top of page
  • Dr. Harald Wiesendanger

„Professor Lockdown“ schlug zu

Aktualisiert: 1. Mai 2021

Am 16. März 2020 erschien „Report 9“, das wohl fatalste Papier der Wissenschaftsgeschichte. Es sagte Berge von Corona-Leichen voraus und drängte zu Lockdowns nach rotchinesischem Vorbild. Dabei blamierte sich der Verfasser, Prof. Neil Ferguson vom Imperial College in London, ein weiteres Mal mit folgenschweren Weissagungen, die nicht bloß haarscharf daneben lagen, sondern meilenweit. Wie konnte sich dieser falsche Prophet Gehör verschaffen? Wessen Interessen diente er?

Wäre ein Hofastrologe einst ungeschoren davongekommen, falls er dem König vier Mal hintereinander schreckliches Unheil weissagte – und jedesmal haarsträubend daneben lag? Schon der erste krasse Fehlalarm hätte ihn den Kopf gekostet, zumindest aber eine Verbannung eingetragen.


Im 21. Jahrhundert leben Hellseher risikoloser – vor allem, wenn sie Neil heißen und an einer altehrwürdigen englischen Universität lehren, die sich bei ihren mächtigen Gönnern und Partnern seltsamerweise umso beliebter macht, je eindrucksvoller ihr Personal für die Zukunft schwarz sieht. Dann dürfen sie sogar noch mit einer fünften Prophezeiung hanebüchen daneben liegen. In Amt und Würden bleiben sie weiterhin.


So geschah es im Imperial College von London, einer 1907 gegründeten Hochschule, die laut Wikipedia „zu den forschungsstärksten und renommiertesten Universitäten der Welt“ zählt. 8000 Mitarbeiter beschäftigt es. Der Jahresetat lag schon 2015/16 bei 1,1 Milliarden Euro. „In verschiedenen Bewertungen für akademische Institutionen erreicht die Universität regelmäßig Spitzenpositionen.“ Stattliche 73 % ihrer Publikationen gelten als „weltweit führend“ oder „exzellent“. Zu nichts Geringerem als dem „Goldstandard für Wissenschaft“ haben Journalisten es erklärt.


Report 9: das fatalste wissenschaftliche Schriftstück aller Zeiten


Aus dieser vermeintlich untadeligen Quelle stammt „Report 9“ – das wohl einflussreichste, folgenschwerste wissenschaftliche Papier aller Zeiten. In die Welt gesetzt wurde es am 16. März 2020, keine drei Wochen, nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Chinas Massenquarantäne in der Provinz Hubei voreilig gelobt hatte. Im Report 9 präsentierte ein sogenanntes „Covid Response Team“ um Neil Ferguson, einem Epidemiologen und Professor für mathematische Biologie, ein Computermodell, das die Gefährlichkeit des neuen Coronavirus abschätzen sollte. Um Maßnahmen zu rechtfertigen, wie die Welt sie nie zuvor gesehen hat, sollte es eine ausschlaggebende Rolle spielen. Wofür die Bibel über ein Jahrtausend benötigte, gelang ihm in wenigen Wochen: Es berührte das Denken von Milliarden Menschen, wühlte ihre Psyche auf, stellte letztlich ihren Alltag auf den Kopf.


Allerdings verhieß es eher die Hölle als das Paradies.


In Report 9 malte Ferguson auf 20 Seiten „die größte Gesundheitsbedrohung seit der „Spanischen Grippe“ 1918 aus, die 20 bis 50 Millionen Menschen das Leben gekostet haben soll. Falls die Welt keine äußerst repressiven Gegenmaßnahmen ergreife, seien allein in Großbritannien 550.000 Tote zu erwarten; es drohe eine 30-fache Überbelegung der verfügbaren Krankenhausbetten. Für die Vereinigten Staaten prophezeite Ferguson 2,2 Millionen Covid-19-Opfer, für Kanada 326.000. Für Schweden kam Ferguson in einem zwei Wochen später nachgereichten „Report 13“ auf 85.000. (1) Schwedische Forscher, die Fergusons Modell auf ihr eigenes Land anwandten, errechneten daraus sogar 96.000 Tote.


Um die angeblich drohende Katastrophe abzuwenden, empfahl Ferguson dringendst einen harten Lockdown für die gesamte Bevölkerung. Dieser müsse „mindestens 12 bis 18 Monate“ aufrechterhalten werden, allenfalls mit kurzen zwischenzeitlichen Lockerungen.


Bis wann soll das so weitergehen? „Solange das Virus in der Bevölkerung zirkuliert“, also bis auch der allerletzte positive Testfall ausgemerzt und das Zero-Covid-Ideal erreicht ist. Oder „bis ein Impfstoff zur Verfügung steht“. So steht es wörtlich in Report 9. Und so betonte Ferguson es fortan bei jeder Gelegenheit. (2)


Von milderen Strategien, die Seuche einzudämmen, riet Report 9 nachdrücklich ab. Beschränke man sich darauf, Infizierte zu isolieren und bloß für soziale Distanzierung gegenüber den Hauptrisikogruppen zu sorgen, so würden sich die Opferzahlen bestenfalls halbieren. Großbritannien hätte dann immer noch 275.000 Tote zu beklagen, die USA 1,1 Millionen; es würden acht Mal mehr Klinikbetten benötigt als vorhanden.

Freie Fahrt für „Professor Lockdown“


„Der Report 9 hatte sensationelle Auswirkungen“, so kommentiert der Aalener Ökonom Prof. Christian Kreiß (3), Autor von Enthüllungsbüchern wie Gekaufte Forschung und Gekaufte Wissenschaft. „Kurze Zeit darauf verhängten zahllose Staaten auf der ganzen Erde einen harten Lockdown mit genau den Maßnahmen, die Ferguson und seine Mitstreiter vorgeschlagen hatten. Beispielsweise wurden in 150 Ländern Schulschließungen durchgeführt, die allein bis Ende Mai 1,2 Milliarden Schulkinder (etwa 70 Prozent aller Schulkinder weltweit) betrafen. (…) Neil Ferguson wurde in der britischen Presse daraufhin als ‚Professor Lockdown‘ betitelt. Noch heute basieren fast alle Lockdown-Maßnahmen weltweit sowie die Begründungen dafür im Kern auf der Argumentation dieses Papers.“


Die britische Regierung sah sich daraufhin zu einer Vollbremsung samt radikaler Kehrtwende veranlasst. Während der Rest Europas im Nu dem italienischen Beispiel folgte und eine völlig neue, unerprobte Art von Infektionsschutz umsetzte, hatte Großbritannien ebenso wie Schweden zunächst einen unaufgeregteren, besonneren Weg gewählt. Man vertraute altbewährten, verfassungskonformen Plänen zur Seuchenbekämpfung und setzte darauf, eine „Herdenimmunität“ entstehen zu lassen, wie sie im Laufe jeder Grippewelle allmählich zustande kommt. Noch am 13. März versicherte Premier Boris Johnson bei einer Pressekonferenz, es werde zunächst keine umfassenderen Quarantänemaßnahmen und keine Einschränkungen für Großveranstaltungen geben.


Um Johnsons Standhaftigkeit war es schlagartig geschehen, nachdem Ferguson seine Horrorzahlen dem nationalen Wissenschaftsrat vorgelegt hatte, dem er angehörte: SAGE, ein Kürzel für Scientific Advisory Group for Emergencies. Diesem 20-köpfigen Expertengremium obliegt es, die britische Regierung in Notfällen von nationaler Tragweite zu beraten.


Um offene Ohren musste Ferguson in dieser Runde vermutlich nicht erst mühsam ringen. Denn geleitet wird es von einem Mann, der zuvor zwölf Jahre lang dem Pharmariesen GlaxoSmithKline (GSK) beim Geldverdienen half, zuletzt als Präsident des Bereichs Forschung und Entwicklung: Sir Patrick Vallance. Im März 2018 wechselte Vallance zur Regierungsseite. Hier stieg der zweibeinige Inbegriff eines Interessenkonflikts ohne Umwege zum „Chief Scientific Adviser“auf. (4) In dieser herausragenden Rolle stand er dem „Government Office of Science“ vor, welches den Premierminister und das Kabinett berät. (5) Im Mai 2020 übernahm Vallance, ausgerechnet er, die Leitung einer eigens eingerichteten „Vaccine Taskforce“ der Regierung. (6) Da kannte sich Vallance schon bestens aus: Mit einem Anteil von 24 % im Impfstoffsegment ist GSK die Nummer Eins auf dem Weltmarkt.


Auch ein anderes Schwergewicht in der SAGE-Runde dürfte Fergusons Panikmache wohl eher keinen Widerstand geleistet haben: der Epidemiologe Chris Whitty, dessen Malariaforschung in Afrika die Gates-Foundation mit 31 Millionen Pfund sponserte. Ausgerechnet er war 2019 zum „Chief Medical Officer“ (CMO) von England berufen worden, dem obersten Regierungsberater in Gesundheitsfragen. (7)


Und auch ein gewisser Jonathan Van-Tam saß neben Ferguson in der SAGE-Runde: ein Experte für Atemwegsviren, der von 2000 bis 2004 bei GlaxoSmithKline tätig gewesen war. Der erwähnten „Vaccine Taskforce“ gehörte er ab Mai 2020 ebenfalls an.


Am 23. März 2020 hatte Großbritannien gerade mal 365 mutmaßliche Covid-19-Todesopfer registriert - 0,06 % von landesweit 600.000 Sterbefällen pro Jahr. Trotzdem verkündete Johnson am selben Tag in einer Fernsehansprache allgemeine Ausgangsbeschränkungen. Das Haus dürfe nur noch verlassen werden, um wesentliche Dinge wie Lebensmittel und Medikamente einzukaufen, für den Weg zur Arbeit, oder einmal am Tag allein oder mit Mitgliedern desselben Haushalts für sportliche Aktivitäten. Alle Läden, die nicht der Grundversorgung dienen, mussten mit sofortiger Wirkung schließen. Versammlungen von mehr als zwei Personen wurden verboten. (8)

Mitte April verlängerte Johnson den Lockdown um drei weitere Wochen. (9)


Allerdings scheint es so, als hätten Fergusons Horrorprognosen im Vereinigten Königreich kaum jemanden so kalt gelassen wie Ferguson selbst. Anfang Mai 2020 ließ sich der coronoide Nationalheld peinlicherweise dabei ertappen, wie er wiederholt zuhause seine verheiratete Geliebte empfing. Dabei pfiff er auf das Social Distancing, das er seinen Landsleuten eingebrockt hatte. (10)


In einem Interview im Dezember 2020 erinnerte sich Neil Ferguson daran, wie China seine Abriegelungsempfehlungen an die britische Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) inspiriert hatte: „Ich glaube, das Gefühl der Leute, was in Bezug auf die Kontrolle möglich ist, hat sich zwischen Januar und März ziemlich dramatisch verändert... Es ist ein kommunistischer Einparteienstaat, sagten wir. Wir dachten, wir könnten damit in Europa nicht durchkommen (...) Und dann hat Italien es getan. Und wir erkannten, dass wir es können (...) Wenn China es nicht getan hätte, wäre das Jahr ganz anders verlaufen.“ (11) Korrekterweise hätte Ferguson hinzufügen müssen: „… und wenn ich nicht darauf gedrängt hätte, China nachzuahmen“.

Steilvorlage für Drosten

Zu seinen „Freunden und Kollegen“ zählt Ferguson Deutschlands Chefalarmisten Christian Drosten. Im Nu griff dieser die rabenschwarze Zukunftsschau aus London begeistert auf. Report 9 war gerade erst zwei Tage publik, da widmete ihm Drosten in seiner regelmäßigen NDR-Sendung bereits eine Lobeshymne, kaum dass er das Papier ganz gelesen und verstanden hatte, wie er selber einräumte. Gleichwohl „halte ich diese Studie für eine der besten, die bisher verfügbar ist (…) bei der ganz besonders feinkörnig nachgeschaut wurde, also bei der das mathematische Modell besonders elaboriert ist, und auch kleinste Details mit rein programmiert wurden.“ (12)


Immerhin schränkte Drosten ein, dass auch diesen „kleinsten Details“ natürlich keine Gewissheiten zugrunde liegen, sondern mehr oder minder gewagte Annahmen. Beispielsweise gehe Fergusons Papier rein hypothetisch davon aus, dass zwei von drei „Fällen“, d.h. positiv Getesteten, Symptome entwickeln, also an Covid-19 tatsächlich erkranken; ein Drittel überstehe eine Infektion beschwerdefrei oder spüre bloß schwache, erkältungsähnliche Symptome.


Zu weitaus zurückhaltenderen Schätzungen gelangten Wissenschaftler, die von Erfahrungen mit anderen SARS-Viren und starken Influenzawellen ausgingen. Der Mikrobiologe Prof. Sucharit Bhakdi sagte voraus, dass 90 % aller Infizierten überhaupt nicht oder bloß milde erkranken. Der Immunologe Prof. Stefan Hockertz ging sogar von 95 % aus, weitere Wissenschaftler schätzten die Quote auf 80 %. (13) Demnach blähte Ferguson den Anteil derer, die eine Infektion tatsächlich zu Patienten macht, spekulativ von 10 bis 20 % auf 67 % auf, einen völlig aus der Luft gegriffenen Wert. Und diese horrende Übertreibung ließ die prognostizierten Zahlen von Hospitalisierungen, Einweisungen auf die Intensivstation, von erforderlichen Beatmungsplätzen, von Toten gewaltig in die Höhe schnellen.


Auch dies räumte Drosten durchaus ein: „Aber ob das wirklich ein Drittel sind (die nicht erkranken), wissen wir nicht, das ist hier wirklich eine Schätzung. Daran sieht man schon mal, solche Schätzungen, die sind mutig, und die können komplett falsch sein, und die können am Ende einer Modellrechnung extreme Auswirkungen haben. Das ist immer das Problem bei Modellen, an einigen Stellen muss man Schätzungen eingeben. Da hat man dann also eine wissenschaftliche Studie, die sieht extrem kompliziert aus, aber an den wichtigen Stellschrauben steht dann plötzlich da: Ja, da haben wir einen Experten gefragt und er hat das geschätzt. Das ist so ein bisschen das Problem an solchen Studien.“


„Wissen wir nicht“, „ein Experte hat das geschätzt“, „ist so ein bisschen das Problem“ – und trotz alledem ist Drosten überzeugt davon, dass „wir jetzt diesen Denkprozess unter Experten in der Wissenschaft starten müssen, auch ungewöhnliche Optionen zu denken, wenn wir an diese Modellierungszahlen glauben. Und ich glaube schon an diese Zahlen.“ Auch wenn sie „komplett falsch sein können“, muss man mutig „daran glauben“. So verkommt Wissenschaft zum geradezu religiösen Fürwahrhalten von Schätzungen, von schieren Spekulationen, mit Professor Drosten als Hohepriester, dem seine Gemeinde zu folgen hat, wenn er Fergusons Steilvorlage aufgreift, um noch mehr Panik zu schüren: „Eine der besten Studien, die bisher verfügbar ist“, sei „eben nicht nur auf die USA, sondern auch auf England gerechnet, ein Land, das uns sehr ähnlich ist. Und die Aussichten sind wirklich verzweifelnd. Es ist wirklich schlimm, was man da unterm Strich raus liest aus dieser Studie, und wir müssen uns jetzt hinsetzen und miteinander über Möglichkeiten sprechen.“


Es gehört wenig Phantasie dazu, sich auszumalen, wie viele Nackenhaare sich im Krisenkabinett Merkel steil stellten, als der verdienstkreuzbehängte Chefsouffleur des Berliner Panikorchesters dort solche Töne anschlug.


Und auch die Radikalkur, die Ferguson empfahl, fand Drostens Zustimmung. Mit den „ungewöhnlichen Optionen“ meinte er einen Lockdown. Dieser sei sinnvoll, allerdings schwer durchzuhalten – sowohl fünf Monate am Stück als auch zwei Jahre lang mit Unterbrechungen. Deshalb „müssen wir zusätzlich etwas anderes finden (…) einen Impfstoff.“ So lieferte er die Vorlage für jenes denkwürdige Junktim der Bundeskanzlerin vom 9. April 2020, in dem unüberhörbar eine erpresserische Drohung mitschwang: „Die Pandemie wird nicht verschwinden, bis wir einen Impfstoff haben“ – und alle ihn sich brav spritzen lassen.


Eine Woche nach Drostens Podcast brach auch über Deutschland der erste Lockdown herein. Die Deutschen auf das alternativlos Notwendige einstimmen half ein von der Dynamik ungehinderten „exponentiellen Wachstums“ ergriffener Ferguson- und Drosten-Fan: der telegene Harald Lesch, der erste Universalgelehrte seit da Vinci und Goethe. Gerade ihm traut seine Fernsehgemeinde zu, von allem alles zu wissen, ob Asteroid oder Kernkraftwerk, Fracking oder Viren. (14) Seine reichweitenstarken Fernsehbeiträge zur Coronakrise qualifizieren ihn ohne weiteres für einen hochdotierten PR-Vertrag im medizinisch-industriellen Komplex.


Faktenchecks blieben Ferguson erspart


So begierig Mainstream-Medien den Report 9 aufgegriffen hatten, so seltsam desinteressiert schienen sie an Faktenchecks, um die zappendustere Zukunftsschau aus dem Hause Imperial nach einer Weile auf den Prüfstand zu stellen. Fergusons Prognosen lagen nicht bloß haarscharf daneben, sondern meilenweit. Über sieben Monate, nachdem sie in die Welt hinausposaunt worden waren – Ende Oktober 2020, kurz vor Beginn der nächsten Lockdown-Welle in Europa und weltweit -, lag die offizielle Zahl der sogenannten „Corona-Opfer“ in Großbritannien bei knapp 47.000 (statt der geweissagten 550.000), in den USA bei 236.000 (statt 2,2 Millionen), in Kanada bei 10.300 (statt 326.000). (15)


Ist es den empfohlenen Lockdowns zu verdanken, dass die schlimmsten Befürchtungen nicht eintraten? Das Beispiel Schweden widerlegt diesen gängigen Einwand. Als einziges größeres westliches Land hatte es auf Massenquarantänen nach chinesischem Vorbild verzichtet. Trotzdem waren dort bis Ende Oktober 2020 erst knapp 6.000 „Corona-Tote“ zu beklagen – gerade mal 8 % der Zahl, die Report 9 prognostiziert hatte. 70 % betrafen Pflegeheimbewohner. Bis Anfang März 2021, gegen Ende der „zweiten Welle“, waren es 13.000 amtliche „Covid-19-Opfer“. Im Durchschnitt starben sie mit 84 Jahren. Bei jenem Teil der schwedischen Bevölkerung, der jünger als 65 ist, blieb die Sterblichkeit sogar unter dem Fünfjahresdurchschnitt.


Dass an Fergusons Modell etwas oberfaul sein musste, war zumindest Schwedens Chef-Epidemiologen Anders Tegnell von Anfang an klar. „Wir haben (es) uns angesehen und konnten sehen, dass die Variablen, die in das Modell eingesetzt wurden, ziemlich extrem waren (...) Warum haben sie die Variablen gewählt, die extreme Ergebnisse lieferten? Also waren wir ziemlich skeptisch. Wir haben einige eigene Arbeiten durchgeführt, die in eine ganz andere Richtung zeigten. Am Ende stellte sich heraus, dass unsere Prognose viel näher an der realen Situation lag. Wahrscheinlich, weil wir Daten verwendeten, von denen wir glaubten, dass wir sie verstehen konnten und die aus der tatsächlichen Situation kamen und nicht aus irgendeinem theoretischen Modell." Generell, so warnte Tegnell in einem Interview mit dem britischen Online-Sender Spectator TV, müsse man „mit Modellen sehr vorsichtig sein. Sie werden nicht gemacht, um Prognosen zu erstellen, sie werden gemacht, um verschiedene Arten von Maßnahmen zu testen, um zu sehen, welche Art von Effekt sie haben könnten. Denn kippt man Müll rein, so kommt Müll raus."






In Wahrheit dürften landesweite Abriegelungen bei weitem mehr Menschenleben gekostet haben, als sie retteten. In Großbritannien, wie in allen übrigen Lockdown-Ländern, trat eine deutliche Übersterblichkeit nicht etwa vor Beginn der rigorosen Seuchenschutzmaßnahmen auf, sondern währenddessen. (16)




Dabei liegen die wahren Sterberaten noch weit unter den amtlichen Schreckenszahlen. Wer positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurde, geht automatisch als „Covid-19-Opfer“ in die offizielle Statistik ein, wenn er innerhalb des darauffolgenden Monats stirbt – selbst wenn er in Wahrheit bei einem Unfall umkam, einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel, einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall, einem Krebsleiden, einer schweren Influenza erlag. Wie die US-Seuchenschutzbehörde CDC inzwischen einräumt, lag bei 94 % der US-amerikanischen „Corona-Toten“ mindestens eine andere lebensbedrohliche Grunderkrankung vor. Nach Obduktionen von 735 angeblichen Covid-19-Opfern – im Schnitt 83 Jahre alt - gehen Rechtsmediziner der Universität Hamburg sogar davon aus, dass lediglich bei 1 % eine SARS-CoV-2-Infektion als alleinige Todesursache gelten kann.


Müssen wir Ferguson fairerweise zugute halten, dass „Prognosen schwierig sind, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“, eingedenk des vielzitierten Bonmots von Mark Twain? So ist es. Aber wieso lag Report 9 so krass daneben? Computermodelle des voraussichtlichen Pandemieverlaufs erstellten auch mehrere andere Forschergruppen. Ihre Genauigkeit verglichen Wissenschaftler der Universität von Los Angeles und des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME). (17) Über alle Zeiträume hinweg wiesen das Imperial-Modell bei weitem größere Fehlerquoten auf als die anderen – und zwar penetrant in Richtung von viel zu hohen Schätzungen.


Herbstliche Wellenmache


Spätestens im Sommer 2020 ließen amtliche Statistiken Imperials Nostradamus so splitternackt dastehen, wie es der neu gekleidete Kaiser im berühmten Märchen von Hans Christian Andersen tat. Leider sahen Politiker und Medienvertreter nicht genau genug hin. Zahlen des britischen Office for National Statistics (ONS) belegten schon damals: Die Mortalität lag 2020 im Bereich der starken Grippewelle 1999/2000. Das Center for Evidence-Based Medicine (CEBM) der Universität Oxford schätzte die Infection Fatality Rate (IFR) von Covid-19 auf 0,3 bis 0,49 %. Das heißt: Von tausend Infizierten starben nicht mehr als drei bis fünf. Bei 45- bis 64-Jährigen betrug sie 0,5 %, bei Jüngeren gerade mal 0,03 %, wie ausgerechnet Epidemiologen des Imperial College feststellten.


Doch Ferguson dachte nicht daran, seine Panikmache einzustellen, ebensowenig wie Drosten in Deutschland. Und die Ungenauigkeiten setzten sich fort. Ende Oktober 2020 weissagte er, Großbritannien werde bis Mitte Dezember weit über 2000 Todesfälle pro Tag zu beklagen haben. (18)


In Wahrheit lag diese Zahl bis Ende 2020 zu keinem Zeitpunkt über 556.


Warum waren Fergusons Voraussagen derart miserabel? Fachleute bemängelten sein Modell von Anfang an. Doch bis zu politisch Verantwortlichen drang ihre Kritik offenbar nicht durch, und Leitmedien schwiegen darüber. Bereits am 17. Mai 2020 zitierte die englische Tageszeitung Daily Mail Informatiker, die Professor Lockdowns Modell als ein „Durcheinander“ bewerteten, „für das man in der Privatindustrie gefeuert würde“. Bei Verwendung desselben Modells seien Wissenschaftler der Universität Edinburgh zu völlig anderen Ergebnissen gelangt. Auch Gesundheitsexperten der Universität Oxford hatten es frühzeitig kritisiert.


Anfang Juni 2020 veröffentlichte das Montreal Economic Institute eine Analyse mit dem Titel „Das fehlerhafte COVID-19-Modell, das zum Lockdown von Kanada führte“. Darin weist es auf gravierende wissenschaftliche Mängel hin. So habe kein Peer-Review stattgefunden, eine Bewertung durch andere, unabhängige Wissenschaftler. Mehrere tausend (!) Zeilen des Programms seien „undokumentiert“, wie Ferguson selbst einräumte; (19) somit kann kein Außenstehender sie nachvollziehen. Ein leitender Software-Entwickler von Google stellte im Code, der dem Modell zugrunde lag, „amateurhafte Fehler“ fest. „Alle wissenschaftlichen Papiere, die auf diesem Code beruhen, sollten auf der Stelle zurückgezogen werden“, so schloss er.


Auf zwei Faktoren, deren Ausblendung im Imperial-Modell besonders ins Gewicht fielen, hatten Ärzte und Wissenschaftler, die sich als „Covidoten“ verhöhnen lassen mussten, schon bei Pandemiebeginn vergeblich hingewiesen. Zum einen treten Atemwegsviren saisonal auf; um sich greifen sie in der kalten Jahreszeit. Dass SARS-CoV-2 dabei keine Ausnahme macht, begann sich europaweit, auch in Deutschland, bereits ab Ende Februar/Anfang März abzuzeichnen, ehe staatlicher Lockdown-Terror einsetzte: Infektions- und Erkrankungsraten waren bereits rückläufig. (20)


Ebensowenig berücksichtigte das Imperial-Modell: Menschen pflegen über ein Immunsystem zu verfügen, das mit so gut wie allen Infektionen bestens klarkommt, solange es intakt ist. Fergusons Zahlen setzten voraus, dass sich das Virus völlig ungehindert ausbreitet. Tatsächlich war ein Großteil der Bevölkerung – die Schätzungen reichen bis zu 80 % - aber durch frühere Kontakte mit anderen Coronaviren bereits geschützt, sie hatte eine „Kreuzimmunität“ erworben. Nur so war erklärbar, dass nach einer Infektion bei weitem weniger Menschen als befürchtet schwer erkrankten und verstarben.


Angesichts derart offenkundiger Stümpereien drängen sich Zweifel an Fergusons Qualifikation auf. Der Mann ist kein Mediziner, weder Immunologe noch Epidemiologe. Als Informatiker ist er ebensowenig ausgebildet. In Biologie kann er nicht einmal eine Abitursnote („A-level“) vorweisen, wie er in einem BBC-Interview zugeben musste. (21) Laut Wikipedia „erhielt er seinen Bachelor of Arts-Abschluss in Physik 1990 in Lady Margaret Hall, Oxford, und seinen Doktor der Philosophie in theoretischer Physik 1994 am Linacre College, Oxford."


Andererseits sind formale Qualifikationen natürlich nicht der einzige Indikator für Kompetenz. Auch ohne Titel und Urkunden kann jemand in einem bestimmten Fachgebiet Großes leisten. Immerhin gilt Ferguson seit zwei Jahrzehnten als vielgefragter Experte für mathematische Modelle von komplexen dynamischen Systemen. Zu diesen zählt zweifellos auch ein Pandemiegeschehen, ebenso das Wetter und der Aktienmarkt.


In dieser Rolle hat Ferguson allerdings nicht etwa fortwährend geglänzt. Vielmehr blamierte er sich reihenweise, erstmals im Jahre 2001 anlässlich eines Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien. 6,5 Millionen Rinder, Schafe und Schweine wurden auf Fergusons Modellrechnungen hin „not“geschlachtet. Der ökonomische Schaden belief sich auf 12 bis 18 Milliarden Pfund. Eine Studie der Universität Edinburgh zerpflückte Fergusons Modell hinterher nach allen Regeln epidemiologischer Kunst.


Ein Jahr später, 2002, spukte der „Rinderwahn“ in der medialen Geisterbahn umher. Bis zu 50.000 Menschen könnten aufgrund von BSE-verseuchtem Rindfleisch sterben, so schloß Ferguson aus seinem Computermodell. Diese Zahl steige womöglich auf 150.000, falls das Virus auf Schafe überspringt. In Wahrheit erlagen der Creutzfeld-Jacob-Krankheit im Jahre 2001 ganze 88 Briten, im darauffolgenden Jahre 95, zwischen 2001 bis März 2021 insgesamt 2159.


Als im Jahre 2005 das Vogelgrippe-Virus H7N9 um sich zu greifen begann, rechnete Ferguson mit „bis zu 200 Millionen Toten weltweit“. Erst acht Jahre später, im Februar 2013, sprang der Erreger erstmals von Geflügel auf Menschen über. Bis Mai 2018 zählte die WHO weltweit 615 Todesfälle, bis Ende 2020 kam ein einziger hinzu.


Als Mitglied einer ‘Strategic Advisory Group of Experts’ (SAGE) trug Ferguson im Jahre 2009 entscheidend dazu bei, dass die Weltgesundheitsorganisation wegen der Schweinegrippe (H1N1) falschen Alarm schlug. (22) Er sagte eine Fallsterblichkeit (CFR, case fatality rate) zwischen 0,3 und 1,5 % voraus; am wahrscheinlichsten schienen ihm 0,4 %. Das heißt, vier von tausend Erkrankten sterben daran. Die britische Regierung schloss daraus, dass „ein vernünftiges Worst-Case-Szenario besagt, die Schweinegrippe werde in Großbritannien zu 65.000 Todesfällen führen“. Wie viele Briten starben tatsächlich daran? Bis Mitte März 2010 waren es 457. Am Ende hatte H1N1 für eine der mildesten Grippewellen seit der Jahrtausendwende gesorgt.


Zu Fergusons Verteidigung muss fairerweise angemerkt werden: Am allerschwierigsten sind Prognosen, wenn sie komplexe dynamische Systeme betreffen. Obwohl für Vorhersagen des Wetters oder der Aktienmärkte seit Jahrzehnten ein Multmilliardenaufwand getrieben wird, reichen sie weiterhin kaum über einen Zeithorizont von wenigen Tagen hinaus. Denn hier betreten Wissenschaftler die Welt der Chaostheorie - sie untersuchen Systeme, die auf die geringste Abweichung in Anfangsbedingungen extrem empfindlich reagieren. Selbst vielen Laien ist mittlerweile der Butterfly Effect ein Begriff: Schon eine winzige Veränderung im Luftstrom, ausgelöst durch den Flügelschlag eines Schmetterlings, kann aufgrund der komplexen Wechselwirkung von Milliarden Teilchen letztlich dazu führen, dass ein Tornado auftritt.


Auch ist Ferguson zugute zu halten, dass man bei wissenschaftlichen Schätzungen zwischen "Vorhersage", "Projektion" und "vernünftigem Worst-Case-Szenario" unterscheidet. Das erspart ihm aber nicht zwei lästige Fragen. Wenn sich Mutmaßungen von "vernünftigen Worst-Case-Szenarios" zuverlässig als um mehrere Größenordnungen höher herausstellen als das, was tatsächlich eintritt - welchen Wert haben diese Schätzung dann noch? Und wie verantwortungsvoll ist es, diese Mutmaßungen lauthals in die Welt hinauszuposaunen, ohne eine klare Anleitung zu geben, wie sie zu interpretieren sind?


Ferguson kann nichts für die mangelnde wissenschaftlichen Ausbildung vieler Journalisten und die Sensationsgier, die Medien dazu verführt, beängstigende Zahlen eher zu veröffentlichen als beruhigende. Er trägt keine Schuld an der fachlichen Inkompetenz von Regierenden und Behördenvertretern. Er muss sich nicht dafür entschuldigen, dass Laien ehrfürchtig erschaudern und sich blenden lassen, sobald reichlich Mathematik zum Einsatz kommt, die imposante Kurven und Tabellen auf Monitore zaubert. Aber er muss mit alledem rechnen. Er muss Missverständnissen begegnen, sobald ihm auffällt, dass die Aussagekraft seiner Modelle krass überschätzt wird. Das unterließ Ferguson. Statt das Feuer einzudämmen, das sein Funken entzündet hatte, schürte er es noch.


Wie konnte ein derart falscher Prophet all diese Blamagen unbeschadet überstehen? „Der wahre Skandal besteht doch darin: Warum hörte irgendwer diesem Kerl überhaupt zu?“, so liest man beim Onlineportal Statistical Modeling, Causal Inference, and Social Science der Columbia-University in New York. Wie kann es sein, dass sich Fergusons Universität, in berechtigter Sorge um ihr Ansehen, nicht längst von ihm distanzierte, sich von ihm trennte? Warum hält sie eisern an einem solch hinlänglich diskreditierten Mann fest? Was macht diesen Lehrstuhlinhaber für seinen Arbeitgeber so besonders wertvoll?


Auf der Suche nach einer Erklärung stoßen wir auf eine bezeichnende Reihe von hochpotenten Partnern und Gönnern.


Ein Lehrstück über Drittmittelprostitution


Besonders spendabel gegenüber Imperial zeigte sich seit 2010 die Bill und Melinda Gates-Foundation. Bis heute flossen von dort zusammengerechnet knapp 190 Millionen US-Dollar; allein im Jahr 2020 waren es 79 Millionen. Offenbar finanzierte Gates auch direkt die Arbeit von Neil Ferguson - allein 184 Millionen britische Pfund für Voraussagen der Covid-19-Sterblichkeit.


Stattliche Beträge ließ Gates auch dem „MRC Centre for Global Infectious Disease Modeling“ zukommen, das Ferguson im Imperial College 2008 eingerichtet hatte. Es beliefert die WHO mit „raschen Analysen von drängenden Problemen bei Infektionskrankheiten“ sowie „Modellen“ hierzu. (27)


Zu Imperials großzügigsten Mäzenen zählt darüber hinaus der in London ansässige Wellcome Trust, die weltweit viertreichste Stiftung – und letztlich eine überdimensionierte Pharmamarketing-Agentur in philanthropischem Gewand. Ihr Vermögen lag 2020 bei 34 Milliarden Euro. (28) 1936 von dem Pharma-Magnaten Sir Henry Wellcome ins Leben gerufen, fördert sie medizinische Forschung, erklärtermaßen zu dem noblen Zweck, „die Wissenschaft dabei zu unterstützen, die drängenden gesundheitlichen Herausforderungen zu lösen, vor die sich jedermann gestellt sieht“. Dass diese Lösungen aus Produkten der Arzneimittelindustrie bestehen, versteht sich in Anbetracht der Wellcome-Historie von selbst. Der Gründer war mit dem nach ihm benannten Pharmaunternehmen Burroughs Wellcome steinreich geworden, das 1995 mit dem Konkurrenten Glaxo verschmolz; vier Jahre später war es, dicht hinter Novartis und Merck, nach Umsatz der drittgrößte Medikamentenhersteller der Welt. Pünktlich zur Jahrtausendwende ging es in dem Konzerngiganten GlaxoSmithKline (GSK) auf, einem von vielen Profiteuren der Pandemie.


Auch unmittelbar ist das Imperial College mit der Arzneimittelindustrie seit langem aufs engste verbandelt. Bei der Schweinegrippe 2009 beriet sein Rektor, Sir Roy Malcolm Anderson, sowohl die WHO als auch die britische Regierung. Als Mitglied des WHO-Notfallkomitees war Anderson maßgeblich daran beteiligt, dass verblüffend rasch die höchste Pandemiestufe 6 ausgerufen wurde. Und ausgerechnet in Großbritannien, so ließ Andersons Gefahreneinschätzung befürchten, wütete die Schweinegrippe am allermeisten, weswegen besonders rigorosee Gegenmaßnahmen ergriffen werden mussten. Lautstark warb Anderson öffentlich dafür, große Vorräte an Antigrippemitteln und Impfstoffen anzulegen. Wie Journalisten aufdeckten, stand Anderson gleichzeitig, als „non-executive director“, mit jährlich 136.000 Euro auf der Gehaltsliste von GlaxoSmithKline – für den zweitgrößten Pillendreher der Welt eine prächtige Investition im „Peanuts“-Format, gemessen an der Rendite. Auch dank Andersons PR-Künsten scheffelte GSK Milliarden mit dem Verkauf eines nebenwirkungsreichen Vakzins namens Pandemrix sowie des weitestgehend nutzlosen Virostatikums Tamiflu. (29) Auf die WHO-Empfehlung hin sicherte sich GSK von 16 Ländern Bestellungen über 195 Millionen Dosen für einen Impfstoff gegen das H1N1-Virus – und verhandelte mit 50 weiteren. Allein zwischen Mai und Juli 2009 soll GSK einen Gewinn von 2,1 Milliarden Pfund verbucht haben.


Im Jahre 2015 richtete das Imperial College ein gemeinsames Labor mit GlaxoSmithKline ein. Regelmäßig lässt es hochkarätige Pharmavertreter bei sich auftreten – so etwa 2019 Sheuli Porkess, Deputy Chief Scientific Officer des Verbandes der britischen Pharmaindustrie; oder Mark Toms, Chief Scientific Officer von Novartis Pharmaceuticals UK; oder Toni Wood, Senior Vice President von GSK: 2018 hielt er den Eröffnungsvortrag der jährlichen Konferenz des hauseigenen Institute for Molecular Science and Engineering (IMSE). (30) Zu ihren festen „Partnern“ zählt Imperial, neben GSK, so gut wie alle großen Nummern des Pharmabusiness, darunter einige der bedeutendsten Impfstoffhersteller: von Pfizer über AstraZeneca bis Johnson&Johnson und EliLilly. Anfang 2019 organisierte das Imperial College eine Konferenz mit dem bezeichnenden Titel „Achieving success in drug development through collaboration with the pharmaceutical industry“. Im übrigen beteiligt sich Imperial an klinischen Versuchen zur Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs.


Ein Seuchenalarmist wie Neil Ferguson, mit einer weltweit führenden Universität als unüberhörbares Megaphon für seine Kassandrarufe, spielt all diesen Partnern vortrefflich in die Karten. Je schlimmer eine Pandemie vermeintlich wütet, je schrecklicher die weiteren Aussichten sind, desto vordringlicher scheint es, Impfstoffe zu entwickeln. Desto bereitwilliger subventionieren Regierungen deren Entwicklung, ordern enorme Mengen, lockern das Zulassungsverfahren, entlasten Hersteller von Schadenshaftung. Desto nachdrücklicher machen sie in der Bevölkerung gratis Produktwerbung. Desto eher sind sie bereit, Massenimpfungen notfalls zu erzwingen. Desto länger helfen sie dabei mit, Angst zu schüren. Desto länger betreiben sie restriktiven Infektionsschutz.


Jahrelang stand Ferguson selbst auf den Honorarlisten großer Pharmakonzerne wie GlaxoSmithKline, Baxter und Roche, wie der Dokumentarfilm „trustWHO“ 2018 aufdeckte. Darauf angesprochen, räumte Ferguson gegenüber dem Pharma-Onlinemagazin Scrip solche Zuwendungen ein, fand sie allerdings völlig normal: "Ich denke, es wäre schwierig, einen echten Experten für Grippeimpfstoffe und antivirale Medikamente zu finden, der nicht irgendwann einmal mit Pharmaunternehmen zusammengearbeitet hat. (…) Die Entwicklung solcher Produkte wird von kommerziellen Unternehmen durchgeführt, sie haben die Daten, und sie sind an Forschung interessiert, die sich auf ihre Produkte bezieht. (…) Ich denke, dass die Wissenschaft im Allgemeinen von Verbindungen zwischen akademischer und kommerzieller Forschung profitiert, ebenso wie die Qualität der wissenschaftlichen Beratung, die den öffentlichen Gesundheitsbehörden angeboten wird." Gleichwohl will Ferguson seine lukrativen Dienste für GlaxoSmithKline und Roche schon 2007 eingestellt haben. Wieso eigentlich?


Obwohl spätestens im Sommer 2020 klar war, dass Ferguson mit seinen apokalyptischen Prognosen ebenso danebenlag wie mit seinen totalitären Empfehlungen, ließ ihn das Imperial College weiterhin gewähren, ganz im Sinne von Gates, Wellcome und Big Pharma. Und so genoss er die Narrenfreiheit, weiteres Unheil anzurichten.


Wie Neil den Briten Weihnachten versaute


Kurz vor Weihnachten 2020, am 19. Dezember, kündigte Premierminister Boris Johnson verschärfte Eindämmungsmaßnahmen an. Notwendig mache sie eine Mutationslinie des Coronavirus – VUI-202012/01, auch N501Y oder B.1.1.7 -, die wohl „bis zu 70 % ansteckender“ sei. Führen mehr Infektionen zu mehr Schwerkranken und Toten? Hierüber schwieg der Premier.


Wie kam er bloß zu seiner Gefahreneinschätzung?


Nach Recherchen der BBC beruhte Johnsons „70 %“-Alarm ausschließlich auf Informationen, die tags zuvor in einem Beratungsgremium der britischen Regierung diskutiert worden waren, der New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group, kurz NERVTAG.


NERVTAG wiederum hatte die ominösen „70%“ aus einer einzigen Quelle geschöpft: einer zehnminütigen Präsentation, die ein enger Mitarbeiter Fergusons, Dr. Erik Volz, am 18. Dezember, also am selben Tag, gehalten hatte.


Seinen Kurzvortrag hielt Volz vor der Covid-19 Genomics UK (COG-UK), einem im April 2020 eingerichteten Forschungsverbund. Größtenteils vom Wellcome Trust und der britischen Regierung finanziert, hat COG-UK die Aufgabe, aus Proben von Infizierten das Erbgut des neuen Coronavirus zu sammeln, zu sequenzieren und zu analysieren. Binnen sechs Monaten waren dabei schon über 40.000 Genome zusammengekommen. Dazu zählte auch der neue Stamm. Dessen voraussichtliche Verbreitung schätzte die Ferguson-Gruppe in einem weiteren Computermodell ein. Es ging von einer um 70 % höheren Infektionsrate aus.


Wie die Videoaufzeichnung von Volz´ Präsentation belegt, verteidigte der Ferguson-Mitarbeiter jedoch diesen Schätzwert keineswegs. Im Gegenteil, er warnte wiederholt und nachdrücklich davor, ihn überzubewerten und voreilige Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei ließ Volz Bemerkungen fallen wie „Wir befinden uns im Grunde noch in einem sehr frühen Stadium, wir haben im Grunde erst einen Monat Wachstum beobachtet“, „die Modellanpassung ist nicht besonders gut" und „nicht notwendigerweise geeignet“. Es sei "zu früh, um zu sagen", wie infektiös N501Y überhaupt ist. Die 70 %-Schätzung entspreche "dem aktuellen Stand unseres Wissens", in den wiederum Trends eingehen, die "nicht immer bewahrheiten". Zudem seien die verfügbaren Datensätze von minderer Qualität, „sehr verrauscht und überdispers“.


Aufgrund dessen sprachen sich bei der entscheidenden NERVTAG-Sitzung die meisten Anwesenden gegen jede Art von „sofortigem Handeln wegen der neuen Mutation“ aus. Sie wollten „weitere Beweise abwarten“, wie aus dem von Daily Mail veröffentlichten Protokoll hervorgeht.


Am NERVTAG-Treffen nahm allerdings auch „Professor Lockdown“ höchstpersönlich teil, ebenso wie seine Kollegin Wendy Barclay, eine Virologin, deren Imperial-Labor vom Wellcome Trust mitfinanziert wird. Diese beiden, so äußerte eine hochrangige Whitehall-Quelle gegenüber Daily Mail, bildeten fortan eine „lautstarke Minderheit“: Sie setzten ein mediales „Mobbing“ in Gang, um die britische Regierung zu drastischen Maßnahmen zu drängen.


Unmittelbar nach Johnsons vorweihnachtlicher Lockdown-Bescherung ließ Ferguson keine Kamera aus, um das völlig unbewiesene Gerücht zu streuen, die neue SARS-CoV-2-Variante habe womöglich „eine höhere Neigung, Kinder zu infizieren“. Zwar hätten "wir keine Art von Kausalität dafür festgestellt, aber wir können es in den Daten sehen“. Kollegin Barclay assistierte ihm. Auch sie fütterte Leitmedien mit der Behauptung, die neue Mutante befalle vermehrt Kinder; diese seien „vielleicht genauso anfällig für dieses Virus wie Erwachsene“.


Für Pharmakonzerne, die in alsbaldige Impfkampagnen auch Minderjährige einbeziehen wollen, könnte keine Marketinghilfe wertvoller sein. Dabei legen Daten des Office of National Statistics nahe, dass Kinder eher vom Blitz erschlagen werden, als an Covid-19 zu sterben. Die Covid-Todesrate beträgt bei 5- bis 14-Jährigen 1 zu 3,6 Millionen. (32)


Den Anschein einer wissenschaftlichen Rechtfertigung für den Weihnachts-Lockdown lieferte das NERVTAG-Gremium samt Ferguson für Boris Johnson erst einen Monat nach Weihnachten. Wie der Premierminister am 22. Januar bei einer Pressekonferenz verkündete, legen wissenschaftliche Analysen nahe, dass die neue B.1.1.7-Mutante „30 % mehr infizierte Menschen töten könnte“, womöglich sogar bis zu 91 %. Eine dieser „Analysen“ stammte von selbstverständlich von Ferguson.


Schon vor Johnsons Auftritt geisterte die Schreckensmeldung durch die Medien. Dafür sorgte Ferguson, indem er einen Herausgeber des Senders ITV News „briefte“.


Für eine „zweite Welle“ dieses Mutantenhorrors sorgten Fergusons „Freunde und Kollegen“ von der Universität Exeter Anfang März; in einer Studie mit über 110.000 positiv auf SARS-CoV-2-Getesteten wollen sie „ein um 64 % erhöhtes Sterberisiko“ bei Menschen ermittelt haben, die sich mit der neuen Variante anstecken.


Mit diesen Zahlen schürten Leitmedien prompt neue Panik (33), Lockdown-Fans bekamen den nächsten Aufwind.


Was Ferguson indes unkommentiert ließ, war die Veränderung des absoluten Sterberisikos: Es bleibt relativ niedrig und steigt von 2,5 auf 4,1 Todesfälle unter 1000 Infizierten. Sowohl diese Quoten als auch die Schwankungsbreite sind alles andere als sensationell. Von Grippepandemien, wie sie 1957 und 1968 um den Globus fegten, unterscheiden sie sich nicht radikal. Je nach vorherrschenden Varianten sorgen auch Influenzaviren in manchen Wintern für mehr Tote als in anderen.


Geschichte geschrieben


Als Brandstifter Roms hat sich Kaiser Nero wohl für immer einen Platz in Geschichtsbüchern gesichert. Ohne Übertreibung darf man Neil Fergusons Machwerken einen ähnlichen Stellenwert zutrauen. „Historiker werden sicherlich noch in Jahrhunderten fassungslos sein, welche Rolle ein zutiefst fehlerhaftes Computermodell dabei spielte, eine Kette von Ereignissen auszulösen, welche die westliche Gesellschaft grundlegend und vielleicht katastrophal geschädigt hat“, meint der britische Informatiker Derek Winton. Fergusons Imperial-Team beriet er in Softwarefragen gelegentlich. „Wenn (falls!) sich der Staub der Coronavirus-Pandemie endlich legt, wird es für zukünftige Historiker schwierig sein, zu einem anderen Schluss als dem folgenden zu kommen: Wir haben unsere sorgfältig geplanten und einstudierten Pandemie-Vorsorgepläne aufgegeben zugunsten einer experimentellen Maßnahme auf der Basis einer nicht von Experten überprüften, nicht dokumentierten, obskuren, prädiktiv ungenauen Modellierung, unter Verwendung eines Designs, das eine der wichtigsten beteiligten Variablen auslässt, erstellt von einem Experten, der offensichtlich keine formale Ausbildung in Computermodellierung oder Epidemiologie vorweisen kann, dafür eine Erfolgsbilanz, die aus krassen Überschätzungen von Sterberaten besteht.“


Waren die Modelle des Imperial College also hilfreich? Ohne Zweifel – für seine Sponsoren.


Und so veranschaulicht die Corona-Pandemie auf unübertrefflich imposante Weise, was Drittmittelprostitution im Wissenschaftsbetrieb bedeutet – und was sie aus ihm macht.

Harald Wiesendanger

Anmerkungen

(4) "U.K. Government Appoints Next Chief Scientific Adviser", Scientific American, 9.11.2017, https://www.scientificamerican.com/article/u-k-government-appoints-next-chief-scientific-adviser/

(5) „Appointment of Dr Patrick Vallance as government Chief Scientific Adviser". Cabinet Office. 8.11.2017, https://www.gov.uk/government/news/appointment-of-dr-patrick-vallance-as-government-chief-scientific-adviser; "Patrick Vallance, President, R&D, GSK to become UK Government's Chief Scientific Adviser". GlaxoSmithKline. 8.11.2017, https://www.gsk.com/en-gb/media/press-releases/patrick-vallance-president-rd-gsk-to-become-uk-governments-chief-scientific-adviser/

(6) „Funding and manufacturing boost for UK vaccine programme Government of the United Kingdom“, Presseerklärung vom 17.5.2020, https://www.gov.uk/government/news/funding-and-manufacturing-boost-for-uk-vaccine-programme.

(8) „Einschränkungen: Großbritannien erlässt allgemeine Ausgangsbeschränkungen“, zeit.de. 23.3.2020, https://www.zeit.de/news/2020-03/23/grossbritannien-erlaesst-allgemeine-ausgangsbeschraenkungen.

(9) tagesschau.de: „Corona-Krise: Großbritannien verlängert Maßnahmen“, https://www.tagesschau.de/ausland/grossbritannien-massnahmen-101.html; „Coronavirus: UK lockdown extended for 'at least' three weeks“, bbc.com. 16.4.2020, https://www.bbc.com/news/uk-52313715

(10) "Exclusive: Government scientist Neil Ferguson resigns after breaking lockdown rules to meet his married lover". The Telegraph, 5.5.2020, https://www.telegraph.co.uk/news/2020/05/05/exclusive-government-scientist-neil-ferguson-resigns-breaking/; "Top government adviser quits after breaking lockdown with his mistress". The Times, 6.5.2020, No. 73152. p. 1; "Coronavirus: Prof Neil Ferguson quits government role after 'undermining' lockdown", BBC News. 6.5.2020, https://www.bbc.com/news/uk-politics-52553229; "UK coronavirus adviser resigns after reports his lover visited during lockdown", CNN, 6.5.2020, https://edition.cnn.com/2020/05/05/uk/neil-ferguson-imperial-coronavirus-sage-gbr-intl/index.html

(11) „Professor Neil Ferguson: People don’t agree with lockdown and try to undermine the scientists“, The Times of London, 25.12.2020, https://www.thetimes.co.uk/article/people-don-t-agree-with-lockdown-and-try-to-undermine-the-scientists-gnms7mp98.

(14) Siehe H. Wiesendanger: „Aufklärer vom Panikvirus infiziert - Selbst Harald Lesch streut jetzt Fake News“, https://www.stiftung-auswege.de/images/downloads/auswege-newsl65.pdf, PDF S. 24-27.

(15) Nach „Our World of Data“ (OWID), der hochwertigen Online-Datenbank einer Forschergruppe der Universität Oxford, https://ourworldindata.org/coronavirus/country/

(16) http://inproportion2.talkigy.com/collateral_judgement.html; s.KLARTEXT „Seltsam übersterblich - Wie Großbritannien zu seiner Covid-19-Opferstatistik kam“. https://www.klartext-online.info/post/seltsam-%C3%BCbersterblich

(17) Joseph Friedman u.a.: „Predictive performance of international COVID-19 mortality forecasting models“, 19.11.2020, https://doi.org/10.1101/2020.07.13.20151233.

(18) Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), SPI-M-O: „Long term winter scenarios preparatory working analysis“, 31.10.2020, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/938967/201031_SPI-M_preparatory_analysis_long_term_scenarios.pdf.

(20) Siehe H. Wiesendanger: „Ausgerechnet Zahlen aus dem Robert-Koch-Institut belegen: Dieser Lockdown ist eine sinnlose Zumutung“ und „Wir werden getäuscht. Robert-Koch-Institut verbreitet weiterhin Fake News – und keiner widerspricht“ in Auswege Infos Nr. 66 / Mai 2020, https://www.stiftung-auswege.de/images/downloads/auswege-newsl66.pdf

(23) Andrew Scheuber, Chinese President sees UK-China academic partnerships at Imperial, Imperial College London, Oct. 21, 2015, https://www.imperial.ac.uk/news/168497/chinese-president-sees-uk-china-academic-partnerships/

(24) Zit. nach A. Scheuber, a.a.O.

(25) (25) „Social Sciences and Management Ranking“, www.topuniversities.com. Abgerufen am 13.3.2020.

(26) David Lee: „World Economic Forum Establishes “A.I. Council” Co-chaired by Chinese AI Expert Kai-Fu Lee“, Pandaily, 24.1.2019, https://pandaily.com/world-economic-forum-establishes-artificial-intelligence-council/; Imperial College London, „China and Imperial“, https://web.archive.org/web/20201231155935/https://www.imperial.ac.uk/about/introducing-imperial/global-imperial/east-asia/china/.

(28) Stand 2020; https://en.wikipedia.org/wiki/Wellcome_Trust#cite_note-endowment-4, abgerufen am 10.3.2021.)

(30) Nach Christian Kreiß, „Nachdenkseiten“ vom 28.10.2020, https://www.nachdenkseiten.de/?p=66244

(31) Neil M. Ferguson, Steven Riley u.a.: „Report 11 — Evidence of initial success for China exiting COVID-19 social distancing policy after achieving containment“, Imperial College COVID-19 Response Team, 24.3.2020, https://www.imperial.ac.uk/mrc-global-infectious-disease-analysis/covid-19/report-11-china-exiting-social-distancing/.



Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Durch die Nase!

bottom of page