“Mietmäuler” sind in der Medizin keineswegs Sonderfälle. Unter den Meinungsführern der Ärzteschaft, den imposanten “Silberrücken” ihrer Gorillaherde, ist kaum einer über jeden Verdacht erhaben, mit der Industrie lukrativ verbandelt zu sein. Die Verflechtungen sind vielfältig.
Kommen “Mietmäuler” in der Ärzteschaft äußerst selten vor? In Wahrheit ist kaum jemand, der in der Medizin etwas zu sagen hat, inniger Industrieverflechtungen unverdächtig – und kaum einer legt sie freiwillig offen.
Wer in den erlauchten Kreis der „Meinungsführer“ aufgenommen ist und „an prominenter Stelle auf einem riesigen Kongress sprechen darf - der kann nicht anders, als wichtig, ein Führer zu sein“, erhellt der Ex-Pharmamanager John Virapen die Tiefenpsychologie des Bauchpinselns. „Und durch die Kontakte, die wir ihm mittels unseres Programms und mittels der Teilnahme am Kongress erst ermöglichen, steigt er im allgemeinen Ansehen noch höher.“ (1) Meinungsführer sind für Big Pharma „unersetzlich“, deshalb müssen „meist Leute aus dem höheren Management ran“, um sie einzuwickeln, erläutert der Whistleblower. „Das sind ja auch besonders distinguierte Menschen, Spezialisten und Gourmetfreunde. Mittel der Wahl sind hier Symposien zur Erhärtung des eigenen Status, teure medizinische Geräte oder Computer, Reisen und ganz schlicht: Geld.“ (2)
Die „Silberrücken“ der Ärzteschaft – Alpha-Männchen mit unschlagbarem Imponiergehabe - sind vielfältig einsetzbar:
- als Berater im „advisory board“ von Pharmakonzernen;
- als bezahlte Redner, „key note speakers“,für Vorträge, Pressekonferenzen, Symposien, Kongresse und ärztliche Fortbildungsveranstaltungen;
- als offizielle (Mit-)Autoren von Artikeln, die in Wahrheit häufig Ghostwriter verfassen: Mitarbeiter der Pressestellen von Pharmakonzernen oder von PR-Agenturen, oft auch freie Medizinjournalisten (3);
- als Mitwirkende in Gremien, die für die Ärzteschaft „Leitlinien“ festlegen, wie Krankheiten nach neuestem Forschungsstand zu behandeln sind – sie geben vor, worin „good clinical practice“ (GCP), ein „evidenzbasierter“ Umgang mit Patienten zu bestehen hat;
- als Mitglieder jener mächtigen Kommissionen, welche Diagnosekriterien, Schwellen- und Grenzwerte festlegen. Jeder Millimeter, um den sie beispielsweise die Symptomatik einer „Störung“ erweitern, kann Milliardengewinne mit passenden Arzneimitteln bedeuten. Und jede neu eingeführte „Störung“ erschließt zusätzliche Absatzmärkte.
Sissi lässt grüßen
Um ein Haar geklappt hätte das beispielsweise bei der Erfindung des „Sissi-Syndroms“: einer angeblich viel zu lange verkannten, bestürzend weitverbreiteten Seelenpein, die bereits der österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sissi“, 1837-1898) schmerzlichst zu schaffen gemacht haben soll. Auf die Idee zu dieser Kreation waren Mitarbeiter der Firma GlaxoSmithKline gekommen: Wie wäre es mit einer neuen Form von Depression, die besonders schwer zu diagnostizieren ist, weil die Betroffenen sie mit Frohsinn, gesteigerter Aktivität, ausgeprägtem Körperkult und offenkundiger Zufriedenheit gekonnt überspielen? Welch glücklicher Zufall: Eine Tablette mit passendem Wirkstoff war bereits zur Hand: Paroxetin, Handelsname „Seroxat“. Der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erhöht bei trächtigen Ratten die Anzahl der Totgeburten, verringert das Geburtsgewicht und lässt Neugeborene häufiger sterben. (4) Menschlichen Weibchen hingegen bekomme er bestens, hieß es. Den putzigen Namen „Sissi-Syndrom“ erfand eine PR-Agentur.
Nun galt es bloß noch, die Nachfrage zu wecken – und dafür stellten sich zwei angesehene deutsche Mediziner zur Verfügung. Gegen stattliches Honorar referierte A.R., die Leiterin des Bereichs Gynäkologische Psychosomatik des Universitätsklinikums Bonn, über „Kaiserin Sissi als Prototyp eines verkannten Patientenbildes“, wobei sie psychopathologische Untersuchungen des angeblichen Syndroms vorstellte. Ihr zur Seite sprang der Psychologe H.-U. W., Leiter des Instituts für Klinische Psychologie der Technischen Universität Dresden, Mitwirkender am „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen“ (DSM), in deren 160-köpfiger Expertenkommission er sich in bester Gesellschaft befand: Mehr als die Hälfte der dort beteiligten Mediziner und Psychologen haben eingeräumt, mit der Pharmaindustrie monetentechnisch verbandelt zu sein. Drei Millionen Deutsche seien vom Sissi-Syndrom betroffen, so schwadronierte W., als Berater sechs Pharmafirmen zu Diensten. (5)
Doch enttäuschend wenig Sissis ließen sich den Bären aufbinden. Ertragreicher verliefen Bemühungen, ein angebliches „Viagra für die Frau“ im Markt zu platzieren. Im August 2015 ließ die FDA es für den US-amerikanischen Markt zu, wo es unter dem Namen „Addyi“ eine Zeitlang auf Milliardenumsätze zuzusteuern schien. Der Wirkstoff Flibanserin war ursprünglich als Antidepressivum gedacht, erwies sich in klinischen Tests dafür aber als ungeeignet. Obendrein brachte er üble Nebenwirkungen mit sich: Häufig löste er Schwindel, Müdigkeit und Übelkeit aus, gelegentlich auch Schlaflosigkeit, Angstzustände, Mundtrockenheit, Unterleibsschmerzen, Verstopfungen, nächtliches Bettnässen, Herzrasen, anhaltende Stresszustände und Ohnmachtsanfälle.
Allerdings wollten einige weibliche Versuchspersonen eine gesteigerte Libido bemerkt haben. Daraufhin erledigte man, wie so oft, die Erfindung eines Medikaments und des entsprechenden Krankheitsbilds Hand in Hand. „Wir haben es geschafft, führende Denker für die sexuelle Dysfunktion der Frau zu interessieren“, verlautbarte der Manager einer beteiligten Firma, „und wir haben eng mit ihnen zusammengearbeitet, um diese Krankheit als Ganze so zu entwickeln, dass sie Sinn ergab.“ (6) So erlangte, mit Hilfe williger Experten, die Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD) – auch „Sexuelle Appetenzstörung“ - den Rang einer Massenepidemie, von der schon jede dritte erwachsene Frau befallen sein soll: ein „ausgeprägtes Defizit bis zum völligen Mangel an sexueller Phantasie und dem Wunsch nach sexueller Aktivität, was ausgeprägten Distress und interpersonelle Schwierigkeiten nach sich ziehen kann“. (7) In der Fachwelt angekommen war die HSDD spätestens, als sie Eingang in die International Classification of Diseases (ICD) fand, Klassifikationsnummer F52.0.
Über die weiterhin heftigen Nebenwirkungen ging die US-Zulassungsbehörde seltsam blind hinweg: Viermal häufiger setzen Schwindel und Müdigkeit ein; das Risiko für Übelkeit verdoppelt sich; zusammen mit Alkohol lässt Flibanserin den Blutdruck gefährlich absinken. Ebenso einerlei waren der FDA offenkundig die eher enttäuschenden Ergebnisse von insgesamt acht klinischen Studien mit fast 6000 Teilnehmerinnen: Diese hatten mitnichten ein stärkeres Sexualverlangen nach Einnahme gemessen, sondern lediglich einen leichten Anstieg der sexuellen Befriedigung. Und der bestand worin? Innerhalb von zwei Monaten erlebten Frauen, die „Pink Viagra“ schluckten, durchschnittlich einen Orgasmus mehr als jene, die darauf verzichteten. (8) Das ist zumindest eines nicht: zuviel.
Trotzdem gaben sich Koryphäen der Sexualforschung und Gynäkologie - wie peinlicherweise auch Frauenrechtsorganisationen (9) - schamlos dafür her, Flibanserin zu einer epochalen Wunderpille hochzujubeln, welche die weibliche Lust endlich von ihren Fesseln befreie. Unter den Teppich kehrten sie, wie sehr sexuelles Verlangen vom Verhalten des Partners und der Qualität einer Beziehung abhängt. Und sie missachteten einen wesentlichen Unterschied: Viagra hilft dem Mann, der zwar will, aber nicht kann, indem es binnen einer Stunde die Blutzirkulation in den Geschlechtsorganen soweit verbessert, dass eine Erektion eintritt. Flibanserin hingegen sensibilisiert das Gehirn der Frau, die könnte, aber nicht will, erst nach Wochen regelmäßiger Einnahme - ein bisschen. Das Präparat endete, verdientermaßen, als hämisch belächelter Ladenhüter. (10)
Derart willfährig zu Diensten zu sein, zahlt sich für Silberrücken reichlich aus: Die Zuwendungen enden beileibe nicht bei der Kostenerstattung von Tagungsgebühren, Reise- und Hotelkosten. Sie reichen von Einladungen in Edelrestaurants über Luxusreisen, auch für die Frau Gemahlin, in die Karibik und Freitickets zu großen Kultur- und Sportevents bis hin zu Entspannungs- und Vergnügungstouren, besser ohne Gemahlin, mit „Tauchen, Surfen, Segeln, hübschen Mädchen und heißen Nächten“ (11), sowie zu Aktienpaketen und üppigen Vergütungen für Autoren- und Referententätigkeiten, vereinzelt im hohen sechsstelligen Bereich.
Anmerkungen
Näheres in Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln
1 John Virapen: Nebenwirkung Tod. Ein Ex-Manager der Pharmaindustrie packt aus, Kleinsendelbach 2009, S. 70 f.
2 Virapen: a.a.O.
3 J. S. Ross/K. P. Hill u.a.: “Guest authorship and ghostwriting in publications related to rofecoxib: a case study of industry documents from rofecoxib litigation”, Journal of the American Medical Association 299/2008, S. 1800-1812; S. Sismondo: “Ghosts in the Machine”, Social Studies of Science 39/2009, S. 171-198.
4 Deroxat: „Fachinformation“, Stand Juni 2009.
5 Der Spiegel 20/2011, S. 118-119.
6 zit. nach Marie Schmidt: „Was will sie denn?“, Die Zeit Nr. 35, 27.8.2015, S. 42.
7 Nach J. J. Warnock: „Female hypoactive sexual desire disorder: epidemiology, diagnosis and treatment“, CNS Drugs 16 (11) 2002, S. 745-753.
8 Nach Loes Jaspers u.a.: „Efficacy and Safety of Flibanserin for the Treatment of Hypoactive Sexual Desire Disorder in Women: A Systematic Review and Meta-Analysis“, Journal of the American Medical Association, online 29.2.2016: http://archinte.jamanetwork.com/article. aspx?articleid=2497781, abgerufen am 1.3.2016.
9 Apotheke Adhoc, 22.9.2015: „Frauenrechtler lobbyierten für ‚Pink Viagra‘“, www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/internationales/pink-viagra-addyi-flibanserin-sprout-pharmaceuticals-even-the-score/, abgerufen am 18.5.2019.
10 Apotheke Adhoc, 22.10.2016: „Addyi: Lustpille als Ladenhüter“, www.apotheke-adhoc.de/ nachrichten/detail/internationales/pharmakonzerne-unlust-auf-lustpille/, abgerufen am 18.5.2019.
11 John Virapen: Nebenwirkung Tod, a.a.O.
Dieser Text ist Teil einer Artikelserie mit folgenden weiteren Beiträgen:
10) Unter Gorillas – Das Sagen haben Silberrücken
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