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Dr. Harald Wiesendanger

„Doctor Know“ ist da. Was nun?

Aktualisiert: 24. Apr. 2023

Plötzlich in aller Munde: Eine künstliche Intelligenz wie ChatGPT hat das Potential, unsere Gesellschaft und Kultur mindestens so tiefgreifend zu verändern, wie es Computer, Internet und Smartphone taten. Ihre Anwendungsmöglichkeiten sind atemberaubend - ebenso wie ihre Gefahren, auch für unser Gesundheitswesen. Ihrer weiteren Entwicklung dürfen wir nicht tatenlos zusehen.



Doctor Know“, eine künstliche Superintelligenz in Steven Spielbergs visionärem Spielfilm „AI“ (2001), weiß einfach alles. Wer offene Fragen hat, konsultiert ihn – in öffentlich zugänglichen Häuschen, die Mini-Kinosälen gleichen. Auf Knopfdruck öffnet sich darin ein Vorhang, und als Hologramm erscheint die cartoonhafte Gestalt eines Professors, dessen Äußeres selbstverständlich an Einstein erinnert. Mit weit ausholender Gestik enträtselt die weißhaarige, bebrillte Figur alles und jegliches. Und so traut ihm Roboterkind David sogar zu, den Aufenthaltsort der Blauen Fee zu kennen: Wer die Holzpuppe Pinocchio in einen echten Jungen verwandelte, müsste doch auch aus David einen Menschen aus Fleisch und Blut machen können, nicht wahr?


Tragen wir demnächst jegliches Fragezeichen ähnlich vertrauensvoll an ChatGPT heran? Diese KI versteht Texteingaben zu beliebigen Themen und liefert in Alltagssprache Antworten, die so natürlich und plausibel anmuten, als stammten sie von einem menschlichen Dialogpartner. Sie erledigt Hausaufgaben, führt Verkaufsgespräche. Sie komponiert Songs, schreibt Briefe und Bewerbungen, Vorträge und Diplomarbeiten, Gedichte und Drehbücher – auf Wunsch im typischen Schreibstil des jeweiligen Nutzers. Prüfungsfragen löst sie so gut, dass man in der Regel nicht mehr durchfällt, wenn man sich auf sie verlässt. Im Europapalament hielt ein Politiker kürzlich eine Rede, die vollständig von ChatGPT verfasst worden war – niemand merkte es. Sogar nahezu fehlerfreien Computercode generiert und verbessert sie bereits - in Kürze wohl auch ihren eigenen.


Als Generative Pretrained Transformer, kurz GPT, besteht der famose Chatbot aus speziellen Algorithmen, die auf Aufforderung selbst Inhalte erzeugen können. Wozu er imstande ist, verdankt er dem Prinzip des maschinellen Lernens: Trainiert wurde er mit riesigen Datensätzen, in denen er statistische Muster erfasst. Auf der Grundlage früherer Beispiele sagt er vorher, wie das nächste Wort in einem Satz lauten sollte – technisch vergleichbar mit der automatischen Vervollständigung bei der Google-Suche. “Stochastischer Papagei” nennen ihn Spötter deswegen.


Vom US-Unternehmen OpenAI am 30. November 2022 veröffentlicht, hat Version GPT-3.5 des Dialogsystems einen Hype ohnegleichen ausgelöst. Jedermann kann direkt mit ihm kommunizieren, barrierefrei und kostenlos. Binnen fünf Tagen meldeten sich über eine Million Neugierige an. (1) Bis Januar 2023 waren es schon über hundert Millionen. (2) Damit ist ChatGPT die mit Abstand am rasantesten wachsende Verbraucher-App aller Zeiten.


Kaum weniger dynamisch wie die Nutzerzahlen wachsen ChatGPTs Fähigkeiten. In seiner Mitte März 2023 erschienenen jüngsten Version 4.0 kann die KI bereits Bilder beschreiben und analysieren, umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten im Nu zusammenfassen. Examensprüfungen besteht sie mit Auszeichnung. Komplizierte Steuerfragen klärt sie tadellos. Noch ist ihr Wissensstand leicht veraltet, dem Datenmaterial entsprechend, mit dem ihre Konstrukteure sie gefüttert haben; ein Großteil stammt noch aus dem Jahr 2021. Doch neuerdings beginnt sie aufs Web zuzugreifen. Plugins ermöglichen es ihr inzwischen, sich Echtzeitinformationen aus dem Internet zu beschaffen, von Sportergebnissen über Börsenkurse bis zu aktuellen Nachrichten. (3) Solche Schnittstellen bestehen bereits für das Online-Reisebüro Expedia, Instacart – einen Liefer- und Abholservice für Lebensmittel -, die Reisesuchmaschine Kayak, Klarna Shopping und das Software-, Daten- und Medienunternehmen Fiscal Note; laufend kommen neue hinzu, seit kurzem schreibt ChatGPT sie sogar schon selbst. (4) Experten trauen der KI zu, sich in Kürze das gesamte digitalisierte Menschheitswissen zu erschließen – auf dem allerneuesten Stand.


In Windeseile spricht sich herum, was der Alleskönner drauf hat. Bis Februar 2023 hatten bereits 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von ChatGPT gehört; 11 Prozent gaben an, das System regelmäßig zu nutzen oder zumindest schon einmal ausprobiert zu haben. Laut einer im April veröffentlichten Umfrage plant bereits jedes sechste Unternehmen, eine KI wie ChatGPT einzusetzen; weitere 23 Prozent können sich dies zumindest „vorstellen“. 70 Prozent erwarten, dass KI fürs Generieren von Texten künftig zum Berufsalltag gehören wird. Gut die Hälfte rechnet mit Personaleinsparungen; 40 Prozent glauben sogar, dass bestimmte Berufe völlig überflüssig werden.


Welches Potential traut sich die KI selbst zu? Auf meine Frage „Was wird ChatGPT künftig können?“ (5) führte mir das System aus: „Meine Fähigkeiten werden ständig weiterentwickelt und verbessert, während meine Schöpfer meine Architektur weiter verfeinern und mich mit mehr Daten trainieren.“ Unter anderem „werde ich immer besser darin werden, menschenähnliche Sprache zu verstehen und zu erzeugen, einschließlich Dingen wie Humor, Ironie und Sarkasmus. Ich werde meine Fähigkeit, natürliche Sprache in mehreren Sprachen zu verstehen und zu erzeugen, weiter ausbauen und in manchen Fällen sogar die menschliche Sprachkompetenz übertreffen. Ich werde meine Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen, weiter verbessern. Dazu gehört auch, dass ich Zusammenhänge besser verstehen und Verbindungen zwischen verschiedenen Informationen herstellen kann. Ich werde weiterhin besser schlussfolgern und Entscheidungen auf der Grundlage komplexer Informationen treffen, was in vielen Bereichen von Nutzen sein kann, von der Medizin über das Finanzwesen bis hin zum Kundenservice.“ Optimieren wird ChatGPT auch ihr „Einfühlungsvermögen und emotionale Intelligenz: Ich werde meine Fähigkeit, menschliche Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren, weiter ausbauen.“ (6)


Wollen wir so etwas wirklich? Brauchen wir es? Zu welchem Preis? Was riskiert die Menschheit damit? Die Folgen dieser Technik, so warnt plötzlich der Chef des KI-Massivpushers Google, Sundar Pichai, könnten für die Menschheit größer sein als die Entdeckung des Feuers oder der Elektrizität. Ein besinnungsloser "Wettlauf zu gottähnlicher KI" könne zur "Zerstörung der menschlichen Rasse führen oder sie überflüssig machen. (...) Lässt mich das nachts nicht schlafen? Absolut."


P.S.: Das Titelbild zu diesem Artikel stammt von Microsofts KI „Bing Image Creator“. Sie schuf es als Illustration einer Aussage, die ich ihr am 12. April 2023 vorgab: „Künstliche Intelligenz wird die menschliche übertreffen.“



In der nächsten Folge: Testfall Corona: Macht KI die Medizin besser? Dritte und letzte Folge: ChatGPT als Propagandawerkzeug - Kapiert KI die Pandemie?


Anmerkungen

5 Gestellt am 12. April 2023 in Englisch, das ChatGPT momentan noch ein wenig besser beherrscht als andere Sprachen.

6 Aus dem Englischen übersetzt von DeepL am 12.4.2023.

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