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  • Dr. Harald Wiesendanger

Off-Label – Grenzverletzungen als Routine

Aktualisiert: 27. Feb. 2023

Arzneimittel „off-label“ anzuwenden, außerhalb ihrer Zulassung, ist häufig medizinisch sinnvoll, manchmal sogar notwendig. Allerdings immer hochriskant - und überaus lukrativ. Ärzte dazu anzustiften, eröffnet Herstellern ein „riesiges Geschäft, das gezielte Desinformation beinhaltet“, wie ein ehemaliger Pharmamanager einräumt.



Wenn Behörden ein neues Arzneimittel zulassen, dann immer nur für ein bestimmtes Anwendungsgebiet: eine Erkrankung, ein Beschwerdebild, eine Personengruppe – beispielsweise für akute Schmerzen bei Erwachsenen. Ebenso festgelegt wird, wie es verabreicht werden muss – etwa als Tablette, als Tinktur oder als Spritze unter die Haut -, wie es zu dosieren ist, wie lange es angewandt werden soll. Für jeden beantragten Einsatzbereich muss die Pharmafirma Studienergebnisse vorlegen, aus denen hervorgeht, dass die vorgesehene Anwendung wirksam und sicher ist.


In der Praxis erweist sich ein Medikament aber auch als hilfreich bei anderen Indikationen oder Patientengruppen als den ursprünglich vorgesehenen. Die Pharmafirma könnte dann auch hierfür eine Zulassung beantragen. Weil diese Prozedur zeitaufwändig und teuer ist, verzichten Hersteller aber oft darauf. So kommt es, dass Ärzte viele Arzneimittel „off label“ anwenden, anders als im Beipackzettel vermerkt – unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise wenn sich ein nicht zugelassenes Medikament hierfür bewährt hat, etwa ein Antiepileptikum gegen Migräne, ein Antidepressivum gegen eine Angststörung -, oder wenn sich einer Krankheit mit zugelassenen Medikamenten nicht ausreichend beikommen lässt.


Off-Label-Use steht jedem Arzt grundsätzlich frei. Er sollte sich sogar dafür entscheiden, wenn seines Erachtens das betreffende Präparat für einen bestimmten Patienten die beste Behandlungsoption darstellt. Falls schwere Nebenwirkungen auftreten, haftet allerdings nicht der Hersteller, sondern er selbst.


Soweit die Theorie. Sie klingt vernünftig und ist dies auch, solange über Off-Label-Anwendungen allein medizinische Gesichtspunkte entscheiden.


Gezielte Desinformation für Profite


Doch aus Herstellersicht zählt eher Profitabilität: Jede Erweiterung von Einsatzbereichen erhöht Umsätze, jedes Zögern mindert sie.


Auch hierum geht es dem Pharmareferenten bei seinen Arztbesuchen. Auf Anstiftungen, Medikamente riskanterweise auch außerhalb des Anwendungsbereichs einzusetzen, für den sie zugelassen sind, verwendet er besonders viel Energie. (1) Denn Off-Label Use eröffnet Pharmakonzernen ein „riesiges Geschäft, das gezielte Desinformation beinhaltet“, wie ein ehemaliger Eli-Lilly-Geschäftsführer einräumt. (2) In vielen medizinischen Gebieten, vor allem in der Kinderheilkunde, der Geriatrie, der Onkologie und der Psychiatrie, kommt ein Großteil der Medikamente off-label zum Einsatz - im Durchschnitt aller Verschreibungen zu 40 bis 60 Prozent. (3)


Weil behandelnde Ärzte in solchen Fällen für etwaige Nebenwirkungen zur Rechenschaft gezogen werden können, zögern allerdings viele. Um diese Bremse zu lockern, halten gutgeschulte Pharmavertreter in ihren Aktenkoffern stets passende Empfehlungen gewogener „Experten“ und Fachgesellschaften sowie Reprints genehmer „wissenschaftlicher Studien“ griffbereit.


Zwar ist es inzwischen selbst in den USA ausdrücklich untersagt, für Off-label-Anwendungen zu werben. Trotzdem nehmen die großen Pharmaunternehmen immer wieder enorme Bußgelder in Kauf, teilweise in Milliardenhöhe, um die Grenzen dieser gesetzlichen Regeln auszutesten und routinemäßig zu überschreiten. Zum Spitzenreiter brachte es GlaxoSmithKline im Juli 2012 mit einer Geldstrafe von drei Milliarden Dollar. Es rentiert sich anscheinend.


Therapeutischer Blindflug mit ahnungslosen Versuchskaninchen


Abermillionen bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit, ja ihrem Leben. Dass etwa Antipsychotika off-label an ältere Demenzkranke verfüttert werden, „wohlwissend, dass sie zu Herzinfarkten und Schlaganfällen und plötzlichem Tod führen können, ist nichts anderes als Euthanasie“, wie das Wall Street Journal anprangert. (4) 


Noch schändlicher sind viele Off-Label-Verschreibungen von Psychopharmaka für Kinder. „Die paradoxe Realität ist: Je kleiner und kränker das Kind, desto seltener bekommt es eine offiziell zugelassene Arznei“, schreibt der Medizinjournalist Martin Lindner über den therapeutischen Blindflug mit ahnungslosen Versuchskaninchen. „So verwenden niedergelassene Pädiater 10 bis 30 Prozent der von ihnen verschriebenen Mittel außerhalb der Marktlizenz. In Kinderkliniken steigt der Anteil auf rund 50 Prozent. Und auf Neugeborenen-Stationen können bis zu 90 Prozent der Substanzen off-label verabreicht werden. (...) Eine neuere Studie in knapp 40 französischen Kinderarztpraxen bestätigt, dass eine Off-Label-Behandlung die Nebenwirkungsrate erhöht, manchmal auf mehr als das Dreifache einer zugelassenen Therapie.“ (5) Dass der Nutzen sich im selben Maße vervielfacht, harrt des Beweises.


Ein Augenöffner: der Cytotec-Skandal


Wie brandgefährlich ausufernder Off-Label-Use sein kann, führte jedem, der sehen will, Anfang 2020 der Cytotec-Skandal vor Augen. Pfizers Magenschutz vor Geschwüren verschwand 2006 zumindest in der Bundesrepublik offiziell vom Markt – trotzdem setzte es jede zweite deutsche Geburtsklinik weiterhin ein (6), weil sich zufällig herausgestellt hatte, dass der Wirkstoff Misoprostol recht zuverlässig Wehen fördert. Dafür war Cytotec aber gar nicht zugelassen, schon gar nicht in der verbreiteten, vermeintlich praxisbewährten Dosierung, die in den Kreißsälen oft um das Doppelte bis Vierfache über dem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Wert von 25 Mikrogramm lag. Das führte in mehreren Fällen zu schweren Komplikationen bei der Geburt: Die Gebärmutter riss, ein „Wehensturm“ setzte ein, Babies kamen mit Hirnschäden zur Welt, Mütter und Neugeborene verstarben.


Keine Behörde hatte davor gewarnt, keine war eingeschritten. Erst im April 2021 wurde der Import von Cytotec gestoppt. (7)


Neurontin: ein Antiepileptikum für beinahe alles


Beim Off-Label-Business geht die Rechnung für Big Pharma garantiert immer auf – selbst wenn Rechtsbrüche ausnahmsweise drakonisch sanktioniert werden, wie im Fall von Neurontin. (8) Zugelassen war der Kassenschlager mit dem Wirkstoff Gabapentin ausschließlich bei therapieresistenter Epilepsie. Trotzdem bewarb Pfizer es für nicht weniger als 48 weitere Indikationen – unter anderem bei Migräne und sonstigen Schmerzzuständen, ADHS, Restless Legs Syndrom, bipolaren Störungen, Alkohol- und Drogensucht. Dazu verwendete die Firma manipulierte und unvollständig publizierte Daten aus Studien, die sie selbst gesponsert hatte. (9)


Allein auf die Überredungskünste seiner Pharmareferenten verließ sich Pfizer selbstverständlich nicht. Neurontin off-label unters Volk zu bringen, war der Hauptzweck sogenannter „Fortbildung“sveranstaltungen, bei denen stattliche Honorare manchmal nicht nur für die Referenten flossen, sondern auch für die teilnehmenden Ärzte. Ködern ließen sie sich unter anderem mit Luxusreisen nach Florida, Hawaii oder zu den Olympischen Spielen. (10) Wer besonders viele Neurontin-Rezepte produzierte, durfte als bestens bezahler Redner auftreten oder als „Berater“ fungieren. Geld floss auch an Ärzte, die ihren Namen für Artikel hergaben, in denen Ghostwriter in Pfizer-Diensten „bewiesen“, wie fabelhaft Neurontin jenseits seiner Zulassungsgrenzen wirkt. (11) Renommierte Meinungsführer der Schulmedizin – darunter Fachbereichsleiter von Universitäten, Leiter von Forschungsprogrammen und Klinikabteilungen - kassierten fürstliche Prämien dafür, in Vorträgen zu Off-Label-Rezepten anzustiften: Sie verlangten und erhielten zwischen 10.250 und 158.250 Dollar. Einer strich sage und schreibe 308.000 Dollar dafür ein, bei Konferenzen wortgewaltig die Werbetrommel für Neurontin zu rühren. (12)


Um eine drohende Anklage abzuwenden, räumte Pfizer im Jahr 2004 Gesetzesverstöße ein und leistete eine Strafzahlung von 430 Millionen Dollar (13) - ein Pappenstiel, gemessen an den 2,7 Milliarden Dollar, welche die Firma mit Neurontin allein im Jahr 2003 umsetzte; ein Jahr darauf waren es 3 Milliarden Dollar. (14) Rund 90 Prozent der Verkäufe stammten aus zulassungsüberschreitenden Anwendungen. (15)


Missbrauchte Therapiefreiheit


Geschickt macht sich die Pillenbranche ein Standesprivileg des Arztes zunutze: seine Therapiefreiheit. Niemand darf ihm vorschreiben, wie er zu behandeln hat. Er allein wählt und entscheidet, auf welche Weise er hilft. Immer ist er in erster Linie dem individuellen Patienten verpflichtet, dessen Besonderheiten er nach bestem Wissen und Gewissen berücksichtigen muss; auch kann er ernsthafte, wohlbegründete Bedenken gegenüber einer gängigen Methode hegen.


Freiheit bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Ein Arzt unterliegt der Sorgfaltspflicht, er muss sich am fachärztlichen Standard orientieren und sich stetig weiterbilden, damit er auf dem aktuellen Stand medizinischer Erkenntnis bleibt. Eben dabei sind ihm Arzneimittelhersteller herzlich gerne zu Diensten: Muss ein Arzt, der Therapiemöglichkeiten gewissenhaft ergründet, nicht die grandiosen Vorteile des Präparats XY, dessen erfreulich harmloses Nebenwirkungsprofil zur Kenntnis nehmen, wie ihm pharmafinanzierte Gefälligkeitsstudien und bestellte Fachartikel bezahlter Schreibtischtäter vorgaukeln? Wäre es nicht zutiefst unethisch, einem leidenden Hilfesuchenden die ungeheuren Chancen vorzuenthalten, die das Präparat ihm eröffnet? Vernachlässigt ein Arzt nicht seine Fortbildungspflichten, wenn er über die allerneuesten pharmazeutischen Durchbrüche, die jüngste bahnbrechende Pilleninnovation ignorant hinweggeht?


Überschaubares Haftungsrisiko


Gewiss nimmt der Arzt erhebliche Risiken auf sich, wenn er Arzneien bei Indikationen einsetzt, für die sie nicht zugelassen sind: Er haftet für Schäden, die das Medikament anrichtet. Doch greift die Haftung nur, wenn ihm nachzuweisen ist, dass er es versäumt hat, den genannten Pflichten nachzukommen. Die nötigen „Beweise“, dass er sie erfüllte, liefern ihm Arzneimittelhersteller: indem manipulierte Studien, eine korrumpierte Fachpresse, auf Linie gebrachte Aus- und Fortbildungseinrichtungen, gekaufte Meinungsführer und einschlägige Gremien über den „Stand der Forschung“, die maßgebliche „Evidenz“ bestimmen. Ärztliche Skrupel gegenüber Off-Label-Therapien räumt Big Pharma also mit einer cleveren Doppelstrategie aus: Einerseits verschafft sie dem Arzt „evidenzbasierte“ Gründe, Zulassungsgrenzen zu überschreiten. Für den Fall, dass etwas schiefgeht, versorgt sie ihn andererseits mit den nötigen Alibis.


Off-Label erspart den Herstellern zudem Kosten im Multimilliardenbereich. Wozu erst noch teure und langwierige klinische Prüfungen anleiern, wo sich das Präparat im alltäglichen Einsatz doch längst „bewährt“?


Anmerkungen

Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, Kap. 6: „Dressierte Halbgötter“ und Kap. 7 „Nimmersatte Mietmäuler“.

1 A. Fugh-Berman/S. Ahari: “Following the script: how drug reps make friends and influence doctors”, PLoS Medicine 4 (4) 2007: e150; M. A. Steinman/G. M. Harper u.a.: “Characteristics and impact of drug detailing for gabapentin”, PLoS Medicine 4 (4) 2007: e134; A. F. Shaughnessy/D. C. Slawson/J. H. Bennett: “Separating the wheat from the chaff: identifying fallacies in pharmaceutical promotion”, Journal of General Internal Medicine 9/1994, S. 563–568.

2 John Virapen: Nebenwirkung Tod, 5. Aufl. 2009, S. 193.

3 Bernadette Tansey: „HARD SELL: How Marketing Drives the Pharmaceutical Industry“ (2005), www.sfgate.com/health/article/HARD-SELL-How-Marketing-Drives-the-2676193.php, abgerufen am 25.11.2016.

4 Barbara Martinez/Jacob Goldstein: „Big Pharma Faces Grim Prognosis“, Wall Street Journal, 6.12.2007.

5 Martin Lindner: „Versuchskaninchen“, Die Zeit Nr. 36, 31.8.2006.

7 tagesschau.de: Importstopp für umstrittenes Medikament Cytotec, https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/cytotec-importstopp-101.html, abgerufen am 3. April 2021. Im Cytotec-Fall war es ausnahmsweise der Hersteller selbst, der die Notbremse zog: Vom Markt genommen hatte Pfizer das Medikament mit der Begründung, der “Missbrauch” sei zu hoch.

8 C.S. Landefeld/M.A. Steinman: “The Neurontin Legacy - Marketing through Misinformation and Manipulation”, New England Journal of Medicine 360/2009, S. 103-106. Auszug; M.A. Steinman u.a.: “Narrative Review: The Promotion of Gabapentin: An Analysis of Internal Industry Documents”, Annals of Internal Medicine 145 (4) 2006, S. 284-293. Volltext.

9 S.Swaroop Vedula u.a.: „“Outcome Reporting in Industry-Sponsored Trials of Gabapentin for Off-Label Use”, New England Journal of Medicine 361/2009, S. 1963-1971; arznei-telegramm 39/2008, S. 121; https://www.iqwig.de/veranstaltungen/2009-11-27_becker-brueser_objektive_forschung_ist_nicht_moeglich.pdf

10 Bernadette Tansey: „Huge penalty in drug fraud: Pfizer settles felony case in Neurontin off-label promotion“, San Francisco Chronicle 14.5.2004

11 M. Petersen: „Suit says company promoted drug in exam rooms“, New York Times 15.5.2002; Marcia Angell: The Truth about the Drug Companies: how they deceive us and what to do about it, New York 2004.

12 M. Petersen: „Suit says company promoted drug in exam rooms“, New York Times 15.5.2002.

13 B. Tansey: „Huge penalty in drug fraud“, a.a.O.

15 B. Tansey, a.a.O.; O. Harris: „Pfizer to pay $430 million over promoting drug to doctors“, New York Times 14.5.2004; Jeannev Lenzer: „Pfizer pleads guilty, but drug sales continue to soar“, British Medical Journal 328/2004, S. 1217.

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Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen:

4) Off label - Grenzüberschreitungen als Routine

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