Schön leer
- Dr. Harald Wiesendanger
- vor 4 Tagen
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 2 Tagen
Sie sehen gesund aus, schmecken irgendwie nach irgendwas – und sind ernährungsphysiologisch auf Diät: Obst und Gemüse von heute sind eher Profit- als Lebensmittel. Während Böden auslaugen, Politik untätig bleibt und Verbraucher ihr Gesundheitswissen aus Werbespots beziehen, schrumpft die Nährstoffdichte still und unbeklagt – mit fatalen Folgen.

Forschern der Universität Coventry zufolge ist Obst und Gemüse, wie es heutzutage verkauft wird, nur noch halb so nahrhaft wie vor 80 Jahren. Ihre Studie verglich die Nährstoffe in 28 Obst- und Gemüsesorten, die 1940, 1991 und 2019 im Vereinigten Königreich im Handel waren. Dabei stellte sich heraus: Die Gehalte an Eisen, Magnesium, Kupfer, Kalium, Calcium und anderen Nährstoffen sind drastisch gesunken – um bis zu 52 %.
Die alarmierende Studie bestätigt frühere Untersuchungen in den Niederlanden, Finnland, Kanada und den USA. “Sie müssen heute zehnmal so viel Obst und Gemüse essen, um die gleiche Menge an Vitaminen und Mineralstoffen wie vor 50 Jahren zu bekommen“, beklagt der US-Mediziner Al Sears. Früher war Spinat ein Muskelmacher – heute kommt er immer öfter als dekoratives, aromatisiertes Blatt mit Eisenphantasie daher. (1) Vitamine? Ja, irgendwo zwischen Wasser und Zellulose. Karotten sehen aus wie Karotten, schmecken wie Luft – mit einem Hauch von "Ich war mal gesund". Brokkoli? Reines Volumen, eine grüne Täuschung. Wir haben’s geschafft, Essbares zu züchten, das nach Lebensmittel aussieht, aber in Wirklichkeit hauptsächlich daran erinnert.

Quellen: 1985 Pharmakonzern Geigy (Schweiz), 1996/2002 Lebensmittellabor Karlsruhe/Sanatorium Oberthal; jüngste Ergebnisse: von KI berechnete Schätzwerte auf der Basis von Trends.
Latent hungrig
Gerade in reichen Ländern, in denen akute Mangelkrankheiten selten vorkommen, ist ein latentes Defizit an Mikronährstoffen, “Hidden Hunger”, weit verbreitet – oft unerkannt, aber auf lange Sicht mit desaströsen gesundheitlichen Folgen.
Dazu zählt verminderte geistige Leistungsfähigkeit. Ein Mangel an B-Vitaminen - z. B. von B9/Folsäure, B12 -, an Eisen, Magnesium oder Zink fördert Konzentrationsprobleme, Reizbarkeit, Erschöpfung, Gedächtnisstörungen und Depressionen.
Nährstoffmangel macht chronisch müde und schwächt Muskeln. Vitamin C, Eisen, Kalium und Magnesium sind wichtig für Energie, Sauerstofftransport und Muskelfunktion. Ein Zuwenig macht energielos, es schwächt und sorgt für Leistungsabfall.
Nährstoffmangel schwächt Knochen und Zähne. Weniger Calcium, Vitamin K, Vitamin D, Bor und Magnesium erhöht das Risiko für Osteoporose, verzögert die Knochenregeneration, verschlechtert die Zahngesundheit.
Auch das Immunsystem leidet. Vitamin C, Vitamin A, Zink und sekundäre Pflanzenstoffe - Flavonoide, Carotinoide - sind wichtig für die körpereigene Abwehr. Mangelt es an ihnen, so steigt das Risiko für Infektionen und Entzündungen, Heilungsprozesse werden verlangsamt.
Es steigt das Risiko für vielerlei Zivilisationskrankheiten. Ein langfristiger Mangel an Antioxidantien, Mineralien und Ballaststoffen fördert Arteriosklerose, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Insulinresistenz, Diabetes Typ 2, chronische Entzündungen, neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson. Herzinfarkt und Schlaganfall werden wahrscheinlicher.
Bei Kindern drohen Entwicklungsstörungen. Ein Mangel an Folsäure, Eisen, Jod oder Vitamin A kann sich negativ auf Gehirnentwicklung und Wachstum auswirken.
Es kommt zu mehr oxidativen Zellschäden. Weniger Antioxidantien - z. B. Vitamin C, E, Selen, Polyphenole – bedeuten mehr freie Radikale, oxidativer Dauerstress, lädierte Blutgefäße, DNA-Schäden, schnellere Zellalterung. Krebs droht, vor allem im Darm, in der Brust, in der Prostata.
Inhalt: zweitrangig. Wie bei Politikerreden.
Wie konnten sich Nährstoffe aus Obst und Gemüse klammheimlich verabschieden?
Erstens: die Industrialisierung der Landwirtschaft. Sie zielt auf Masse statt Qualität: Aus Feldern und Plantagen gilt es möglichst rasch möglichst viel herauszuholen. Schnell wachsende Sorten werden bevorzugt, was weniger Zeit für die Nährstoffbildung lässt. Häufige Ernten auf demselben Boden laugen ihn aus. Einsatz von Kunstdünger fördert das Wachstum, aber nicht unbedingt die Nährstoffdichte. Auch Pestizide schädigen die Mikrobiologie des Bodens, sie verringern die Aufnahme von Nährstoffen durch die Pflanzen. Warum gesunde Sorten anbauen, wenn man auch zehn Tonnen geschmacksloser Wasserballons pro Hektar ernten kann?
Zweitens: Züchtung auf Ertrag und Optik. Viele moderne Obst- und Gemüsesorten wurden gezielt optimiert für höheren Ertrag, einheitliche Größe und Farbe, längere Haltbarkeit und Transportfähigkeit. Diese Zuchtziele gehen oft zu Lasten von Vitaminen, Mineralstoffen und sekundären Pflanzenstoffen. Supermärkte machen Umsatz nach dem Motto: „Beauty sells.“ Ihr Gemüse gleicht Models – schön, aber leer. Alles glänzt, nichts nützt. Äpfel mit der Textur von Wachs, dem Geschmack von ambitionierter Langeweile und Flugmeilenbonus. Und die Paprika passt jetzt farblich zum Werbeplakat. In der Obstabteilung regiert die Ästhetik.
Drittens: übernutzte Böden – tot, aber effektiv. Ein Burnout – nur in Erde. Durch jahrzehntelange Monokulturen und unzureichende Fruchtwechsel verlieren Anbauflächen essenzielle Mineralstoffe wie Magnesium, Zink oder Eisen. Ohne ausreichende Regeneration durch Kompost oder Gründüngung sinkt der Gehalt an Mikronährstoffen. Auf mineralstofffreiem Sand wird Hoffnung gepflanzt – auf Ausbeute, nicht auf Inhalt.
Viertens: lange Transport- und Lagerzeiten. Früchte werden oft unreif geerntet, während des Transports sollen sie nachreifen. Dabei sinkt der Gehalt bestimmter Nährstoffe wie z. B. Vitamin C, die erst in den letzten Reifestadien entstehen. Lagerung, Licht, Hitze und Sauerstoff bauen empfindliche Vitamine zusätzlich ab. Unser Obst reist mehr als der durchschnittliche EU-Parlamentarier – nur ohne Tagesdiäten. Im Flugzeug nachgereift, im Lager ausgeleuchtet, im Supermarkt dekoriert – da bleibt nicht viel vom ursprünglichen Vitamingehalt. Ist Gemüse bald so lagerfähig wie Stahl – aber kaum nahrhafter als Styropor?
Fünftens: CO₂-Düngung in Gewächshäusern, nach dem Motto „Schneller, höher, süßer!“ Dank atmosphärischem Doping wachsen Früchte im Zeitraffer – allerdings eher mit dem Nährstoffprofil von Zuckerwatte. Höhere Kohlendioxidwerte in modernen Gewächshauskulturen führen zu schnelleren Wachstumsraten – begleitet von einem Verdünnungseffekt: mehr Zucker und Wasser, aber nicht proportional mehr Mineralstoffe.
Moderne Landwirtschaft ist ein echtes Wunderwerk: Böden ohne Leben. Pflanzen ohne Inhalt. Ernten ohne Geschmack. Aber hey – Hauptsache, der Salatkopf überlebt 6.000 km Transport und sieht dabei immer noch aus wie aus dem Prospekt.
Hauptsache billig und makellos
Dagegen unternehmen Politiker … nun ja, so gut wie nichts, aber das konsequent.
Priorität haben Ertrag und Versorgungssicherheit. Staatliche Agrarförderung zielt seit eh und je vor allem auf hohe Produktivität, sichere und bezahlbare Versorgung der Bevölkerung, Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Landwirtschaft auf globalen Märkten. Die Nährstoffdichte ist dabei kein vorrangiges Kriterium, um Lebensmittel zu bewerten.
Hinzu kommt: Nährstoffverluste sind ein „leises“ Problem. Sie beschwören kein akutes Defizit herauf, das sofort sichtbar wäre wie Hunger oder Seuchen. Der Rückgang betrifft Mikronährstoffe -- Vitamine, Mineralien -, deren Mangel sich eher langfristig auf die Gesundheit auswirkt, z. B. durch chronische Krankheiten.
Und vor allem: Wirtschaftliche Interessen überwiegen. Die Agrar- und Lebensmittelindustrie profitiert von hohen Erträgen und langer Haltbarkeit. Maßnahmen wie gezielte Bodensanierung, Sortenvielfalt oder Rückkehr zu langsam wachsenden Sorten wären teurer und aufwändiger. Lobbyverbände aus Landwirtschaft und Industrie üben massiv und ausdauernd Einfluss auf Gesetzgebung und Förderprogramme aus – meist im Sinne von Effizienz und Wachstum, nicht Qualität.
Die Politik könnte handeln – etwa indem sie nährstoffreiche Sorten fördert, strengere Qualitätsstandards festlegt, nachhaltige Böden und biologische Vielfalt besser subventioniert, zu regenerativer Landwirtschaft forschen lässt.
Aber je komplexer ein Problem, desto träger der Staat. Nährstoffdichte zu verbessern, betrifft viele Politikfelder: Landwirtschaft, Gesundheit, Bildung, Umwelt, Forschung. Es gibt keine klare Zuständigkeit – auch deshalb passiert nix. Zudem fehlen verbindliche Standards für den Nährstoffgehalt landwirtschaftlicher Produkte. Der Bauer weiß: Wer langsam wachsende, nährstoffreiche Sorten anbaut, bekommt Lob auf Instagram – und Insolvenzbescheid per Post. Gefördert wird Masse, nicht Mikronährstoff. Hinzu kommt Bürokratie, die Krümmungswinkel von Bananen und Pflanzabstände in Millimetern misst, aber keine Ahnung hat, wie viel Magnesium in einem Salatkopf steckt.
Im Zeitalter der kulinarischen Attrappe
Statt zu klagen, sollten sich Verbraucher an die eigene Nase fassen. Denn ihr Einkaufsverhalten ist mitschuld an der Misere. Ihr Supermarkt liefert nämlich nur, wonach sie vorzugsweise greifen: hübsche, makellose Pseudogesundheit im Sonderangebot. Die meisten Konsumenten achten eher auf Preis, Aussehen und Bequemlichkeit. Wer fragt schon nach Mineralstoffen, wenn die Erdbeeren im Dezember 99 Cent kosten? Vitaminverlust? „Ach, ich nehm eh Multivitamin-Gummibärchen.“ In einem Apfel von 2025 steckt bloß halb so viel Vitamin C wie früher? „Dann ess ich halt zwei.“ Warum Bio kaufen, wenn man auch eine Kapsel mit 27 synthetischen Vitaminen „Made in China“ schlucken kann? Warum auf Burger verzichten, wo doch ein Salatblatt und ein Gurkenscheibchen darin liegen?
Ernährungsbildung? Otto Normalversteher weiß mehr über den Benzinpreis als über den Eisenwert von Brokkoli. Kein Marketing ist zu doof, um ihn nicht zu verzaubern: Aus einer mikroskopischen Menge Antioxidant wird ein „Immun-Boost“, aus Vitaminarmut eine „sanft ausgewogene Fruchtkomposition“. Genussvoll leer. Mogelpackungen.
Solange kaum Nachfrage nach nährstoffreicherem Gemüse besteht, bleibt politischer Druck aus. Ernährungskompetenz fehlt – und ist daher kein politisches Schwerpunktthema. Niemand begehrt auf gegen leere Äpfel. Kein Shitstorm für Karotten mit Vitamin-Demenz. Aber wehe, der Joghurtdeckel hat ein neues Design.
Ohne öffentlichen Protest und eine Verhaltensänderung der Konsumenten wird das Thema weiterhin in der zweiten Reihe bleiben.
Wir leben im Zeitalter der kulinarischen Attrappe: Alles sieht aus wie Ernährung, tut aber nichts für dich – außer dich langsam, aber stilvoll unterversorgen. Hauptsache billig, hübsch und verfügbar rund um die Uhr. Ein passendes Label wäre „Nutritionally Inspired™“ – mit 0 % Nährwert, aber 100 % Marketing. Gesundheit? Die kommt dann später. Mit Rezept. Und Zuzahlung.
Brauchen wir schleunigst den Masseneinsatz von Technologien, um immer nährstoffärmere natürliche Lebensmittel mit künstlichen Zusätzen aufzupeppen – von Weißbrot mit Vitamin B3 und entrahmter Milch mit Vitamin A über Margarine mit Pflanzenstanolen und Omega-3-angereicherten Eiern bis hin zu Reis mit einer Extraportion Beta-Carotin? Oder muss Homo sapiens gar auf Designer Food umstellen? Nichts geht über echtes Essen. Statt „Common Sense durch Konfusion zu ersetzen“, besteht „der erste Schritt zur Reformierung des Appetits darin, von verarbeiteten zu echten Lebensmitteln zurückzukehren“, schreibt der US-Ernährungsexperte Michael Pollan.
Da hilft nur Selbsthilfe
Die Politik winkt durch, die Agrarindustrie düngt fürs Auge, und der Verbraucher greift blindlings zu.
Was hilft? Ein Siegel? Ein Fördertopf? Ein Superfood aus dem Himalaya? Nein. Nur eins: ein wacher Geist beim Einkaufen.
Denn gegen leere Kalorien hilft keine Reform, sondern nur der selbst denkende, eigenverantwortliche, kritisch kauende Konsument. Einer, der fragt: „Was ist drin?“ statt nur „Wie viel kostet’s?“ Und „Woher kommt’s?“ statt „Bis wann haltbar?“
Wenn Obst und Gemüse aus konventionellem Anbau heutzutage nicht mehr ausreichen, um eine gesunde Ernährung zu gewährleisten – wie kommen wir dann an die wichtigen Nährstoffe? Durch Produkte aus biologischer Landwirtschaft. Durch alte Sorten. Durch regelmäßige Besuche von Wochenmärkten. Durch hochwertige Nahrungsergänzungsmittel, mit hoher Bioverfügbarkeit. Durch Wildkräuter - wahre „Vitalstoffbomben“. Durch Anbau im eigenen Garten.
Wer gesund bleiben will, muss sein Grünzeug künftig selber retten – vor dem Nährstofftod durch Gleichgültigkeit, Dummheit und Profitgier. Nein, dein Obst muss nicht unbedingt besser aussehen als du.
Anmerkung
(1) Unfassbar, aber wahr: Tiefgekühltem Spinat, z. B. “Rahmspinat”, können künstliche Aromen zugesetzt sein, ebenso Fertiggerichten wie “Spinat mit Kartoffeln”.
Es will nur niemand wissen!
Noch immer basiert die Ernährungsberatung auf Angaben der Nährstoffe von vor 1985.
Wie viel muss ich jetzt also wovon essen, um halbwegs auf den Gesundheit erhaltenden Nährstoffanteil zu kommen?
Wehe, man sagt: "Nehmen Sie von diesem oder jenem Präparat, damit Sie gut versorgt sind."
Zudem sind die D-A-CH - Referenzwerte so niedrig wie nirgends sonst auf der Welt. Man hat das Gefühl, die GESUNDHEITSministerien wollten die Bevölkerung krank machen!
Die Böden sind ausgelutscht. MSM ist eminent wichtig, damit z.B. Aminosäuren dort hingelangen, wo sie benötigt werden. Im Boden ist aber durch die Gly-Ausbringung nix mehr enthalten.
Glyphosat hat als Co-Stoff Ampa, der das Gly im Boden hält. Eine Mähr, es werde mit dem nächsten Regen…