Verlogene „Vorsorge“
- Dr. Harald Wiesendanger
- 23. Juni
- 10 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 1 Tag
Die moderne Medizin lässt uns glauben, „Vorsorge“ bestehe darin, sich möglichst frühzeitig möglichst vielen teuren Untersuchungen zu unterziehen, die dann Anlass zu weiteren teuren Maßnahmen geben. Nur Wenige durchschauen das üble Spiel mit ihren Unsicherheiten, Sorgen und Ängsten – und begreifen, dass echte Vorsorge vor allem eines bedeutet: gesund zu leben.

Warum auf Ernährung und Bewegung achten, wenn man stattdessen in kurzen Abständen hochmoderne Geräte ausprobieren darf, die garantiert irgendeinen Makel aufspüren? Inzwischen bieten Praxen sogar Flatrates an – Krankheitsängste gibt es jetzt im kostengünstigen Abo-Modell. Wie langweilig wäre ein Dasein, in dem man nicht regelmäßig mit spannenden Befunden und kostspieligen Therapien überrascht wird?
Kranksein zu vermeiden, erfordert lästigerweise anhaltende Selbstdisziplin und unentwegten Verzicht. Wie viel weniger anstrengend ist es, baldiges Kranksein feststellen zu lassen? Krank zu sein, ist unschön – immerhin aber eine Gelegenheit, endlich am eigenen Leib zu erfahren, was für fabelhafte Fortschritte die moderne Medizin mal wieder gemacht hat. Wer hat für Vorsorge, die ihren Namen verdient, schon genug Zeit, wer hat Lust darauf? Da leben wir doch lieber gemütlich ungesund.
Gesunde Menschen, die sich weigern, regelmäßig zur Kontrolle zu gehen, handeln schlichtweg verantwortungslos gegenüber einer tragenden Säule unserer Volkswirtschaft: der Krankheitsindustrie, die bestens vom schlechten Gewissen lebt. Je früher man beginnt, sich krank zu fühlen, desto mehr erfüllt man schließlich den ökonomischen Zweck der Vorsorgeuntersuchung. Echte Prävention erfordert heutzutage, den Leistungsträgern des medizinisch-industriellen Komplexes frühestmöglich behilflich zu sein, ihren Arbeitsplatz zu sichern und Investoren zufriedenzustellen. Grenzt es nicht an Egoismus, dem Gesundheitsmarkt keine Chance zu geben, sich an einem zu bereichern? Schließlich wollen auch Ärzte, Apotheker und Pharmamanager leben, ganz zu schweigen von ihren Angestellten. Ganze Berufszweige, deren Existenz allein auf unserer Faulheit und Ignoranz, unserer Überängstlichkeit und Hypochondrie basiert, würden erbarmungslos vernichtet, wenn wir plötzlich begännen, dem bekanntlich weltfremden Ideal von berüchtigt bewegungsgeilen Vollwertaposteln nachzueifern. Was gibt es Schöneres, als seinen Lieblingsdoktor mit vagen Beschwerden in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aufzumuntern?
Wenn du denkst, du bist gesund, hast du dich vermutlich einfach nur nicht gründlich genug untersuchen lassen. Du meinst, dir fehlt nix? Dann fehlt dir einfach noch eine Diagnose.
Pervertierte Vorsorge ist allzu oft unnütz, sie belastet und verängstigt grundlos
Appelle zur „Gesundheitsvorsorge“ bedrängen Otto Normalversteher unentwegt aus allen medialen Kanälen. Werbepsychologisch geschickt, mittels ärztlicher Autorität bekräftigt, spielen sie mit seinen Urängsten: Wer will schon unheilbar erkranken, Schmerzen und Einschränkungen ertragen, gar vorzeitig sterben – bloß weil er es versäumt hat, sich gründlichst durchchecken zu lassen, um einer gefährlichen Entwicklung rechtzeitig gegenzusteuern, solange sie noch kaum bis gar keine Beschwerden verursacht?
Und so tappt er gutgläubig in eine Falle, die ihm häufiger unnötige körperliche, psychische und finanzielle Belastungen beschert als echten Nutzen – vor allem, wenn er weder einer Risikogruppe angehört noch ein konkreter Verdacht besteht. Ihm droht Überdiagnostik – das „Entdecken“ von Krankheiten, die nie Beschwerden oder Schäden verursacht hätten; ein „falsch-positiver“ Befund, obwohl keine Erkrankung vorliegt, oder ein „falsch-negativer“, der sie übersieht, obwohl sie vorliegt. Das Sterberisiko senkt Vorsorge, wie unser krankes Gesundheitssystem sie propagiert, in Wahrheit kaum messbar, wenn überhaupt.
Beispiele gefällig?
Wer zum Orthopäden geht, weil ihm der Rücken weh tut, wird allzu schnell geröntgt. Meistens wird der Arzt anschließend nämlich dieselben konservativen Maßnahmen empfehlen, zu denen er auch ohne Röntgenbild geraten hätte: Bewegung statt Schonung - körperliche Aktivität wie Spazierengehen, Radfahren, Rückenschwimmen oder Gymnastik, Vermeidung von Bettruhe; dazu Physiotherapie, um die Rumpfmuskulatur zu kräftigen, Dehnübungen, Haltungsschulung, Vermeiden unnötiger Belastungen für Rücken, Gelenke und Muskulatur. Sofern keine sonstigen Alarmsignale wie Lähmungserscheinungen oder Taubheitsempfindungen auftreten, wären bildgebende Verfahren eigentlich frühestens nach sechs Wochen angezeigt. Die meisten Kreuzschmerzen sind bis dahin längst vergangen. In bis zu 90 % aller Fälle gelten sie ohnehin als „unspezifisch“: Eine klare organische Ursache fehlt, wie etwa ein Bandscheibenvorfall oder Bruch. Dann sind psychische Faktoren wie Stress, Depression, Angst, Überforderung häufig mitverantwortlich.
Ein erhöhter Wert des Prostataspezifischen Antigens (PSA) gilt weithin als verlässlicher Biomarker für Prostatakrebs. Er steigt aber auch aufgrund harmloser Entzündungen oder bei vergrößerter Vorsteherdrüse, wie sie jeder dritte Mann über 50, mindestens jeder zweite über 60 und drei Viertel aller über 70 aufweisen. Der PSA-Test bei älteren Männern kann auf langsam wachsende Tumore hindeuten, die nie Probleme verursacht hätten. Falsch-positive Ergebnisse führen zu unnötigen Biopsien, Inkontinenz und Impotenz. Nahezu jeder Senior jenseits der 80 trägt einen gutartigen Prostatakrebs spazieren, stirbt aber an etwas anderem.
Wie oft wäre eine Tonometrie wirklich angebracht: eine Messung des Drucks im Inneren des Auges? Ist er zu hoch, kann der Sehnerv Schaden nehmen. Dann drohen ein Glaukom – Grüner Star – und Erblindung. Die Wahrscheinlichkeit hierfür steigt im höheren Alter. Manche Augenärzte messen allerdings auch gern bei fehlsichtigen jüngeren Erwachsenen, bei denen so gut wie nie ein Risiko für einen gefährlich überhöhten Wert besteht.
Ohne besonderen Anlass schließt der Routinecheck in vielen Allgemeinpraxen ein Belastungs- oder Langzeit-EKG ein, auch wenn es zuvor Jahr für Jahr unauffällig gewesen war. Kardiologen führen allzu gerne, ohne Not, eine aufwändige Katheter-Untersuchung durch – nicht erst bei Symptomen, die auf einen drohenden Infarkt hindeuten, sondern prophylaktisch, um die Herzkranzgefäße zu inspizieren.
Wie steht es mit dem Mammografie-Screening bei Frauen? Moderne Magnetresonanz-Verfahren (MRT) sind so empfindlich, dass sie bei der Untersuchung der Brust häufiger fündig werden als nötig. Oft kommen dabei Vorstufen von Krebs zum Vorschein, von denen unklar ist, ob sie jemals bösartig werden. Trotzdem sorgen sie stets für Stress und bange Ungewissheit, oft schüren sie regelrecht Todesängste – woraufhin Wiederholungsaufnahmen, überflüssige Biopsien und verstümmelnde Operationen stattfinden, bis hin zur Amputation, vorsorglich, man weiß ja nie. Dabei zeigt ein MRT sämtliche Abnormalitäten der Brust an - auch solche, welche für die Patientin überhaupt keine Gefahr darstellen würden. Vor allem bei jüngeren Frauen ist das Drüsen- und Bindegewebe der Brust dichter. In der Mammografie erscheint es ähnlich wie Tumore – beide sind weiß. Zudem können technische Faktoren den Befund verfälschen: schlechte Bildqualität, falsche Positionierung oder Bewegungsartefakte. Manche Kalkeinlagerungen – „Calcifikationen“ - können zwar auf Krebs hindeuten – aber nicht jeder Mikrokalk ist bösartig. Jede vierte Frau erhält bei Brust-MRTs falsch-positive Ergebnisse. Andererseits wachsen manche Tumore derart schnell, dass sie bei Screenings im Zweijahresabstand nicht rechtzeitig erkannt werden können. Bei häufigeren Mammografien, insbesondere mit CT, wächst andererseits die Strahlenbelastung – und damit eben jenes Krebsrisiko, das sie angeblich senken.
Ein Ganzkörper-MRT oder -CT bei Gesunden, im Rahmen eines „Check-up“, ergibt häufig Zufallsbefunde – sogenannte „Inzidentalome“ -, die scheinbar weitere Abklärungen erfordern und zu unnötigen Maßnahmen verführen. Gutartige Veränderungen - Zysten, Fibroadenome, Narbengewebe - können wie Karzinome aussehen.
Apropos Computertomografie: Die Strahlenbelastung durch CT-Aufnahmen könnte für rund 5 % aller neuen Krebserkrankungen verantwortlich sein, wie eine brandneue Studie vorrechnet.
Ultraschall-Untersuchungen der Halsschlagadern, zur „Schlaganfallvorsorge“, spüren häufig harmlose Verengungen auf, die keiner Behandlung bedürfen. Sie verunsichern, schüren Panik, verleiten zu überflüssigen Eingriffen.
Und wo bleibt der Beweis, dass Knochendichte-Messungen osteoporotische Frakturen verhindern (1) – und Darmspiegelungen zu weniger Darmkrebsopfern führen? (2) Welche Daten belegen, dass bei gesunden, symptomfreien Patientinnen Eierstock-Screening – eine vaginale Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke, mit oder ohne zusätzlichen CA-125-Bluttest – die Zahl der Todesfälle durch Eierstockkrebs senkt? (3)
Wozu häufige Blutuntersuchungen ohne konkreten Anlass? Viele Parameter sind unspezifisch, schwanken individuell stark, laden zu Fehlinterpretationen und unnötigen Folgeuntersuchungen ein.
In Blutplasmaproben lassen sich neuerdings genetische Signale ausfindig machen, die eine Früherkennung von Krebs ermöglichen sollen – 3 bis 4 Jahre bevor er diagnostiziert wird. (4) Was, um Himmels willen, soll denn jemand damit anfangen, falls er positiv getestet wird? Dass Krebs kein unabwendbares Schicksal ist; dass man sein Risiko durch eine gesunde Lebensweise drastisch senken kann, weswegen der Krebs weder in drei oder vier noch in dreißig oder vierzig Jahren mit unerbittlicher Notwendigkeit ausbrechen muss: Benötigt ein Arzt wirklich erst eine hyperweitsichtige Blutanalyse, um seinem Patienten all dies nachdrücklich klarzumachen? Wie steht es mit dem allgemeinen Gesundheitstest beim Arzt, dem „Check-up 35“ – so benannt, weil jeder gesetzlich Versicherte ab seinem 35. Geburtstag alle drei Jahre Anspruch darauf hat? Studien mit über 150 000 Teilnehmern belegen indes: Solche Check-ups senken die Sterblichkeit mitnichten. Allerdings produzieren sie mehr »Kranke«. Schließlich fahnden Ärzte dabei nach überschrittenen Grenzwerten, etwa beim Blutzucker, dem Blutdruck und dem Cholesterin. Eben diese Grenzwerte haben industrienahe medizinische Fachgesellschaften in den vergangenen Jahren immer weiter gesenkt. (5)
Sparen gefährdet Wachstum
Doch nur zu wenigen Patienten dringen Warnungen durch – ärztliches Anraten hat weitaus größeres Gewicht, erst recht die Aussicht, psychischen Ballast loszuwerden. „Die oft sehr teuren Kampagnen treffen auf eine Bevölkerung, die große Angst vor Krebserkrankungen hat”, erläutert Ingrid Mühlhauser, Fachärztin für Innere Medizin. Die Autorin des Buchs Unsinn Vorsorge-Medizin (2017) forscht seit mehr als 20 Jahren über Sinn und Unsinn von medizinischen Maßnahmen. Aus besagtem Horror “entsteht das Bedürfnis, etwas dagegen zu tun, vorzubeugen, dem Krebstod zu entkommen. Deshalb ist man dankbar, wenn man solche Heilsversprechungen wie die Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen kann. Man bekommt die Hoffnung, dem Krebstod zu entrinnen. Es ist eine Art medizinisches Voodoo-Ritual, um Ängste vor dem Tod zu bannen. Aber es sind falsche Hoffnungen, die da geschürt werden. Die Ärzte verhalten sich wie die Bank- oder Sparkassenberater, die uns auch überzogene Renditen versprochen haben, ohne die Risiken klar zu benennen.”
Sich auf dieses Ritual einzulassen, ist besonders verlockend, wenn man dafür nicht aus eigener Tasche aufzukommen hat, wie bei Mammografien und Darmspiegelungen. Zwar muss man häufiger in die eigene Brieftasche greifen – denn Vorsorge im Sinne der Medizinindustrie ist meistens „iGeL“, eine individuelle Gesundheitsleistung, für welche die Kasse nicht aufkommt. Aber was soll´s, sobald es vemeintlich um Leib und Leben geht?
Stattdessen wahrhaft Gesundheitsvorsorge zu betreiben, konnte gigantische Kosten vermeiden. Eine Studie der HSH Nordbank belegt: Echte Prävention – also jene altmodische, uncoole Sache namens gesunder Lebensstil – würde jährlich bis zu zehn Milliarden Euro einsparen. (6) Zehn Milliarden, das ist immerhin der Gegenwert von ein paar neuen Kliniken, einer Riesenhalle voller MRT-Geräte oder einem halben Dutzend Ärztekongressen in tropischen Gefilden.
Wie das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) vorrechnet, bringt jeder Euro für Prävention eine soziale Rendite von 15 Euro.
Der London School of Economics zufolge könnte vernünftiges Risikomanagement innerhalb eines Jahrzehnts 1,2 Millionen Todesfälle durch Herzinfarkt und Schlaganfall in Europa verhindern. Ein Albtraum, zumindest für Aktienbesitzer von Pharmakonzernen und Rehakliniken.
Laut Deutschem Krebsforschungszentrum wären rund 60 Prozent der Krebstoten durch Prävention vermeidbar – offenbar eine beunruhigende Aussicht für eine Branche, deren Wachstum auf Tumorwachstum basiert. Für sie muss Onkologie eine Reparatur- und Pillenmedizin bleiben. Allein in diesem Bereich, ihrem unsatzstärksten, verdient die Pharmaindustrie jährlich weit über 200 Milliarden Dollar (7) – bis 2028 sollen es knapp 385 Milliarden werden, bis 2030 rund 485 Milliarden, bis 2032 knapp 520 Milliarden.
Starkes Übergewicht ist längst ein globales Public-Health-Problem. In Deutschland gilt jede achte Frau und jeder zehnte Mann als adipös – ein Risikofaktor für Diabetes, Bluthochdruck, für Krebs-, Muskel- oder Gelenkerkrankungen. Auf fast 1.000 Milliarden Dollar (!) schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die globalen Kosten. (8) Wie viel ließe eine ausgewogene Ernährung und mehr Bewegung davon übrig?
Beispiel Typ-2-Diabetes: Etwa 8,5 Millionen Betroffene in Deutschland verursachen Jahr für Jahr direkte Kosten – durch Diagnostik, Therapie, Krankenhausaufenthalte - von rund 39 Milliarden Euro. Intensive Lebensstilinterventionen können die Inzidenz von Typ-2-Diabetes um bis zu 60 % senken. Beispiel Osteoporose: Rund 5,7 Millionen betroffene Deutsche sorgen für jährliche Therapiekosten von rund elf Milliarden Euro. Durch gezielte Prävention ließen sich viele osteoporotische Frakturen und damit verbundene Kosten vermeiden. (9)
Beispiel nicht-alkoholische Fettleber (NAFLD): Jeder vierte Deutsche leidet daran, zumeist unbemerkt. Er riskiert Leberzirrhose und Leberkrebs, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, was zu enormen Folgekosten führt. (10) Ist die Fettleber fortgeschritten, kostet ihre Behandlung im Durchschnitt über 13.000 Euro pro Jahr und Patient; eine Lebertransplantation schlägt mit rund 120.000 Euro zu Buche, die Nachsorge mit jährlich 20.000 Euro. Gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung könnten so gut wie alle Fälle verhindern – und sicherstellen, dass die Leber gar nicht erst verfettet.
Beispiel Rheumatoide Arthritis (RA): Rund 700.000 Erwachsene in Deutschland sind daran erkrankt. Jährlich 28 Milliarden Euro kostet ihre Behandlung. Auch RA wäre vermeidbar: Wer nicht raucht, kaum Alkohol konsumiert, sich entzündungshemmend ernährt, seine Vitamin-D-Versorgung verbessert, Übergewicht vermeidet, regelmäßig körperlich aktiv ist, ausreichend schläft und chronischen Stress vermeidet, der bleibt von RA ziemlich zuverlässig verschont.
Echte Vorsorge könnte weltweit bis zu 8.000 Milliarden Euro einsparen – pro Jahr
Das Einsparpotenzial durch echte Vorsorge – einen gesunden Lebensstil – ist gigantisch. Weil sich dadurch vermeidbare chronische Erkrankungen wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Leiden, bestimmte Krebsarten drastisch reduzieren ließen, müssten laut WHO, OECD und Studien aus The Lancet und Harvard Magazine weltweit pro Jahr 7 bis 8 Billionen Euro weniger ausgegeben werden – allein in Deutschland 80 bis 120 Milliarden Euro, fast ein Drittel der Gesamtkosten für Gesundheitsleistungen. Der Preis ungesunder Lebensweisen – durch Krankheitstage, Produktivitätsverlust, Frühverrentung - macht laut WHO etwa 5 bis 7 % der Weltwirtschaftsleistung aus. (11)
Doch diejenigen, die im Gesundheitswesen die Fäden ziehen, stellen sich seit eh und je taub dafür. Somit bleibt es ein absurdes Theater, in dem Vorsorge bedeutet, Gesundheit verlorengehen zu lassen, um sie anschließend aufzuspüren. Erst „wenn das Kind in den Brunnen gefallen und Patienten ernsthaft krank geworden sind, laufen wir zu Höchstleistungen auf”, räumt Professor Dr. Christof von Kalle vom Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité ein. Und warum ist das so?`Weil Gesundheit, dieser extravagante, gänzlich unspektakuläre Zustand ohne Symptome, ökonomisch völlig untragbar ist – übrigens auch für die Charité. Ja, vorbeugen mag vernünftig sein – aber Vernunft zahlt keine Gehälter. Eine Epidemie an guter Gesundheit würde unseren filigran errichteten „Krankheitsökonomiekreislauf“ empfindlichst stören. Sie entzöge ihm seine wichtigste Ressource: chronisch Kranke.
Nein, echte Patrioten essen Fastfood, qualmen und saufen kräftig weiter, bewegen sich höchstens zum Kühlschrank. Alles andere wäre Verrat an der Volkswirtschaft. „Gesund“, so ätzte einst der unübertroffene Wiener Satiriker Karl Kraus, „ist man erst, wenn man wieder alles tun kann, was einem schadet.“
Der Weise beugt vor
Die weiseste aller ärztlichen Gebührenordnungen entstand vor mindestens zweieinhalb Jahrtausenden. Gemäß dem ältesten Medizinlehrbuch der Welt, dem „Huangdi neijing“, erhielt in China ein Arzt seine volle Vergütung nur, solange alle Mitglieder der Sippe, die er zugewiesen bekam, gesund blieben. Erkrankte jemand, so wurde sein Honorar gekürzt, wenn nicht gestrichen.
Gäbe es diesen Typ Arzt heute noch: Wie liefe wohl seine Sprechstunde ab? Bestimmt säße da kein Fließbandarbeiter, der im Fünf-Minuten-Takt Arzneimittelgutscheine ausstellt. Er nähme sich reichlich Zeit, um aufzuklären: Welche vielfältigen Faktoren gefährden Gesundheit? Wie kann man Risiken ausweichen, zumindest aber möglichst gering halten?
Die eigene genetische Ausstattung kann sich niemand aussuchen – bei unserer Zeugung haben eine Eizelle und Hunderte Millionen Spermien Lotto gespielt. Allen übrigen Faktoren jedoch, von denen unsere Gesundheit abhängt, sind wir nicht hilflos ausgeliefert – wir können mitbeeinflussen, welche Rolle sie für uns spielen. Und wir sollten es, statt Verantwortung abzuwälzen.
Gute Medizin findet nicht erst statt, nachdem Gesundheit verloren ging. Sie ist darauf aus, diesen Verlust zu verhindern. Vorsorgen erspart Sorgen. Neben dem Behandeln liegt meiner Stiftung AUSWEGE deshalb das Vorbeugen am Herzen.
Um deine Krankheit kümmert sich die Medizin – davon lebt sie.
Um deine Gesundheit musst du dich selber kümmern – davon lebst du.
Es gibt nur zwei Tage, an denen du nichts dafür tun kannst. Der eine ist Gestern, der andere Morgen.
Anmerkungen
(1) Siehe KLARTEXT: „Der Osteoporose-Schwindel“.
(2) Siehe KLARTEXT „Eher Oh je als Juhu“
(3) Mehrere Studien sprechen eher für das Gegenteil: Usha Menon, Mahesh Parmar et al., Ovarian cancer population screening and mortality after long-term follow-up in the UK Collaborative Trial of Ovarian Cancer Screening (UKCTOCS): a randomised controlled trial. The Lancet, 2021; DOI: 10.1016/S0140-6736(21)00731-5; Buys SS u.a.: Effect of screening on ovarian cancer mortality: the Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian (PLCO) Cancer Screening Randomized Controlled Trial. JAMA 2011; 305(22): 2295-2303; University College London, Screening for ovarian cancer did not reduce early deaths, ScienceDaily, 13. Mai 2021; Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Ist eine Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Eierstockkrebs sinnvoll?, s. https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_10016.html
(4) aacrjournals.org: "Detection of cancers three years prior to diagnosis using plasma cell-free DNA": https://aacrjournals.org/cancerdiscovery/article-abstract/doi/10.1158/2159-8290.CD-25-0375/762609/Detection-of-cancers-three-years-prior-to?redirectedFrom=fulltext; sciencedaily.com: "Johns Hopkins blood test detects tumor dna three years early" , https://www.sciencedaily.com/releases/2025/06/250613013845.htm#google_vignette (5) Näheres in Frank Wittig: Krank durch Früherkennung: Warum Vorsorgeuntersuchungen unserer Gesundheit oft mehr schaden als nutzen (2015) – in ihrer örtlichen Buchhandlung, die Ihre Bestellung nötiger hat als Amazon.
(6) https://arxiv.org/abs/2409.02888; https://bhvverband.infomaxnet.de/effektive-praevention-spart-10-milliarden-euro-im-gesundheitswesen
(7) https://www.iqvia.com/insights/the-iqvia-institute/reports-and-publications/reports/global-oncology-trends-2024; https://www.evaluate.com/thought-leadership/world-preview-2024-report/
(8) Siehe KLARTEXT „Fetter Reibach“.
(9) Siehe KLARTEXT: „Der Osteoporose-Schwindel“.
(10) https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Bei-NASH-drohen-hohe-Kosten-308688.html; https://www.ugb.de/ernaehrungsplan-praevention/nicht-alkoholische-fettlebererkrankung/; https://www.kautzhoch5.de/files/kautz5/news_materialien/NASH_Positionspapier_Feb_2021.pdf
(11) Näheres hier: https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/326302/9789289050425-eng.pdf?sequence=1, https://www.harvardmagazine.com/2014/02/the-price-of-healthy-eating, https://www.paho.org/en/topics/economics-ncds, https://www.americanactionforum.org/research/the-economic-costs-of-poor-nutrition/, https://www.oecd.org/en/publications/integrating-care-to-prevent-and-manage-chronic-diseases_9acc1b1d-en.html, https://www.ft.com/content/f0d67cff-8507-498a-91cc-30fbfa65c1c3, https://www.thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196%2821%2900251-5/fulltext, https://www.thelancet.com/article/S0140-6736%2819%2930041-8/fulltext.
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