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  • Dr. Harald Wiesendanger

Die Reise nach Island – Ein Gleichnis vom Leben mit einem behinderten Kind

Wenn du ein Kind erwartest, so ist das, als würdest du eine langersehnte Reise nach Spanien planen. Voll freudiger Erwartung deckst du dich mit Pro­spekten und Büchern über dieses me­di­terrane Urlaubsparadies ein. Du lässt dich im Reisebüro beraten, blätterst in Bildbänden, liest im Inter­net begeisterte Erfahrungs­berichte von Urlaubern, die schon dort wa­ren ...



Du freust dich auf Flamenco und Paella, aufs Schwimmen und Son­nen­baden an den Stränden der Costa Brava. Du siehst dich bereits die atemberaubenden Land­schaf­ten der Pyre­näen und der Sierra Nevada erkunden. Du malst dir aus, wie du durch die male­rischen Altstädte von Toledo, Cordoba und Sevilla bummelst. Du siehst dich schon in der prächtigen Sagrada Familia von Barce­lona stehen, im Palacio Real in Madrid, in der Alham­bra in Granada, in der Stier­kampf­arena und dem Alcazar in Valen­cia. Viel­leicht belegst du sogar einen Sprach­kurs, um ein paar Brocken Spanisch zu lernen.


Nach Monaten gespannter Vorfreude kommt endlich der lang ersehnte Tag. Du packst die Koffer, fährst zum Airport, checkst ein, das Flugzeug hebt ab.


Ein paar Stunden später landet die Maschine. Über Bordlautsprecher hörst du die freundliche Stimme des Piloten: „Willkommen in Island!“


Du bist wie vom Donner gerührt. Auf­gebracht springst du auf und be­schwerst dich bei den Flugbegleitern: „Island? Wie bitte? Ich habe doch eine Reise nach Spanien gebucht! Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, nach Spanien zu reisen!“


Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist jetzt in Island gelandet, hier musst du aussteigen und bleiben. Einen Rückflug gibt es nicht.


Wie groß ist diese Katastrophe wirklich? Du bist keineswegs in ein dreckiges, von Krieg, Seuchen und Hun­gersnot geplagtes Land gebracht wor­den. Es ist nur anders als Spani­en – nicht so spektakulär, nicht so be­liebt.


Was du jetzt brauchst, sind neue Bü­cher und Reiseprospekte. Du musst eine neue Sprache lernen. Und du triffst andere Menschen, welche dir in Spanien nie begegnet wären.


Aber nachdem du eine gewisse Zeit an diesem Ort verbracht und dich vom ersten Schrecken erholt hast, beginnst du dich umzuschauen. Und du erfährst und erlebst, dass Island grandiose, weitgehend unberührte Landschaften zu bieten hat. Du ge­nießt atemberaubende Wasserfälle und Bootsfahrten entlang malerischer Fjorde, bestaunst die Mitter­nachts­­son­ne im Juni. Im Schneemo­bil er­kundest du Europas größten und ein­drucksvollsten Gletscher. Dich in­spiriert die Kunst- und Kul­tur­szene von Rejkjavik; bald ent­deckst du dein neues Lieblingsre­stau­rant, in dem du die leckersten Meeresfrüchte schlemmst. Du schließt Freundschaft mit Mitreisenden, die es ebenfalls nach Island verschlagen hat. Und allmählich klingt dein anfängliches Ent­setzen ab, deine Verbitterung be­ginnt nachzulassen.


Unterdessen sind alle, die du noch aus deinem früheren Leben kennst, weiterhin damit beschäftigt, von Spanien zu kommen oder dorthin zu fahren. Du hörst sie schwärmen, und nie wirst du ganz aufhören, sie zu beneiden. Für den Rest deines Le­bens sagst du dir: „Oh ja, Spanien! Dorthin hatte auch ich meine Reise geplant! Aber es kam ganz anders!“ Dein Schmerz darüber wird nie mehr ganz vergehen, denn der Verlust eines Lebens­traums wiegt schwer.


Doch wenn du den Rest deines Le­bens damit zubringst, dem zerronnenen Traum der Reise nach Spanien nachzutrauern, wirst du nie innerlich frei sein, die besonderen und wundervollen Seiten Islands genießen zu können.


Diese Geschichte ist dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015) entnommen. Sie lehnt sich an „Die Reise nach Holland“ an, einen Text der US-Schriftstellerin Emily Kingsley, die ab 1970 jahrzehntelang für die Fernsehserie „Sesamstraße“ schrieb. 1974 brachte Kingsley ihren Sohn Ja­son zur Welt – mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom („Mon­golismus“). Dieses traumatische Erlebnis hat sie seither in zahlreichen Büchern und Artikeln aufgearbeitet.


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