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Dr. Harald Wiesendanger

Warum nützt Psychotherapie?

Aktualisiert: 7. Jan.

Soweit Psychotherapie wirkt: Weshalb tut sie das? Wenn Profis mit unterschiedlichsten Vorgehensweisen und Theorien weitgehend gleich viel erreichen, kann ihr Erfolgsrezept wenig damit zu tun haben, was sie während ihrer jeweiligen Ausbildung gelernt haben. Worin besteht es dann?



Aus dem “Dodo-Bird-Paradox” folgt: Der Ertrag verschiedener Psychotherapierichtungen hängt kaum bis gar nicht davon ab, auf welchen Wegen er erzielt wird. Also muss er auf anderen Faktoren beruhen: solchen, die sie alle gemeinsam haben, allen Abgrenzungsgefechten zum Trotz.


Der Forschungsstand hierüber lässt an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig: Den Ausschlag geben sogenannte unspezifische Wirkfaktoren, wie Fachleute sie nennen. Psychotherapie, egal welche,  gelingt nur dann, wenn die Hauptbeteiligten, der Behandler ebenso wie der Behandelte, mehrerlei dazu beitragen:


Auf den Klienten kommt es an


Der Hilfesuchende profitiert am ehesten, wenn er fähig und willens ist, sich zu verändern. Er ist zuversichtlich, dass der Therapeut ihm helfen kann und will. Er vertraut ihm. Er ist offen. Er hegt keine überzogenen Erwartungen, rechnet nicht mit einer blitzschnellen, vollständigen Genesung biblischen Ausmaßes. Den äußeren Rahmen der Behandlung, das healing setting, empfindet er als geeignet, angemessen und angenehm. Er sieht wesentliche Bedürfnisse durch die Therapie befriedigt. Er spürt Wertschätzung, fühlt sich angenommen und verstanden, entwickelt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Die vorgeschlagene Erklärung seines Problems macht er sich zueigen. Er akzeptiert die eingesetzte(n) Methode(n). Von seinem Umfeld, einschließlich seiner wichtigsten Bezugspersonen, lässt er sich nicht beirren. Er ist kooperativ, übernimmt Therapieziele und strebt sie beharrlich an.


Was einen guten Psychotherapeuten auszeichnet


Und wie steht es mit dem Helfer? Sein Einsatz nützt, wenn es ihm gelingt, Sympathie und Vertrauen des Klienten zu gewinnen. Er ist optimistisch und vermittelt seine Zuversicht überzeugend. Er gibt sich nicht streng, distanziert und kalt, sondern freundlich, zugewandt, warmherzig und emotional beteiligt. Er strahlt Sicherheit, Gelassenheit und Erfahrung aus. Er wirkt offen und ehrlich. Das Problem benennt er in einer Weise, die dem Klienten einleuchtet. (Ob die Diagnose tatsächlich zutrifft, ist zweitrangig.) Er stellt dessen Problem in den Vordergrund und bietet für es eine Erklärung an, die der Klient nachvollziehen kann: einen einleuchtenden Mythos. (Ob sie stimmt, ist unerheblich.) Er wirkt nicht abwesend, sondern bei der Sache; nicht verkrampft, sondern entspannt. Er ist empathiefähig, das heißt, er kann die Perspektive des Hilfesuchenden übernehmen, sich in ihn hineinversetzen und einfühlen. (Dazu mehr im Band 4 meiner Schriftenreihe Psycholügen: Stochern im Nebel.) Er versteht es, ein lebendiges Gespräch in Gang zu bringen und aufrechtzuerhalten. Er setzt keine Leichenbittermiene auf, sondern gibt sich humorvoll. Er motiviert dazu, am therapeutischen Prozess mitzuwirken; der Hilfesuchende soll zum bewussten, aktiven Selbstheiler werden, kein untätig Aufnehmender bleiben.


Dabei berücksichtigt der Helfer persönliche Stärken des Hilfesuchenden; er ermutigt ihn dazu, sie sich bewusst zu machen, zu nutzen und stolz darauf zu sein: Fähigkeiten, Erfahrungen, Interessen und positive Charaktereigenschaften. (Sozialwissenschaftler sprechen von Empowerment.) Er bringt ihm Wertschätzung entgegen und stärkt sein Selbstwertgefühl, statt ihn wegen Schwächen und Fehlern schlechtzureden. Er vermittelt den Eindruck, aufmerksam zuzuhören und interessiert Anteil zu nehmen. Unvorhergesehenen Situationen und überraschenden Wendungen im Therapieverlauf passt er sich flexibel an. Missverständnisse räumt er behutsam aus. Beim Einsatz von Methoden, beim Anbieten von Deutungen erweist er sich als kreativ. Es gelingt ihm, dem Klienten eine neue Sichtweise auf das Problem zu vermitteln und Hinweise zu geben, wie er es aus eigener Kraft bewältigen kann. Er führt ihm Chancen vor Augen, zeigt Auswege auf. Er fördert tragfähige soziale Beziehungen.


Nichts von alledem überfordert Laienhelfer grundsätzlich. Nichts von alledem kann der Profi nur dank eines wissenschaftlichen Studiums. Nichts von alledem kann er erst, seit er Prüfungen bestanden hat. Nichts von alledem kann er anschließend besser als vorher.


Stimmt die Beziehung?


Nicht minder kommt es auf die Qualität der Beziehung an, die Helfer und Hilfesuchender zueinander aufbauen. Auf ihr gemeinsames Ziel hin, eine innere Belastung zu beseitigen, vollziehen sie miteinander ein Ritual, über dessen Spielregeln sie sich einig sein müssen.


Gleichgültig, wieviel Wirkungsmacht Psychotherapien von ihren Anhängern zugetraut wird: Eine wie die andere scheitert, wenn die Hauptbeteiligten, Helfer und Hilfesuchender, einander misstrauisch, ablehnend, feindselig gegenüberstehen. Wenn sie nicht recht ins Gespräch miteinander kommen. Wenn einer, oder gar beide, hinsichtlich der Erfolgsaussichten schwarz sehen. Sie scheitert, wenn der Hilfesuchende mit der gestellten Diagnose nichts anfangen kann, ihm die angebotene Erklärung seines Problems nicht einleuchtet, die eingesetzten Methoden widerstreben. Sie scheitert, wenn ihm sein Therapeut unsicher, desinteressiert, teilnahmslos, gleichgültig vorkommt. Sie scheitert, wenn er seine Mitwirkung verweigert, täuscht und lügt. Der entscheidende Faktor ist bei jeder beliebigen Psychotherapie nicht etwa der Anwender, sondern der Behandelte – an ihm liegt es, die eigentliche Arbeit zu leisten.


Wie in der Medizin allgemein, so gilt auch in der Psychotherapie: Jegliche Heilung ist letztlich Selbstheilung. Der Klient muss fähig und willens sein, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, andernfalls scheitert auch der vielversprechendste Ansatz. Der Therapeut kann Anregungen, Rückmeldungen und Ratschläge geben, neue Ideen einbringen, auf Bewährtes hinweisen, Fehleinschätzungen berichtigen, neue Perspektiven eröffnen, Handlungsoptionen aufzeigen, motivieren, vor Risiken und Gefahren warnen – das eigene Denken, Fühlen, Handeln verändern kann letztlich nur der Klient selbst.


Darüber hinaus unterschätzen viele Psychoprofis, wie wichtig sogenannte „Unterstützungsnetze“ - Support Networks - im sozialen Umfeld sind. Konflikte in der Partnerschaft und Familie, aber auch Ärger am Arbeitsplatz, anhaltende Spannungen im Freundeskreis, im Verein, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft können Fortschritte erschweren, verhindern oder zunichte machen. (1) „Vierzig Prozent der Unterschiede in Behandlungsergebnissen gehen auf Faktoren außerhalb der Behandlung zurück“, schätzt der US-Therapieforscher Michael J. Lambert. (2) Psychotherapie scheitert zuverlässig, wenn das soziale Umfeld alle Bemühungen zunichte macht.


Leistungsunterschiede zwischen Therapeuten, gleich welcher Schule, haben demnach so gut wie nichts mit der Methode zu tun, die sie bevorzugen. Hauptsächlich rühren sie daher, dass ihre Persönlichkeitsmerkmale und sozialen Fähigkeiten sie unterschiedlich geeignet machen, Belastete auf ihrem mühseligen Weg zu begleiten. Die Eignung hierzu muss keineswegs notwendig auf besonders positiven Charaktereigenschaften beruhen. Mitunter kriegen es ausgesprochene Hallodris und Scharlatane besonders gut hin, Hilfesuchende zu Veränderungen zu bewegen, wenn sie den Alleswisser geben, der mit sonorer Stimme von oben herab Durchhalteparolen ausgibt. Seit Sigmund Freud, dem unübertroffenen Charismatiker, tummeln sich in der Seelenheilkunde etliche solcher gewiefter Psychodirigenten.


Allgemeine Wirkfaktoren befähigen Laienhelfer – wie “Auswege”-Camps lehren


Allgemeine Wirkfaktoren (3) erklären, warum viele Laien psychisch Belasteten ebensogut helfen können wie Psycho-Experten: Die Kompetenzen, auf die es dabei ankommt, erwirbt ein jeder von uns nicht erst in Universitäten und Akademien, sondern von Kindesbeinen an, im Laufe seiner Sozialisation.


Die Fähigkeit, solche Faktoren in die Behandlung einzubringen, zeichnet Laienhelfer in den Therapiecamps meiner Stiftung Auswege aus. Mit einem Durchschnittsalter deutlich über Fünfzig und mittleren zwanzig Jahren Praxis bringen sie jede Menge Erfahrung im Umgang mit Hilfesuchenden mit. Auf die Bedürfnisse, Fragen, Sorgen und Ängste von Patienten gehen sie vorbildlich ein, wie Auswertungen von abschließend ausgefüllten Fragebögen belegen: Über 98 Prozent der Campteilnehmer charakterisieren ihre Helfer darin als „sicher“, „geduldig“, „höflich“, „einfühlsam“ und „ermutigend“, nehmen sie als „kompetent“, „vertrauenserweckend“, „bescheiden“, „überzeugend“ und „unaufdringlich“ wahr. Ebensoviele würden sie deshalb „uneingeschränkt weiterempfehlen“.


Gleichermaßen dickes Lob ernteten Christine, Ulrike, Verena und Regine, vier ausgebildete, erfahrene Psychotherapeutinnen, wie auch Gisa und Milan, zwei erfahrene Fachärzte für Psychiatrie. Jene „Auswege“-Camps, an denen sie mitwirkten, bereicherten sie enorm: allerdings nicht in erster Linie durch Informationsvorsprünge dank überlegenen Fachwissens und psychotechnischer Raffinesse, sondern durch ihre herzliche, einfühlsame Art, mit Hilfesuchenden umzugehen, gepaart mit Selbstsicherheit und Erfahrung – durch Vorzüge indes, die andere, vermeintlich unqualifizierte Teammitglieder nicht minder einzubringen verstanden.


Unter den vielerlei Zutaten, die zusammen das Erfolgsrezept der „Auswege“-Camps ausmachen (4), geben diese allgemeinen Wirkfaktoren vermutlich den Ausschlag. Von der Eröffnungsveranstaltung an prägen sie das Miteinander aller Beteiligten durchgängig. Atemberaubend rasch lassen sie eine Atmosphäre entstehen, deren Intensität mich jedesmal aufs Neue fasziniert und bewegt.


Ein Blick auf die offiziellen Programmpunkte eines typischen Camptags, mit bis zu fünf Einzelterminen für jeden Teilnehmer bei verschiedenen Teammitgliedern, verleitet deshalb zu falschen Schlüssen. Beraten und behandelt werden unsere Patienten und ihre Angehörigen im Grunde nicht bloß vier- bis fünfmal 30 bis 60 Minuten pro Tag – eine einzige Heilsitzung findet statt, und sie dauert zwei Drittel des ganzen Tages, ohne Pause: beginnend am frühen Morgen, mit dem gemeinsamen Frühstück ab acht Uhr, bis kurz vor Mitternacht, wenn sich die letzten Gesprächsrunden im Anschluss an das Abendprogramm aufgelöst haben. 15 bis 16 Stunden lang wird ununterbrochen geheilt: von den 15 bis 20 Teammitgliedern, aber auch von den 20 bis 30 Patienten samt Angehörigen, gleich welchen Alters. Miteinander bilden sie eine heilsame Gemeinschaft, in der jeder reichlich zurückbekommt, was er einbringt: Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Zuwendung, Mitgefühl, Wohlwollen, Wertschätzung. Diese Mixtur bringt binnen einer Woche die meisten psychisch Belasteten eher ins Gleichgewicht als alle vorherige, oft jahrelange professionelle Betreuung – mehr als etliche mehrwöchige Klinikaufenthalte, als diverse, oft jahrelange Psychotherapien, als nebenwirkungsreiche Medikamente. Führt das nicht eindrücklich vor Augen, wieviel mehr angewandte Seelenheilkunde erreichen könnte, wenn sie aus den Therapiecamps der Stiftung Auswege lernen würde, worauf es dabei am allermeisten ankommt?


Was Psychotherapie wirksam erscheinen lässt


Vielen Patienten, denen unstrittig eine professionelle Psychotherapie außerordentlich gut getan hat, mag eine derartige Sichtweise unerhört vorkommen, ja geradezu absurd. „Ohne meinen Therapeuten wäre ich bis heute ein seelisches Wrack, vielleicht würde ich nicht mehr leben“, sagen manche. „Weder mein Lebensgefährte noch irgendein Verwandter, nicht einmal meine allerbesten Freunde hatten mir zuvor helfen können.“


Aber solche subjektiven Gewissheiten sind womöglich voreilig. Zum einen ist nie auszuschließen, dass dankbare Patienten einem der meistverbreiteten Fehlschlüsse erliegen: post hoc ergo propter hoc – „weil es mir nach der Therapie besser ging, muss es mir ihretwegen besser gegangen sein“. Sie verkennen, dass selbst schwerstes seelisches Elend im Laufe der Zeit von alleine abklingen kann. „Die Zeit heilt alle Wunden“, so versichert der Volksmund, und darin steckt durchaus ein Quentchen Wahrheit. Intensitätsschwankungen kennzeichnen die allermeisten psychischen Störungen. Zum Psychotherapeuten eilt man im Befindlichkeitstief, und auch ohne ihn ginge es früher oder später höchstwahrscheinlich wieder aufwärts.


Ferner könnte die Besserung von therapiebegleitenden Umständen herrühren, mit denen die Behandlung überhaupt nichts zu tun hatte: beispielsweise eine neue Partnerschaft, Veränderungen am Arbeitsplatz, ein Wohnungswechsel, familiäre Ereignisse, einschneidende Begegnungen und Erfahrungen, eine glückliche Fügung, eine unverhoffte Chance.


Die Unterlegenheit des Laienhelfers: eine “self-fulfilling prophecy”?


Im übrigen pflegt kaum ein Klient spezifische und allgemeine Wirkfaktoren auseinanderzuhalten. Der mit Abstand wichtigste allgemeine Faktor ist er selbst: Seine Bereitschaft, sich auf die Therapie ein- und von ihr verändern zu lassen, gibt letztlich den Ausschlag. Wenn Betroffene in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld nicht jene Hilfe fanden, für die sie ihren Therapeuten lobpreisen, so möglicherweise deshalb, weil sie Menschen, die ihnen nahestehen, eine solche Hilfe gar nicht erst zutrauten. Therapeuten genießen bei psychisch Belasteten im allgemeinen einen gewaltigen Vertrauensvorschuss. Wenn deren Überlegenheit, wie erläutert, herzlich wenig von irgendwelchen Techniken und Theorien herrührt: woher dann? Des Rätsels Lösung liegt zum Teil in einem Placebo-Effekt: Erst der feste Glaube des Patienten, Psychotherapie bringe mehr, macht sie deutlich wirkungsvoller als das, was mancher Laie an Rat und Unterstützung anzubieten hätte. Entscheidend ist der Entschluss, die Erfolgserwartung des Therapeuten zu übernehmen und ihn für kompetent genug zu erachten, eine effektive Behandlung hinzukriegen.


Dazu verleiten all jene Statusmerkmale, die Profis Laien voraushaben: Sie haben Psychologie oder Medizin studiert, können neben der theoretischen auch eine ausgiebige praktische Ausbildung vorweisen, tragen akademische Titel, müssen folglich hochqualifiziert sein. Psychotherapie ist schließlich ihr Beruf. Sie empfangen Hilfesuchende in besonderen Räumlichkeiten mit besonderem Ambiente. Neben ihrer Türklingel hängt ein mehr oder minder ansprechendes Praxisschild. In ihren Bücherregalen stapelt sich Fachliteratur. Ins Gespräch streuen sie imposantes Fachchinesisch ein. Im Gesundheitswesen gelten sie als geachtete Akteure, auch der Herr Doktor empfiehlt sie mitunter, häufig kommen Krankenkassen für die Kosten auf. Sie treten mit dem Selbstbewusstsein von Sachverständigen auf, erstellen Befundberichte, Gutachten und Rechnungen auf ansprechenden Briefbögen, beeindrucken mit Visitenkarten und Flyern. Aber, um dies nochmals zu unterstreichen: Wie die Therapieforschung der vergangenen Jahrzehnte lehrt, ist in Wahrheit kein einziges dieser Merkmale aussagekräftig. Bedeutsam wird es erst als Gutgläubigkeit förderndes Drumherum.


Warum neigt der Problembelastete trotzdem dazu, einen Profi dem Laienhelfer vorzuziehen? Zum Placebo-Effekt gesellen sich etliche weitere Gründe, die meisten rühren von Kurzschlüssen aus unhinterfragten Vorurteilen her, die im Zeitalter der Expertokratie geradezu dogmatisch gelten: Profis seien kompetenter. Ihre Ausbildungen und Diplome bürgten für Qualität. Von Berufs wegen hätten sie mehr Erfahrung. Sie könnten besser feststellen und erklären, was mit ihm los ist. Sie verfügten über weitaus wirksamere Techniken, seinem Problem beizukommen. Weder er noch seinesgleichen könnten beurteilen, was ihm fehlt. Massenmedien schüren unkritisch solche Überzeugungen, Mitmenschen sorgen für zusätzlichen Druck.


Ausgangspunkt des kurzen Wegs zum professionellen Helfer ist eine Kapitulation vor dem Zeitgeist: Man erklärt sich einverstanden damit, sein Lebensproblem als psychische Krankheit definieren, sich zum Patienten erklären zu lassen. Wer krank ist, wird zum Fall für die Medizin; wer psychisch krank ist, für den ist das Fachgebiet Psychiatrie zuständig - und fürs nichtmedikamentöse Behandeln eine ihrer Hauptsäulen, die Psychotherapie. Dass sie Teil des offiziell anerkannten Gesundheitssystems ist, verschafft ihr Glaubwürdigkeit und Autorität. Sich ihr auszuliefern und unterzuordnen, sie die Verantwortung für sich übernehmen zu lassen, ist eine nachvollziehbare Tendenz von Menschen, die sich in akuten Lebenskrisen, erst recht bei chronischen Seelentiefs damit überfordert wähnen, mündige Bürger zu bleiben. Sie fühlen sich inkompetent, ratlos und schwach, und keines Laien Schultern sind breit genug, ihnen beim Anlehnen so viel vermeintliche Sicherheit zu vermitteln, wie das jemandem gelingt, der sich selbstbewusst traut, als Experte aufzutreten, weil alle ihn dafür halten.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus Harald Wiesendanger: Psycholügen, Band 3: Seelentief: ein Fall für Profis?, Schönbrunn 2017, 2. erw. u. aktualisierte Aufl. 2024; 124 S., auch als PDF.


Die Folgen dieser Serie („Helfen Psycho-Profis wirklich besser?“)

10    Pragmatismus statt Lobbyismus - Für eine weise Psycho-Politik

 

Anmerkungen

1  S. M. Monroe/D. F. Imhoff/B. D. Wise/J. E. Harris: „Prediction of psychological  symptoms under high-risk psychosocial circumstances:  Life events, social support,  and  symptom specificity“, Journal of Abnormal Psychology 92/1983, S. 338–350.

2  Michael J. Lambert: „ Implications of outcome research for psychotherapy integration“, in  J. C. Norcross/ M. R. Goldstein (Hrsg.): Handbook of Psychotherapy Integration, New York 1992, S. 94-129.

3  Siehe Jerome D. Frank: Persuasion and Healing. A Comparative Study of Psychotherapy (1961), 3. Aufl. Baltimore 1991. Franks „unspezifische Wirkfaktoren“ finden sich weitgehend wieder bei Hilarion G. Petzold: „Integrative Therapie – Transversalität zwischen Innovation und Vertiefung. Die Vier Wege der Heilung und Förderung’ und die ‚14 Wirkfaktoren’ als Prinzipien gesundheitsbewusster und entwicklungsfördernder Lebensführung“, Integrative Therapie 3/2012.

4  Siehe Harald Wiesendanger: Heilzauber oder was? Das Erfolgsgeheimnis der „Auswege“-Camps,  Schönbrunn 2014.

Titelbild: Drazen Zigic/Freepik

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