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  • Dr. Harald Wiesendanger

Fleddas Baby – Eine Zeitreise in eine nachmenschliche Zukunft

Aktualisiert: 9. Sept. 2021

Wie einst die Dino­saurier, so könnte irgendwann Homo sapiens aussterben. Angenommen, in ferner Zukunft herrschen hochentwickelte Fleder­mäuse über die Erde: Ein Neugeborenes, das in unseren Augen ein völlig normales Baby ist, würden sie als hochgradig behindert ansehen. Dies wird uns bei einer Zeitreise klar, die uns ins Jahr 302’000 nach Christus führt. Was lernen wir daraus über den Begriff der Behinderung?


Unsere Zeitreise beginnt, wo sie für eine ganze Spezies endet: beim Aus­sterben der Dino­sau­rier. 170 Millionen Jahre lang beherrschten sie mit über 4000 Gattungen – die gigantischsten bis zu 35 Meter lang und hundert Tonnen schwer - unangefochten unseren Planeten. Hätte das Schick­sal ihnen bis heute Zeit gelassen, sich weiterzuentwickeln, so könnten sie mittlerweile eine Zivilisation und Kultur hervorgebracht haben, die sich von der menschlichen zwar deutlich unterscheiden würde, ihr aber nicht unbedingt unterlegen sein müsste. Säugetiere wie unsereins hätten darin einen schweren Stand. Die Evolution von homo sapiens wäre vermutlich nie über eine ständig be­drohte Nischenexistenz in Höhlen, auf Bäumen und Felsvorsprüngen hinausgekommen; sein Beitrag zur Dinowelt könnte sich jämmerlicherweise darin erschöpfen, von deren Lebensmittelindustrie in Massen­menschhaltung gezüchtet und zu Fleischwaren verarbeitet zu werden.


Doch eine weltweite Katastrophe – ein Meteoriteneinschlag, verbunden mit gesteigertem Vulkanismus - löschte die Dinos vor 65 Millionen Jahren vollständig aus, und erst dadurch wurde der Weg frei für einen evolutionären Neubeginn im Tierreich, geprägt vom allmählichen Siegeszug einer besonderen Art von Säugetieren: den aufrecht gehenden, großhirnigen Primaten. Im Laufe von 200’000 Entwicklungsjahren hat sich der Mensch die Erde wahrlich untertan gemacht. Doch auch seine Herrschaft könnte vergänglich sein. Niemand kann mit Sicherheit ausschließen, dass ihn dereinst ebenfalls ein apokalyptisches Inferno auslöscht: ein dritter Weltkrieg, unter Einsatz all der teuflischen Massen­ver­nichtungswaffen, die sein überdimensioniertes Gehirn ersonnen hat; eine Pandemie, ausgelöst durch ein mörderisches Virus, gegen das er kein Gegenmittel findet; oder der unaufhaltsame Einschlag eines weiteren Riesenbrockens aus dem All, der den Planeten beben lässt, einen Super-Tsunami auslöst und die Erde in eine dichte Wolke aufgewirbelten Staubs hüllt, woraufhin Kälte und Fin­sternis einkehren.


Unsere Zeitreise führt in eine ferne Zu­kunft, in der ein solcher Katastro­phen­fall längst eingetreten ist: Der Mensch ist verschwunden, und die biologische Evoluti­on ließ nach weiteren Hun­dert­tausenden von Jahren eine andere Spezies über unseren Pla­neten herrschen: Nachfahren der Fleder­mäu­se, deutlich größer und weitaus intelligenter als ihre heutigen Art­genossen. Mit unserer Zeit­ma­schine statten wir ihnen im Jahr 302'000 n. Chr. einen Besuch ab – nach ihrer Zeitrechnung 2000 n. Fl., denn sie setzt mit dem Tod von Fle­sus ein, einem legendären Flugpre­diger, der sich als der vom Himmel herabgeschwebte Sohn des göttli­chen „Gro­ßen Fled“ ausgab, wofür er an die Decke einer seither als Wall­fahrtsort verehrten Höh­lendecke genagelt wurde, wo er einen jämmerlichen Märtyrertod ge­storben, am siebten Tag aber himmelwärts hinfortgeflattert sein soll.



Wenn Erbanlagen von einer Genera­tion zur nächsten weitergegeben werden, kommt es zu Mutationen im Erbgut. Auch die Mega-Fledermäuse der fernen Zukunft bleiben davon nicht verschont. Der gefürchtetste aller Gendefekte, der Alptraum aller Fledermäuse mit Kinderwunsch, führt zu einer fatalen körperlich-geistigen Mehrfachbehinderung: Sie bringt Missgeburten hervor, die blind, taub und stumm sind; anatomisch verkümmert; motorisch aufs schwerste eingeschränkt; in ihrer äußeren Erscheinung ganz und gar unfledermausig, daher extrem abstoßend; zeitlebens auf Schutz und Ver­sorgung angewiesen.



Schon ein oberflächlicher anatomischer Vergleich löst beim Fleder­maus­betrachter blan­kes Entsetzen aus:


Ober- und Unterarm sind bei diesen Missgeburten grotesk verkürzt, eben­so die Finger, mit Ausnahme des Daumens, der viel zu lang geraten ist. Der Unterarm besteht überflüssigerweise aus zwei Knochen, bei einer gesunden Fledermaus hingegen nur aus einem, der Speiche. Die Hinter­beine sind nach vorne verdreht, den Zehen fehlen Krallen. Die Knochen sind viel zu schwer – irrwitzige sechs bis neun Kilo, wenn der Krüppel ausgewachsen ist -, während das Skelett einer normalen Fledermaus sehr dünn und zart ausgebildet ist.



Ein solches Monstrum ist motorisch aufs Grässlichste gehandicappt: Es kann nicht fliegen und wird dies niemals lernen können. Denn schrecklicherweise fehlt solch deformierten Fledermäusen jegliche Flughaut, die sich bei gesunden Artgenossen von den Hand- bis zu den Fußgelenken sowie zu den Schultern, zwischen den Fingern und zwischen den Beinen spannt. Damit bleibt ihnen der natürliche Lebensraum, die Luft, tragischerweise für immer verwehrt.


Damit nicht genug: Diese degenerierten Fledermäuse sind so gut wie blind, taub und stumm. Eine gesunde Fle­dermaus kann Töne ausstoßen und wahrnehmen, die überwiegend im Ultraschallbereich liegen, mit Fre­quen­zen zwischen 9 und 200 kHz; das Wahrnehmungsspektrum jener unglückseligen Kreaturen hingegen liegt weit darunter, in einem Fre­quenzbereich zwischen 16 Hz und 18 kHz. Infolgedessen sind sie außerstande, mit gesunden Fledermäusen zu kommunizieren. Schlimmer noch: Sie können sich nicht selbstständig ernähren, weil ihnen das Ortungs­system fehlt, mit dem Fledermäuse im nächtlichen Flug ihre Beute jagen: Aus Eigenschaften des Echos, das auf ihre Rufe hin von Objekten in ihrer Umgebung zurückgeworfen wird, schließen sie hochpräzise auf deren Entfernung, Größe, Form, Be­schaffenheit, Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung. Um bestimmte Schallquellen genauer zu bestimmen, kann eine gesunde Fledermaus ihre wohlgeformt großen, trichterförmigen Ohren drehen und neigen – auch dazu sind die Mutanten außerstande.


Ästhetisch äußerst abstoßend wirkt zudem ihre Nacktheit – abgesehen von einer lächerlichen Behaarung auf dem Kopf -, während normale Fle­dermäuse ein dichtes, oft seidiges Fell aufweisen. Ebenso unschön sind die monströsen Augen, die sonderbare Farben wie Blau, Grün und Braun aufweisen, mit behaarten Lidern – attraktiv wird ein Fleder­mausgesicht durch kleine, schwarze oder rote, wimpernlose Augen.


Derart missgebildete Fledermäuse sind noch nicht einmal imstande, eine bequeme Schlafposition einzunehmen. Dazu müssten sie sich kopfüber an der Decke ihres Quartiers auf­hängen können – sei es in Fels­spalten, Berg- oder Baumhöhlen -, doch dafür fehlen ihnen Zehen­krallen mit besonderen Sehnen, die ein passives Festhalten ohne Muskel­spannung ermöglichen.



All diese Einschränkungen, so vermuten Fledermausgenetiker, rühren daher, dass diese unglückseligen Wesen zwei überzählige Chromoso­men aufweisen: Ihr Erbgut besteht aus 46, während bekanntlich 44 normal sind.


Sollte ein Fledermausweibchen all diese Warnungen in den Wind schlagen und sich törichterweise dazu entschließen, eine solche Missgeburt auszutragen, muss sie auf eine irrwitzig verlängerte Schwangerschaft von neun Monaten gefasst sein – ein gesundes Baby hingegen kommt nach 40 bis 70 Tagen zur Welt.


Nach der Entbindung zeichnen sich die grässlichen Mutanten durch eine bestürzende Unselbständigkeit aus. Ein gesundes Fledermausbaby kann von seiner Mutter nach fünf Mona­ten verlassen werden, von da an kommt es allein zurecht. Ein Mutant hingegen benötigt jahrelang elterlichen Schutz und Versorgung.


Aus dieser Fülle schwerwie­gen­der Gründe wird schwan­geren Fleder­maus­müttern dringend zu einer Abtreibung geraten, sobald mittels pränataler Diagnostik der betreffende Defekt fest­gestellt worden ist. Die Kosten des Aborts werden von allen gesetzlichen Fledermauskranken­kassen anstandslos übernommen.


Für gewaltiges Aufsehen sorgt daher ein Fleder­maus­weibchen namens „Fledda“, das mutig ge­gen den Strom der öffentlichen Meinung schwimmt. Sie hat sich nämlich dazu entschlossen, ein derartiges Baby auszutragen, ist kürzlich von einem solchen entbunden worden und versichert in Presse- und Fernsehinterviews beharrlich, diese Entscheidung nie bereut zu haben: Sie liebe ihr Kind und sei glücklich mit ihm. In einem weltweit ausgestrahlten Exklusivinterview mit „Bat­ty“, der Starmoderatorin beim füh­renden Fernsehsender der Fleder­mauswelt, nimmt sie erstmals öffentlich Stellung dazu:



Batty: Gestatten Sie, dass ich unser Gespräch mit einer provokanten Fra­ge beginne: Neigen Sie zu Masochis­mus?


Fledda: Da könnte ´was dran sein. Warum sonst tue ich mir so einen Fern­sehauftritt an?


Batty (lächelt): Sie wissen, worauf ich hinaus will: Was hat Sie zu einer Mutterschaft bewegt, die beide Hauptbeteiligte unglücklich machen muss: Sie selbst ebenso wie Ihr Kind?


Fledda: Provokante Rückfrage: Stellen Sie immer Fragen, die sie sich schon selber beantwortet haben?


Batty (leicht angesäuert): Ich stelle dieselbe Frage wie Abermilliarden anderer Fledermäuse, die Ihre Story fassungslos mitverfolgen. Wie konnten Sie Ja sagen zu einem derart behin­derten Nachwuchs, obwohl Sie problemlos hätten abtreiben können? Ist es nicht verantwortungslos, ein aufs Bemitleidenswerteste missgebildetes Kind in eine Welt zu setzen, für die ihm elementare Überlebensfähigkeiten fehlen?

Fledda: Ist es nicht viel verantwortungsloser, einem Kind sein Recht auf Leben zu verwehren, weil es derart eingeschränkt ist? Hätte ich abgetrieben, wäre ich vielleicht bis an mein Lebensende nie das Gefühl losgeworden: Ich habe mein eigenes Kind umgebracht, um es selber be­quem zu haben. Andere Weibchen mögen mit solchen Schuldgefühlen unbeschwert weiterleben können – ich nicht.


Batty: Das klingt edelmütig – aber welchen Gefallen haben Sie diesem Kind damit getan? Wie lebenswert ist ein Dasein, das man blind, taub, stumm und motorisch schwerstbehindert fristen muss?


Fledda: Der Reihe nach, beginnend mit der angeblichen Blindheit: Mein Kind nimmt keineswegs nichts wahr – sondern anders. Sein dreidimensionales Bild von der Welt liefern ihm nicht die Ohren, sondern seine Au­gen. Und mit denen sieht es Farben! Rund zehn Millionen Farben kann es unterscheiden! Ihnen, mir und anderen sogenannten „normalen“ Fleder­mäusen hingegen liefert der Sehsinn nur Schwarzweiß­eindrücke.


Batty: Und was hat es davon? Um Beute zu jagen, müsste es deren Echoortung im Ultraschallbereich beherrschen – doch den kann sein verkümmertes Gehör gar nicht wahrnehmen. Selbst wenn es dazu im­stande wäre, würde es ihm nichts nützen, denn um ein Ultraschallecho zu registrieren, muss es vorher durch Ultra­schallrufe erzeugt werden, und solche Frequenzen kann sein degenerierter Stimmapparat überhaupt nicht hervorbringen. Und selbst wenn es das schaffen würde, könnte es damit nichts anfangen – es kann ja nicht fliegen, nicht mal ansatzweise.


Fledda: Na und? Dafür scheint es Töne zu hören, die unsereinem entgehen. Und es produziert Laute, die weder Sie noch ich je hervorbringen können. Ja, in die Lüfte wird es sich niemals schwingen. Dafür bewegt es sich auf dem Boden nach wenigen Jahren viel schneller und geschickter als unsereins.


Batty: Nutzloserweise. Eine Fleder­maus, die nicht fliegen kann, verhungert. Wie sonst soll sie Beute finden und fangen können?


Fledda: Ob wir verhungern, wenn wir fluguntüchtig sind, ist kein biologisches Schicksal, sondern eine sozial­ethische Frage. Unsere verletzten, kranken, alten Fledermäuse füttern und versorgen wir ja schließlich ebenfalls. Warum sollten wir diese Fürsorge nicht auf genetisch belastete Fledermäuse ausdehnen?


Batty: Weil solche Missgeburten sich so sehr von normalen Fledermäusen unterscheiden, dass es schwerfällt, in ihnen überhaupt noch Fledermäuse zu sehen.


Fledda: Sie mögen damit Mühe haben – ich nicht. Ich liebe dieses Kind, nicht weniger als ein „normales“.


Batty: Hätten Sie ihm aus Liebe nicht ein derartiges Dasein ersparen müssen? Wie sollte es glücklich sein, wo es doch nichts von alledem tun kann, was ein Fledermausleben lebens­wert macht: nachts durch die Lüfte schweben, Insekten jagen, mit Anderen umherschwirren, sich neben sie an die Decke hängen, dicht an dicht?


Fledda: Dieses Kind lehrt mich, dass man auf mehr als eine Weise glück­lich sein kann. Als Mutter spüre ich, dass es meine Nähe nicht nur braucht, sondern auch genießt. Neu­gie­rig und hingebungsvoll spielt es mit allem, was es auf dem Boden finden kann. Aufgeschlossen sucht es Kontakt zu anderen Fledermaus­kindern, sobald die neben ihr landen. Es bildet Laute, denen ich anhöre, dass es sich wohlfühlt. Wenn es besonders zufrieden ist, bringt es das offenkundig durch eine eigenartige Mimik zum Aus­druck, bei der es den Mund öffnet und beide Mundwinkel nach oben zieht.


Batty: Ist es nicht schrecklich, dass Ihr Kind mit Artgenossen nie richtig kommunizieren kann, nicht einmal mit der eigenen Mutter?


Fledda: Da hoffe ich auf technische Hilfsmittel. Schon die ungeflügelten Zweibeiner, die vor uns die Erde beherrschten, hatten ein Gerät erfunden, das Ultraschallrufe von Fleder­mäusen für ihre Ohren hörbar machte; sie nannten es „Bat-Detektor“. Nach meinen Informationen arbeiten unsere Wissenschaftler zur Zeit an einer ähnlichen Technik, die gegenseitiges Hören erlaubt. Damit wäre es beiden Seiten grundsätzlich möglich, dem Gehörten Bedeutungen zuzuordnen – und einander verstehen zu lernen.


Batty: Wie darf man sich denn Ihre gemeinsamen Nächte vorstellen? Sie hängen oben, ihr Baby liegt unten?


Fledda: Quatsch. Diese bescheuerte Herum­­baumelei kopfüber ist doch bloß eine mittlerweile sinnleere An­ge­wohnheit aus grauer Vorzeit, als unsere Art noch vor natürlichen Feinden auf der Hut sein musste. Da oben waren wir außer Reichweite der meisten Angreifer, zumindest derer, die nicht fliegen konnten; und den Flugtüchtigen entwischten wir dank unser bevorzugten Schlaf­stellung leichter, weil sie eine optimale Startposition fürs fluchtartige Davonfliegen ist. Aber heutzutage? Wenn ich die Nacht am Boden verbringe und mein Baby sanft mit meinen Flughäuten umschlinge, während es sich an mich schmiegt, muss ich vor nichts und niemandem mehr Angst haben.


Batty: Wie halten Sie es denn mit dem Winterschlaf? Währenddessen senkt eine gesunde Fledermaus ihre Körperwärme bis auf wenige Zehn­tel Grad über die Umgebungstem­pe­ratur. Vorher legt sie spezielle Fett­vorräte an, die sie sich in der warmen Jahreszeit angefressen hat; beim Auf­wachen liefern diese ihr die nötige Energie, um wieder die normale Kör­pertemperatur zu erreichen. Mutan­ten wie Ihr Baby können das nicht. Also erfriert oder verhungert es, während Sie monatelang schlafen?


Fledda: Auf Winterschlaf verzichte ich gerne – wer braucht den heutzutage denn noch? Unser Nahrungsan­gebot reicht ganzjährig reichlich aus, die künstliche Zufuhr von Wärme stellt in unseren Quartieren längst kein Problem mehr dar. Warum lassen wir nicht einfach die unproduktive Dauerpennerei? Damit vergeuden wir bloß wertvolle Le­bens­zeit.


Batty: Ihr Kind wird Sie Ihr ganzes restliches Leben lang brauchen. Was bedeutet es für Sie, als Mutter derart gefordert zu sein?


Fledda: Natürlich habe ich mir mein Leben anders vorgestellt. Natürlich hatte ich andere Pläne. Natürlich gibt es vieles, worauf ich verzichten muss. Natürlich ist mein Tagesablauf eingeschränkt. Aber mit diesem Kind hat das Schicksal mir eine besondere Aufgabe gestellt, und die begreife ich als großartige Herausforderung, an der ich wachse. Mir ist ein Wesen an­vertraut worden, das ganz und gar auf mich angewiesen ist. Ihm beizustehen, hat meinem Leben einen neu­en Sinn gegeben, der mich zutiefst erfüllt.


Batty: Zahlen Sie dafür nicht einen hohen Preis?


Fledda (seufzend): Oh ja, in der Tat. Andere Fledermäuse, ja selbst engste Freunde und Verwandte, meiden mich, grenzen mich aus, gehen auf Abstand. Nur wenige halten zu mir und unterstützen mich. Man könnte sagen: Mein besonderes Kind half mir herauszufinden, auf wen ich mich wirklich verlassen kann, wer meine Zuneigung und Freundschaft wahrhaft verdient. Auch dafür bin ich ihm dankbar.


Batty: Das heißt doch nicht etwa, Sie seien glücklich?


Fledda: Genau das.


Batty: Mediziner trauen degenerierten Fledermauskindern wie Ihrem eine Lebenserwartung von 70, 80, gar 90 Jahren zu. Ein normales Fleder­mausleben endet hingegen nach 20 bis 30 Jahren. Graut Ihnen nicht vor der Vorstellung, Ihr Kind eines Tages, wenn der Tod Sie ihm entreißt, alleinlassen zu müssen?


Fledda: Selbstverständlich bereitet mir das Sorgen. Deshalb bin ich da­bei, gemeinsam mit anderen betroffenen Müttern eine Pflegeeinrichtung zu gründen, der wir unsere Kinder früher oder später guten Gewissens anvertrauen können.


Batty: Was sagt denn der Kindsvater zu alledem?


Fledda (verächtlich grinsend): Sie belieben zu scherzen? Als ob das von geringstem Belang wäre. In puncto Elternschaft geht es in unserer ach so hochentwickelten Zivilisation doch noch immer zu wie bei unseren fernen Ahnen vor 300'000 Jahren: Wir Weibchen hängen uns an die Decke, und während wir schlafen, kommen unaufgefordert irgendwelche notgeilen Typen angeflattert, umklammern uns mit ihren Flügeln und beißen uns in den Nacken. Während wir noch im Halbschlaf und gar nicht recht bei Sinnen sind, begatten sie uns hyperaktiv. Weder werden wir umworben, noch haben wir die geringste Wahl, ja, wir kriegen den Rammler, der uns hinterrücks anfällt, in der Regel noch nicht mal zu Gesicht. Wenn wir Pech haben, müssen wir diese zutiefst unerotische, ob­szöne, erniedrigende Prozedur meh­rere Male während unseres Winterschlafs über uns ergehen lassen. Weil unsere Eizelle nicht gleich nach der Paarung befruchtet wird, sondern erst nach Beendigung des Winterschlafs, haben wir Weibchen nicht den blassesten Schimmer, wes­sen Kind wir austragen. Selbst wenn wir es wüssten – was hätten wir, was hätte das Kind davon? Aus der Per­spektive der Männerwelt sind wir fürs Bumsen okay, aber alles Weitere überlassen sie uns, machen die Flat­ter und lassen sich nie mehr blicken.


(Buhrufe von Teilen des Studiopubli­kums.)


Batty: Was, bitteschön, haben Sie an unserer altehrwürdigen Fortpflan­zungs­tradition auszusetzen?


Fledda: Ich vermisse dabei Acht­sam­keit, Fürsorge und Verantwor­tung männ­licherseits. Man deponiert nicht wahllos sein Sperma in der Erst­besten und gleich anschließend in der Nächstbesten, ohne auch nur ein Mikrogramm Hirnschmalz darauf zu verwenden, was sich daraus ergibt. Und auch wenn es bloß vier bis fünf Monate sind, bis ein Fleder­mäuschen ohne elterliche Obhut klarkommt: Zumindest während dieser Zeit sollte ein richtiger Vater der Frau, die er geschwängert hat, zur Seite stehen, sie beschützen und nach Kräften unterstützen, beim Füttern und Betreuen des gemeinsamen Nach­­­wuch­ses mit­­helfen. Erst recht soll­te er das, wenn dieser Nach­wuchs gehandicappt zur Welt kommt, wie in meinem Fall. Ich fühle mich alleingelassen vom Kinds­vater, gerade jetzt, wo ich ihn dringend bräuchte.


Batty: Nun ja, welcher Vater fühlt sich schon zu einem schwerbehinderten Nach­­wuchs hingezogen, der so gut wie nichts kann?


Fledda (empört): Und für solchen Sprachmüll werden Sie vom Fern­sehen auch noch bezahlt? Wissen Sie überhaupt, wovon Sie reden? Was heißt hier „schwerbehindert“? Zuge­geben, vielerlei körperliche Beson­der­heiten hindern mein Kind daran, ein vollwertiges Mit­glied unserer Fle­der­­mauswelt zu sein. Aber ist es fair, es daran zu messen – anstatt zu re­spek­tieren, was es trotz alledem kann, darunter vieles, was es unseresgleichen womöglich sogar voraus hat? An den Anforde­run­gen unserer Welt mag es scheitern - in seiner Welt kann es trotzdem glücklich werden, wenn wir sie schüt­zen und bewahren. Wie unsere Paläontologen längst herausgefunden haben, existierten Fle­der­mäuse schon zu Zei­ten, als es noch Men­schen auf unserem Plane­ten gab. Wie urteilten sie damals wohl über uns? Wie „behindert“ wäre ihnen ein Baby vorgekommen, in dem wir eine völlig gesunde kleine Fledermaus gesehen hätten – das aber von einer Men­­schen­­frau geboren worden wäre?


Batty (sichtlich angewidert): Welch perverse Phantasie!


Fledda (abrupt aufstehend, die Flug­häute spreizend): … mit der ich Sie nun gerne alleine lasse.


Ein Pfeifkonzert, das zag­haften Applaus übertönt, begleitet Fledda, während sie fluchtartig aus dem Fern­seh­studio flattert. Auch wir Zeitreisen­de haben genug erlebt. Wir beamen uns zurück ins Jahr 300'000 vor Fle­sus – und wenn wir nicht gestor­ben sind, dann leben wir noch heute und sehen Behinderte fortan mit anderen Augen.



Dieser Beitrag ist dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015) entnommen.


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