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  • Dr. Harald Wiesendanger

Weichgespült - Ärztliche Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche

Aktualisiert: 27. Feb. 2023

Der Medizinstudent von heute ist der Rezeptaussteller von morgen. Deshalb umgarnt die Pharmabranche angehende Ärzte bereits vom ersten Semester an. Praktizieren sie, so setzt sich die Gehirnwäsche unerbittlich fort – bei der obligatorischen Weiterbildung.


„Die Studenten werden schon früh an der Uni eingelullt“, schreibt die Politologin Ina Brzoska, „indem die Firmen ihnen kleine, harmlose Annehmlichkeiten im Klinikalltag bereiten, sie bezahlen Fortbildungen und gutes Essen“, wobei sie „stets höflich und zuvorkommend“ sind. „So vermittelt Big Pharma den angehenden Ärzten ein positives Bild von ihrer Tätigkeit.“ (1) In ihrem dritten Studienjahr sehen sich 93 Prozent der Medizinstudenten mindestens einmal pro Woche mit industriegesponsterten Geschenken oder Aktionen bedacht; ausnahmslos alle sind schon zu mindestens einem pharmafinanzierten Essen eingeladen worden. (2) Den meisten ist durchaus bewusst, dass Industrieeinflüsse ihre Ausbildung mitbestimmen und von Semester zu Semester zunehmen. (3)


„Diese fortwährende Exposition“, stellt eine britisch-amerikanische Forschergruppe fest, sorge schleichend für „eine Gehirnwäsche, welche die Einstellungen von Medizinstudenten zu den vermarkteten Produkten verändert“. (4)


Die Versuchung, Big Pharma gefällig zu sein und dadurch anfällig dafür zu werden, dass Industrieinteressen die Agenda mitbestimmen, die vielbeschworene Freiheit von Forschung und Lehre verhöhnend, steigt an klammen Universitäten, die notgedrungen nach Pharmamitteln lechzen – und reichlich bekommen: beispielsweise die Uni Köln von Bayer, die Freie Universität Berlin von Sanofi-Aventis, die Uni Mainz von Merck. (5)


Der Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen, einst Vorsitzender der deutschen Arzneimittelkommission und als geläuterter Querkopf inzwischen für die Pillenbranche ein rotes Tuch, sähe pharmakritische Seminare am liebsten fest in der Prüfungsordnung aller angehenden Ärzte verankert. „Sie müssen gegen die Meinungsmanipulation der Pharmaindustrie widerstandsfähiger werden“, sagt er. (6) Häufig hält er Seminare über „Advert Retard“ ab - „langanhaltende, nachhaltige Werbung“ -, in denen Medizinstudenten lernen sollen, wie trickreich die Pharmaindustrie sie zu umgarnen trachtet – und wie sie damit umgehen können. Warum beschreibt der Dozent nur die positiven Eigenschaften eines Medikaments, verschweigt aber mögliche Nebenwirkungen? Wieso verwendet er keine eigenen Folien, sondern vorgefertigte des Herstellers? Wie findet man heraus, welche Nebentätigkeiten er ausübt – und wer ihn dafür bezahlt? Wie unterscheiden sich Fachzeitschriften, die keine Inserate drucken, von jenen, die für Pharmawerbung Druckseiten freihalten? Zumindest an der Berliner Charité ist „Advert Retard“ neuerdings Wahlpflichtfach.


Aus CME wird CMM: Continuing Medical Manipulation


Ärzte müssen sich fortbilden lassen, das schreiben ihnen der Gesetzgeber und die Berufsordnung vor. Dabei mischen Pharmafirmen nach Kräften mit. Für Continuing Medical Education (CME) geben sie allein in den USA jährlich 1,2 Milliarden Dollar aus, womit sie 50 bis 60 Prozent der Gesamtkosten tragen. (7) Als Sponsoren nehmen sie größtmöglichen Einfluss auf Fortbildungsprogramme und –inhalte: Sie finanzieren die Vorbereitung, Ausrichtung und Durchführung entsprechender Veranstaltungen. Sie lassen professorale Mietmäuler ihre neuesten Produkte anpreisen, bequemerweise mit Powerpoint-Präsentationen, die der Hersteller fix und fertig bereitstellt. (8) Sie übernehmen Reise- und Übernachtungskosten rund um Fortbildungen, Tagungs- und Teilnahmegebühren, samt Rahmenprogramm. Sie bezahlen die Mahlzeiten.


All das rentiert sich nachweislich: Gesponserte CME verleitet die teilnehmenden Ärzte nachweislich, für höhere Verschreibungsraten zu sorgen. (9)


Wer legt diesen Sumpf endlich trocken?


Welcher Sumpf trockengelegt werden müsste, führte 2018 der Skandal um den CME-Anbieter Omniamed vor Augen, verdienstvollerweise aufgedeckt von der Ärzte-Initiative MEZIS. Die meisten Referenten der Omniamed-Veranstaltungen hatten Gelder von eben jenen Pharmafirmen eingestrichen, welche diese Veranstaltungen sponserten, im Schnitt mit 100.000 bis 200.000 Euro. (10) Die Vortragsthemen entsprachen den Produkten der Sponsoren. Erst infolge des Medienechos (11) verweigerten die Landesärztekammern Baden-Württemberg (12) und Münster (13) Omniamed erstmals die CME-Zertifizierung von Veranstaltungen - wegen »mangelnder Produktneutralität«. Daraufhin beendete Omniamed seine Geschäftstätigkeit, zumindest in Deutschland. (14)

Warum haben Ärzteverbände, und notfalls der Gesetzgeber, dem hanebüchenen Treiben nicht längst einen Riegel vorgeschoben - generell? Bemisst sich die Qualität einer Tagung etwa an der Sternezahl des Hotels? Wer rechnet denn allen Ernstes damit, dass ein Pillenproduzent bei solchen Anlässen nachdrücklich die Risiken und Nebenwirkungen seines Produkts hervorhebt, zur Zurückhaltung beim Verschreiben ermahnt, den Vergleich mit Präparaten der Konkurrenz nicht scheut, die Vorzüge von Naturheilverfahren und bewährten Hausmitteln, von Psychotherapie und sozialer Unterstützung lobt? Für die Arzneimittelindustrie ist nichts geschäftsschädigender als umfassende, ausgewogene Information über alle verfügbaren Behandlungsoptionen. In der ärztlichen Fortbildung haben Pharmakonzerne deshalb definitiv nichts zu suchen.


Wozu der ganze Aufwand, um unbestechliche Ärzte nicht zu beeinflussen?


Welch irrwitzigen Aufwand Unternehmen treiben, um Ärzte auf den neuesten „Wissensstand“ zu bringen, förderte beispielhaft ein Strafverfahren zutage, das der Generalstaatsanwalt des Südlichen Distrikts von New York Ende März 2016 gegen den Schweizer Giganten Novartis einleitete – wegen massiver Bestechung. Die Ermittlungen in Gang gebracht hatte ein ehemals in Novartis´ Diensten stehender Whistleblower: Er enthüllte, dass sein früherer Arbeitgeber in den USA allein zwischen 2002 und 2011 zu sage und schreibe 25.000 „wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen“ geladen hatte. Bei ihnen allen handelte es sich in Wahrheit um verkappte Marketing-Events, deren Fortbildungswert gegen Null ging. Ihr einziger Zweck: Zehntausende von teilnehmenden Ärzten dazu zu bringen, Novartis-Präparate zu verschreiben.


Das Muster war stets dasselbe: Gegen üppiges Honorar referierten willige Mediziner über Medikamente des Pharmakonzerns, während sich die Zuhörer luxuriös verköstigen ließen – auf Konzernkosten, versteht sich. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit über zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr“, so schätzen Analytiker der US-Bankengruppe Citigroup, dürfte Novartis diese Korruptionspraxis gekostet haben. Reichlich ausgezahlt hat sie sich bisher wohl. (15) Warum sonst gäbe es sie?


„Wieso nur“, wundert sich der leitende Arzt Markus Pawelzik von der Münsteraner EOS-Klinik, „gibt die Industrie so viel Geld aus, um unbestechliche Ärzte nicht zu beeinflussen?“ Seine Antwort schiebt er sogleich nach: „Weil es sich rechnet.“ (16) 


Blind für organisiertes Verbrechen


Ein „erschreckendes Maß an Verblendung“ innerhalb der Ärzteschaft, so dass „man schon fast von einer kollektiven Psychose sprechen kann“, beklagt auch der dänische Mediziner und Pharmakritiker Peter Gøtzsche. Um wachzurütteln, provoziert er Standeskollegen bei Vorträgen gerne mit einem deftigen Vergleich. Was würden sie von einem Richter halten, der vor Beginn eines Prozesses gegen die Mafia erklärt: „Ich habe Reisestipendien von Silvio Berlusconi erhalten. Ich sitze im beratenden Ausschuss der Unbarmherzigen Kredithaie. Ich habe Geld von Drogenhändlern genommen. Ich habe frei verfügbare Ausbildungsbeihilfen von der Camorra erhalten. Ich berate den Sprecher der Mord-GmbH.“ Warum, so fragt Gøtzsche dann sein Publikum, sollten wir „Geld von der Industrie annehmen, von kriminellen Vereinigungen aber ablehnen“ – wo doch „das organisierte Verbrechen im Vergleich mit der Pharmaindustrie deutlich weniger Menschen tötet“? (17)


Solange es in Praxen und Kliniken an Einsicht mangelt, täten berufsständische Kodices not. Ärzte sollten verpflichtet werden, keinen einzigen Pharmareferenten mehr zu empfangen (18), Pharmaeinladungen auszuschlagen, Pharmahonorare abzulehnen - ausnahmslos. Und wie wäre es mit einem Zwangsbeitritt zu MEZIS? Die gemeinnützige Initiative „Mein Essen zahl´ ich selbst“, 2007 von unbestechlichen Ärzten ins Leben gerufen, bringt es bisher gerade mal auf tausend Mitglieder. Für die übrigen 380.000 Ärzte in Deutschland schlage ich einen Zwangsbeitritt vor.


Nützliche Idioten – insgeheim verhöhnt


Im Management der Pharmakonzerne lacht man sich insgeheim ins Fäustchen darüber, wie widerstandslos sich ein Großteil der Ärzte dazu verführen lässt, nützliche Idioten abzugeben. Das wurde dem österreichischen Medizinjournalisten Hans Weiss klar, als er undercover recherchierte. Um an einer brancheninternen Konferenz teilnehmen zu können, gab er sich als „Pharmaconsultant“ in Diensten einer frei erfundenen Firma namens „Solutions“ aus, für die Eintrittskarte berappte er knapp 4000 Euro. „Da waren etwa 500 Topleute aus der Pharmabranche unter sich, keine Öffentlichkeit, keine Journalisten, ungefähr 30 Top-Pharmamanager aus Deutschland. Und da hören Sie dann halt ganz unverblümte Wahrheiten, wie etwa die: ‘Wir kotzen den Ärzten einen Marketingmix ins Gesicht, und das Erstaunliche ist: die schlucken das. Und solange die das schlucken, gibt es keinen Grund, unsere Geschäftspolitik zu ändern.“ (19) 


In diesem Dschungel muss sich Klaus Lieb als nostalgischer Vertreter einer aussterbenden Spezies vorkommen. In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Mainz, deren Direktor er seit 2007 ist, setzte er klare Grenzen durch: „Bei uns kommt kein Pharmareferent auf Station.“ Es fänden keine von der Industrie bezahlten „Anwendungsbeobachtungen“ statt, die Annahme von Präsenten und Medikamentenmustern wird verweigert, Fortbildungen werden vollständig aus eigener Kasse bezahlt. (20) „Wir Ärzte haben bezüglich Interessenskonflikten einen blinden Fleck“, beklagt er. (21) „Wenn wir Marionetten der Gesundheitsindustrie werden, verspielen wir das Vertrauen der Patienten.“ (22) 


Deren Präferenz ist eindeutig. 96 Prozent möchten über finanzielle Verbindungen ihres Arztes zur Pharmaindustrie Bescheid wissen. Und 79 Prozent fordern, dass Ärzte, statt Pharmareferenten zu empfangen, sich aus unabhängigen Quellen informieren sollten. (23) Ihr Wunsch in des weißen Halbgotts Ohr.


Über Halbgöttern thronen indes oberste Gottheiten: die Opinion Leaders der Zunft. Und letztlich sind sie es, die vorgeben, was in den unteren Sphären stattzufinden hat. Ihnen widme ich den Rest dieser Artikelreihe.

Anmerkungen

1 Ina Brzoska: „Die leisen Lobbyisten“, Uni-Spiegel 5/2012, S. 24.

2 F. S. Sierles u.a..: “Medical students’ exposure to and attitudes about drug company interactions”, Journal of the American Medical Association 294/2005, S. 1034-1042.

3 K. E. Austad u.a.: “Medical students’ exposure to and attitudes about the pharmaceutical industry: a systematic review”, PLoS Medicine 8/2011 :e1001037.

4 Ina Brzoska: „Die leisen Lobbyisten“, Uni-Spiegel 5/2012, S. 23.

5 Emmanuel Stamatakis, a.a.O., S. 472; s. hierzu auch D. Grande/D. L. Frosch u.a.: „Effect of exposure to small pharmaceutical promotional items on treatment preferences”, Archives of Internal Medicine 169/2009, S. 887-893.

6 zit. nach Brzoska, a.a.O.

7 Stand 2007. M. A. Steinman/C. S. Landefeld/ R. B. Baron: “Industry support of CME — are we at the tipping point?”, New England Journal of Medicine 366/2012, S. 1069-1071.

8 J. Avorn/N. K. Choudhry: “Funding for medical education: maintaining a healthy separation from industry”, Circulation 121/2010, S. 2228-2234.

9 A. Wazana: “Physicians and the pharmaceutical industry: is a gift ever just a gift?”, Journal of the American Medical Association 283/2000, S. 373-380.

10 MEZIS, CME-Arbeitsgruppe: Omniawatch-Analyse. (Nicht mehr online verfügbar.)

11 Medizin: Das umstrittene Geschäft mit Ärztefortbildungen. Abgerufen am 10. Februar 2019; Deutsches Ärzteblatt: Interessenkonflikte: Ärger um CME-Zertifizierung. 8. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019; Sebastian Carlens: Punkten für Bayer. 10. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019.

12 Hanno Charisius: Behörde verweigert Zertifikat für umstrittene Ärztefortbildung. In: sueddeutsche.de. 13. August 2018, abgerufen am 10. Februar 2019.

13 Sebastian Carlens: Deckmantel für Pharmalobby. 9. Februar 2019, abgerufen am 10. Februar 2019.

14 ende Geschäftsstätigkeit Deutschland. (Nicht mehr online verfügbar.) In: OmniaMed, abgerufen am 27. Juli 2019

15 Handelszeitung, 29.3.2016: „Novartis: US-Justiz weitet Untersuchung aus“; Neue Zürcher Zeitung, 30.3.2016: „Novartis unter dreifachem Verdacht“.

16 Zit. nach Harro Albrecht: „Ärzte, Pillen und Moneten“, a.a.O.

17 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, München 2. Aufl. 2015, S. 410.

18 Dies fordert der Wiener Arzt Dr. Fahmy Aboulenein in seinem Buch Die Pharma-Falle. Wie uns die Pillen-Konzerne manipulieren, Wien 2016.

19 „Es gibt keine Branche, die so hohe Gewinne macht“, Interview mit Hans Weiss im Deutschlandradio Kultur - Thema, 12.2.2010, www.deutschlandradiokultur.de.

20 Nach Harro Albrecht: „Ärzte, Pillen und Moneten“, Die Zeit Nr. 51, 11.12.2008.

21 Zit. nach Markus Grill u.a.: „Seid umschlungen, Millionen!“, Correct!v, 14.7.2016, https:// correctiv.org/recherchen/euros-fuer-aerzte/artikel/ 2016/07/14/seid-umschlungen-millionen, abgerufen am 24.10.2016.

22 Zit. nach Christoph Link: „Korruption in der Medizin - ‘Was mache ich hier eigentlich?’“, Stuttgarter Zeitung, 18.3.2013.

23 Nach einer Online-Umfrage des British Medical Journal mit 1479 Teilnehmern, zit. nach Arznei-Telegramm 34/2003, S. 89-90.

Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen:

8) Weichgespült - Aus- und Fortbildung als Gehirnwäsche

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