Wenn du ein Kind erwartest, so ist das, als würdest du eine langersehnte Reise nach Spanien planen. Voll freudiger Erwartung deckst du dich mit Prospekten und Büchern über dieses mediterrane Urlaubsparadies ein. Du lässt dich im Reisebüro beraten, blätterst in Bildbänden, liest im Internet begeisterte Erfahrungsberichte von Urlaubern, die schon dort waren ...
Du freust dich auf Flamenco und Paella, aufs Schwimmen und Sonnenbaden an den Stränden der Costa Brava. Du siehst dich bereits die atemberaubenden Landschaften der Pyrenäen und der Sierra Nevada erkunden. Du malst dir aus, wie du durch die malerischen Altstädte von Toledo, Cordoba und Sevilla bummelst. Du siehst dich schon in der prächtigen Sagrada Familia von Barcelona stehen, im Palacio Real in Madrid, in der Alhambra in Granada, in der Stierkampfarena und dem Alcazar in Valencia. Vielleicht belegst du sogar einen Sprachkurs, um ein paar Brocken Spanisch zu lernen.
Nach Monaten gespannter Vorfreude kommt endlich der lang ersehnte Tag. Du packst die Koffer, fährst zum Airport, checkst ein, das Flugzeug hebt ab.
Ein paar Stunden später landet die Maschine. Über Bordlautsprecher hörst du die freundliche Stimme des Piloten: „Willkommen in Island!“
Du bist wie vom Donner gerührt. Aufgebracht springst du auf und beschwerst dich bei den Flugbegleitern: „Island? Wie bitte? Ich habe doch eine Reise nach Spanien gebucht! Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, nach Spanien zu reisen!“
Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist jetzt in Island gelandet, hier musst du aussteigen und bleiben. Einen Rückflug gibt es nicht.
Wie groß ist diese Katastrophe wirklich? Du bist keineswegs in ein dreckiges, von Krieg, Seuchen und Hungersnot geplagtes Land gebracht worden. Es ist nur anders als Spanien – nicht so spektakulär, nicht so beliebt.
Was du jetzt brauchst, sind neue Bücher und Reiseprospekte. Du musst eine neue Sprache lernen. Und du triffst andere Menschen, welche dir in Spanien nie begegnet wären.
Aber nachdem du eine gewisse Zeit an diesem Ort verbracht und dich vom ersten Schrecken erholt hast, beginnst du dich umzuschauen. Und du erfährst und erlebst, dass Island grandiose, weitgehend unberührte Landschaften zu bieten hat. Du genießt atemberaubende Wasserfälle und Bootsfahrten entlang malerischer Fjorde, bestaunst die Mitternachtssonne im Juni. Im Schneemobil erkundest du Europas größten und eindrucksvollsten Gletscher. Dich inspiriert die Kunst- und Kulturszene von Rejkjavik; bald entdeckst du dein neues Lieblingsrestaurant, in dem du die leckersten Meeresfrüchte schlemmst. Du schließt Freundschaft mit Mitreisenden, die es ebenfalls nach Island verschlagen hat. Und allmählich klingt dein anfängliches Entsetzen ab, deine Verbitterung beginnt nachzulassen.
Unterdessen sind alle, die du noch aus deinem früheren Leben kennst, weiterhin damit beschäftigt, von Spanien zu kommen oder dorthin zu fahren. Du hörst sie schwärmen, und nie wirst du ganz aufhören, sie zu beneiden. Für den Rest deines Lebens sagst du dir: „Oh ja, Spanien! Dorthin hatte auch ich meine Reise geplant! Aber es kam ganz anders!“ Dein Schmerz darüber wird nie mehr ganz vergehen, denn der Verlust eines Lebenstraums wiegt schwer.
Doch wenn du den Rest deines Lebens damit zubringst, dem zerronnenen Traum der Reise nach Spanien nachzutrauern, wirst du nie innerlich frei sein, die besonderen und wundervollen Seiten Islands genießen zu können.
Diese Geschichte ist dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015) entnommen. Sie lehnt sich an „Die Reise nach Holland“ an, einen Text der US-Schriftstellerin Emily Kingsley, die ab 1970 jahrzehntelang für die Fernsehserie „Sesamstraße“ schrieb. 1974 brachte Kingsley ihren Sohn Jason zur Welt – mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom („Mongolismus“). Dieses traumatische Erlebnis hat sie seither in zahlreichen Büchern und Artikeln aufgearbeitet.
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