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Dr. Harald Wiesendanger

Gekaufter Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird

Aktualisiert: 27. Feb. 2023

Viele Ärzte lassen sich von Pharmafirmen in „Anwendungsbeobachtungen“ einspannen: wissenschaftlich wertlose Untersuchungen ohne Kontrollgruppe. Überaus nützlich sind solche Pseudostudien trotzdem, zumindest für die Auftraggeber: Sie schaffen willkommene Gelegenheiten, dem Arzt und seinen Patienten ein neues Medikament näherzubringen. Kritiker sprechen von legalisierter Korruption.


Jeder zehnte niedergelassene Arzt, neben tausenden Klinikärzten, macht bei sogenannten „Anwendungsbeobachtungen“ (AWB) mit, auch „nicht-interventionelle Studien“ genannt: wissenschaftlich wertlose Untersuchungen ohne Kontrollgruppe, meist ohne Versuchsplan und vorab festgelegtes Ziel - sei es vor der Markteinführung eines Präparats, als sogenannte „Seeding Trials“ (von engl. to seed: säen), sei es nach erfolgter Zulassung. Eine Veröffentlichungspflicht gibt es nicht.


Mindestens 1300 derartige Pseudo-Studien fanden in Deutschland zwischen 2009 und 2014 statt – so viele meldeten „forschende“ Pharmaunternehmen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Um die Jahrtausendwende waren es 400 pro Jahr gewesen, 2005 schon etwa 700. (1) 17.000 Ärzte strichen 2014 Geld für umstrittene Studien ein.


Ärzte erhalten dabei einen stattlichen Vorrat eines neuen Medikaments, mit dem Ansinnen, es an ihren Patienten auszuprobieren und zu „beobachten“, wie es wirkt. Dazu genügt es, ein paar Formulare auszufüllen und den Patienten zu fragen, wie ihm das Mittel bekommt. Die als „Gebühr“ getarnten Bestechungsgelder, die hierbei fließen, liegen pro Patient bei 25 bis 600 Euro (2), können aber auch vierstellig ausfallen (3), bis zu geradezu obszönen 7000 Euro.


Verkappte Korruption


Das ist verlockend: An einem Krebskranken verdient ein Kassenarzt pro Quartal weniger als 200 Euro. Verschreibt er ihm das Krebsmittel Avastin aber im Rahmen einer AWB, honoriert der Hersteller Roche einen einzigen flüchtig ausgefüllten Bogen mit bis zu 1260 Euro.


Zahlreiche Konzerne betreiben einen gigantischen Aufwand: So startete AstraZeneca 2005 eine Anwendungsbeobachtung bei sage und schreibe 17.000 Ärzten für den Protonenpumpenhemmer Esomeprazol; Altana ließ das Konkurrenzpräparat Pantoprazol von 6000 Ärzten „beobachten“. Auch Lipidsenkern (Ezetimib, Simvastatin) sowie Mitteln gegen Bluthochdruck (Irbesartan), Harninkontinenz (Duloxetin) und Neurodermitis (Pimecrolimus) widmeten sich AWBs mit jeweils mehreren tausend Ärzten. (4)


Allein im Jahr 2014 schütteten Pharmafirmen über hundert Millionen Euro an knapp 20.000 deutsche Ärzte aus, die in AWBs zu Diensten waren.


„Anwendungsbeobachtungen“ sind getarnte Marketingaktionen, häufig für Mittel, die ein Vielfaches teurer sind als gleichwertige andere: Ärzte und Patienten sollen mit dem Präparat vertraut gemacht und zu Verschreibungen verleitet werden. (5) Kritiker wie der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig, plädieren daher für ein Verbot.


Lachhafte Erkenntnissuche


Den Vorwurf der „legalisierten Korruption“, den Transparency International deswegen seit langem erhebt, weisen Pharmafirmen selbstredend weit von sich: Bei AWBs, so versichern sie scheinheilig, gehe es allein darum, „weitere Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit unter Praxisbedingungen zu generieren“. (6) Das ist lachhaft: Ohnehin sind Ärzte verpflichtet, Nebenwirkungen an die Arzneimittelkommission oder das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden – und zwar, ohne dafür Geld zu bekommen. Vereinzelt richten sich „Anwendungsbeobachtungen“ auf Medikamente, die seit Jahrzehnten auf dem Markt sind; welche weiteren neuen „Erkenntnisse“ hinsichtlich ihrer Wirksamkeit wären da noch zu erwarten? Im April 2015 startete Pfizer eine AWB zu seinem Rheumamittel Enbrel - 15 Jahre nach dessen Zulassung und kurz bevor erste Konkurrenz-Arzneien auf den Markt kamen. Ärzten, die mitmachten, winkten 650 Euro - pro Patient wohlgemerkt.


Und musste der Hersteller von Klosterfrau Melissengeist deutschen Ärzten 225 Euro pro “beobachtetem” Patient zahlen, um zu erproben, ob das Produkt beruhigend wirkt - wie man schon seit rund 190 Jahren weiß? (7)


“Das Geld wird aus wissenschaftlicher Sicht verschwendet", ärgert sich Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG).


Nutzen und Unschädlichkeit von Arzneimitteln nach Markteinführung durch Langzeitbeobachtungen zu überprüfen, ist natürlich sinnvoll. Dafür gibt es allerdings PASS- oder PAES-Studien. (Die Abkürzungen stehen für „Post Authorisation Safety“ bzw. „Post Authorisation Efficacy“.) Gesundheitsbehörden wie das BfArM können sie offiziell anordnen, sofern sie Nachforschungsbedarf sehen, weil Sicherheit und/oder Wirksamkeit eines neuen Medikaments nicht hinlänglich belegt scheinen. (8) (Nebenbei gefragt: Wann ist das denn nicht der Fall?) In jüngster Zeit fanden solche Untersuchungen beispielsweise für „moderne“ Antibabypillen, für Krebsmittel oder Medikamente gegen Multiple Sklerose statt. Das Niveau derartiger Studien erreichen AWBs von Pharmafirmen nicht annähernd.


Therapeutisch bedenklich, moralisch fragwürdig


Niemand neidet Ärzten ein Zubrot. Therapeutisch bedenklich und moralisch fragwürdig werden „Anwendungsbeobachtungen“ vielmehr, indem sie dazu verleiten, einem Patienten unter mehreren möglichen Präparaten nicht das wirksamste, verträglichste und billigste zu verschreiben, sondern jenes, das für den Rezeptaussteller wie für den Hersteller am lukrativsten ist. Wie steht es um die Ethik von Ethikkommissionen, die dieses Treiben dulden und absegnen?


Wer meint, die horrenden Summen, die zur Bestechung gutverdienender Ärzte nötig wären, könne sich kein Pharmakonzern leisten, irrt gehörig. Bis zu 90 Prozent des Marketingbudgets der US-Pharmaindustrie zielen auf Ärzte ab. (9) Und so können „beratende“ Fachärzte Vergütungen zwischen 4.000 und 60.000 Euro einstreichen. (10) Manche Klinikärzte kassieren bis zu 90.000 Euro „Beratungshonorar“, wenn sie sich zu einer Konferenz der Pharmaindustrie einladen lassen (11), im Einzelfall 400.000 Dollar für acht Tage Beratertätigkeit. (12) Vier der größten Hersteller von Hüft- und Knieimplantaten schütteten zwischen 2002 und 2006 mehr als 800 Millionen Dollar an Ärzte aus, die mit ihnen „Berater“verträge abgeschlossen hatten. (13)


Das rechnet sich, denn geköderte Ärzte sind weitaus bessere Produkt-Promoter als Pharmareferenten. So verrieten interne Berechnungen des Pharmariesen Merck, dass er für jeden Dollar, den er in Vortragshonorare für Ärzte steckte, 3,66 Dollar zurückbekam. (14)


Wes Brot ich ess …


Würden sich derartige Investitionen nicht auszahlen - wozu gäbe es sie überhaupt? Laut einer Studie, die Daten von fast 7000 Ärzten berücksichtigte, verordneten Teilnehmer einer AWB das entsprechende Medikament um acht Prozent häufiger. Auch ein Jahr nach Ende einer AWB lagen die Verschreibungen noch sieben Prozent höher als in der Vergleichsgruppe.


Die Bereitschaft von Ärzten, ein Arzneimittel für Fälle zu verschreiben, für die es gar nicht zugelassen ist - „Off-Label Use“ -, wächst um 70 Prozent, nachdem der Hersteller sie zu einem Essen eingeladen hat, bei dem über unzulässige Anwendungen gesprochen wird. (15) Selbst die Qualität des Menüs beeinflusst die Verschreibungsquote. (16) Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.


Nicht immer muss Geld fließen, ehe sich Ärzte an die Leine legen lassen. Beim Anwerben für „Anwendungsbeobachtungen“ etwa betonen Pharmavertreter gerne, der betreffende Doktor sei „aufgrund seiner überragenden Arbeit ausgewählt worden, an dieser Testphase teilzunehmen“, wie ein Ex-Pharmamanager aus dem Nähkästchen plaudert. „Wir würden die Ergebnisse, die sie mit ihren Patienten erzielen, sorgfältig auswerten und selbstverständlich den Namen des teilnehmenden Arztes in der Studie maßgeblich erwähnen. Das allein ist für viele schon Anreiz genug, mitzumachen. Den eigenen Namen gedruckt in einer Studie sehen, ist verlockend für einen Arzt, der in der Routine des Alltags vom frischen Wind der empirischen Wissenschaft nichts mitbekommt. Einmal Forscher sein! Und dann auch gleich in einer Veröffentlichung namentlich genannt werden! Die offizielle Bestätigung: Der Mann ist mehr als nur ein Krankenbettverschieber!“ Solche Aussichten „streicheln das Ego“. (17)


Kaum einer der 71.000 Ärzte in Deutschland, die zugaben, im Jahr 2015 Geld von der Pharmaindustrie kassiert zu haben (18), räumt freimütig ein, derlei Annehmlichkeiten könnten jemals seine Urteilskraft trüben, seine Ratschläge für Patienten beeinflussen, sich auf sein Verschreibungsverhalten auswirken. Tatsächlich? Allein fürs Reisen zu Fortbildungszwecken strich ein deutscher Urologe und Oberarzt im Jahr 2015 Pharmazuwendungen von 25.357 Euro ein, ein Essener Neurologe für „Beratungen und Dienstleistungen“ 134.078 Euro und weitere 60.820 Euro als „Erstattung von Auslagen“. (19) Und solche Summen sollen psychologisch effektfrei sein, zumindest in Medizinerhirnen?


Beispiel Rosiglitazon - Handelsname „Avandia“ -, ein Diabetesmittel. Im Jahre 2007 hatte eine Meta-Analyse von 42 Studien belegt, dass es die Gefahr von Herzinfarkten um 43 Prozent erhöht. (20) Trotzdem verschrieben zahlreiche Ärzte es weiterhin, weil sie das Risiko für vertretbar hielten. Eben diese Mediziner, so brachte 2010 eine Studie zum Vorschein, waren vom Rosiglitazon-Hersteller besonders häufig mit Zahlungen bedacht worden. (21) Wes Brot ich ess …


Anmerkungen


Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“.


1 Arznei-Telegramm 37/2006, S. 93-94: „Kurz und bündig“

2 ebda.

3 Peter Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität – Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, München 2. Aufl. 2015, S. 131.

4 Arznei-Telegramm 37/2006, s. 93-94.

5 Gøtzsche: Tödliche Medizin ..., a.a.O., S. 130 ff.

6 Zahlenangaben und Zitat Roche nach Süddeutsche Zeitung Nr. 58, a.a.O.

7 Nico Damm: „Heilung um jeden Preis?“

8 Nach § 4 Abs. 34 und § 28 Abs, 3 a und b des Arzneimittelgesetzes.

9 T. A. Brennan u.a.: „Health Industry Practices That Create Conflicts of Interest“, Journal of the American Medical Association 295/2006, S. 429-433.

10 S. Boseley: „Junket time in Munich for the medical profession – and it´s all on the drug firms“, The Guardian 5.10.2004.

11 J. Moore, „Medical device payments to doctors draw scrutiny“, Star Tribune 8.9.2008.

12 R. Abelson: „Whistle-blower suit says device maker generously rewards doctors“, New York Times 24.1.2006.

13 J. Lenzer: „Doctor´s group files legal charges against nine French doctors over competing interests“, British Medical Journal 338/2009, S. 1408.

14 „Can I buy you a dinner? Pharmaceutical companies increasingly use doctors´ talks as sales pitches“, August 2004; www.worstpills.org.

15 Das belegt eine interne Aktennotiz des Neurontin-Herstellers, s. G. Harris: „Pfizer to pay $ 430 million over promoting drug to doctors“, New York Times 14.5.2004.

16 Nach Kim Björn Becker: „Wes Brot ich ess …“, Süddeutsche Zeitung, 20.6.2016, www.sueddeutsche.de/ wissen/gesundheitswesen-wes-brot-ich-ess-1.3042404.

17 John Virapen: Nebenwirkung Tod, 7. Aufl. 2015, S. 106, 108.

18 Spiegel Online, 14.7.2016: „Pharmahonorar für Ärzte - Vielen Dank für die Millionen“.

19 Nach https://correctiv.org.

20 Steven E. Nissen/Kathy Wolski: „Effect of Rosiglitazone on the Risk of Myocardial Infarction and Death from Cardiovascular Causes“, New England Journal of Medicine 356 (24) 2007, S. 2457-2471.

21 Charles Ornstein u.a.: „Now There’s Proof: Docs Who Get Company Cash Tend to Prescribe More Brand-Name Meds“, ProPublica 17.3.2016, online: www.propublica.org/article/doctors-who-take-company-cash-tend-to-prescribe-more-brand-name-drugs, abgerufen am 18.7.2016.


Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen:

5) Gekaufte Beobachter – Wenn der Arzt zum „Forscher“ wird


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