Groschenromanen und alten Schwarzweißfilmen zu besichtigen sind. Wo verlässliche, krisenfeste, dauerhafte Beziehungen immer rarer werden, jederzeit aufkündbar und austauschbar erscheinen. Im Zeitalter von Single-Haushalten, Scheidungswaisen und in Heime entsorgten Alten, von Ich-AGs und LABs („Lebensabschnittsbegleitern“), von Facebook-Belanglosigkeiten, von 140-Zeichen-Tweets, SMS-Sprachfetzen und Smiley-Kommunikation, von Rivalität und Konkurrenzneid am Arbeitsplatz, von anonymem Nebeneinanderherwohnen zusammengewürfelter Mietparteien in Hochhausappartments oder Reihenhausparzellen strebt soziale Wärme einem eiszeitlichen Temperaturniveau entgegen, in dem Mühselige und Beladene noch rascher frieren als ohnehin. In persönlichen Krisenzeiten fühlen sie sich alleingelassen, unverstanden, ungeliebt, einsam. Dass mancher US-Psychotherapeut mit dem Slogan Rent a Friend erfolgreich Kundenfang betreiben kann, spricht Bände. Die vielgepriesene „psychoanalytische Revolution“, seit welcher ihr Begründer Sigmund Freud als welthistorischer Titan auf einer Stufe mit Darwin und Einstein gefeiert wird, trug das ihrige bei. Zuvor war unsereins, wenn es ihm schlecht ging, banalerweise bloß traurig, unsicher, ängstlich, mutlos, erschüttert, unbefriedigt, schüchtern, grüblerisch, wehmütig, wütend, verbittert, unausgeglichen, wankelmütig oder verschlossen gewesen. Doch nun hatten Ärzte herausgefunden, dass unsere Seele in Wahrheit ein äußerst zerbrechliches, hochkomplexes Etwas mit einem ungeahnten, geheimnisvollen, dem Bewusstsein unzugänglichen Eigenleben darstellt, voller rätselhafter Besonderheiten wie dunkler Triebe aus den Abgründen des „Es“, mächtiger Kontrollinstanzen, raffinierter Abwehrmechanismen und verdrängter Sehnsüchte. Staunend erfuhr man von der Bedeutungsschwere eines Versprechers, von infantiler Sexualität und fixierter Libido, vom Ödipuskomplex, vom Penisneid und der verkappten Erotik eines jeden Traums. Die Seele wurde zum minotaurischen Labyrinth, in dem ihr Besitzer ahnungslos umherirren muss. Versteht es sich nicht von selbst, dass nur der Fachmann im Besitz des Ariadnefadens sein kann, der aus der finsteren Wirrnis herausführt? Auch allgemeine Wissenschaftsgläubigkeit und Medienpropaganda trugen dazu bei, Laienhilfe in Verruf zu bringen. Besonders mächtig wirkt neuerdings zudem die Verheißung der „Selbstoptimierung“ als Schlüssel zum Glück: In die hängenden Köpfe von Leichtgläubigen, die sich schwach, minderwertig, erfolglos, unerfüllt, verzagt, ängstlich und unglücklich fühlen, pflanzte sie den festen Glauben ein, mittels geeigneter Psychotechniken könne man sich tiefgreifend wandeln, von lästigen Schwächen und Makeln freimachen, ein prachtvolles „wahres Selbst“ zum Vorschein bringen. Ungeahnte kreative Potentiale, bislang eingekerkert im Seelengrund, sollen unter sachkundiger Anleitung endlich entfesselt, ans Licht befördert und zur vollen Entfaltung gebracht werden können. Dem geduckten, gelähmten Ego sollen Flügel wachsen, um sich zu einem neuen, ganz wundervollen Dasein emporzuschwingen: eine Selbsterlösung verheißende Botschaft, die für kerngesunde Hausfrauen, Einzelhandelskaufleute, Bürohilfen und Manager ebenso verführerisch klingt wie in den Ohren von Neurotikern. Wie könnten Laien von den fabelhaften Techniken, die solches Heil zuverlässig herbeischaffen sollen, den blassesten Schimmer haben? Wacklige Grenzzäune Laien kämen bloß vergleichsweise harmlosen Alltagsproblemen bei, Profis hingegen auch „schweren, tiefgehenden, komplexen und weitreichenden Problemen“, heißt es gelegentlich. (12) Wer bedenkt, wie oft Probleme beliebiger Störungstiefe unter Lebensgefährten, Freunden und Familienmitgliedern erfolgreich angegangen werden, während sie in Profipraxen unbewältigt liegenbleiben, kann darin nur ein Marketinggerücht sehen, solange empirische Forschung ihn nicht eines besseren belehrt, Durlak widerlegend. Laien können allenfalls beraten, aber nicht behandeln, wenden Profis ein und warnen vor einer „Vermischung“. (13) Aber was unterscheidet beides denn grundsätzlich? Berät nicht jeder Behandler? Behandelt nicht jeder Berater? Psychotherapie, so belehrt man uns nebulös, biete einen „Heilungsdiskurs“; „behandelt Menschen, die an Krankheiten leiden“; verwende „deutende und aufdeckende Techniken“. Beratung hingegen bringe bloß einen „offenen Hilfediskurs“ zustande; sei lediglich auf „eine gute Lösung“ aus; setze allenfalls „unterstützende Techniken“ ein. (14) Sind solche Abgrenzungen nicht willkürlich und wirklichkeitsfremd? Im Alltag, wie auch in den Sommercamps meiner Stiftung Auswege, verschwimmen sie, die Übergänge verlaufen fließend. Laien, die einfühlsam und verständnisvoll einen Nächsten beraten – ob im Zweiergespräch oder in der Gruppe -, können dabei ebenfalls deuten, aufdecken, heilsam wirken. Größtenteils intuitiv, aber erstaunlich erfolgreich nutzen sie dabei Verfahrensweisen der Psychotherapie. Andererseits gehen natürlich auch berufsmäßige Therapeuten offen, unterstützend und lösungsorientiert vor. Im übrigen zeigen etliche Vergleichsstudien: Beratung und Psychotherapie sind alles in allem gleich wirksam. (15) Profis nähmen sich viel mehr Zeit, heißt es. Dies sei auch unbedingt geboten. Denn die inneren Prozesse, die sie auslösen, müssten ganz sachte in Gang kommen und behutsamst vorangetrieben werden. Aber welche zeitlichen Vorteile bringt eine Hilfe, die in der Regel nach 45 von mehr als 10.000 Wochenminuten pünktlich endet? Die nicht greifbar ist, wenn sie am allernotwendigsten wäre, sondern nur strikt nach Terminkalender zu haben ist? In den „Auswege“-Camps schaut jedenfalls kein unprofessioneller Helfer auf die Uhr. Ansprechbar ist er jederzeit. Und sind therapeutische Prozesse, die im Schneckentempo vorankriechen, grundsätzlich erstrebenswerter als solche, die zügig zu Lösungen führen? Beim Beistehen, wie überhaupt, ist Langsamkeit kein Wert an sich. Was allein zählt, ist das Ergebnis. Bei Psychoanalytikern liegen Patienten im Durchschnitt vier Jahre bzw. 371 Stunden auf der Couch. (16) Einem Großteil geht es hinterher erheblich schlechter als seelisch Belasteten nach ein bis zwei Dutzend Sitzungen im Laufe einer “Auswege”-Campwoche. Der Nachweis, dass akademisch geschulte, staatlich lizenzierte Helfer tatsächlich Experten darin sind, mit welchen Mitteln man psychischen Erkrankungen entgegenwirken kann, steht demnach aus. Also gibt es keinen vernünftigen Grund, Laien von der medizinischen Versorgung psychisch Kranker auszuschließen. Zur Eindämmung der Kostenexplosion im Gesundheitswesen könnte wesentlich beitragen, Ärzten und Psychotherapeuten das Behandlungsmonopol bei seelischen Nöten zu entreißen - und geeignete Amateure einzubeziehen. Für die Stiftung Auswege folgt daraus: Nichts spricht dagegen, in ihren Therapiecamps psychisch Belastete durch medizinisch und psychotherapeutisch Unausgebildete betreuen zu lassen, die längst unter Beweis gestellt haben, dass sie das können. (Harald Wiesendanger) Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF. Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“) 1        Reichlich erforscht: Viele Laien können mehr 2        Unter den Teppich gekehrt 3        Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker 4        Wie viel bringt Psychotherapie wirklich? 5        Warum nützt Psychotherapie? 6        Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind 7        Hochstapler unter Hochstaplern 8        Psychotherapie als Gefahrenherd 9        Nase vorn: Was viele Profis besser können – und weshalb 10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik Anmerkungen 1  Robert R. Carkhuff: „Differential functioning of lay and professional helpers“, Journal of Counseling Psychology 15 (2) 1968, S. 117-126, dort S. 122. 2  Averil E. Karlsruher: „The nonprofessional as a psychotherapeutic agent“, American Journal of Community Psychology 2 (1) 1974, S. 61-77. 3  Joseph A. Durlak: „Comparative effectiveness of paraprofessional and professional helpers“, Psychological Bulletin 86 (1) 1979, S. 80-92, dort S. 85. 4  s. M. T. Nietzel/S. G. Fisher: „Effectiveness of professional and paraprofessional helpers: A comment on Durlak“, Psychological Bulletin 89 (3) 1981, S. 555-565. 5  J. A. Hattie/C. R. Sharpley/H. J. Rogers: „Comparative effectiveness of professional and paraprofessional helpers“, Psychological Bulletin 95 (3) 1984, S. 534-541. 6  J. S. Berman/N. C. Norton: „Does professional training make a therapist more effective?“, Psychological Bulletin 98 (2) 1985, S. 401-407, dort S. 405. 7  T. Gunzelmann u.a.: „Laienhelfer in der psychosozialen Versorgung ...“, a.a.O., S. 379. 8  Joseph A. Durlak: „Evaluating comparative studies of paraprofessional and professional helpers: A reply to Nietzel and Fisher“, Psychological Bulletin 89 (3) 1981, S. 566-569. 9  Hildegard Müller-Kohlenberg: Laienkompetenz im psychosozialen Bereich, Opladen 1996, S. 5. 10  Müller-Kohlenberg, a.a.O., S. 19. 11  Hingegen wird aus Japan, China und Thailand, auch aus Teilen Afrikas neuerdings eine sprunghaft steigende Nachfrage nach Psychotherapien gemeldet – von überall, wo die industrielle Entwicklung rasant fortschreitet und die Sippengesellschaft zusammenbricht; s. Christina Fürst: „Psychotherapie boomt weltweit“, Focus Online 5.5.2006. 12  S. Schiersmann/H.-U. Thiel: „Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen - eine Theorie jenseits von „Schulen“ und „Formaten“, in dies. (Hrsg.): Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen, Göttingen 2012, S. 14-78. 13  R. Ningel: Methoden der Klinischen Sozialarbeit, Stuttgart 2011, S. 211. 14  Gesammelte Zitate aus F. Engel/F. Nestmann/U. Sickendiek: „’Beratung’ – ein Selbstverständnis in Bewegung“, in dies. (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung, Band 1: Disziplinen und Zugänge, Tübingen 2004, S. 37; R. Schwing/A. Fryszer: Systemisches Handwerk – Werkzeug für die Praxis, Göttingen 2009, S. 12; H. Gutsche: „Abgrenzung und Gemeinsamkeiten von Psychologischer Beratung vs. Psychotherapie“, Paracelsus Magazin 1/1999. 15  Entsprechende Untersuchungen fasst die Erziehungswissenschaftlerin Hildegard Müller-Kohlenberg zusammen in ihrem Buch Laienkompetenz im psychosozialen Bereich, a.a.O.; dies.: „… hilfreich und gut!’ Die Kompetenz der Laien im psychosozialen Bereich“, in: Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (Hrsg.): Laienkompetenz. Wirksame Arbeit von Ehrenamtlichen in psychosozialen Handlungsfeldern, Köln 2000, S. 19-35. 16  Nach Deutsches Ärzteblatt 98 (30) 2001: „Psychoanalyse: Schwierige Evaluation“. Titelbild: Drazen Zihic/Freepik

  • Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker

    Auf Forschungsergebnisse, die ihr Monopol gefährden, reagieren die Standesorganisationen der Psycho-Profis seit eh und je überaus gereizt und beleidigt. Sie sollten einem weisen Vogel aus dem Wunderland lauschen. Wie kann man allen Ernstes behaupten, ein fünfjähriges Hochschulstudium (1), mit einem Arbeitsaufwand von mindestens 9000 Stunden - einschließlich “berufspraktischer Einsätze” von mindestens 570 Stunden (Bachelor) plus 750 Stunden (Master) - sorge bei wissenschaftlichen Psychologen für keinerlei Kompetenzvorsprung? Wie könnte eine anschließende therapeutische Ausbildung, die mehrere zehntausend Euro kostet - mit zusätzlichen Abertausenden Stunden weitere Theorie, Behandlung unter Supervision, Selbsterfahrung und praktische Tätigkeit - weitgehend für die Katz sein? Noch hirnrissiger muten Zweifel an Sachverstand von psychospezialisierten Ärzten an. Um einer zu werden, muss man erst mal zwölf bis dreizehn Semester Medizin studiert haben. Erst dann kann man sich auf Psychiatrie und Psychotherapie konzentrieren, und dabei vergehen fünf bis sechs weitere Jahre. Die Ausbildung zum Arzt kostet den Staat rund 200.000 Euro pro Student - mehr als jeder andere Studiengang (2) -, die anschließende Weiterbildung zum Facharzt nochmals das Doppelte bis Vierfache. (3) Sollte dieser gewaltige Aufwand nicht zuverlässig Könner hervorbringen, die Laienhelfer locker in den Schatten stellen? Ihren empörten Widerstand stützen Fachkreise vornehmlich auf den Standpunkt: Nur Experten konnten sich geeignete Techniken aneignen, um psychischen Erkrankungen beizukommen. Welcher Amateur beherrscht schon die filigranen Vorgehensweisen eines Freudschen Analytikers, eines Tiefenpsychologen nach C. G. Jung, eines kognitiven Verhaltenstherapeuten? Standesdünkel auf tönernen Füßen Doch bei näherer Betrachtung erweist sich überraschenderweise: Dieser Dünkel kommt auf tönernen Füßen daher. Denn in Wahrheit sind Techniken in der Psychotherapie weitgehend unerheblich. Wer Lewis Carrolls Kinderbuch Alice im Wunderland kennt, wird sich an jenen kuriosen Wettlauf erinnern, bei dem niemand herausfindet, wie weit und wie lange die Teilnehmer gerannt sind. Als der putzige Vogel Dodo gefragt wird, wer denn nun der Sieger sei, sagt er: „Jeder hat gewonnen und alle müssen Preise bekommen.“ In solch wunderländischem Wettbewerb stehen all die psychotherapeutischen Verfahren, die Hilfesuchende vor die schweißtreibende Qual der Wahl stellen. Auf 300 bis 400 schätzten Fachleute ihre Anzahl schon Ende der achtziger Jahre (4). Eine Metaanalyse von fast 400 Therapie-Vergleichsstudien ergab (5): Keine bringt rein gar nichts, keine nützt immer, keine ist den übrigen deutlich überlegen. Sie alle sind annähernd gleich wirksam (6), und dieser Sachverhalt wird als „Dodo-Bird-Verdikt“ (7) bezeichnet, gelegentlich auch als „Äquivalenzparadox“. In diesem Licht erweist sich die sogenannte „Differentielle Indikation“ – die Beurteilung, welche Form von Therapie bei welcher Störung angezeigt ist – als windige Luftnummer. Wenn im großen und ganzen keine Methode mehr ausrichtet als die andere, machen jene den Unterschied, die sie anwenden; Patienten brauchen den passenden Therapeuten. Zwar sollen vereinzelte Studien ergeben haben, dass ein psychisch Angeschlagener eher von einer mäßig strukturierten, zwanglos begleitenden Vorgehensweise wie der Gesprächstherapie profitiert, wenn sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung besonders ausgeprägt ist, oder wenn er sich stark „reaktant“ gibt, d.h. auf Abwehr schaltet, sobald er sich unter Druck gesetzt fühlt. Andererseits scheinen einem Hilfesuchenden, der zur Unterordnung neigt, eher anleitende, auffordernde, Ziele vorgebende Verfahren wie die Verhaltenstherapie gutzutun. (8) Doch letztlich ist es kein methodisches Abstraktum, das Menschen an die Hand nimmt oder ihnen Freiraum lässt, sondern die individuelle Persönlichkeit des jeweiligen Behandlers. Worauf er aus ist, kann er mit jeder beliebigen Technik erreichen - oder verfehlen. (Harald Wiesendanger) Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF. Das Titelbild stammt von Microsofts KI „Bing Image Creator“. So illustrierte sie meine Vorgabe “Dodo Bird in Psychotherapy”. Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“) 1        Reichlich erforscht: Viele Laien können mehr 2        Unter den Teppich gekehrt 3        Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker 4        Wie viel bringt Psychotherapie wirklich? 5        Warum nützt Psychotherapie? 6        Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind 7        Hochstapler unter Hochstaplern 8        Psychotherapie als Gefahrenherd 9        Nase vorn: Was viele Profis besser können – und weshalb 10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik Anmerkungen 1  “Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten” vom 15.11.2019, https://www.gesetze-im-internet.de/psychthg_2020/BJNR160410019.html, § 9, Absatz (2) 2  Nach www.praktischarzt.de: „Medizin - der teuerste Studiengang“, abgerufen am 5.1.2017. 3  Nach Zimmer Eins - das Patientenmagazin 2/2016, S. 56: „Hauptsache gesund“. 4  Eckhard Giese/Dieter Kleiber (Hrsg.): Das Risiko Therapie, Weinheim 1989, S. 20. 5 Mary Lee Smith/Gene V. Glass: „Meta-Analysis of Psychotherapy Outcome Studies“, American Psychologist Sept. 1977, S. 752-760. 6  Den Forschungsstand hierzu fassen zusammen: B. E. Wampold: The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings, Mahwah/ London 2001; R. Dawes: House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth, New York 1996; L. J. Groß: Ressourcenaktivierung als Wirkfaktor in der stationären und teilstationären psychosomatischen Behandlung, Dissertation, Nürnberg 2013. 7   Lester Luborsky/Barton Singer/Lisa Luborsky: „Comparative studies of psychotherapies: Is it true that ‚everyone has won and all must have prizes’?“, Archives of General Psychiatry 32 (8) 1975, S. 995-1008; siehe auch J. Siev u.a.: “The Dodo Bird, Treatment Technique, and Disseminating Empirically Supported Treatments”, The Behavior Therapist 32 (4) 2009. 8 K. Grawe/F. Caspar/H. Ambühl: „Die Berner Therapievergleichsstudie: Wirkungsvergleich und differentielle Indikation“, Zeitschrift für Klinische Psychologie 19/1990, S. 338-361; K. Grawe: „Psychotherapieforschung zu Beginn der neunziger Jahre“, Psychologische Rundschau 43/1992, S. 132-162, dort ib. S. 148-150.

  • Wie viel bringt Psychotherapie wirklich?

    Dass professionelle Seelenhilfe nützt, steht für Fachkreise außer Frage. Zweifel daran werden als völlig absurd und wissenschaftlich widerlegt abgetan. Zu Unrecht. „Die Psychotherapie zählt zu den wirksamsten Verfahren der Medizin”, so versichert uns ein Autorenteam um Professor Ulrich Schnyder, als Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsspitals Zürich und Ex-Vorsitzender dreier Branchenverbände in Fachkreisen eine große Nummer, in der Zeitschrift Der Nervenarzt. Eindrucksvolle Behandlungseffekte seien mittlerweile „für fast alle psychiatrischen Störungsbilder wissenschaftlich belegt“. (1) „Psychotherapie ist wirksam“, verbreitet natürlich auch die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und fügt hinzu: „Je länger, desto besser.“ Sie verweist auf „viele kontrollierte Studien“, in denen „der Nachweis“ für die Wirksamkeit von Psychotherapie „bei nahezu allen psychischen Erkrankungen erbracht wurde“ (2) Als Beweis führt sie ein aufwändiges „Qualitätsmonitoring“ aus dem Jahr 2011 an, mit 1708 Patienten und 400 Psychotherapeuten, in Auftrag gegeben von der Techniker Krankenkasse: Bei 65 Prozent sei „eine Abnahme der Problematik“ zu verzeichnen gewesen. (3) Wow. Eine solche Quote würde sogar bewährte medizinische Maßnahmen bei körperlichen Erkrankungen in den Schatten stellen, wie etwa eine Bypass-Operation bei verstopften Blutgefäßen oder Medikamente gegen Arthritis. Alles in allem scheint glasklar: Psychotherapie wirkt. Zu diesem Ergebnis kam unter rund 250 große Überblicksarbeiten zum Forschungsstand bezüglich ihres Nutzens immerhin fast jede vierte. (4) Kein Lehrbuch versäumt, auf diese angeblich solide Datenlage hinzuweisen. Die ganze Wahrheit verfehlen solche Eigenlobhudeleien, gelinde gesagt, nicht bloß haarscharf, sondern kilometerweit. Die vorgeblichen Beweise zerbröseln im Härtetest wie luftige Kekse unter kräftigem Daumendruck. Dürftige Beweislage Das erlebte beispielsweise Steven Hollon, ein namhafter Therapieforscher von der Vanderbilt-Universität in Nashville, Tennessee. (5) Gemeinsam mit zwei niederländischen Kollegen nahm er unter die Lupe, was an wissenschaftlichen Bestätigungen für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bei Depressionen vorliegt: ein Behandlungsansatz, der Patienten dazu bewegen soll, düstere bis rabenschwarze Gedanken über sich und die Welt durch realistischere zu ersetzen und am Leben aktiv teilzunehmen. In den siebziger Jahren aufgekommen, gilt KVT inzwischen als „Goldstandard für die Behandlung zahlreicher Störungen“. (6) Hollons Team nahm sich sämtliche 55 Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Depressionen vor, welche der National Health Service (NHS), die oberste Gesundheitsbehörde der USA, zwischen 1972 und 2008 gefördert hatte. Dabei kam reichlich “Underreporting” zum Vorschein: Die Ergebnisse fast jeder vierten Studie waren nie publiziert worden. Warum verschwieg man sie? Auf Nachfrage bei den jeweiligen Studienleitern kam heraus: In den unveröffentlichten Untersuchungen hatte die KVT erheblich schlechter abgeschnitten als in den bekanntgewordenen. Würden alle ausgewertet, so müsste man die glänzende Erfolgsbilanz deutlich nach unten berichtigen – sie fiele noch schlechter aus als die fürs Verabreichen von Antidepressiva. Damit nicht genug: Die vermeintlich erfolgreichen Therapiestudien erschlichen sich ihre prächtige Statistik überwiegend durch methodische Schlampereien. Da wurden Versuchspersonen der Behandlungs- oder Vergleichsgruppe nicht streng randomisiert zugeteilt, durch einen unabhängigen Dritten, einen Zufallsgenerator oder versiegelte Umschläge. Daten wurden nicht „blind“ ausgewertet, also von jemandem, der über die Gruppenzuteilung nichts wusste. Man berücksichtigte nur diejenigen Patienten, die von Anfang bis Ende teilgenommen hatten, anstatt auch jene einzubeziehen, die vorzeitig ausgestiegen waren. Nach demselben Maßstab erwiesen sich von 115 weiteren Depressionsstudien 104 als schlecht gemacht. Dafür glänzte ihr Zahlenwerk: Psychotherapie schien jedem zweiten Depressiven zu helfen. Eher das Gegenteil bewiesen die elf einwandfrei durchgeführten Untersuchungen: Nur einer von acht Patienten profitierte. (7) Dieses Manko bleibt keineswegs auf die Behandlung von Depressionen beschränkt. „Die Fachliteratur zur Psychotherapie“, so räumt der Gesundheitspsychologe James Coyne von der niederländischen Universität Groningen ein, „ist derzeit von zu schlechter Qualität, als dass sie eine verlässliche Hilfe für Therapeuten, Patienten und Verantwortliche in den Entscheidungsgremien wäre.“ (8) Vangelis Evangelou kann da nur zustimmen. Im Jahr 2017 knöpfte sich der griechische Statistiker von der Universität Ioannina mehr als 247 Meta-Analysen von 5157 scheinbar hochwertigen Forschungsarbeiten über Psychotherapieffekte vor: sogenannte “kontrollierte” Studien (RCTs). 196 dieser Überblicksarbeiten waren zu dem Ergebnis gekommen, Psychotherapie habe signifikante positive Wirkungen. Evangelou interessierte sich vor allem für den Studienaufbau und das Kleingedruckte. Dabei fander zahlreiche Hinweise für Verzerrungen: Vielekleinere Studien vermeldeten Erfolge, die sich in größeren nicht bestätigen ließen. Führte ein Vertreter einer bestimmten Psychotherapieform die Studie selbst durch, so erschien sie erheblich wirksamer, als wenn andere sie prüften. Nur weniger als zehn Prozent der analysierten Studien wiesen keine derartigen Verzerrungen auf. (9) Aufgehübschte Erfolgsbilanz Dem Aufhübschen der Statistik dient eine oft bevorzugte Methode zur Datenerhebung: Die eine Hälfte der Versuchspersonen wird sofort behandelt, die andere kommt zunächst auf eine Warteliste, sie dient als Vergleichsgruppe. Die erzwungene Warterei tut aber nicht gut: Sie frustriert und legt den Hingehaltenen nämlich nahe, vorerst sei keine Besserung zu erwarten, weil die Therapie ja erst noch folgt. Das erzeugt fatalerweise einen Nocebo-Effekt (lat. „es wird mir schaden“), die dunkle Kehrseite des Placebo-Effekts. Schon allein dadurch wächst die gemessene Wirkdifferenz zwischen Behandlungs- und Vergleichsgruppe. Ein weiterer Dreh, um mit Statistik Eindruck zu schinden: Wer vorzeitig aussteigt, wird einfach nicht mitgezählt. Eingerechnet werden nur diejenigen, die bis zum Ende am Ball bleiben und anschließend bereit sind, Rückmeldung zu geben. Damit fällt immerhin jeder Fünfte unter den Tisch. (10) Therapieabbrüche können etliche Gründe haben: Geld wird knapp, man zieht um, zu einem anderen Profi ist der Weg kürzer, eine körperliche Erkrankung kommt dazwischen. Manchmal fühlt sich der Behandelte so viel besser, dass er weitere Sitzungen für überflüssig hält. Doch am häufigsten machen Hilfesuchende nicht weiter, weil die „Chemie“ zwischen ihnen und dem Therapeuten nicht stimmt, seine Bemühungen nichts bringen oder sich ihr Zustand gar verschlechtert. Damit nicht genug: Verzögerte Misserfolge erfasst ein Großteil der Studien gar nicht erst - Verschlimmerungen, zu denen es jenseits des Beobachtungszeitraums kommt. Was ist ein dickes Patientenlob am Ende der allerletzten Sitzung wert, wenn es den Betreffenden schon bald danach wieder elend geht? (11) Nachuntersuchungen beheben das Manko nur teilweise: Wer hat schon mehrere Monate später noch Lust darauf, sich von Wissenschaftlern ausgiebig interviewen zu lassen? Die Stabilgebliebenen wohl eher als jene, die sich weiterhin mies fühlen, wenn nicht gar bedrückter denn je. Bezeichnender Generationseffekt Noch dünner wird das Eis, sobald man ältere Effektstudien zu einzelnen Psychotherapien mit jüngeren vergleicht. Diese Mühe machten sich die norwegischen Therapieforscher Tom Johnsen und Oddgeir Friborg von der Universität Oslo. Die beiden nahmen sich 70 Studien zu den vermeintlichen Segnungen der kognitiven Verhaltenstherapie vor, die seit Ende der siebziger Jahre erschienen waren. (12) In den ersten Untersuchungen glänzte das Verfahren – zumindest auf dem Papier. Doch von da an ging es zügig bergab, mittlerweile hilft es nur noch halb so gut. Weshalb? Die frühesten Studien wurden weniger streng durchgeführt, unliebsame Ergebnisse eher unter den Teppich gekehrt. Die beteiligten Therapeuten zählten zur „ersten Generation“: Sie hatten die Therapie mitentwickelt oder noch von den geistigen Urhebern vermittelt bekommen. In ihrer Aufbruchstimmung, ihrer Euphorie, ihrem oft missionarischen Eifer behandelten sie durchweg engagierter, begeisterter, hingebungsvoller. Ihre Nachfolger hingegen waren eher darauf aus, sich geflissentlich an die methodischen Vorgaben zu halten, die ihnen die Gründergeneration eingeschärft hatte – auf Kosten von Intuition, Spontaneität, Kreativität, Flexibilität, Authentizität und Empathie. Davon abgesehen wissen heutige Patienten, dank Dr. Google, erheblich mehr über Grenzen und Schwächen von Psychotherapien. Darunter leidet vielfach ihr Vertrauen, ihr Glaube an Wirksamkeit und Nutzen des Angebotenen. Es leidet zurecht. So dürftig Psychotherapie tatsächlich abschneidet, sobald Wirkungsforschung sie auf den stellt – im Praxisalltag nehmen sich ihre behaupteten Erfolge noch kümmerlicher aus. Denn die allermeisten Untersuchungen finden an Universitätskliniken und Hochschulinstituten statt, wo Patienten sorgfältig vorausgewählt werden. Multimorbide – solche, die gleichzeitig an mehreren Störungen leiden – dürfen zumeist gar nicht erst mitmachen. Dabei sind gerade sie in der Praxis die Regel, therapeutisch stellen sie viel schwerer zu knackende Nüsse dar. Ist unentbehrlich, was sparen hilft? Wie kann man an wissenschaftlicher Psychotherapie zweifeln, wo sie doch prima sparen hilft? So argumentiert Jürgen Margraf, Professor an der Uni Basel, nachdem er 54 Studien mit insgesamt über 13.000 Patienten ausgewertet hatte, die in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts über Kosten und Nutzen ambulanter Psychotherapie erschienen waren. (13) “Dabei”, so fand er, “wurde in 95 % der einschlägigen Studien eine bedeutsame Kostenreduktion durch Psychotherapie festgestellt, in 86 % zeigte sich zudem eine Netto-Einsparung”, also ein “positives Kosten-Nutzen-Verhältnis nach Abzug der Psychotherapiekosten”. In 76 % der berücksichtigten Studien “war Psychotherapie gegenüber medikamentösen Strategien überlegen”. All dies ist erfreulich und lobenswert, lässt aber eine unverschämte Frage offen: Hätten 54 Studien über Kosten und Nutzen von Selbsthilfegruppen für psychisch Gestörte erheblich niedrigere Prozentzahlen ergeben? Trügerische Umfragewerte Alles in allem ist es mit der „wissenschaftlich erwiesenen“ Wirksamkeit von Psychotherapie also nicht weit her. Wie Metaanalysen der vorliegenden klinischen Studien übereinstimmend belegen, bessern sich bei 30 bis 50 Prozent der Patienten die Beschwerden überhaupt nicht, während sie eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, und bei noch weniger, wenn diese schon ein paar Wochen zurückliegt. Bei fünf bis zehn Prozent verschlechtert sich ihr Zustand schon, während sie sich noch in Behandlung befinden. (14) Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte neuer Therapieverfahren hinzukamen, hat sich an diesen belämmernden Verhältnissen nichts geändert. Derart in der Zwickmühle, verweisen Fachkreise mit Vorliebe auf schmeichelhafte Umfragen unter Patienten. Denn letztlich komme es ja darauf an, was die Hilfesuchenden selbst von Psychotherapie halten, nachdem sie sich darauf eingelassen haben. Wenn ihr Leidensdruck nachlässt oder sich gar verflüchtigt: Ist es nicht das, was letztlich zählt - das Befinden, viel mehr als irgendein Befund? Auf den ersten Blick schinden die vorgelegten Zahlen wahrlich Eindruck. So versicherten Anfang 2012 in einer Erhebung unter 2129 ehemaligen oder momentanen Psychotherapie-Patienten ab 14 Jahren mehr als zwei Drittel, durch die Behandlung kämen sie mit ihren Problemen besser zurecht. Weitere 13 Prozent erklärten, ihre Schwierigkeiten hätten sich sogar gänzlich verflüchtigt. (15) Unter all jenen, die sich einer Psychotherapie unterziehen, geht es nach eigenen Angaben 70 bis 80 Prozent besser als denen, die nichts unternehmen -  eine stattliche Quote, findet der klinische Psychologe Sven Barnow, Professor an der Universität Heidelberg. Immerhin übertreffe sie die Erfolgsraten von Chemotherapie bei Brustkrebs (11 Prozent) und Aspirin zur Vorbeugung von Herzinfarkten (7 Prozent). „Psychotherapie wirkt sehr gut“, schlussfolgert er. (16) Unter 1212 Erwachsenen, die sich ambulant – also nicht tagesklinisch oder stationär - psychotherapieren ließen, äußerte sich in einer Umfrage der Universität Leipzig 2011 die deutliche Mehrheit rückblickend ebenfalls überaus zufrieden: 70 Prozent können seither besser mit Stress umgehen, 74 Prozent empfinden mehr Lebensfreude, 69 Prozent bewerten ihr Selbstwertgefühl als gestärkt, 67 Prozent fühlen sich auch körperlich wohler. Jeder Zweite gibt an, dank Psychotherapie sei er beruflichen Anforderungen wieder eher gewachsen. (17) Zwei Monate nach deren Abschluss liegt die Besserungsrate immer noch nahe 50 Prozent. (18) Womöglich noch höher? Sage und schreibe „80 Prozent der Patienten erfahren eine wesentliche Linderung ihrer Symptome“, verbreitet der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). (19) Ganz schön beachtlich, oder nicht? Wie überhaupt bei Umfrageergebnissen, so lohnt sich auch hier ein gründlicher Datencheck. Wie lautete die Fragestellung genau? Auf welche Weise wurde befragt? Wie wurde ausgewertet? Als Vorzeigestudie dient der Bundespsychotherapeutenkammer eine Erhebung der Stiftung Warentest von 2011 mit knapp 4000 Teilnehmern. (20) Demnach stufen 77 Prozent der psychisch Kranken, ehe sie eine Psychotherapie beginnen, ihren Leidensdruck als „sehr groß“ oder „groß“ ein; nach Abschluss der Behandlung sind es nur noch 13 Prozent. 61 Prozent versichern, seither könnten sie alltäglichen Stress leichter bewältigen. 53 Prozent geben an, am Arbeitsplatz seien sie leistungsfähiger geworden. Fast jeder Vierte ist mit seinem Psychotherapeuten „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“. (21) Wie fein. Was die Kammer wohlweislich verschweigt: Die Umfrage war alles andere als repräsentativ, sie fand online statt. An solchen Erhebungen beteiligt sich am ehesten, wer dazu besonders motiviert ist – und das sind Hochzufriedene, die sich von argem Leidensdruck befreit wähnen und ihren Erlösern überaus dankbar sind, bestimmt eher als jene, bei denen sich nichts Nennenswertes getan hat. Alles in allem ergibt sich aus Befragungen im therapeutischen Alltag ein noch blamableres Bild von Psychotherapie, als klinische Studien nahelegen. Dieser ernüchternde Befund bestätigte sich, als ein Forscherteam der Berliner Humboldt-Universität um die Psychologin Jenny Wagner mehr als 4000 Schüler und Studenten vier Jahre lang begleitete. Fast 300 von ihnen hatten währenddessen eine Psychotherapie gemacht. Überrascht stellte Wagner fest: “Sie haben beschrieben, dass sie seither emotional instabiler sind, mehr Ängstlichkeit haben in ihrem Alltag, dass sie sich weniger gut einlassen können auf andere Menschen. Das sind also wirklich negative Effekte gewesen, die wir da gesehen haben. Wir haben auch einen Anstieg in Depressionen zum Beispiel gesehen und eine Abnahme in Lebenszufriedenheit.“ Weil ihm diese Ergebnisse unglaublich vorkamen, untersuchte Wagners Team zusätzlich, wie Psychotherapie bei einer anderen Gruppe wirkt, nämlich älteren Amerikanern. Aber “auch da haben wir diese negativen Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung gesehen.“ (22) Viel Tamtam, kaum Substanz Mächtig Tamtam veranstaltet die Psychobranche um „die größte jemals durchgeführte Psychotherapie-Studie“, 2015 durchgeführt. (23) Ein britisch-amerikanisches Forscherteam erfasste dabei nicht weniger als 26.430 Patienten zwischen 16 und 95 Jahren, die im Laufe von zwölf Jahren von 1400 britischen Psychotherapeuten behandelt worden waren. Am häufigsten litten sie unter Ängsten (56 %) und Depressionen (39 %), an Konflikten in ihren Beziehungen (39 %) und am Arbeitsplatz (23 %), an geringem Selbstwertgefühl (34 %), einem schwerwiegenden Verlust (23 %) oder einem Trauma, etwa nach sexuellem Missbrauch (15 %). Im Schnitt fanden acht Therapiesitzungen statt. Inwieweit halfen sie? Um das herauszufinden, kam der „CORE-OM“ zum Einsatz (24): ein 34-teiliger Fragebogen zur Selbsteinschätzung, bezogen auf die Bereiche subjektives Befinden, psychische Symptome, Funktionstüchtigkeit (functioning) im allgemeinen und insbesondere in sozialen Beziehungen; zudem wurde eine Risikoabschätzung verlangt. (In welchem Maße stellt der Patient für sich selbst und Andere eine Gefahr dar?) Heraus kamen grandiose Zahlen: Nicht weniger als 60 Prozent der Befragten fühlten sich bei Therapieende „bedeutend besser“, weitere 23 Prozent zumindest ein bisschen. Bloß 19 Prozent ging es unverändert schlecht. Sogar nur bei 1,3 Prozent verschlimmerte sich die psychische Verfassung. Derlei Zahlenwerk glänzt  – solange unhinterfragt bleibt, wie sich die Untersuchungsstichprobe zusammensetzte. Dazu hatte sich das Forscherteam aus einer 1993 aufgebauten Datenbank bedient, der CORE National Research Database. Aus ihr wählten sie in einem ersten Schritt rund 105.000 Patienten aus, deren Psychotherapeuten zwischen 1999 und 2011 ein Bewertungsformular (assessment form) eingereicht hatten. All diese Patienten sollten bei Beginn und unmittelbar nach Abschluss ihrer Therapie den CORE-OM-Fragebogen ausfüllen. Versäumten sie das, so kamen sie erst gar nicht in die Auswertung – immerhin fast jeder Zweite, knapp 50.000. Diese Vorauswahl verzerrt das Gesamtbild aber gewaltig: Wenn jemand bei Therapieende nicht wie gewünscht Daten abliefert, so deshalb, weil er es gar nicht erst abwartete. Wer aber vorzeitig reißaus nimmt, tut dies zumeist, weil ihm die Behandlung enttäuschend wenig bis gar nichts gebracht hat. Berücksichtigt man diese Aussteiger, so schrumpft die imposante 60-prozentige Besserungsquote schlagartig auf die eher kümmerliche Hälfte. Immerhin: 30 bis 50 Prozent Zufriedene ergeben doch immer noch einen stattlichen Leistungsbeleg, oder nicht? Eher nein. Wenn es jedem dritten bis zweiten Psychotherapierten nach zwei Monaten besser geht, so geht es der anderen Hälfte, wenn nicht gar zwei Dritteln, weiterhin gleich schlecht oder noch schlechter als zu Beginn. Da sich unter allen mutmaßlich Behandlungsbedürftigen nur jeder Fünfte überhaupt auf professionelle Seelenhelfer einlässt, wirft das Schicksal der restlichen 80 Prozent drängende Fragen auf. Was wird aus ihnen, wo sie doch so dringend in fachkundige Obhut gehören? Versinken sie für den Rest ihres jämmerlichen Daseins in einem schwarzen Loch? Verlängert sich ihre Psychopein endlos, weil sie die Segnungen moderner Seelenheilkunde ahnungslos, starrköpfig und törichterweise verschmähen? Besserungsresistenzen kommen innerhalb wie außerhalb von Praxen und Kliniken vor, draußen wohl etwas öfter als drinnen, aber gewiss nicht in übermäßiger Zahl. Unbehandelte erwartet im allgemeinen eher einer von drei Krankheitsverläufen: Bei der ersten Gruppe löst sich die Bedrückung irgendwann von selber auf, nach bloßem Abwarten. Anderen kommt jene schon erwähnte Charaktereigenschaft zugute, die Psychologen Resilienz nennen: eine psychische Robustheit, mit der erlernte Fähigkeiten verbunden sind, Krisen trotz schwieriger Bedingungen zu meistern. Sie helfen, sich zusammenzureißen, sich nicht gehen zu lassen, die Zähne zusammenzubeißen, ein Befindlichkeitstief tapfer und zuversichtlich durchzustehen. Einer dritten Gruppe kommt die Unterstützung durch vertraute Laien in ihrem näheren sozialen Umfeld zugute, die mit großem Geschick und Einfühlungsvermögen therapieren, ohne es zu wissen und so zu nennen. Eine derart „erfolgreiche“ Heilweise will ernstzunehmender Bestandteil des Medizinbetriebs sein? Was hielte ein Psychotherapeut etwa von seinem Orthopäden, falls dessen Leistungsbilanz bei Problemen im Stütz- und Bewegungsapparat folgendermaßen aussähe: Von hundert Patienten, die an seinem Praxisstandort betroffen sind, vertrauen sich ihm bloß zwanzig an. Helfen kann er bloß sieben bis zehn: den einen einigermaßen, den anderen ein kleines bisschen. Bei zehn bis dreizehn weiteren bleibt der Zustand teils unverändert, teils verschlechtert er sich: Wirbelsäulen werden noch krummer, rheumatische Gelenke noch deformierter, Knochenbrüche, Bänder- und Sehnenrisse noch gravierender. Die übrigen achtzig Patienten meiden ihn von vornherein, weil solche Probleme bei den allermeisten entweder von alleine oder durch Selbstbehandlung oder dank Hilfen aus Familie oder Freundeskreis verschwinden. Wie wertvoll, alternativlos und unverzichtbar käme dem Psychotherapeuten vor, was ein solcher Orthopäde leistet? „Aber ich sehe doch, dass ich helfen kann!“, protestiert der berufsmäßige Seelenhelfer aufgebracht. Da könnte er mit Betriebsblindheit geschlagen sein. Oft können sich Psychotherapeuten einfach nicht eingestehen, dass ihr Patient keinerlei Fortschritte macht; dass es ihm schlechter geht; dass er sich mit dem Gedanken trägt, die Behandlung abzubrechen. In nicht einmal drei Prozent aller Fälle wollen sie eine stattgefundene Verschlimmerung wahrhaben. (25) Die unter Profis weitverbreiteten Wahrnehmungsstörungen, was Wirksamkeit und Nutzen ihrer Bemühungen betrifft, dürften von dem allzu menschlichen Bedürfnis herrühren, vor sich selber möglichst gut dazustehen: Kein einziger befragter Psychotherapeut hält seine eigene Leistung für schlechter als durchschnittlich, über 96 Prozent hingegen für überdurchschnittlich. Was die Zunft tatsächlich drauf hat, überschätzt sie demnach maßlos. (26) (Harald Wiesendanger) Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF. Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“) 1        Reichlich erforscht: Viele Laien können mehr 2        Unter den Teppich gekehrt 3        Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker 4        Wie viel bringt Psychotherapie wirklich? 5        Warum nützt Psychotherapie? 6        Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind 7        Hochstapler unter Hochstaplern 8        Psychotherapie als Gefahrenherd 9        Nase vorn: Was viele Profis besser können – und weshalb 10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik Anmerkungen 1 U. Schnyder/R. M. McShine/J. Kurmann/M. Rufer: „Psychotherapie für alle? Zur Indikation für psychotherapeutische Behandlungen“, Der Nervenarzt 85 (12) 2014, S.1529-1535. 2 www.bptk.de, insbesondere www.bptk.de/aktuell/einzelseite/artikel/psychische-k.html, abgerufen am 30.6.2016. 3 W. W. Wittmann u.a.: Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Modellprojekt der Techniker Krankenkasse - Abschlussbericht, Hamburg 2011. 4  Siehe X E. Dragioti, V. Karathanos, B. Gerdle, E. Evangelou: “Does psychotherapy work? An umbrella review of meta-analyses of randomized controlled trials”, Acta Psychiatrica Scandinavica 136 (3) 2017, S. 236-246, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/acps.12713 5 Ellen Driessen/Steven D. Hollon u.a.: „Does Publication Bias Inflate the Apparent Efficacy of Psychological Treatment for Major Depressive Disorder? A Systematic Review and Meta-Analysis of US National Institutes of Health-Funded Trials“, PLOS One 2015. 6 Tom J. Johnsen/Oddgeir Friborg: „The Effects of Cognitive Behavioral Therapy as an Anti-Depressive Treatment is Falling: A Meta-Analysis“, Psychological Bulletin 141 (4) 2015, S. 747-768, www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25961373. 7 P. Cuijpers/D. Hollon u.a.: „The effects of psychotherapy for adult depression are overestimated: a meta-analysis of study quality and effect size“, Psychological Medicine 40/2010, S. 211-223. 8 James C. Coyne: „Salvaging psychotherapy research: a manifesto“, Journal of Evidence-Based Psychotherapies 14 (2) 2014, S. 105-124, http://s3.amazonaws.com/academia.edu.documents/38398481. 9  X E. Dragioti, V. Karathanos, B. Gerdle, E. Evangelou: “Does psychotherapy work? An umbrella review of meta-analyses of randomized controlled trials”, Acta Psychiatrica Scandinavica 136 (3) 2017, S. 236-246, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/acps.12713 10 Jacobi u.a.: „Wie häufig ...“, a.a.O., S. 251. 11 W. Hiller/A. Schindler: „Response und Remission in der Psychotherapieforschung“, Psychotherapie - Psychosomatik - Medizinische Psychologie 61/ 2011, S. 170-176. 12 Johnsen/Friborg: „The Effects of Cognitive Behavioral Therapy …“, a.a.O. 13 Jürgen Margraf: Kosten und Nutzen der Psychotherapie – Eine kritische Literaturauswertung, Heidelberg 2009. 14 N. B. Hansen/M. J. Lambert/E. V. Forman: „The psychotherapy dose-response effect and ist implications for treatment delivery services“, Clinical Psychology: Science & Practice 9/2002, S. 329-343. 15 Das Gesundheitsmagazin Apotheken Umschau, die diese Befragung bei der GfK Marktforschung Nürnberg in Auftrag gegeben hatte, veröffentlichte die Ergebnisse in ihrer Ausgabe vom 23. April 2012; s. Cornelia Albani/Gerd Blaser/Bernd-Detlev Rusch/Elmar Brähler: „Einstellungen zu Psychotherapie. Repräsentative Befragung in Deutschland“, Psychotherapeut 58/2013, S. 466-473. 16 Sven Barnow: Therapie wirkt! So erleben Patienten Psychotherapie, Heidelberg 2012. 17 Elmar Brähler/Michael Geyer/Cornelia Albani: „Ambulante Psychotherapie in Deutschland aus Sicht der PatientInnen“, Psychotherapeut 55/2010, S. 503–514. 18 Cheryl L. McNeilly/Kenneth I. Howard: „The Effects of Psychotherapy: A Reevaluation Based on Dosage“, Psychotherapy Research 1 (1) 1991, S. 74-78. 19 Jürgen Margraf, zit. nach Focus, 20.2.2013: „Wie Psychotherapien wirken - und welche Nebenwirkungen drohen“. 20 www.bptk.de/presse/pressemitteilungen/einzelseite/artikel/umfrage-der.html, abgerufen am 30.6.2016. 21 Stiftung Warentest: „Ergebnisse der Umfrage Psychotherapie: Therapie hat vielen geholfen“, 27.10.2011. 22  Zit. nach Deutschlandfunk, 27. April 2017: “Wie gut hilft Psychotherapie wirklich?”, https://www.deutschlandfunkkultur.de/zweifel-an-studien-wie-gut-hilft-psychotherapie-wirklich-100.html 23  Scott D. Miller: „Do Psychotherapists Improve with Time and Experience?“, 27.10.2015, www.scottdmiller. com/feedback-informed-treatment-fit/do-psychotherapists-improve-with-time-and-experience; William B. Stiles, Michael Barkham, Sue Wheeler: „Duration of psychological therapy: relation to recovery and improvement rates in UK routine practice“, British Journal of Psychiatry 207 (2) 2015, S. 115-122. 24 „CORE“ steht für „Clinical Outcomes in Routine Evaluation“, „OM“ für „Outcome Measure“. 25 Wolfgang Wöller: „Auf den Therapeuten kommt es an!“, Psychologie heute 7/2016, S. 62-63. Er verweist auf eine Studie, in der Psychotherapeuten aus 550 Fällen lediglich einen von vierzig Patienten identifizierten, deren Zustand sich im Therapieverlauf verschlechtert hatte. 26 Michael J. Lambert: „Outcome Research: Methods for Improving Outcome in Routine Care“, in Omar Gelo/Alfred Pritz/Bernd Rieken (Hrsg.): Psychotherapy Research: Foundations, Process, and Outcome, Wien/Heidelberg/New York 2015, S. 593-610, dort S. 596; ders. u.a.: „Enhancing Psychotherapy through on Client Progress: A Replication“, Clinical Psychology and Psychotherapy 9/2002, S. 91-103; ders.: „Enhancing Psychotherapy through Feedback to Clinicians“, National Register of Health Service Psychologists, www.e-psychologist.org/index.iml?mdl=exam/show_article.mdl&Material_ID=3.

  • Warum nützt Psychotherapie?

    Soweit Psychotherapie wirkt: Weshalb tut sie das? Wenn Profis mit unterschiedlichsten Vorgehensweisen und Theorien weitgehend gleich viel erreichen, kann ihr Erfolgsrezept wenig damit zu tun haben, was sie während ihrer jeweiligen Ausbildung gelernt haben. Worin besteht es dann? Aus dem “Dodo-Bird-Paradox” folgt: Der Ertrag verschiedener Psychotherapierichtungen hängt kaum bis gar nicht davon ab, auf welchen Wegen er erzielt wird. Also muss er auf anderen Faktoren beruhen: solchen, die sie alle gemeinsam haben, allen Abgrenzungsgefechten zum Trotz. Der Forschungsstand hierüber lässt an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig: Den Ausschlag geben sogenannte unspezifische Wirkfaktoren, wie Fachleute sie nennen. Psychotherapie, egal welche,  gelingt nur dann, wenn die Hauptbeteiligten, der Behandler ebenso wie der Behandelte, mehrerlei dazu beitragen: Auf den Klienten kommt es an Der Hilfesuchende profitiert am ehesten, wenn er fähig und willens ist, sich zu verändern. Er ist zuversichtlich, dass der Therapeut ihm helfen kann und will. Er vertraut ihm. Er ist offen. Er hegt keine überzogenen Erwartungen, rechnet nicht mit einer blitzschnellen, vollständigen Genesung biblischen Ausmaßes. Den äußeren Rahmen der Behandlung, das healing setting, empfindet er als geeignet, angemessen und angenehm. Er sieht wesentliche Bedürfnisse durch die Therapie befriedigt. Er spürt Wertschätzung, fühlt sich angenommen und verstanden, entwickelt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Die vorgeschlagene Erklärung seines Problems macht er sich zueigen. Er akzeptiert die eingesetzte(n) Methode(n). Von seinem Umfeld, einschließlich seiner wichtigsten Bezugspersonen, lässt er sich nicht beirren. Er ist kooperativ, übernimmt Therapieziele und strebt sie beharrlich an. Was einen guten Psychotherapeuten auszeichnet Und wie steht es mit dem Helfer? Sein Einsatz nützt, wenn es ihm gelingt, Sympathie und Vertrauen des Klienten zu gewinnen. Er ist optimistisch und vermittelt seine Zuversicht überzeugend. Er gibt sich nicht streng, distanziert und kalt, sondern freundlich, zugewandt, warmherzig und emotional beteiligt. Er strahlt Sicherheit, Gelassenheit und Erfahrung aus. Er wirkt offen und ehrlich. Das Problem benennt er in einer Weise, die dem Klienten einleuchtet. (Ob die Diagnose tatsächlich zutrifft, ist zweitrangig.) Er stellt dessen Problem in den Vordergrund und bietet für es eine Erklärung an, die der Klient nachvollziehen kann: einen einleuchtenden Mythos. (Ob sie stimmt, ist unerheblich.) Er wirkt nicht abwesend, sondern bei der Sache; nicht verkrampft, sondern entspannt. Er ist empathiefähig, das heißt, er kann die Perspektive des Hilfesuchenden übernehmen, sich in ihn hineinversetzen und einfühlen. (Dazu mehr im Band 4 meiner Schriftenreihe Psycholügen: Stochern im Nebel.) Er versteht es, ein lebendiges Gespräch in Gang zu bringen und aufrechtzuerhalten. Er setzt keine Leichenbittermiene auf, sondern gibt sich humorvoll. Er motiviert dazu, am therapeutischen Prozess mitzuwirken; der Hilfesuchende soll zum bewussten, aktiven Selbstheiler werden, kein untätig Aufnehmender bleiben. Dabei berücksichtigt der Helfer persönliche Stärken des Hilfesuchenden; er ermutigt ihn dazu, sie sich bewusst zu machen, zu nutzen und stolz darauf zu sein: Fähigkeiten, Erfahrungen, Interessen und positive Charaktereigenschaften. (Sozialwissenschaftler sprechen von Empowerment.) Er bringt ihm Wertschätzung entgegen und stärkt sein Selbstwertgefühl, statt ihn wegen Schwächen und Fehlern schlechtzureden. Er vermittelt den Eindruck, aufmerksam zuzuhören und interessiert Anteil zu nehmen. Unvorhergesehenen Situationen und überraschenden Wendungen im Therapieverlauf passt er sich flexibel an. Missverständnisse räumt er behutsam aus. Beim Einsatz von Methoden, beim Anbieten von Deutungen erweist er sich als kreativ. Es gelingt ihm, dem Klienten eine neue Sichtweise auf das Problem zu vermitteln und Hinweise zu geben, wie er es aus eigener Kraft bewältigen kann. Er führt ihm Chancen vor Augen, zeigt Auswege auf. Er fördert tragfähige soziale Beziehungen. Nichts von alledem überfordert Laienhelfer grundsätzlich. Nichts von alledem kann der Profi nur dank eines wissenschaftlichen Studiums. Nichts von alledem kann er erst, seit er Prüfungen bestanden hat. Nichts von alledem kann er anschließend besser als vorher. Stimmt die Beziehung? Nicht minder kommt es auf die Qualität der Beziehung an, die Helfer und Hilfesuchender zueinander aufbauen. Auf ihr gemeinsames Ziel hin, eine innere Belastung zu beseitigen, vollziehen sie miteinander ein Ritual, über dessen Spielregeln sie sich einig sein müssen. Gleichgültig, wieviel Wirkungsmacht Psychotherapien von ihren Anhängern zugetraut wird: Eine wie die andere scheitert, wenn die Hauptbeteiligten, Helfer und Hilfesuchender, einander misstrauisch, ablehnend, feindselig gegenüberstehen. Wenn sie nicht recht ins Gespräch miteinander kommen. Wenn einer, oder gar beide, hinsichtlich der Erfolgsaussichten schwarz sehen. Sie scheitert, wenn der Hilfesuchende mit der gestellten Diagnose nichts anfangen kann, ihm die angebotene Erklärung seines Problems nicht einleuchtet, die eingesetzten Methoden widerstreben. Sie scheitert, wenn ihm sein Therapeut unsicher, desinteressiert, teilnahmslos, gleichgültig vorkommt. Sie scheitert, wenn er seine Mitwirkung verweigert, täuscht und lügt. Der entscheidende Faktor ist bei jeder beliebigen Psychotherapie nicht etwa der Anwender, sondern der Behandelte – an ihm liegt es, die eigentliche Arbeit zu leisten. Wie in der Medizin allgemein, so gilt auch in der Psychotherapie: Jegliche Heilung ist letztlich Selbstheilung. Der Klient muss fähig und willens sein, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, andernfalls scheitert auch der vielversprechendste Ansatz. Der Therapeut kann Anregungen, Rückmeldungen und Ratschläge geben, neue Ideen einbringen, auf Bewährtes hinweisen, Fehleinschätzungen berichtigen, neue Perspektiven eröffnen, Handlungsoptionen aufzeigen, motivieren, vor Risiken und Gefahren warnen – das eigene Denken, Fühlen, Handeln verändern kann letztlich nur der Klient selbst. Darüber hinaus unterschätzen viele Psychoprofis, wie wichtig sogenannte „Unterstützungsnetze“ - Support Networks - im sozialen Umfeld sind. Konflikte in der Partnerschaft und Familie, aber auch Ärger am Arbeitsplatz, anhaltende Spannungen im Freundeskreis, im Verein, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft können Fortschritte erschweren, verhindern oder zunichte machen. (1) „Vierzig Prozent der Unterschiede in Behandlungsergebnissen gehen auf Faktoren außerhalb der Behandlung zurück“, schätzt der US-Therapieforscher Michael J. Lambert. (2) Psychotherapie scheitert zuverlässig, wenn das soziale Umfeld alle Bemühungen zunichte macht. Leistungsunterschiede zwischen Therapeuten, gleich welcher Schule, haben demnach so gut wie nichts mit der Methode zu tun, die sie bevorzugen. Hauptsächlich rühren sie daher, dass ihre Persönlichkeitsmerkmale und sozialen Fähigkeiten sie unterschiedlich geeignet machen, Belastete auf ihrem mühseligen Weg zu begleiten. Die Eignung hierzu muss keineswegs notwendig auf besonders positiven Charaktereigenschaften beruhen. Mitunter kriegen es ausgesprochene Hallodris und Scharlatane besonders gut hin, Hilfesuchende zu Veränderungen zu bewegen, wenn sie den Alleswisser geben, der mit sonorer Stimme von oben herab Durchhalteparolen ausgibt. Seit Sigmund Freud, dem unübertroffenen Charismatiker, tummeln sich in der Seelenheilkunde etliche solcher gewiefter Psychodirigenten. Allgemeine Wirkfaktoren befähigen Laienhelfer – wie “Auswege”-Camps lehren Allgemeine Wirkfaktoren (3) erklären, warum viele Laien psychisch Belasteten ebensogut helfen können wie Psycho-Experten: Die Kompetenzen, auf die es dabei ankommt, erwirbt ein jeder von uns nicht erst in Universitäten und Akademien, sondern von Kindesbeinen an, im Laufe seiner Sozialisation. Die Fähigkeit, solche Faktoren in die Behandlung einzubringen, zeichnet Laienhelfer in den Therapiecamps meiner Stiftung Auswege aus. Mit einem Durchschnittsalter deutlich über Fünfzig und mittleren zwanzig Jahren Praxis bringen sie jede Menge Erfahrung im Umgang mit Hilfesuchenden mit. Auf die Bedürfnisse, Fragen, Sorgen und Ängste von Patienten gehen sie vorbildlich ein, wie Auswertungen von abschließend ausgefüllten Fragebögen belegen: Über 98 Prozent der Campteilnehmer charakterisieren ihre Helfer darin als „sicher“, „geduldig“, „höflich“, „einfühlsam“ und „ermutigend“, nehmen sie als „kompetent“, „vertrauenserweckend“, „bescheiden“, „überzeugend“ und „unaufdringlich“ wahr. Ebensoviele würden sie deshalb „uneingeschränkt weiterempfehlen“. Gleichermaßen dickes Lob ernteten Christine, Ulrike, Verena und Regine, vier ausgebildete, erfahrene Psychotherapeutinnen, wie auch Gisa und Milan, zwei erfahrene Fachärzte für Psychiatrie. Jene „Auswege“-Camps, an denen sie mitwirkten, bereicherten sie enorm: allerdings nicht in erster Linie durch Informationsvorsprünge dank überlegenen Fachwissens und psychotechnischer Raffinesse, sondern durch ihre herzliche, einfühlsame Art, mit Hilfesuchenden umzugehen, gepaart mit Selbstsicherheit und Erfahrung – durch Vorzüge indes, die andere, vermeintlich unqualifizierte Teammitglieder nicht minder einzubringen verstanden. Unter den vielerlei Zutaten, die zusammen das Erfolgsrezept der „Auswege“-Camps ausmachen (4), geben diese allgemeinen Wirkfaktoren vermutlich den Ausschlag. Von der Eröffnungsveranstaltung an prägen sie das Miteinander aller Beteiligten durchgängig. Atemberaubend rasch lassen sie eine Atmosphäre entstehen, deren Intensität mich jedesmal aufs Neue fasziniert und bewegt. Ein Blick auf die offiziellen Programmpunkte eines typischen Camptags, mit bis zu fünf Einzelterminen für jeden Teilnehmer bei verschiedenen Teammitgliedern, verleitet deshalb zu falschen Schlüssen. Beraten und behandelt werden unsere Patienten und ihre Angehörigen im Grunde nicht bloß vier- bis fünfmal 30 bis 60 Minuten pro Tag – eine einzige Heilsitzung findet statt, und sie dauert zwei Drittel des ganzen Tages, ohne Pause: beginnend am frühen Morgen, mit dem gemeinsamen Frühstück ab acht Uhr, bis kurz vor Mitternacht, wenn sich die letzten Gesprächsrunden im Anschluss an das Abendprogramm aufgelöst haben. 15 bis 16 Stunden lang wird ununterbrochen geheilt: von den 15 bis 20 Teammitgliedern, aber auch von den 20 bis 30 Patienten samt Angehörigen, gleich welchen Alters. Miteinander bilden sie eine heilsame Gemeinschaft, in der jeder reichlich zurückbekommt, was er einbringt: Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Zuwendung, Mitgefühl, Wohlwollen, Wertschätzung. Diese Mixtur bringt binnen einer Woche die meisten psychisch Belasteten eher ins Gleichgewicht als alle vorherige, oft jahrelange professionelle Betreuung – mehr als etliche mehrwöchige Klinikaufenthalte, als diverse, oft jahrelange Psychotherapien, als nebenwirkungsreiche Medikamente. Führt das nicht eindrücklich vor Augen, wieviel mehr angewandte Seelenheilkunde erreichen könnte, wenn sie aus den Therapiecamps der Stiftung Auswege lernen würde, worauf es dabei am allermeisten ankommt? Was Psychotherapie wirksam erscheinen lässt Vielen Patienten, denen unstrittig eine professionelle Psychotherapie außerordentlich gut getan hat, mag eine derartige Sichtweise unerhört vorkommen, ja geradezu absurd. „Ohne meinen Therapeuten wäre ich bis heute ein seelisches Wrack, vielleicht würde ich nicht mehr leben“, sagen manche. „Weder mein Lebensgefährte noch irgendein Verwandter, nicht einmal meine allerbesten Freunde hatten mir zuvor helfen können.“ Aber solche subjektiven Gewissheiten sind womöglich voreilig. Zum einen ist nie auszuschließen, dass dankbare Patienten einem der meistverbreiteten Fehlschlüsse erliegen: post hoc ergo propter hoc – „weil es mir nach der Therapie besser ging, muss es mir ihretwegen besser gegangen sein“. Sie verkennen, dass selbst schwerstes seelisches Elend im Laufe der Zeit von alleine abklingen kann. „Die Zeit heilt alle Wunden“, so versichert der Volksmund, und darin steckt durchaus ein Quentchen Wahrheit. Intensitätsschwankungen kennzeichnen die allermeisten psychischen Störungen. Zum Psychotherapeuten eilt man im Befindlichkeitstief, und auch ohne ihn ginge es früher oder später höchstwahrscheinlich wieder aufwärts. Ferner könnte die Besserung von therapiebegleitenden Umständen herrühren, mit denen die Behandlung überhaupt nichts zu tun hatte: beispielsweise eine neue Partnerschaft, Veränderungen am Arbeitsplatz, ein Wohnungswechsel, familiäre Ereignisse, einschneidende Begegnungen und Erfahrungen, eine glückliche Fügung, eine unverhoffte Chance. Die Unterlegenheit des Laienhelfers: eine “self-fulfilling prophecy”? Im übrigen pflegt kaum ein Klient spezifische und allgemeine Wirkfaktoren auseinanderzuhalten. Der mit Abstand wichtigste allgemeine Faktor ist er selbst: Seine Bereitschaft, sich auf die Therapie ein- und von ihr verändern zu lassen, gibt letztlich den Ausschlag. Wenn Betroffene in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld nicht jene Hilfe fanden, für die sie ihren Therapeuten lobpreisen, so möglicherweise deshalb, weil sie Menschen, die ihnen nahestehen, eine solche Hilfe gar nicht erst zutrauten. Therapeuten genießen bei psychisch Belasteten im allgemeinen einen gewaltigen Vertrauensvorschuss. Wenn deren Überlegenheit, wie erläutert, herzlich wenig von irgendwelchen Techniken und Theorien herrührt: woher dann? Des Rätsels Lösung liegt zum Teil in einem Placebo-Effekt: Erst der feste Glaube des Patienten, Psychotherapie bringe mehr, macht sie deutlich wirkungsvoller als das, was mancher Laie an Rat und Unterstützung anzubieten hätte. Entscheidend ist der Entschluss, die Erfolgserwartung des Therapeuten zu übernehmen und ihn für kompetent genug zu erachten, eine effektive Behandlung hinzukriegen. Dazu verleiten all jene Statusmerkmale, die Profis Laien voraushaben: Sie haben Psychologie oder Medizin studiert, können neben der theoretischen auch eine ausgiebige praktische Ausbildung vorweisen, tragen akademische Titel, müssen folglich hochqualifiziert sein. Psychotherapie ist schließlich ihr Beruf. Sie empfangen Hilfesuchende in besonderen Räumlichkeiten mit besonderem Ambiente. Neben ihrer Türklingel hängt ein mehr oder minder ansprechendes Praxisschild. In ihren Bücherregalen stapelt sich Fachliteratur. Ins Gespräch streuen sie imposantes Fachchinesisch ein. Im Gesundheitswesen gelten sie als geachtete Akteure, auch der Herr Doktor empfiehlt sie mitunter, häufig kommen Krankenkassen für die Kosten auf. Sie treten mit dem Selbstbewusstsein von Sachverständigen auf, erstellen Befundberichte, Gutachten und Rechnungen auf ansprechenden Briefbögen, beeindrucken mit Visitenkarten und Flyern. Aber, um dies nochmals zu unterstreichen: Wie die Therapieforschung der vergangenen Jahrzehnte lehrt, ist in Wahrheit kein einziges dieser Merkmale aussagekräftig. Bedeutsam wird es erst als Gutgläubigkeit förderndes Drumherum. Warum neigt der Problembelastete trotzdem dazu, einen Profi dem Laienhelfer vorzuziehen? Zum Placebo-Effekt gesellen sich etliche weitere Gründe, die meisten rühren von Kurzschlüssen aus unhinterfragten Vorurteilen her, die im Zeitalter der Expertokratie geradezu dogmatisch gelten: Profis seien kompetenter. Ihre Ausbildungen und Diplome bürgten für Qualität. Von Berufs wegen hätten sie mehr Erfahrung. Sie könnten besser feststellen und erklären, was mit ihm los ist. Sie verfügten über weitaus wirksamere Techniken, seinem Problem beizukommen. Weder er noch seinesgleichen könnten beurteilen, was ihm fehlt. Massenmedien schüren unkritisch solche Überzeugungen, Mitmenschen sorgen für zusätzlichen Druck. Ausgangspunkt des kurzen Wegs zum professionellen Helfer ist eine Kapitulation vor dem Zeitgeist: Man erklärt sich einverstanden damit, sein Lebensproblem als psychische Krankheit definieren, sich zum Patienten erklären zu lassen. Wer krank ist, wird zum Fall für die Medizin; wer psychisch krank ist, für den ist das Fachgebiet Psychiatrie zuständig - und fürs nichtmedikamentöse Behandeln eine ihrer Hauptsäulen, die Psychotherapie. Dass sie Teil des offiziell anerkannten Gesundheitssystems ist, verschafft ihr Glaubwürdigkeit und Autorität. Sich ihr auszuliefern und unterzuordnen, sie die Verantwortung für sich übernehmen zu lassen, ist eine nachvollziehbare Tendenz von Menschen, die sich in akuten Lebenskrisen, erst recht bei chronischen Seelentiefs damit überfordert wähnen, mündige Bürger zu bleiben. Sie fühlen sich inkompetent, ratlos und schwach, und keines Laien Schultern sind breit genug, ihnen beim Anlehnen so viel vermeintliche Sicherheit zu vermitteln, wie das jemandem gelingt, der sich selbstbewusst traut, als Experte aufzutreten, weil alle ihn dafür halten. (Harald Wiesendanger) Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF. Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“) 1        Reichlich erforscht: Viele Laien können mehr 2        Unter den Teppich gekehrt 3        Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker 4        Wie viel bringt Psychotherapie wirklich? 5        Warum nützt Psychotherapie? 6        Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind 7        Hochstapler unter Hochstaplern 8        Psychotherapie als Gefahrenherd 9        Nase vorn: Was viele Profis besser können – und weshalb 10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik Anmerkungen 1  S. M. Monroe/D. F. Imhoff/B. D. Wise/J. E. Harris: „Prediction of psychological  symptoms under high-risk psychosocial circumstances:  Life events, social support,  and  symptom specificity“, Journal of Abnormal Psychology 92/1983, S. 338–350. 2  Michael J. Lambert: „ Implications of outcome research for psychotherapy integration“, in  J. C. Norcross/ M. R. Goldstein (Hrsg.): Handbook of Psychotherapy Integration, New York 1992, S. 94-129. 3  Siehe Jerome D. Frank: Persuasion and Healing. A Comparative Study of Psychotherapy (1961), 3. Aufl. Baltimore 1991. Franks „unspezifische Wirkfaktoren“ finden sich weitgehend wieder bei Hilarion G. Petzold: „Integrative Therapie – Transversalität zwischen Innovation und Vertiefung. Die Vier Wege der Heilung und Förderung’ und die ‚14 Wirkfaktoren’ als Prinzipien gesundheitsbewusster und entwicklungsfördernder Lebensführung“, Integrative Therapie 3/2012. 4  Siehe Harald Wiesendanger: Heilzauber oder was? Das Erfolgsgeheimnis der „Auswege“-Camps,  Schönbrunn 2014. Titelbild: Drazen Zigic/Freepik

  • Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind

    Wenn Laien beim Beraten und Behandeln psychisch Belasteter weniger zustande bringen als Profis, dann häufig deshalb, weil ihnen von vornherein nicht mehr zugetraut wird – aufgrund von Defiziten, die für den Therapieerfolg im Grunde unerheblich sind. Zumindest in westlichen Industrieländern ist der Prestigevorsprung berufsmäßiger Seelenheiler inzwischen so gewaltig, dass es geradezu wundersam anmutet, wie heutzutage überhaupt noch irgendwelche Studien ergeben können, dass Laien vergleichbar gut helfen. Denn Titeln und Urkunden, akademischem Wissen und Können vertrauen Versuchspersonen schließlich nicht minder als der Rest der Bevölkerung. Wie kann es Laien überhaupt gelingen, das Ansehensplus von Profis wettzumachen? Was zeichnet sie aus, was könnten sie berufsmäßigen, wissenschaftlich geschulten Psychotherapeuten und Psychiatern sogar voraushaben? Nichts geht über Empathie Der Schlüssel dazu liegt in einer fabelhaften Kulturtechnik: dem zwischenmenschlichen Verstehen. (1) Von frühester Kindheit an erwarben und trainierten wir die Fähigkeit, das Erleben und Fühlen, Denken und Handeln unserer Mitmenschen nachzuvollziehen und es aus seinen Gründen heraus zu erklären. Damit begannen wir, lange bevor wir sprechen lernten. Wie das Beherrschen von Sprache und jede sonstige Fähigkeit, so prägt sich allerdings auch diese unterschiedlich stark aus: Je nach individueller Begabung, sozialem Umfeld und Herausforderungen im Lebenslauf kann sie wachsen, aber auch verkümmern. Eine gewaltige Bandbreite tut sich da auf, nicht anders als zwischen dem „Was-geht-ab-ey-isch-geh-Dissko“-Gestammel des digitaldementen Prolls und der Wortgewalt eines Literaturpreisträgers. Deshalb wäre es Humbug, „den“ Laien schlechthin zur ernsthaften Konkurrenz für professionelle Psychotherapeuten zu verklären. Um uns herum wimmelt es von Zeitgenossen, deren Empathie himmelschreiend unterentwickelt ist. Manche unter uns beherrschen sie andererseits derart herausragend, dass sie viele Psychoprofis locker in den Schatten stellen. Gestützt auf Intuition und Lebenserfahrung, reagieren sie spontaner, ihre Anteilnahme wirkt emotionaler und glaubhafter, leiseste Befindlichkeitssignale beachten und bewerten sie feinfühliger. Ihre Emotionale Intelligenz (2) – die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen - ist häufig ausgeprägter, und darin liegt ein entscheidender Vorteil: In Hilfekontexten schlägt der EQ den IQ um Längen. Ungefördertes Talent Begabungen fürs Helfen und Heilen werden von unserem Bildungssystem eher unterdrückt als gefördert - mit absehbarem Ergebnis. In ihrem Umgang mit Hilfesuchenden vermittelt ein Großteil unserer professionellen Psychotherapeuten und Psychiater den Eindruck: Je erfolgreicher sie den Bildungsbetrieb durchlaufen haben, desto weniger eignen sie sich für ihren Beruf. In der deutschen Bevölkerung allgemein liegt der Anteil derer, die erfolgreich ein Hochschulstudium abgeschlossen haben, bei fünfzehn Prozent. (3) Unter psychotherapeutisch tätigen Ärzten und Psychologen gelang dies hingegen hundert Prozent. Dafür mussten sie anfangs mehr oder minder hohe Zulassungshürden überspringen. Je nach Universität benötigt momentan einen Notendurchschnitt zwischen 1,0 und 1,9 im Abiturszeugnis, wer sich dort für ein Psychologiestudium einschreiben will. (Es sei denn, er nimmt Wartezeiten bis zu acht Jahren in Kauf. (4) Für den Traumberuf Psychiater ist zuallererst eine Abi-Traumnote nahe 1,0 erforderlich, so hoch liegt bundesweit der Numerus clausus für ein Medizinstudium seit langem. Woher nimmt unser Kultuswesen die Zuversicht, dass aus allerbesten Abiturienten eines Tages allerbeste Ärzte und Psychologen werden? Ein Einserabitur zeigt ziemlich zuverlässig die Fähigkeit an, sich jenes umfassendes Fachwissen anzueignen, das auf Unis verlangt wird. Aber womöglich versäumt es ein Großteil der gymnasialen Klassenprimusse ihrer beharrlichen Streberei wegen, jene sozialen Kompetenzen zu trainieren, die Patienten von ihren berufsmäßigen Helfern nicht minder erwarten: Mitgefühl, Perspektivenwechsel, kommunikatives Geschick, Achtsamkeit, Wertschätzung, Anteil- und Rücksichtnahme. Während ihres verkopften, alltagsfernen Studiums erhalten angehende Psychoprofis darin kaum Nachhilfe, im Gegenteil. Die begehrte Eintrittskarte in die seelenheilkundliche Berufswelt, das Hochschuldiplom, ergattert nur, wer sich von seinen Lehrern einbleuen lässt, ausgerechnet jenes Erkenntnisinstrument als „bloß subjektiv“ geringzuschätzen, das mehr als jedes andere erhellt, was im Gegenüber vorgeht: Empathie. Damit nötigt der Hochschulbetrieb angehende Seelenhelfer, in einem Akt der Selbstvergewaltigung eine soziale Schlüsselkompetenz zu unterdrücken, um sich dem Vorrang der reinen Methode zu unterwerfen, für die Stimme des Herzens taub zu werden und evidenzbasierte Lehrmeinungen möglichst willfährig umzusetzen. Insofern betätigen sich unsere psychologischen und psychiatrischen Fakultäten seit jeher als Kastrationsanstalten. Polemik ist unsachlich. Deftige Kritik an unserem unseligem Hochschulwesen hingegen hat vorzügliche Gründe. Sie bestehen aus empirischen Untersuchungen, die übereinstimmend belegen: Während Studienanfänger im Fach Psychologie seelisch Belasteten besser helfen als Laien, liegt ihr Kompetenzniveau nach dem Studium niedriger - übrigens auch im Vergleich mit den eigenen Ausgangsleistungen. (5) Für den Therapieforscher Robert Carkhuff lässt diese Rückentwicklung nur einen Schluss zu: „Im Laufe ihrer Ausbildung widerfährt den Studenten etwas Zerstörerisches.“ (6) Dieses „Etwas“ vermutet er in der Verkopftheit des Studiums: Es verenge ihren Blick auf Gedankensysteme und abstrakte Methodik. Es vermittle ihnen stereotype Vorstellungen von der eigenen Beziehung zu Hilfesuchenden. Und es erziehe ihnen Berufsrollen an, die sie zu folgsamen Anwendern systematisierten Wissens machen, ausgerichtet am Ideal einer ebenso wortlastigen wie zuwendungsarmen professionellen Distanz. Dabei missachten Hochschulen gesicherte Erkenntnisse der Psychotherapieforschung: Intellektuelle Haltung und Wissen hängen demnach wenig bis gar nicht mit jenen Fähigkeiten zusammen, auf die es für hilfreiches Beistehen ankommt. (7) Wie schädlich sich das übliche Psychologiestudium auf Empathie, Wahrnehmung und Einschätzungsvermögen gegenüber Mitmenschen auswirkt, haben seit den fünfziger Jahren etliche Studien zum Vorschein gebracht. (8) Was Profis zustande bringen, führen sie selbst vor allem auf erlernte Theorien und Techniken zurück - Patienten hingegen in erster Linie auf Art und Qualität des Verhältnisses, das zwischen den beiden entsteht. Die menschliche Seite des Helfers, die persönliche Beziehung zu ihm erachten sie als besonders wichtig. (9) Recht haben sie. Verkopfte Psychotechniker Allzu viele Seelenklempner fremdeln mit ihrer Kundschaft aus demselben Grund wie manche Geistlichen mit ihrer Kirchengemeinde: Sie treten ihr gegenüber als wortgewandte, hochgebildete Medizinfunktionäre, deren Gelehrsamkeit Mühe hat, zwischen zwei Buchdeckel zu passen – gedankenschwere, grübelfaltige Großhirnrindler, die mit Fachchinesisch erheblich weniger Mühe haben als mit der Sprache des Herzens. Seelischer Beistand scheint ihnen seine reifste, vollendetste Form erst zu erreichen, wenn er sich als Conclusio aus einem mindestens quadratkilometergroßen Geflecht von evidenzbasierten Argumentationsfäden ergibt. Helfen und Heilen entspringen somit nicht mehr in erster Linie einer mit gewissen spontanen Emotionen, intuitiven Fähigkeiten, persönlichen Erfahrungen, Werthaltungen und wahrhaftiger Nächstenliebe verbundenen Lebensform, sondern ergeben sich aus intellektuellen Höchstleistungen eines akademisch geschärften Verstandes. Und das befremdet Hilfesuchende. Vertrautheit erleichtert Verstehen und Helfen Hinzu kommt: Mit dem Belasteten, seinen Problemen und deren Vorgeschichte, seiner Vergangenheit und momentanen Lebenssituation sind Laien, die ihm nahestehen, in der Regel weitaus länger und eingehender vertraut als ein Profi, zu dem der Hilfesuchende als Wildfremder kommt. Kein Kennerblick ist scharf genug, um binnen weniger Stunden, wenn nicht Minuten mehr von einer Person zu erfassen als jemand, der dem Betreffenden jahre-, manchmal jahrzehntelang zur Seite stand. (10) Wenn Menschen in seelischer Not Hilfe suchen, ist das spürbare Interesse des Helfers einer der wichtigsten allgemeinen Wirkfaktoren, von denen abhängt, wieviel er erreicht. Kann jemand, der von Berufs wegen nur gegen Bezahlung arbeitet, Hilfesuchenden eine aufrichtige Neugier glaubhaft machen? Stets stellt sich die Frage, ob seine Zuwendung, seine Anteilnahme echt sind - oder des Honorars wegen vorgetäuscht werden. Laienhelfer haben es da einfacher: Die bloße Tatsache, dass sie sich ehrenamtlich eines Problems annehmen, macht ihre Anteilnahme glaubhafter. Allein dies kann positive Veränderungen auslösen. Zu den entscheidendsten Vorzügen vieler Laienhelfer zählt: Herzlichkeit. Sie wirken mitfühlender, liebevoller. In einer Umfrage unter Teilnehmern von Therapiecamps meiner Stiftung Auswege würde dieser Pluspunkt bestimmt unter den Top Fünf der Eigenschaften auftauchen, die Patienten an den dortigen Laienhelfern am allermeisten schätzen. Typische Stimmen lauten: „Danke für die Liebe, die ihr uns entgegengebracht habt“, meinte abschließend die Mutter der entwicklungsverzögerten Anja* (8). „Euer aller Hingabe ist kaum zu begreifen. Ich habe mich wie unter Engeln gefühlt“, schwärmte die Mutter eines zehnjährigen Jungen mit Cerebralparese. „Ich habe so unfassbar viel von euch bekommen: Liebe, Fürsorge, Immer-für-mich-da-sein“, lobte die 60-jährige Sofia*, Opfer eines sexuellen Missbrauchs. (11) Natürlich sind auch Profis dazu imstande, so viel zu geben. Die meisten waren es, ehe sie aus dem Helfen einen Beruf machten, und außerhalb ihrer Arbeit sind sie es vermutlich weiterhin. In ihrem Praxisalltag wäre es allerdings Gift für sie, allzu viel Herzblut einfließen zu lassen. Wer Tag für Tag Menschen zuhören und beistehen will, die sich auf dem Höhepunkt einer psychischen Krise an ihn wenden, der blickt unentwegt in Abgründe. Er erfährt von unsäglichem seelischen Ballast, lernt tragische Schicksale kennen, erfährt von bedrückenden, schier ausweglosen Lebensumständen. Ließe er all das zu sehr an sich heran, ginge er auf die Dauer vor die Hunde, recht bald würde er selbst zum Fall für die Psychiatrie. Was Psychotherapeuten riskieren, die mit allzu großer Anteilnahme bei der Sache sind, führen Filme wie „The Unsaid“ (2001) und „Shut In“ (2016) vor Augen. Innerlich Abstand zu halten, bloß kein Mitleid aufkommen zu lassen, cool bleiben: Für Profis ist das zum Selbstschutz unabdingbar. Falls sie nicht schon während mehrerer hundert praktischer Ausbildungsstunden unter Aufsicht gelernt haben, nur so zu „tun als ob“, gehen sie spätestens im ersten Berufsjahr dazu über. Doch selten wirkt dieses „Als ob“ echt. Ein Großteil ihrer Klienten ist feinfühlig genug, das Spiel zu durchschauen. Vermissen sie Gefühlswärme, so frieren sie und verschließen sich. Der Laienhelfer kennt den Kontext besser – oft ist er Teil davon Anders als soziale Unterstützung durch Laien findet Psychotherapie zudem „weithin seltsam kontextentrückt“ und alltagsfern statt, gleichsam in einem „Kokon“, beklagt erstaunlich nestbeschmutzend die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie. (12) Viele Psychoprofis tun so, als gäbe es für ihre Klienten kein Dasein außerhalb der Therapiestunden, keinerlei hilfreiche oder belastende Beziehungen, keine bedeutsamen Lebensumstände. Deshalb haben sie oftmals keine Ahnung, ob das soziale Umfeld die Behandlung stört oder fördert. Folglich versäumen sie es, günstige Einflüsse aus dem privaten Umfeld zu nutzen, um angestrebte Thera­piewirkungen zu verstärken. Schädliche Hierarchien und Rollenmuster Wer angstgeplagt, antriebslos oder verzweifelt einen Psycho-Profi aufsucht, trifft oftmals auf jemanden, der unnahbar über ihm thront: Da unten ein armes Würstchen, das sein Innenleben jämmerlicherweise nicht auf die Reihe kriegt – dort oben ein allem Anschein nach gefestigter, in sich ruhender, durch nichts zu erschütternder Helfer, der mit sich selbst im reinen ist. Wie könnte es auch anders sein? Dank seiner wissenschaftlichen Ausbildung weiß der Profi ja schließlich ganz genau, wie man so etwas hinkriegt, oder nicht? Allzuoft trügt der Schein aber. Auch Psychologen durchleben Tiefs, Selbstzweifel und Sinnfragen nagen an ihnen; Beziehungskrisen und Konflikte, manchmal auch Existenzängste belasten sie. Um ihre psychische Gesundheit steht es keineswegs besser als in anderen Berufsgruppen. In Scheidungsstatistiken belegen Psychologen Spitzenplätze, neben Schauspielern, Schriftstellern und bildenden Künstlern. (13) Burnouts, Alkoholismus, Medikamentenabhängigkeit und emotionale Tiefs, die Psychiater zu ernsthaften Störungen erklären würden, treten bei ihnen gehäuft auf. Die Selbstmordrate liegt unter ihnen dreimal höher als in der übrigen Bevölkerung. (14) Bloß: Was ihn bedrückt, verbirgt der Profi, das gehört zum sozialen Rollenspiel – was geht derart Privates einen Klienten an? Ein guter Freund ist da wahrhaftiger. Es fällt ihm leichter, sich selbst zu offenbaren, sein Gegenüber in eigene innere Abgründe blicken zu lassen. Wenn dabei zum Vorschein kommt, wie schlecht es auch ihm hin und wieder geht, so kann das jemanden, der Hilfe sucht, enorm erleichtern. Denn es verbindet – man findet eher zueinander, wenn sich nicht bloß einer entblößt. Zu hören, wie es der Ratgeber selbst angestellt hat, schwere Zeiten durchzustehen, gibt dann oft entscheidende Anstöße und Fingerzeige. Weisheit schlägt Wissen Einfühlsamkeit ergänzt jenes Bündel von emotionalen und geistigen Eigenschaften, das wir Weisheit nennen. In diesem vorbildlichen Wesenszug, der über angehäuftes Wissen weit hinausgeht, liegt nicht nur der Schlüssel zu einem glücklichen Leben. In Begegnungen eingebracht, erweist er sich als überaus heilsam. Der Weise strahlt heitere Gelassenheit aus. Er verlässt sich nicht auf erste Eindrücke, er schwimmt nicht mit dem Strom, handelt nicht aus dem Affekt heraus. Er ereifert sich nicht. Er ruht in sich selbst, nichts bringt ihn so schnell aus der Fassung. Aus schmerzlichen Erlebnissen, die auch ihm nicht erspart bleiben, zieht er konstruktive Lehren, die er anderen zugute kommen lässt. Er ist imstande, Personen und Sachverhalte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, ohne vorschnell zu urteilen, geschweige denn abzuwerten. Es gelingt ihm, gleichsam innerlich einen Schritt zurückzutreten, auf Abstand zu sich selbst zu gehen, eigene Überzeugungen zu hinterfragen. Auch schwierige Probleme erfasst er in ihrer ganzen Komplexität, bringt sie auf den Punkt, findet klare, ausgewogene, einleuchtende Antworten. Der Weise nimmt sich nicht allzu wichtig und widersteht dem schwer zu bändigenden Drang, in möglichst gutem Licht dazustehen. Er bringt es fertig, eigene Fehler und Schwächen freimütig einzugestehen – und über sie zu lächeln. Statt an Gewohntem festzuhalten, ist er offen für Neues und Fremdes. Er achtet Mitmenschen, die anders denken und fühlen, aussehen und sich verhalten. Nur einer von 300 Erwachsenen besitze diese Grundtugend in höchster Ausprägung, schätzt die Weisheitsforscherin Ute Kunzmann von der Universität Leipzig. (15) Einem von ihnen zu begegnen, tut jedem seelisch Belasteten gut. Dass Psychoprofis diese Tugend eher auszeichnet als lebenserfahrene, besonnene Laien, bezweifle ich. Lehrreiche “Auswege”-Camps Weitere Hinweise darauf, was Laien Profis außerdem voraushaben könnten, verdanke ich vereinzelten „Auswege“-Camps, in denen professionelle Seelenheilkundige dem Gesamtergebnis eher abträglich als förderlich waren. Dort, wie auch im Praxisalltag, wirken Profis manchmal allzu routiniert und abgebrüht. Bei unserem 17. Therapiecamp im Oktober 2014 wurde ein überaus erfahrener kognitiver Verhaltenstherapeut von unseren Teilnehmern regelrecht boykottiert: Während die Terminlisten der übrigen Teammitglieder, allesamt nichtlizenzierte Laienpsychologen, von morgens bis abends durchgehend voll waren, blieb er vom zweiten Camptag an weitgehend beschäftigungslos, weshalb er frustriert vorzeitig ab­reisen wollte. Patienten und Angehörige störten sich unter anderem an seinem maskenhaften Dauergrinsen und unentwegten Kopfnicken. Aus ihrer Ausbildung und Berufserfahrung leiten Profis einen Erkenntnisvorsprung ab, der sie zur Besserwisserei neigen lässt, doktrinär und kritikunfähig machen kann. Als Vertreter einer bestimmten Schule halten sie oftmals verbissen an ihrer Lieblingstheorie fest, über begründete Ahnungen des Hilfesuchenden hinweg, woher seine Belastungen rühren könnten. An die speziellen Methoden, die sie im Laufe ihrer Ausbildung erlernt haben, klammern sich viele Profis auf Teufel komm raus: So, und keinesfalls anders, müsse vorgegangen werden, beharren sie - auch dann noch, wenn die Nutzlosigkeit ihrer Anstrengungen immer offenkundiger, die Widerstände des Klienten immer stärker werden. Nach einmal gestellten Diagnosen verengt sich ihr Blick auf Symptome, Ereignisse und Vorgänge, die dazu lehrbuchgemäß passen. Deshalb neigen sie dazu, Merkmale und Umstände des Klienten zu übersehen oder zu unterschätzen, die darüber hinausreichen. So vermitteln sie ihm das ungute Gefühl, in eine Schublade gezwängt zu werden. Wer nicht, wie Psychoamateure, bloß gelegentlich seelischen Beistand leistet, sondern unentwegt zu helfen versucht, läuft Gefahr, dabei abzustumpfen und auszubrennen. Nach vier bis sechs Berufsjahren, das belegen Studien (16), schwindet bei einem Großteil professioneller Psychotherapeuten die emotionale Anteilnahme. Die meisten fühlen sich „ausgelaugt und fertig“, haben „das Mitleid verlernt“, ihre „Spontaneität verloren“, sagen sie. Das Bedürfnis wächst, sich von ihrer Kundschaft innerlich zu distanzieren. An Erlebnissen von Hilflosigkeit und Ohnmacht leiden sie zunehmend. Dass sie kaum je Rückmeldungen von ihren Klienten bekommen, frustriert sie. 14 Prozent geben an, nicht mehr an die eigene Wirksamkeit zu glauben. Was haben sie dann noch in ihrem Beruf verloren? All diese Faktoren tragen dazu bei, dass in „Auswege“-Camps die Erfolgsquote bei seelisch Belasteten weder deutlich anstieg, sobald Psychoprofis mitwirkten, noch in deren Abwesenheit gravierend absackte. An Standesehre gekratzt Dass ein gestandener Psychotherapeut derartige Befunde als Schlag ins Gesicht empfinden muss, ist ihm mühelos nachzufühlen. Sie bringen sein Selbstverständnis ins Wanken, sie kratzen an seiner Standesehre, sie untergraben seine Autorität, sie nagen an seinem Selbstwertgefühl. Was empfände ein gelernter Koch, wenn er einräumen müsste, dass Oma Berta den Sauerbraten besser hinkriegt als er? Wie erginge es einem Zahnarzt, wenn er mitansehen müsste, wie Hinz und Kunz ein malades Gebiss mindestens ebenso gut saniert wie er? Wie wäre einem Piloten zumute, wenn er im Cockpit kurz vor dem Abflug erfährt, dass seine Boeing heute von einem aeronautischen Quereinsteiger gesteuert wird? Der startet sicher, fliegt um den halben Globus, landet butterweich, heimst den Applaus der Passagiere ein – und erst jetzt stellt sich heraus: Der Kollege ist ein blutiger Amateur, der sich das Fliegen selber beigebracht hat. „Wenn das so einfach wäre“, würde sich der professionelle Pilot zurecht fragen, „wozu habe ich dann eine jahrelange anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen?“ Wie sehr eine solche Erfahrung kränken kann, führte mir Beate K.* vor Augen, eine Diplom-Psychologin Ende Dreißig. Anlässlich des 22. Therapiecamps meiner Stiftung im Juni 2016, eines speziell für Betroffene von Burn-out, Depressionen und Lebenskrisen, hatte ich sie in unser 14-köpfiges Helferteam einbezogen. Drei Tage lang erlebte Beate aus nächster Nähe mit, dass ein Großteil der psychisch Schwerbelasteten – 16 Patienten zwischen 36 und 73 Jahren – im Nu Fortschritte machten wie zuvor seit Monaten und Jahren nicht. Weder staatlich anerkannte Psychotherapeuten noch psychiatrische Fachärzte, weder stationäre Klinikaufenthalte noch rezeptgemäß eingenommene Psychopharmaka hatten zuvor deren Pein gelindert. Während dreier abendlicher Teambesprechungen hatte Beate Gelegenheit, unsere Helfer aus deren Sitzungen durchweg Hocherfreuliches berichten zu hören. Von frühmorgens bis spätabends liefen ihr im und ums Camphaus unentwegt Teilnehmer über den Weg, in deren strahlenden Gesichtern sie lesen konnte, um wieviel besser es ihnen seit ihrer Ankunft ging. Trotzdem packte Beate schon am Abend des dritten Camptags ihre Koffer: „Das alles hier kann ich nicht länger mittragen.“ Wieso denn? Hier werde „nicht fachgerecht“ vorgegangen, bemängelte sie. Es gebe „einfach ein Grund-ABC, ein Handwerkszeug, gewisse Regeln und Strategien im Umgang mit bestimmten Diagnosen, die sich auf professioneller Ebene seit Jahrzehnten bewährt haben“. Damit „das alles hier professionell wird“, müsste „auf Strukturebene einiges umgestellt werden“. Schmerzlich vermisste sie „eine grundlegendere, professionellere Haltung“. Meinte sie mit „unprofessionell“, ihrer Lieblingsvokabel, nicht eher „unkonventionell“? Hat denn nicht recht, wer heilt? Unser Tempo sei „zu hoch“, „schnell ist nicht gleich gut“. Also wären keine Erfolge oder solche, die auf sich warten lassen, wünschenswerter als rasche – und pauschale Tempolimits für therapeutisches Vorwärtskommen dringend geboten? „Ihr könnt euch nicht abkoppeln vom Gesundheitssystem“, warf sie ein, „denn dorthin müssen eure Patienten ja anschließend wieder zurück.“ Müssen wir uns dafür entschuldigen, Systemgeschädigten die hilfreichere Medizin zu bieten, und danach trachten, bei uns drinnen dem Draußen nachzueifern? Wo in Wahrheit der Hase im Pfeffer lag, brachte Beate schließlich selbst auf den Punkt: Sie sei „eben von meiner Berufssozialisation geprägt“, „ich hab´s halt anders gelernt“ und „kann einfach nicht aus meiner Haut“. Was sie letztlich das Weite suchen ließ, nennen ihre Fachkollegen eine „kognitive Dissonanz“: jenen unangenehmen Gemütszustand, der sich einstellt, wenn man mehrere Kognitionen hegt – Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche, Werte oder Absichten -, die miteinander unvereinbar sind. Um wie viel unbehaglicher muss Beate da erst in Anbetracht des nächsten Kapitels zumute sein? (Harald Wiesendanger) Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF. Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“) 1        Reichlich erforscht: Viele Laien können mehr 2        Unter den Teppich gekehrt 3        Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker 4        Wie viel bringt Psychotherapie wirklich? 5        Warum nützt Psychotherapie? 6        Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind 7        Hochstapler unter Hochstaplern 8        Psychotherapie als Gefahrenherd 9        Nase vorn: Was viele Profis besser können – und weshalb 10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik Anmerkungen 1  Näheres in Band 4 meiner Schriftenreihe Psycholügen, Schönbrunn 2017: Stochern im Nebel - Psycho-Profis erklären nicht besser, was in uns vorgeht. 2  Daniel Goleman: Emotionale Intellgenz, München 1996; Peter Salovey/John D. Mayer: “Emotional Intelligence”, Imagination, Cognition, and Personality, Band 9. S. 185–211; John D. Mayer/P. Salovey/D. R. Caruso: “Emotional Intelligence: Theory, Findings and Implications”, Psychological Inquiry 15/2004. S. 197–215. 3 Nach Erhebungen der OECD: Bildung auf einen Blick – OECD-Indikatoren 2006, Paris 2006. 4  Nach www.nc-werte.info/studiengang/psychologie, Stand: Februar 2015. 5  R. Carkhuff/B. G. Berenson: Beyond counseling and therapy, New York 1967; R. Carkhuff/D. Kratochvil/T. Friel: „The effects of graduate training“, Journal of Counseling Psychology 15/1968, S. 117-126. 6  Zit. R. Carkhuff: „Differential functioning ...“, a.a.O., S. 120 7  R. Carkhuff, ebda., S. 121 8  F. N. Arnhoff: „Some factors influencing the unreliability of clinical judgments“, Journal of Clinical Psychology 10/1954, S. 272-275; E. Taft: „Ability to judge people“, Psychological Bulletin 52/1955, S. 1-23; J. E. Chance/W. Meaders: „Needs and interpersonal perception“, Journal of Personality 28/1960, S. 200-210; J. H. Weiss: „Effect of professional training and amount of accuracy of information on behavioral prediction“, Journal of Consulting Psychology 27/1963, S. 257-262; R. Melloh: Accurate empathy and counselor effectiveness, unveröffentlichte Dissertation 1964, zit. nach B. J. Kalisch: „Strategies for developing nurse empathy“, Nursing Outlook 11/1971, S. 714-718. 9  Irvin D. Yalom: Gruppenpsychotherapie - Ein Handbuch, München 1974, S. 80 f. 10  Ein besonders eindrückliches Fallbeispiel schildere ich in Band 10 meiner Schriftenreihe Psycholügen: Der Psychofalle entkommen - Wie psychisch Belastete einen Ausweg fanden - ohne professionelle Seelenhelfer und Chemikalien, Schönbrunn 2017, darin das Kapitel “Die Blitzheilung einer Schwerstdepressiven”, S. 92-108, https://stiftung-auswege-shop.gambiocloud.com/der-psychofalle-entkommen-auswege-schriftenreihe-psycholuegen-band-10-printausgabe.html 11 Stimmen von Campteilnehmern zitiert die Stiftung Auswege in ausführlichen Dokumentationen ihrer Therapiecamps, s. www.stiftung-auswege. de/veranstaltungen/fruehere-camps.html. 12 In einem Schwerpunktheft über „Extratherapeutische Wirkfaktoren“ ihrer Zeitschrift Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis 46 (2) 2014. 13 Hans-Ulrich Ahlborn: „Psychotherapie und ihre Risiken“, Paracelsus-Magazin 6/1997. 14 James D. Guy/Gary P. Liabuc: „The impact of conducting psychotherapy on psychotherapists´ interpersonal functioning“, Professional Psychology: Research and Practice 17 (2) 1986, S. 111-114. 15  Nach Süddeutsche Zeitung Nr. 24, 30.1.2017, S. 16: „Vernunft mit Gefühl“, U. Kunzmann: „Wisdom“, in R. Schulz (Hrsg.): The Encyclopedia of Aging, 4. Aufl. New York 2006. 16  Dieter Kleiber (Hrsg.): Die Zukunft des Helfens. Neue Wege und Aufgaben psychosozialer Praxis, Weinheim 1986; ders. mit A. Kuhr (Hrsg.): Handlungsfehler und Misserfolge in der Psychotherapie, Tübingen 1988. Titelbild: erzeugt mittels Microsofts KI „Bing Image Creator“.

  • Psychotherapie als Gefahrenherd

    Die Fachwelt ist sich einig, Medien hinterfragen sie nicht: Angeblich gehören psychisch Belastete unbedingt in die Hände von wissenschaftlich ausgebildeten Profis. Denn Laien könnten gewaltigen Schaden anrichten, so heißt es. Verschwiegen werden Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie – oft macht sie alles nur noch schlimmer. „Kommt eine Psychotherapie für Sie in Betracht?“ Jeder Fünfte, den ernste seelische Nöte plagen, antwortet darauf mit einem „Nein“. Häufigste Begründungen: Man halte nichts von ihr, man habe Angst vor ihr. (1) „Die Dunkelziffer liegt hier wohl noch sehr viel höher“, vermutet die Psychologin Kirsten von Sydow von der Uni Hamburg, die 103 Studien über das öffentliche Image der Psycho-Berufe aus den Jahren 1948 bis 2006 auswertete. (2) Der Argwohn ist wohlbegründet, auch die restlichen vier Fünftel täten gut daran, ihn zu hegen. Denn vermeintliche Professionalität bewahrt sie nicht zuverlässig davor, Schaden zu nehmen. Fast jedem zweiten Patienten geht es, Studien zufolge (3), nach einer Psychotherapie nicht besser als vorher. (4) „Etwa zehn Prozent der Psychotherapie-Patienten erfahren schwerwiegende und länger andauernde Nebenwirkungen“, erklärt Michael Linden, Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut an der Charité in Berlin. (5) Das gängige Stereotyp „Reden schadet nicht“ führt in die Irre. Die Risiken und Nebenwirkungen sind vielfältig. Seit Januar 2012 zwingt das neue Patientenrechtegesetz Therapeuten dazu, vor Beginn der Behandlung auf sie hinzuweisen, ausführlich und verständlich. Schiefgehen kann viel Weil Klienten immer auch Einkommensquellen darstellen, erliegen manche Therapeuten der Versuchung, sie an sich zu binden. Durch Versprechungen oder Drohungen üben sie auf Hilfesuchende mehr oder minder sanften Druck aus, eine Behandlung auch dann noch fortzusetzen und keinesfalls abzubrechen, wenn immer offenkundiger wird, dass sie nichts bringt. Oftmals versäumen sie es, mögliche körperliche Ursachen in Betracht zu ziehen. So ist nicht jede Depression psychischen Ursprungs. Dahinter können vielerlei körperliche Erkrankungen stecken: Stoffwechselstörungen der Schilddrüse und im Gehirn, chronische Entzündungen, Vitamin-B12/D3-Mangel, Hormonmangel und andere pathologische Prozesse. (6) Manche Psycho-Profis unternehmen zuwenig, um eine unnötig starke emotionale Bindung des Hilfesuchenden an sie zu verhindern. Gegen seinen Willen und Widerstand verfolgen sie Therapieziele, die ihnen erstrebenswerter erscheinen als ihm. Sie genießen die Machtstellung, die ihnen die Hilfsbedürftigkeit des Klienten verschafft: den Besserwisser geben, bloßstellen und dirigieren, Aufmerksamkeit gewähren oder entziehen. Oder sie reden ihm Phantasiegebilde ein. Vor allem in den neunziger Jahren liefen in den USA mehrere Gerichtsverfahren gegen Analytiker, deren Patienten nach bohrenden Suggestivfragen Verwandte fälschlicherweise des sexuellen Missbrauchs bezichtigt hatten. (7) Hierzulande berät der Verein False Memory Deutschland Menschen, die aufgrund einer Pseudoerinnerung des Missbrauchs beschuldigt werden. Freud selbst hatte sich auf die groteske Behauptung verstiegen, vermeintliche Erinnerungen von Patientinnen daran, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein, würden niemals auf realen Geschehnissen beruhen, sondern grundsätzlich auf Hirngespinsten – zum Leidwesen unzähliger Frauen, denen tatsächlich Gewalt widerfahren war. (8) Sexuelle Übergriffe, fast immer gegenüber weiblichen Klienten, kommen in psychotherapeutischen Praxen weitaus häufiger vor, als Fachkreise wahrhaben wollen: Je nach Definition des Begriffs „sexueller Kontakt“ bleiben einem bis zwölf Prozent derartige Erfahrungen nicht erspart. (9) Manche Patienten verleitet Psychotherapie zu einem Egotrip. Womöglich erstmals in ihrem Leben lernen sie, auf die eigenen Bedürfnisse achtzugeben. Anschließend sind sie so sehr auf sich selbst bezogen, dass sie am Arbeitsplatz und zu Hause nicht mehr klarkamen: Sie trennten sich vom Partner, kündigten den Job, brachen Kontakt zu Familie und Freunden ab - und entwickelten Züge einer narzisstischen Persönlichkeit. (10) Je nach eingesetztem Verfahren drohen weitere üble Nebenwirkungen. Ein schweres Trauma - etwa bei Kriegsveteranen, Opfern von Unfällen, Gewaltverbrechen oder Katastrophen - durch Konfrontation mit dem schrecklichen Erlebnis anzugehen, kann extreme Reaktionen auslösen. Zusätzlich zur „posttraumatischen“ Störung entwickeln Patienten dann eine „dissoziative“: Erinnerung an einzelne belastende Erlebnisse oder ganze Teile ihrer Persönlichkeit, die mit diesen Erlebnissen verbunden sind, spalten sie ab. Symptome reichen von Amnesie über Wahrnehmungs- und Empfindungsstörungen bis hin zu Krampfanfällen und Lähmungserscheinungen. Häufiger kontraproduktiv als entlastend ist das sogenannte „Debriefing“, bei dem der Psycho-Profi Betroffene und Zeugen eines schrecklichen Geschehens vor einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu schützen versucht, indem er es unmittelbar anschließend mit ihnen aufarbeitet. Tatsächlich erlebten derart Behandelte nach drei Jahren deutlich häufiger noch belastende Erinnerungen an die Katastrophe als unbehandelte Beteiligte. (11) Schiefgehen kann bei einer kognitiven Verhaltenstherapie auch eine „Exposition“: Um eine Angststörung zu überwinden, wird der Betroffene schrittweise der Situation ausgesetzt, die ihn peinigt. Michael Linden, Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut an der Charité in Berlin, erinnert sich an einen Patienten, den offene Räume ängstigten. Im Verlauf der Behandlung lernte er, kurze Spaziergänge bis zur nächsten Straßenecke zu machen. Doch bei einer Autofahrt mit seinem Therapeuten erlitt er aus unerfindlichen Gründen eine Panikattacke. Fortan wagte er sich gar nicht mehr aus dem Haus. Die Therapie brach er ab. (12) Auch Gruppentherapien bergen ihre eigenen Risiken. Ansteckungsgefahr zählt dazu: Wer die bisweilen dramatischen Geschichten anderer hört, schöpft aus dem geteilten Leid nicht immer Kraft, sondern fühlt sich demoralisiert. Bloß ausnahmsweise? Therapeutenkreise lassen solche Mängellisten freilich kalt. Schwarze Schafe, Anfänger und Stümper, Nichts- und Wenigkönner tummeln sich schließlich in jedem Berufsfeld, wiegeln sie ab. Selbstverständlich, so räumen sie bereitwillig ein, leisten sich Psychotherapeuten, nicht anders als Ärzte, immer wieder mal schwerwiegende Patzer. Doch diese, beruhigen sie, lassen sich grundsätzlich abstellen: durch noch gründlichere Ausbildung und Supervision, durch eine noch strengere Standesgerichtsbarkeit, durch verschärfte Kontrollmaßnahmen, gerne auch dadurch, dass der Gesetzgeber Patientenrechte stärkt. Im übrigen gehören Risiken und Nebenwirkungen halt zu jeder effektiven Therapie; was nützt, kann immer auch schaden. Hauptsache, der Nutzen überwiegt. Dabei verkennen sie: Psychotherapie weist Merkmale auf, die sie grundsätzlich gefährlich machen. Sie droht immer Schaden anzurichten. Erstens: Psychotherapie brandmarkt. Als Teil des medizinischen Versorgungssystems stempelt sie Belastete zu Patienten. Wer sich ihr unterzieht, erklärt sich einverstanden damit, verschubladet zu werden: als Betroffener einer „psychischen Störung“. Dazu wird ihm eine Diagnose verpasst, andernfalls zahlt die Krankenkasse nicht. Diese Etikettierung grenzt ihn aus der Welt der Normalen aus, sie definiert ihn als therapiebedürftigen Symptomträger. Zweitens: Psychotherapie kann das Selbstbild beschädigen. Denn sie wertet ab. Ehe sie beginnt, fällt ein Urteil, das wissenschaftlich einzuordnen scheint, in Wahrheit aber geringschätzt: „Was du tust und erlebst, weicht von üblichem Erleben und Verhalten ab – es ist abnorm. Derart lange, derart stark darfst du nicht trauern, dich fürchten, dich zurückziehen, hadern, unaufmerksam, wütend, lustlos, launisch, erschüttert sein. So, wie du bist, darfst du nicht bleiben.“ Unter dem verstörenden Eindruck, nicht mehr normal zu sein, verändert sich das Selbstbild des Klienten schleichend in Richtung verbreiteter Vorurteile. Beschleunigt und verstärkt wird dieser Prozess, wenn die Therapie seine tatsächlichen oder vermeintlichen Schwächen in den Vordergrund rückt. Das verleitet ihn dazu, alles und jegliches als Symptom seiner Krankheit zu betrachten. Gilt er erst einmal als gestört, so wird alles verdächtig, was er tut oder sagt, weil er nun unter verschärfter Beobachtung steht - durch Außenstehende, aber auch durch sich selbst. Aus einer ersten, vielleicht vorläufigen Diagnose, die sich womöglich bald als übereilt erwiesen hätte, wird dann allzu leicht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Drittens: Psychotherapie kann unselbstständig machen. Zum psychisch Kranken erklärt, wird dem Betroffenen die Fähigkeit abgesprochen - und entsprechendes Bemühen erspart -, aus eigener Kraft zu genesen. Der Medizinbetrieb, in den er sich begeben hat, weckt und bestärkt seinen Glauben, dazu bedürfe es unbedingt des Beistands von Experten – ohne sie kriege er das unmöglich hin. Spötter sprechen vom „Woody-Allen-Syndrom“, so benannt nach dem berühmten amerikanischen Schauspieler und Regisseur, der sich zum Lebensmotto bekennt: „Da muss ich erst mal meinen Therapeuten fragen.“ Viertens: Psychotherapie kann dazu verleiten, soziale Bindungen zu vernachlässigen. Wer sich darauf einlässt, sucht und findet oft niemanden, von dem er sich angenommen und verstanden fühlt. Niemanden, bei dem er sich aussprechen kann, dem er voll und ganz Vertrauen schenkt. Niemanden, der Interesse und Anteilnahme zeigt. Niemanden, der bereit ist, auch bei unerfreulichen, belastenden Themen stundenlang und öfter als einmal zuzuhören, ohne Langeweile oder Überdruss zu zeigen. Niemanden, der ihm Ermahnungen und Vorhaltungen erspart. Von Verwandten, Freunden und Bekannten, im Kollegenkreis, selbst vom Lebensgefährten wähnt er sich unverstanden und missachtet, er fühlt sich einsam. Im Gegensatz dazu erscheint ihm Psychotherapie als Geschenk des Himmels: Endlich ist da einer, der ihm seine volle Aufmerksamkeit widmet. Dass der Therapeut sich ihm bloß von Berufs wegen und ausschließlich gegen Bezahlung zuwendet, verdrängt er. Psychotherapie ist bequem, im Gegensatz zu dem anstrengenden, zeitraubenden und stets mit Unsicherheiten verbundenen Bemühen, verständnisvolle, hilfsbereite Freunde zu gewinnen. Und weil es der menschlichen Natur entspricht, sich Mühsal möglichst zu ersparen, besteht das Risiko, dass man den angenehmen Weg dem aufwändigeren vorzieht, zumal wenn die Krankenversicherung dafür aufkommt oder solange der eigene Kontostand es zulässt. Insofern gleicht der Besuch beim Psychoprofi durchaus dem Gang ins Bordell, wie der  Psychiatriekritiker Hans Ulrich Gresch bissig anmerkt. Die Gefahr, die bequeme Lösung zu bevorzugen, sei bei der Psychotherapie „sogar noch größer als beim käuflichen Sex, weil letzteren die Kasse nicht bezahlt“. (13) Sie verkauft die Illusion von Freundschaft wie die Hure die Illusion von Liebe. Fünftens: Weil die Zuwendung des Therapeuten eine professionelle, keine wahrhaftige ist, mangelt es ihr an Tiefe und Echtheit. Die zeitweilige Erleichterung und Befriedigung, die sie verschafft, wirkt nicht dauerhaft nach, sondern verblasst bald wieder. 45 Therapieminuten vergehen schnell. Diese Konstellation hat Suchtpotential, verbunden mit dem Zwang, immerzu die Dosis zu steigern, und zunehmenden Entzugserscheinungen. Psychotherapie kann zum Nikotin der Seele werden, ebenso rasch wie Zigaretten weckt und steigert ihr Konsum das Verlangen nach mehr. „Im Grunde“, räumt die US-Psychologin Catherine Johnson ein, „müsste es längst Spezialbehandlungen für Therapiesüchtige geben.“ (14) Sechstens: Psychotherapie kann verblenden. Lebensprobleme entstehen nie bloß „im Inneren“. Sie ergeben sich aus einem hochkomplexen Wechselspiel: zwischen allem, was eine Person ausmacht – ihren eigenen Erlebnissen, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gefühlen, Einstellungen, Überzeugungen, Erwartungen, Gewohnheiten, Fähigkeiten, Bedürfnissen, Wünschen, allen Stärken und Schwächen ihrer Persönlichkeit –, mit ihrer sozialen Umgebung, ihren finanziellen Verhältnissen, ihrem soziokulturellen Rahmen in Vergangenheit und Gegenwart. Diese äußeren Umstände klammert Psychotherapie in aller Regel aus. Sie konzentriert sich auf den Betroffenen selbst – und verleitet ihn, dasselbe zu tun. Wer oder was ihn kränkt, bedrängt, überfordert oder quält, gerät aus dem Blick - als Hauptproblem erscheint seine persönliche Unfähigkeit, damit klarzukommen. Siebtens: Psychotherapie kann Schuldgefühle nähren, und das erhöht den Leidensdruck. Wenn ein psychisches Problem nicht in erster Linie von belastenden äußeren Umständen herrührt, sondern vom Unvermögen des Betroffenen, sich ihnen anzupassen, so liegt der schwarze Peter bei ihm. Er soll sich ändern, während seine Lebensumstände objektiv dieselben bleiben. Je belastender sie sind, desto eher fühlt er sich überfordert, zumal dann, wenn er sie als unabänderlich und unentrinnbar wahrnimmt (womit er recht haben könnte). Anders als die Organmedizin zieht das Unternehmen Psychotherapie Nutzen daraus, dass es offenkundige Fehlschläge stets auf das Versagen dessen schieben kann, der sie in Anspruch nimmt. „Während ein Chirurg bei jedem Schnitzer mit einem ruinösen Kunstfehlerprozess rechnen muss“, bemängelt der Wissenschaftspublizist Rolf Degen, „kann ein Seelendoktor einen Misserfolg mit dem ‘Widerstand’ oder der ‚‘fehlenden Krankheitseinsicht’ seines Anvertrauten bemänteln oder im Fachkauderwelsch entschärfen.“ (15) Kurzum, Psychotherapie hat das Zeug zum brandgefährlichen Krankmacher. Allzuoft erzeugt, verstärkt und verlängert sie eben jene seelischen Belastungen, denen sie beizukommen vorgibt. (Harald Wiesendanger) Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF. Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“) 1        Reichlich erforscht: Viele Laien können mehr 2        Unter den Teppich gekehrt 3        Vogel Dodo beim Wettlauf der Psychotechniker 4        Wie viel bringt Psychotherapie wirklich? 5        Warum nützt Psychotherapie? 6        Warum manche Laien die besseren Therapeuten sind 7        Hochstapler unter Hochstaplern 8        Psychotherapie als Gefahrenherd 9        Nase vorn: Was viele Profis besser können – und weshalb 10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik Anmerkungen 1  M. Franz u.a.: „Warum ‘Nein’ zur Psychotherapie?“, Psychotherapie - Psychosomatik - Medizinische Psychologie 43/1993, S. 278-285. 2  Kirsten von Sydow: „Das Image von Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern in der Öffentlichkeit. Ein systematischer Forschungsüberblick“, Psychotherapeut 52/2007, S. 322-333. 3  Immerhin liegen mittlerweile eine Reihe von Studien vor – aus Europa, https://www.cambridge.org/core/journals/bjpsych-open/article/negative-effects-of-psychotherapy-estimating-the-prevalence-in-a-random-national-sample/1C4E7F900F5CAF2CFAD129D54E4CC00C den USA, https://psycnet.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2Fa0015643  und Australien. https://journals.sagepub.com/doi/10.1080/00048670903107559 4  Zusammenfassend: https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/psychotherapie-hat-kaum-bekannte-risiken-und-nebenwirkungen-a-869344.html 5  Zit. in https://www.welt.de/wissenschaft/plus241837735/Gesundheit-Die-unerwuenschten-Nebenwirkungen-der-Psychotherapie.html 6  Siehe https://www.schlosspark-klinik-dirmstein.de/depression-koerperliche-ursachen/ 7  Der Spiegel 30/1994, S. 76. 8  Solche bestürzenden Fälle schildert Jeffrey Masson, ehemals selbst Psy­cho­analytiker und Forschungsdirektor der Sigmund-Freud-Archive, in seiner Streit­schrift Die Abschaffung der Psycho­therapie - Ein Plädoyer, München 1991. 9 Siehe die umfangreichen Quellenangaben bei www.christianeeichenberg.de/SUEPP_seminar.pdf 10  Mehrere solche Fälle schildert das Buch von Michael Linden und Bernhard Strauß (Hrsg.): Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie: Erfassung, Bewältigung, Risikovermeidung (2012), https://www.amazon.de/Risiken-Nebenwirkungen-von-Psychotherapie-Risikovermeidung/dp/3941468642/ref=sr_1_2?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=11A7S7APNEGXT&keywords=Linden+%E2%80%9ERisiken+und+Nebenwirkungen+von+Psychotherapie&qid=1699033452&s=books&sprefix=linden+risiken+und+nebenwirkungen+von+psychotherapie%2Cstripbooks%2C114&sr=1-2 11  Siehe https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/psychotherapie-hat-kaum-bekannte-risiken-und-nebenwirkungen-a-869344.html 12  Zit. nach https://www.welt.de/wissenschaft/plus241837735/Gesundheit-Die-unerwuenschten-Nebenwirkungen-der-Psychotherapie.html 13  Hans Ulrich Gresch: Lexikon der Psychiatrie-Kritik, online bei http://lexikon.ppsk.de. 14  Nach Der Spiegel 25/1998, S. 194. 15  Rolf Degen: „Die hilflosen Helfer“, Der Spiegel 36/2000, S. 118-132, dort S. 119.

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