top of page
  • Dr. Harald Wiesendanger

Hyperinflation des Seltenen

Aktualisiert: 27. Juni

„Selten“: das klingt nach vernachlässigbar wenig. Doch zumindest im Gesundheitswesen trügt dieser Eindruck gewaltig. Auch wenn jede „seltene Krankheit“ höchstens 0,05 % der Bevölkerung heimsucht, explodiert ihre Artenvielfalt neuerdings regelrecht: Über 17.000 sind es inzwischen. Und immer mehr Menschen sind betroffen: vier Millionen allein in Deutschland, bis zu einer halben Milliarde weltweit. Dafür verantwortlich sind in erster Linie Lebensverhältnisse, die systematisch krank machen. Eine Mitschuld tragen Politiker, die dabei tatenlos zusehen.



Es war am 15. August 2015, als ich Kim zum ersten Mal begegnete: einem achtjährigen Mädchen, das ihre Eltern zu einem Therapiecamp meiner Stiftung Auswege begleiteten. Im Mai 2007 kerngesund zur Welt gekommen, waren bei ihr nach vier Monaten erste heftige Krämpfe aufgetreten, wie sie für das „West-Syndrom“ charakteristisch sind, eine besonders schwer zu behandelnde Form von Epilepsie. Die Diagnose, bestätigt durch eine DNA-Analyse, lautete auf „tuberöse Sklero­se“ (TSC): eine seltene Erbkrankheit, die zu Wuche­run­­gen und Fehlbildungen von Gewebe in nahezu allen Organen führt, häufig an der Haut, aber auch im Gehirn. Nur eines von 6000 Kindern ist betroffen. Aus der Hirnrinde können „Tubera“ wachsen, beulenartige Vorwölbungen, welche Anfälle auslösen und die geistige Entwick­lung beeinträchtigen. Kim wies autistische Züge auf. Sie sprach kein Wort.


Ein Jahr zuvor, in einem weiteren „Auswege“-Therapiecamp, lernte ich den 18-jährigen Marvin kennen. Sein Risiko, mit einem Gendefekt in den Abschnitten q1.2 bis q11.13 auf Chromosom 15 zur Welt zu kommen, hatte bei 1 zu 20'000 gelegen – aber was nützt Betroffenen wie ihm eine statistische Unwahr­scheinlichkeit? Der junge Mann leidet am „Angelman-Syndrom“, benannt nach dem britischen Arzt Harry Angelman (1915-1996). Happy-Puppet-Syndrome heißt es auch, anspielend auf einen seltsam puppenhaften, unentwegt freudigen Gesichtsausdruck, grundloses Lachen, regelrechte Lachanfälle. Diese Erkrankung äußert sich unter anderem in geistiger und körperlicher Behinderung - vor allem einer stark zurückgebliebenen Sprachentwicklung -, Wahrneh­mungsstörungen sowie Hyperaktivität.


Als seine Diagnose endlich feststand, war Marvin schon sieben Jahre alt. Er ist geistig stark behindert, kann nicht sprechen, hat Schwierigkeiten beim Gehen, ist inkontinent. Seine Bewegungskoordination ist gestört. Aus seinem Mund, den er nicht schließen kann, tropft unentwegt Speichel. Seit März 2013 treten epileptische Anfälle auf, bei denen beide Arme minutenlang zucken. Oft steigern sie sich zu stundenlangen Myoklonien, unwillkürlichen Zuckungen der Muskulatur in allen vier Extremitäten.


Ausnahmen als Massenphänomen


Mysteriös häufen sich neuerdings derartige „Seltene Krankheiten“, definitionsgemäß mit jeweils weniger als fünf Betroffenen pro 10.000 Einwohnern. (1) Manchmal leiden weltweit bloß eine Handvoll Menschen unter einem bestimmten Typus. In 27 Jahren wurde bloß bei vier Patienten der Ribose-5-Phosphat-Isomerase-Mangel festgestellt: Genetisch bedingt fehlt ein bestimmtes Enzym, was für eine schwere Stoffwechselstörung sorgt, die sich vor allem auf die weiße Substanz des Gehirns auswirkt; die Entwicklung verläuft verzögert, die Motorik ist nur eingeschränkt kontrollierbar.


Noch seltener ist die „Fields-Krankheit“: ein Muskelschwund, mit dem bisher bloß zwei Zwillingsschwestern aus Südwales aufgefallen sind, Kirstie und Catherine Fields. Mit vier Jahren setzten Bewegungsstörungen ein. Mit 9 benötigten sie Gehhilfen. Mit 14 verloren beide ihre Stimme. Mittlerweile sitzen sie im Rollstuhl. Pro Tag erleiden die unglückseligen Mädchen mehr als 100 unkontrollierbare, schmerzhafte Muskelkrämpfe.


In der Summe belasten solche medizinischen Raritäten Abermillionen. Insgesamt 17.000 verschiedene derartige Erkrankungen listet die Fachliteratur inzwischen auf, für 5000 bis 8000 sind Fälle in Deutschland bekannt (2) – ein wahres Horrorkabinett. Nach Angaben des Global Genes Project weisen weltweit 350 Millionen Menschen eine seltene Krankheit auf – also rund fünf Prozent der Weltbevölkerung. (3) Die Europäische Organisation für seltene Krankheiten (EURORDIS) schätzt, dass zwischen 3,5 und 5,9 % der gesamten Menschheit betroffen sind; das entspräche 263 bis 446 Millionen.


Und in Europa? Die EU geht davon aus, dass zwischen 6 und 8 % der Bevölkerung irgendwann in ihrem Leben von einer seltenen Krankheit betroffen sein könnten. (4) Zwischen 27 und 36 Millionen sind es aktuell. In Deutschland sollen es drei bis vier Millionen sein (5), jüngste Schätzungen gehen von 4,3 Millionen Bundesbürgern aus. (6) Damit sind seltene Krankheiten zum Massenphänomen geworden.



Aus dem nüchternen Zahlenwerk, den lieblosen Prävalenz-Nullen vor dem Komma, springen jedem Empathiefähigen nicht bloß biologische Kuriositäten entgegen – es geht um unsägliche, herzzerreißende Tragödien. Viele Betroffene – zu 75 % Kinder - erleben ihre Einschränkungen, ihr Anderssein bei vollem Bewusstsein mit, für den Rest ihres Lebens unentrinnbar eingesperrt im Gefängnis eines genetisch verunstalteten Körpers. Zwar ist, mit intensiver Behandlung und reichlich Geduld, beim einen oder anderen Symptom durchaus Linderung möglich, wie ich in den Therapiecamps meiner Stiftung staunend miterleben durfte. Doch nur für etwa 400 „seltene Krankheiten“ gibt es überhaupt irgendwelche Therapien. (7) Diese dämpfen allenfalls Begleiterscheinungen. Vollständige Heilung bleibt eine Illusion. Fast immer.


Zu diesen düsteren Aussichten trägt bei, dass die Entwicklung von „Orphan Drugs“, wie Medikamente gegen seltene Krankheiten heißen, für die Pharmaindustrie aufgrund der winzigen Zielgruppen wirtschaftlich weitaus unattraktiver ist, als beispielsweise Krebspatienten, Hypertoniker, Diabetiker und Rheumatiker anzuvisieren. Also müssen Wucherpreise für Ausgleich sorgen: Orphan Drugs sind durchweg so irrwitzig teuer, dass sie für so gut wie alle Betroffenen unerschwinglich bleiben, falls ihre Ersparnisse nicht ausreichen und keine Krankenkasse einspringt. Für wenig therapeutischen Ertrag fließt trotzdem üppig Geld: So schätzten Marktforscher von Evaluate Pharma den Umsatz mit Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten 2021 auf 156 Milliarden US-Dollar - das entspricht rund 16 Prozent des Marktes für verschreibungspflichtige Arzneimittel; bis 2024 wurden daraus 217 Milliarden.


Nicht nur die Patienten selbst, auch ihre Familien belastet die trostlose Perspektive immens. Mit der Schwere der Krankheit nimmt die Bedrückung zu. Stets gibt es Angehörige, die ohnmächtig mitfühlen, vergeblich Therapiechancen erkunden, sich im Betreuen und Pflegen aufopfern, dafür eigene Lebenspläne über den Haufen werfen, der Sinnfrage sinnlos nachgrübeln. Bedrückt malen sie sich eine Zukunft aus, in der sie ihr zeitlebens gehandicapptes Kind fremden Händen anvertrauen müssen, weil sie mit ihren Kräften am Ende sind, irgendwann auch mit ihrer Lebenszeit.


Zermürbende Odyssee


Ehe die Hoffnung stirbt, treibt sie zur verzweifelten Suche. Mit den ersten rätselhaften Beschwerden beginnt für die Betroffenen und ihre Angehörigen zumeist eine zermürbende Odyssee von Praxis zu Praxis, Klinik zu Klinik; bis zu acht Ärzte suchen sie auf. Findet sich keine organische Erklärung, unterstellen ahnungslose Schulmediziner allzu oft ein psychosomatisches Problem. 40 Prozent der Patienten erhalten mindestens einmal eine Fehldiagnose. Bis endlich die richtige Diagnose gefunden ist, verstreichen im Schnitt 4,8 Jahre. (8) Mit durchschnittlich 147.000 Euro übertreffen die Behandlungskosten von seltenen Leiden jene des Durchschnitts chronischer Erkrankungen um rund das Fünffache. (9)


Vier von fünf seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt, rühren also von Schäden am Erbgut her, die körpereigene Reparaturmechanismen nicht mehr beheben können. Je nachdem, in welchen Chromosomenabschnitten und DNA-Sequenzen die Anomalien auftreten, sind Erscheinungsbild, Organe und Körperfunktionen aufs Sonderbarste beeinträchtigt: von kognitiven Einschränkungen über Veränderungen des äußeren Erscheinungsbilds bis hin zu Erblindungen. So leiden weltweit drei Millionen Menschen – in Deutschland etwa 30.000 bis 40.000 – an Retinitis pigmentosa (RP): Während Netzhautzellen allmählich absterben, verengt sich das Gesichtsfeld, bis es völlig ausfällt. LHON, die „Lebersche Hereditäre Optikus-Neuropathie“, beginnt bei rund 80 Deutschen pro Jahr damit, dass in der Mitte des Gesichtsfelds dauerhaft schwarze Flecken auftreten. Binnen weniger Wochen und Monate weitet sich diese Sehstörung fast immer auf das zweite Auge aus. Nach kurzer Zeit fällt die Sehkraft unter zehn Prozent.


Auch unheilbar fortschreitende Lähmungen kommen vor. Bei 3600 bis 6000 deutschen Kindern mit Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) beispielsweise wird kein funktionsfähiges Muskelprotein Dystrophin mehr gebildet. Es kommt zu einem unaufhaltsamen Muskelabbau, zunächst im Bewegungsapparat, dann in der Atmung und im Herz.


Häufig handelt es sich um exotische Stoffwechselstörungen. Die Ahornsirupkrankheit beispielsweise - Maple Syrup Urine Disease, MSUD -, die bei einem von 140.000 bis 200.000 Neugeborenen vorliegt, verdankt ihren Namen dem würzig-süßlichen Geruch von Urin und Atem. Bei ihr führt die verminderte Aktivität eines Enzyms dazu, dass die Aminosäuren Leuzin, Isoleuzin und Valin nicht ausreichend abgebaut werden; stattdessen reichern sie sich im Blut und Gewebe stark an. Betroffene Kinder wirken schläfrig bis apathisch oder lethargisch; sie leiden an Trinkschwäche, neigen zu Durchfall und Erbrechen, ihre Muskelspannung ist zu niedrig, ihre Reflexe sind geschwächt. Schlimmstenfalls führt MSUD zu Krampfanfällen, Koma und lebensbedrohlichen Atmungsstörungen.


Ein Gendefekt auf Chromosom 8 beschwört bei drei von einer Million Menschen ein „Werner-Syndrom“ herauf, auch Progeria adultorum genannt. Erst Anfang dreißig macht es sich bemerkbar, dann aber Schlag auf Schlag: Die Haut wird faltig, wirkt dünn und durchscheinend; die Stimme klingt schwach und hoch; die Haare ergrauen und fallen aus, die Muskeln bilden sich zurück, der Gang ist gekrümmt statt aufrecht. Man sieht nicht nur aus wie ein 60-jähriger, man benimmt sich auch so. Mit vierzig sieht man aus wie achtzig. Die meisten Erkrankten erleben ihren 50. Geburtstag nicht mehr.


Erst 1965 fiel zwei amerikanischen Neurologen eine Erbkrankheit auf, die seither ihren Namen trägt: das Flynn-Aird-Syndrom: Einer unter einer Million Menschen wird gegen Ende des Jugendalters schwerhörig, die Muskelmasse schwindet, Gelenke versteifen; die Augenlinse trübt ein, Bewegungen werden unkoordiniert, die Zähne stark kariös, Knochen osteoporös; Epilepsie oder Demenz treten auf.


Mutationen im ABCA 12-Gen auf Chromosom 2, Genort q35 verursachen eine Harlekin-Ichthyose. Bei einem von 300.000 Menschen sorgen sie dafür, dass er langsam zu Stein zu werden scheint. Bei dieser Krankheit erneuert sich die oberste Hautschicht sieben Mal schneller als normal. Dies führt dazu, dass sie sich abschält; dicke Narben bilden sich. Schließlich verhornt die Haut so sehr, dass sie panzerartig aussieht - wie die Oberfläche eines Steins.


Von wegen schicksalhaft


Überwiegend treten die genetischen Abweichungen in den Familien der Betroffenen erstmalig auf. Demnach war mindestens ein Elternteil oder sie selbst, womöglich noch im Mutterleib, genotoxischen Einflüssen ausgesetzt, die auf vorherige Generationen kaum bis überhaupt nicht einwirkten. Die allermeisten seltenen Erkrankungen tauchten in der medizinischen Fachliteratur erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, zuvor waren sie unbekannt.


Um die katastrophale Entwicklung kleinzureden, finden rhetorische Winkelzüge statt, wie man sie aus der Autismusdebatte zur Genüge kennt: „Keine Bange, es trügt der Schein“, so macht man uns weis – in Wahrheit würden Fälle bloß öfter erkannt, weil Ärzte sie häufiger diagnostizieren, Daten besser gesammelt werden, Eltern sensibilisiert sind, Definitionen sich geändert haben, Journalisten vermehrt berichten, das öffentliche Bewusstsein dafür gewachsen sei. Schließlich gibt es seit 2008 ja den Internationalen „Tag der seltenen Krankheiten“, begangen an jedem letzten Februartag.


Alberner an der Nase herumführen geht kaum. Hat der Tag der Jogginghose am 21. Januar, der Tag der Geschwister am 10. April, der Tag des Baumes am 25. April, der Tag der Hängematte am 22. Juli etwa erheblich mehr Aufmerksamkeit für gewisse Kleidungsstücke, Verwandtschaftsverhältnisse, Pflanzen und Ruhegelegenheiten erzeugt?


Seltene Krankheiten haben tatsächlich inflationär zugenommen – im selben Maße, wie sich die unnatürlichen Belastungen des menschlichen Organismus vervielfachten. Nie zuvor in seiner sechs Millionen Jahre langen Entwicklungsgeschichte musste er mit mehr Einflüssen fertig werden, die das Erbgut schädigen – und zugleich die körpereigenen Reparaturmechanismen für solche Defekte schwächen. Künstliche Strahlung aus immer mehr Quellen, Schadstoffe in Luft, Wasser und Boden, Chemikalien in Nahrungsmitteln, Pestizide, Mikro- und Nanoplastik, mutagene Arzneimittel: Kaum mehr als ein halbes Jahrhundert verschlafenen Umwelt- und Verbraucherschutzes haben ausgereicht, die Lebensbedingungen von Homo sapiens so unentrinnbar pathogen werden zu lassen, dass allenfalls Cyborgs und Roboter sie schadlos überstehen werden. Zumindest sie bleiben von „seltenen Erkrankungen“ zuverlässig verschont. Passt die Agenda von Transhumanisten nicht vortrefflich zu solchen Aussichten?


Dieser Beitrag enthält Auszüge aus dem 2019 erschienenen Buch von Harald Wiesendanger: Das Gesundheitsunwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln, dort S. 32-35.


Anmerkungen

(1) Dieses Prävalenzkriterium verwenden EU-Behörden in ihrer Definition einer „seltenen Krankheit“. In den USA wird von 7,5 pro 10.000 Einwohnern ausgegangen.

(2) RARE List, https://globalgenes.org/rarelist, 15. April 2016.

(4) Nguengang Wakap u.a.: "Estimating cumulative point prevalence of rare diseases: analysis of the Orphanet database". European Journal of Human Genetics. 28 (2) 2020, S. 165–173. doi:10.1038/s41431-019-0508-0.

(5) Public Health – European Commission. https://ec.europa.eu/health; Deutsches Ärzteblatt, 19. November 2010, S. A 2272.

(6) Plus Drei, No. 52, Februar 2019, S. 8.

(7) Ana Sanfilippo/Jimmy Lin: Rare Diseases, Diagnosis, Therapies, and Hope, St. Louis, MO 2014, S. 6.

(8) Nach Shire Deutschland, zit. in Plus Drei, a.a.O., S. 11.

(9) Nach Evaluate, Statista; zit. in Plus Drei, a.a.O., S. 9.

"Auswege Infos" abonnieren
und keinen neuen KLARTEXT-Beitrag verpassen.
"Auswege Infos" ist der Gratis-Newsletter meiner Stiftung Auswege.

© 2021 by Harald Wiesendanger

bottom of page