Zu sich selbst finden: wie und wo? Wie fördert meine Stiftung Auswege Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung? Wie unterstützt sie Patienten bei ihrer Suche nach ihrer Identität? Ist die akademische Philosophie dabei eine Hilfe?

Selbsterkenntnis, Selbstfindung, Selbstverwirklichung zählen zu unseren wichtigsten Entwicklungsaufgaben, wie spirituelle Therapeuten, humanistische Psychologen und esoterische Weisheitslehrer uns einhellig versichern und Philosophen immer schon betont haben: Die Aufforderung Gnothi seauton („Erkenne dich selbst!“) schmückte bereits den Eingang des fast 2400 Jahre alten Apollontempels zu Delphi.
Dazu muss kaum noch Überzeugungsarbeit geleistet werden: „Immer man selbst sein“ rechnen mittlerweile 61 Prozent aller Deutschen zu den „wichtigsten und erstrebenswertesten Dingen im Leben“, noch vor „einem schönen Zuhause“, einer „guten, vielseitigen Bildung“, „Kinder haben“, „das Leben genießen“ oder „Erfolg im Beruf“. Nur „eine glückliche Partnerschaft“ und „finanzielle Unabhängigkeit“ genießen einen noch höheren Stellenwert. (1) Auch in den „Auswege“-Camps wird Teilnehmern eindringlich ans Herz gelegt: „Werde, der du bist!“ – nur so sei wahre Heilung möglich.
Dazu sollten sie allerdings wissen, was es heißt, dieses einmalige „Selbst“ zu sein. Was macht ein „Ich“ aus? Worin besteht persönliche Identität? Wie findet man sie? Wo sucht man danach?
Selbstfindung durch Introspektion?
Mit unserem „inneren Auge“ erkunden wir ... was?
Mit Macht drängt sich die Metapher der Introspektion auf: Es hat den Anschein, als müssten wir „den Blick nach innen wenden“. Schließen wir dazu nicht am besten die Augen und versuchen, alle ablenkenden Eindrücke auszublenden, die unsere Sinne uns unentwegt liefern? Geübten Meditierern wird nachgesagt, ihnen gelinge dies besonders gut. Derart vorbereitet, tun wir … ja, was genau? Wir lassen gleichsam unser „inneres Auge“ schweifen – und erkunden … was?
Jedenfalls keine körperlichen Vorgänge und Zustände, soviel scheint gewiss; zu unserem eigentlichen, wahren Ich rechnen wir keine Muskelkontraktion, keine Hormonausschüttung, keinen Verdauungsprozess, keine Zellteilung. Wonach wir Ausschau halten, ist das, was wir „Geist“ und „Seele“ nennen. Wie finden wir es introspektiv? Irgendwie scheint unsere Selbsterkundung der Expedition eines Geologen zu gleichen, der eine Höhle erforscht: Wir versuchen Licht in möglichst große Bereiche unserer Innenwelt zu werfen. Wohin es nicht reicht, was es im Dunkeln lässt, nennen wir „unbewusst“. Wir vermuten aber, dass diese unsichtbaren Teile zum Vorschein kämen, falls wir lange und gründlich genug nachschauen. Und selbst wenn die Suche erfolglos bliebe, würde uns dies nicht in unserer Überzeugung erschüttern, dass sie da sind, bloß eben unzugänglich: verblasste Erinnerungen an weit zurückliegende Ereignisse etwa, oder früher angeeignetes Wissen, das wir nicht mehr abrufen können.
Metaphern sind gehaltvoll, wenn sie sich auf Nachfrage rückübersetzen lassen: wenn erklärt werden kann, wofür die verwendeten Bilder stehen. Gilt dies auch für das „innere Auge“? Nirgendwo in uns ist eines ausfindig zu machen, schon gar nicht dort, wo es am ehesten vermutet werden könnte: im Kopf. Selbst wenn dort eines säße, wäre es blind, denn unter der geschlossenen Schädeldecke ist es zappenduster. Selbst wenn es dort hell wäre, böten sich nichtssagende Anblicke: Zum Vorschein käme ein rosa-graues, runzliges, walnussförmiges Gebilde mit der Konsistenz eines Puddings, umhüllt von einer mehrlagigen Haut, in einer klaren Flüssigkeit schwimmend. Könnten wir das „innere Auge“ mikroskopisch scharf einstellen, nähme es ein gigantisches Gewirr von über hundert Milliarden feinster Fasern wahr, an 70 Trillionen Stellen miteinander vernetzt. Wäre es elektrosensibel, könnte es Impulse registrieren, die diesen Fasern bis zu 500mal pro Sekunde entlangrasen, 270 Stundenkilometer schnell. Doch all dies, soviel ist uns klar, ähnelt nicht im geringsten dem, was wir finden möchten, wenn wir uns auf die Suche nach unserem „wahren Ich“ begeben. Hinzu kommt eine grundsätzliche Aporie: Mindestens ein Objekt bekäme unser inneres Auge niemals in den Blick, und zwar ausgerechnet dasjenige, auf das es ankäme: nämlich sich selbst, den Betrachter, das bewusste Ich.
Hinzu kommt, dass die Elemente unserer seelisch-geistigen Innenwelt kein autonomes, abgekapseltes Eigenleben führen, sondern mit all dem, was um uns herum ist und geschieht, untrennbar verwoben sind. Deshalb erfordert es stets einen Blick nach draußen, um zu erkennen, wer wir sind. (2) Um etwa herauszufinden, was ich über ein bestimmtes Thema denke – zum Beispiel über die Behandlungsangebote eines „Auswege“-Camps -, tauche ich nicht inwendig ein in den Strom meiner Gedanken; vielmehr setze ich mich mit den Behandlungen auseinander, und die finden nicht in mir statt, sondern im Camphaus. Wenn ich mir darüber klarwerden will, ob ich eine bestimmte Person wirklich liebe, durchforste ich nicht meine Emotionen; ich richte meine Aufmerksamkeit auf Begebenheiten, Situationen und Zeitabschnitte, in denen der Betreffende vorkommt. Um eine Furcht zu ergründen, halte ich keine innere Lupe über ein furchtsames Psychoteilchen – ich befasse mich mit den Dingen, Menschen und Umständen, die mich ängstigen. Auch um eine Unsicherheit auszuräumen, was ich wirklich will, ist es manchmal erforderlich, dass ich mich nicht introspiziere, sondern wie von außen betrachte und Andere befrage, denen ich zutraue, mich gut zu kennen; oftmals erst dann werden mir meine Wünsche klar.
Verführerisch wird die Metapher der Ich-Findung durch Innenschau aufgrund derselben Merkmale, an denen sie sich letztlich als unbrauchbar erweist: Sie setzt Selbsterkenntnis mit einer besonderen Art von Wahrnehmung gleich, einer mit unüblicher Ausrichtung – auf die „Innenwelt“ statt auf die Umgebung, mit einem Mysteriosum als Fahndungsziel, das allem, was es sonst in der Welt zu entdecken gibt, nicht im entferntesten ähnelt. Und sie stellt das Ich als mögliches Wahrnehmungsobjekt dar, während es vielmehr das erkennende Subjekt ist, dessen wir habhaft werden möchten.
Aber wie sonst finden wir unser „Ich“? Dazu muss zuallererst klar sein, wonach wir überhaupt suchen. Geht es uns um das, was wir mit Begriffen wie „Geist“ und „Seele“ meinen?
Bei beiden scheint es sich um Namen zu handeln. Für etwas Körperliches stehen sie nicht, soviel scheint festzustehen. Also für immaterielles Etwasse, ohne Form, Farbe und Gewicht? Dem „Geist“ rechnen wir eher unsere Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen zu, der „Seele“ eher unsere Gefühle, Empfindungen und Wünsche. (Der Einfachheit halber nennen wir beide zusammengenommen im Folgenden mental, mit einem in der philosophischen Psychologie gängigen Terminus.) In welcher Beziehung stehen sie zu diesen? Kommt Mentalem eine eigenständige Existenz zu – so ähnlich wie ein Behälter mehr ist als die Summe seiner Inhalte? Oder ist es deren Gesamtheit – wie ein Meer nicht mehr ist als Myriaden von Tropfen, ein Vogelschwarm nicht mehr als all die Vögel, die ihn bilden, eine Wüste nicht mehr als all ihre Sandkörner?
Dagegen wehrt sich etwas in uns. Bin ich denn nicht mehr als alles, was in mir ist, sei es physischer oder mentaler Natur?
Aber was meinen wir eigentlich mit diesem „Ich“? Ein Hauptgrund, warum wir auf unserem Erkenntnisweg zum eigenen Ich leicht in Sackgassen laufen, ist ein schiefes Bild dessen, wonach wir Ausschau halten, in Verbindung mit einer voreiligen Selbstgewissheit. Gibt es irgendein Wort, dessen Sinn mir transparenter vorkommt, wann immer ich es anwende, als „ich“? In anderen Fällen von semantischen Unsicherheiten sperren wir uns durchaus nicht dagegen, uns eines besseren belehren zu lassen – aber keiner außer mir, so scheint es, kann mehr Ahnung davon haben als ich, was „ich“ bedeutet. „Ich weiß doch, was ich mit ‚ich’ meine!“, würden wir Zweifel daran rigoros zurückweisen. Was macht uns da so sicher? Das eigene Ich erachten wir als elementarsten Privatbesitz, der von nichts anderem abhängt, mit nichts in logischem Zusammenhang steht – numerisch eindeutig und unanalysierbar. Irgendwie kommt es uns wie ein eigenschaftsloses, immaterielles Gefäß vor. Allenfalls seine mentalen Inhalte, so meinen wir, lassen sich untersuchen – nicht es selbst, denn in diesem einzigartigen Fall scheinen Gefäß und Untersucher auf unergründliche Weise identisch, mit der weiteren einmaligen Besonderheit, dass der Untersucher unmöglich eines Irrtums überführt werden kann, egal was er feststellt, denn kein anderes Ich ist mein Gefäß. Das macht mich unfehlbar, wie es scheint.
Missverstehen Ich-Sucher ein Personalpronomen? Kondensiert eine ganze Wolke von Philosophie zu einem Tröpfchen Sprachlehre?
Sind wir an diesem Punkt auf einen weiteren Grund gestoßen, aus dem die Metapher der „Innenschau“ versagt? Womöglich ist es schlicht eine Eigenart unserer Grammatik, die uns irreführt. Zu den universellen Merkmalen menschlicher Sprache gehört, dass sie geistige und seelische Vorgänge in Formen ausdrücken lässt, die ein Subjekt in Beziehung zu einem Objekt setzen. Ein Wunsch keimt auf – und wir sagen: „Ich will …“ Wir äußern „Ich sehe“, wenn eine optische Wahrnehmung stattfindet; „Ich denke“, wenn ein Gedanke aufblitzt; „Ich fühle …“, wenn ein Gefühl aufkeimt; „Ich entsinne mich …“, wenn eine Erinnerung hochkommt. Angenommen, stattdessen hätten wir eine Sprache, die solche Selbstbezüge nicht vorsieht: Sie enthielte kein Personalpronomen, mit dem ein Sprecher (oder Schreiber) auf sich selbst verweist. Diese Sprache könnte uns darauf beschränken, innere Episoden zu beschreiben; dass es die des Sprechers sind, keiner anderen Person, ergäbe sich schlicht daraus, dass er es ist, der ihr Auftreten anzeigt. Wären wir dann immer noch in Versuchung, die Suche nach unserem „Ich“ auf ein eigenständiges Etwas auszurichten? Kondensiert da letztlich „eine ganze Wolke von Philosophie zu einem Tröpfchen Sprachlehre“, wie Ludwig Wittgenstein ironisierte? (3)
Wenn es regnet, stürmt oder schneit: Welches geheimnisvolle „Es“ ist da am Werk? Wie und wo wir dieses „Es“ habhaft werden, das hinter Wetterphänomenen am Werk sein könnte, ist eine Frage, die eher mitleidiges Grinsen weckt, mit einer einhändigen Scheibenwischerbewegung in Stirnhöhe, als ein ontologisches Klärungsbedürfnis. Weshalb sollten wir mit dem Personalpronomen der ersten Person anders verfahren als mit einem der dritten Person – oder mit einem Indefinitpronomen wie „niemand“? Wir schmunzeln über den doofen Zyklopen Polyphem, dem sich der listige Odysseus als „Niemand“ vorstellte, ehe er ihn blendete; als der einäugige Riese daraufhin seinen Artgenossen klagte: „Niemand hat mich geblendet!“, sahen sie keine Veranlassung, ihm zu Hilfe zu eilen. Tappen „Ich“-Sucher in die Polyphem-Falle?
Aber wäre eine Sprache ohne Selbstreferenz nicht verkümmert? Uns scheint, dass sie einen entscheidenden Unterschied einebnen würde: Wenn ich zum Ausdruck bringe, was in mir vorgeht, zeige ich keineswegs bloß an, dass bestimmte Episoden in mir ablaufen – vergleichbar einer Signallampe auf dem Armaturenbrett meines Autos, das Aufschluss über Motordrehzahl, Reifendruck, Ölstand, Benzintankfüllung, Bremsbeläge gibt. Ich setze mich in Beziehung zu inneren Episoden, es sind meine, ich bin mir ihrer bewusst.
Aber was heißt „Bewusstsein“? Ein bestimmtes Gefühl nicht bloß zu haben, sondern sich seiner bewusst zu sein, bedeutet: Ihm folgen bestimmte Gedanken – solche, die diesem Gefühl gelten und es zutreffend benennen. In Momenten von Selbstbewusstsein kommt nicht zusätzlich zu inneren Episoden ein geisterhafter Akteur ins Spiel, der sie überblickt wie ein Stadionreporter eine Sportveranstaltung – es finden lediglich weitere innere Episoden statt.
Wer kategorisch ausschließt, dass Computer jemals Selbstbewusstsein haben können, verrät einen Mangel an Phantasie.
Nicht jeden stellt eine solche Sichtweise zufrieden. Auch in einem Computer, so könnte er einwenden, laufen nicht bloß gewisse Prozesse ab – er ist auch imstande, sie anzuzeigen, und falls seine Software ein deutsches Sprachprogramm einschließt, könnte er dies sogar mit Angaben wie „Mein Betriebssystem ist abgestürzt“, „Ich lösche die Datei XY“, „Mein Papierkorb ist voll“, „Meine Installation ist abgeschlossen“ tun. Würden wir ihm deswegen zutrauen, ein selbstbewusstes Ich zu besitzen? Wer das kategorisch verneint, tut es womöglich aus einem Mangel an Phantasie. Wie Steven Spielbergs „A.I.“ und andere Science-Fiction-Filme gehobenen Niveaus vor Augen führen, könnten Fortschritte der Robotik eines Tages durchaus dazu führen, dass sich unter uns Maschinen bewegen, die so aussehen, sich anfühlen, sich verhalten und so sprechen wie wir – auch über sich selbst. Wenn sie Äußerungen von sich geben sollten wie: „Ich bin traurig“, „Ich leide an Schmerzen“, „Ich bin besorgt“, „Ich habe Angst“: Würden wir unter allen erdenklichen Umständen darauf beharren, ihnen Empfindungen, Gefühle und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis abzusprechen, bloß weil sie von uns konstruiert worden sind und sich ihre Hardware grundlegend von der unsrigen unterscheidet? Aus genetischer Sicht war auch die Zeugung unserer Kinder ein Konstruktionsprozess, wenngleich ein planloser, nicht willentlich gesteuerter.
Und warum sollten Ichs nur von verknüpften, elektrochemisch wechselwirkenden Neuronen getragen werden können, nicht von Platinen mit Prozessoren, Speichern, Mikrochips, Laufwerken und dergleichen? Würden wir Außerirdischen definitiv absprechen, ein „Ich“ zu besitzen, nachdem wir festgestellt haben, dass ihre Physiologie nichtmenschlich ist? Würden wir auf der Stelle aufhören, es unserem Lebensgefährten, unserem Kind zuzuschreiben, falls unter deren Haut entsetzlicherweise Kabel, Sensoren und Metallschienen zum Vorschein kämen? Einem Wesen, das anders gebaut ist als wir, werden wir Selbstbewusstsein zubilligen, sobald wir aufhören, es als Objekt zu betrachten – wenn wir es als Person anerkennen und respektieren. Physikalische Gutachten werden unsere Bereitschaft hierzu weder fördern noch verringern.
Das Ich im Spiegel
Gegen Ende unseres ersten Lebensjahrs begannen wir, uns im Spiegel zu erkennen. Seither beschleichen uns keinerlei Fremdheitsgefühle, wenn wir in einen blicken. Zwar denken wir dabei bisweilen: „Oh Gott, wie sehe ich heute wieder aus!“ Auch dann steht aber völlig außer Frage, dass es sich um mich handelt – obwohl ich nichts weiter sehe als einen Teil meiner Körperoberfläche. Dass ich mich trotzdem jedesmal zweifelsfrei wiedererkenne, zeigt an, in welch hohem Maße meine Physis meine Identität mitdefiniert.
Andererseits beharre ich darauf, dass es einen gravierenden Unterschied macht, einen Körper zu haben – und einer zu sein. Was ist dieses „Ich“, über seinen Leib hinaus?
Um Begriffe zu klären, erweisen sich oftmals Gedankenexperimente als hilfreich. Angenommen, eines Morgens schaue ich in den Spiegel – und erblicke ein völlig fremdes Gesicht. Wie gehe ich damit um, nachdem ich mich vom ersten Schock erholt habe? Bin ich noch nicht ganz wach? Ich trete ein zweites Mal vor den Spiegel – schon wieder diese fremde Visage. Ich haste zu anderen Spiegeln in meiner Wohnung – dasselbe Phänomen. Spukt es? Ich blicke auf meine Hände: Es sind nicht meine; die Finger sind deutlich kürzer und dicker, die Haut dunkler und fleckiger.
Träume ich noch? Leide ich unter einer extremen Wahrnehmungsstörung? Stehe ich unter Drogen? Halluziniere ich? Bin ich über Nacht verrückt geworden? Aber alles um mich herum erscheint mir ansonsten völlig normal, genau so, wie es für mich gestern ausgesehen hat. Und keineswegs fühle ich mich benommen oder wirr, sondern hellwach, bewusst und klar.
In heller Aufregung haste ich zu meiner Frau, spreche sie an, woraufhin sie sich zu mir umdreht - und entsetzt aufschreit, im Glauben, ein Fremder sei in unsere Wohnung eingedrungen. Sofort greift sie zum Telefon, um die Polizei zu rufen.
Wie kann ich sie davon abhalten? Indem ich sie davon überzeuge, dass ich es bin, auch wenn ich entsetzlicherweise plötzlich völlig anders aussehe. Wie gelingt mir das? Wie weise ich meine Identität aus?
Die inzwischen eingetroffene Polizei ist keinerlei Hilfe dabei. Die üblichen erkennungsdienstlichen Methoden, die Identität einer Person festzustellen – Abgleiche von Passfotos, Fingerabdrücken, Genom -, ergeben nämlich zweifelsfrei, dass ich unmöglich der sein kann, für den ich mich ausgebe. Womöglich wird eine sofortige Großfahndung nach mir eingeleitet, egal wie nachdrücklich ich beteure, der Gesuchte sei ich.
Wie kann ich das beweisen? Ich schildere meiner Frau Erinnerungen, von denen ich sicher bin, dass nur ich sie haben kann: Wie war der Wortlaut meines originellen Heiratsantrags? Wie hieß die Inhaberin der Pension, in der wir unsere Flitterwochen verbracht haben? Welche zwei anderen Vornamen, die wir am Ende verwarfen, hatten wir in der engeren Wahl, als wir besprachen, wie unser erstes Kind heißen soll?
Möglicherweise könnte ich meine Frau auf diese Weise überzeugen. Das gelänge mir aber nur, wenn ich im übrigen einen Großteil der Eigenschaften, die für mein früheres Selbst typisch waren, im neuen Körper behalten hätte: vielleicht meine Begeisterung für Motorräder und Briefmarken, meine Hebräischkenntnisse, meine Vorliebe für heiße Milch mit Honig, meine Anhängerschaft zum FC Bayern, meine Spinnenphobie, meine Heimwerkertalente usw. An alledem würde sie mich vermutlich wiedererkennen. (Unter denselben Bedingungen könnten sie und ich sogar akzeptieren, dass ich meine Identität bewahrt habe, nachdem ich nachtodlich in einem neuen Körper inkarniere, zu einem Cyborg umkonstruiert, von Kryonikern nach einer längeren Tiefkühlphase wieder aufgetaut werde.)
Was wäre aber, wenn ich mich fortan in einer Weise verhielte, die für mein früheres Ich recht untypisch war?: Plötzlich zeige ich andere Vorlieben, andere Interessen, andere Charaktereigenschaften; wozu ich früher in der Lage war, gelingt mir nun nicht mehr; andererseits lege ich Fähigkeiten an den Tag, über die ich früher nicht verfügte. Selbst jene Menschen, denen ich früher am vertrautesten war, beschlichen unter solchen Umständen Zweifel, ob ich es noch bin.
Würde ich diese Zweifel jemals teilen? Das hängt zum einen davon ab, ob mir meine neuen Verhaltensweisen selber fremd vorkommen – ob ich dabei das Gefühl hätte, dass sie nicht zu mir gehören. Ein solcher Eindruck würde sich einstellen, wenn ich einen inneren Zwang zu bestimmten Handlungen spüren würde; wenn ich nicht anders könnte, gegen den Widerstand meiner Wünsche, Überzeugungen und Ziele; wenn sich in mir etwas dagegen sträubt. Und falls nicht? Dann verlöre auch ich die Sicherheit, „eigentlich“ ein ganz Anderer zu sein.
Doch selbst dann blieben mir für einen Identitätsnachweis zumindest meine Erinnerungen, oder nicht? Würde ich mich durch sie nicht unter allen Umständen zweifelsfrei meiner selbst versichern können?
Aber sind sie überhaupt korrekt, oder trügen sie mich? Gerade weil unser Gedächtnis so zentral für unsere Identität, für unser Bild von uns selbst ist, hängt es aufs engste mit ihm zusammen – wechselseitig. Was wir erinnern, wirkt sich darauf aus, wie wir uns sehen; wie wir uns sehen wollen, beeinflusst umgekehrt, wessen wir uns entsinnen. Unser Gedächtnis ist kein unbestechlicher, gegen jegliche Einwirkungen aus anderen mentalen Bereichen hermetisch abgeschirmter Datenspeicher, in dem wir Bilder unseres Lebens sicher verwahren könnten wie Fotoabzüge in einem Album, wie Dateien in einem Speichermedium. Was wir erinnern, hängt von Gefühlen und Stimmungslagen, Absichten und Motiven, Gedanken und Überzeugungen ab. In niedergeschlagenen, melancholischen, sorgenvoll-ängstlichen Momenten neigen wir eher dazu, unsere eigene Vergangenheit dunkelgrau bis schwarz zu zeichnen; Enttäuschungen, schmerzliche Erfahrungen, Verluste, Fälle von Misslingen und Versagen fallen uns dann eher ein. In Phasen von Hochstimmung, Zuversicht und Glück hingegen entsinnen wir uns eher angenehmer Erlebnisse. Zudem ist unser Gedächtnis mit Filtermechanismen ausgestattet, die unser Selbstbild, unser Selbstwertgefühl schützen; sie gehorchen unserem Grundbedürfnis, frühere Erlebnisse, ja unsere gesamte Biografie so zu (re)konstruieren, dass ein eher positives Bild von uns selbst intakt bleibt, Gefühle von Schuld und Scham nicht überhandnehmen. (Bei Depressiven und Suizidgefährdeten versagen diese Schutzvorrichtungen.) Je wichtiger uns bestimmte Überzeugungen, Einstellungen, Wertvorstellungen sind, je starrer wir an ihnen festhalten, desto nötiger brauchen wir Erinnerungen, die ihnen entsprechen, und desto bereitwilliger kreieren wir sie.
Deshalb müsste ich im fremden Körper einräumen: Kein Gedächtnis ist unfehlbar, auch meines nicht. Dass eine vermeintliche Erinnerung täuscht, würde ich zugeben, wenn sie im Widerspruch zu dem steht, wessen sich viele Andere entsinnen – vor allem Personen, in denen ich glaubwürdige Zeugen meiner Vergangenheit sehe, ohne das geringste Motiv, mich anzulügen -, und erst recht dann, wenn Fotos, Aufzeichnungen und andere historische Dokumente das Gegenteil belegen. Wenn sich herausstellt, dass bloß manche meiner Erinnerungen fehlerhaft sind, ließe ich mich dadurch kaum beirren. Aber falls sich erweist, dass sie allesamt nicht stimmen – dass ich mich bezüglich meines früheren Lebens ganz und gar täusche? Unter solchen Umständen würde mein Selbstbild zutiefst erschüttert – auch ich wüsste nicht mehr, wer ich bin.
Was lehrt das Gedankenexperiment, mit dem dieser Abschnitt begann? Es ist unmöglich, sich seiner selbst im Alleingang zu vergewissern. Mein „wahres Ich“ finde ich nicht, indem ich mit geschlossenen Augen in mich hineinstarre – sondern im Spiegel, den meine Umgebung mir vorhält. Das Ich ist ein soziales Konstrukt, mit den Anderen als notwendiger Korrekturinstanz.
Das Selbst: ein soziales Konstrukt
Wie, wo finde ich mein „Selbst“? Wenn ich gebeten werde, mich vorzustellen, krame ich kein immaterielles Etwas aus mir hervor oder entschuldige mich dafür, dass ich aus ontologischen Gründen keines präsentieren kann – vermutlich gebe ich zuallererst an, wie ich heiße, woher ich komme, wie alt ich bin, was ich beruflich mache, ob ich verheiratet oder ledig bin, ob ich Kinder habe, welche Konfession ich habe usw. All dies erschiene mir allerdings nebensächlich bis belanglos, wenn ich mich der Frage stelle, wer ich „eigentlich“ bin, in meinem tiefsten Inneren – was mich wesentlich ausmacht. Eine solche Frage stellt mir am ehesten jemand, der mich besonders gründlich kennenlernen will – sei es ein neuer Lebenspartner am Beginn unserer Beziehung, ein enger Freund oder ein naher Verwandter -, oder ich mir selbst, in Lebensphasen, in denen ich mich orientierungslos fühle, von Selbstzweifeln geplagt werde, nicht weiß, wie es weitergehen soll. Was rechne ich mir in solchen Momenten als wesentlich zu?
Zu den Eigenschaften, die mich ausmachen, würde ich zählen:
- meine Fähigkeiten und Fertigkeiten
- mein Wissen: die im Laufe meines Lebens erworbenen Kenntnisse
- meine Erfahrungen: all das, was ich aus eigenen Erlebnissen gelernt habe; im Laufe meines Lebens Erprobtes und Bewährtes
- meine Erinnerungen
- meine Wertvorstellungen: was ich für erstrebenswert und moralisch gut halte, woran ich mein Handeln orientiere
- meine Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ziele
- meinen Charakter: die Gesamtheit meiner Wesenszüge bzw. Persönlichkeitsmerkmale
Selbsterkenntnis bedeutet, sich all diese Eigenschaften zu vergegenwärtigen, sich ein zutreffendes, vollständiges Bild von ihnen zu machen.
Kann ich das alleine, auf irgendeinem inwendigen, rein geistigen Weg? Es gibt keine menschliche Eigenschaft, hinsichtlich derer ihr Besitzer die letzte, unfehlbare Instanz wäre; es stimmt nicht, dass grundsätzlich „niemand mich besser kennt als ich selbst“. Was ich zu können und zu wissen meine, woran ich mich zu erinnern glaube, welche Charaktermerkmale ich mir zuschreibe: In all diesen Hinsichten kann ich danebenliegen - mir selbst etwas vormachen, etwas übersehen, etwas verdrängen. Dann korrigieren mich Andere, die mich gut kennen. Dies können sie, weil es sich bei all den Eigenschaften, die ich meinem „wahren Ich“ zuschreibe, nicht um unsichtbare Vorkommnisse in meiner privaten Innenwelt handelt, die ich privilegiert beobachten kann; stets sind sie begriffslogisch mit Dispositionen verbunden, sich auf bestimmte Art und Weise zu verhalten. Wenn Anderen an mir ein Verhalten im Widerspruch zu dem auffällt, was ich mir als „wesentlich“ zuschreibe, korrigieren sie mich zurecht. (In Extremfällen – bei Unfallopfern mit totalen Amnesien, bei Demenzkranken, bei dissoziativen Psychotikern – verfügen Andere über ein Wissen um das „wahre Ich“, das den Betroffenen selbst vollständig abhanden gekommen sein kann.)
Daraus folgt: Wer ich bin, entscheidet sich immer auch im Spiegel meiner Umwelt. Dass die Beratungsgespräche, die in „Auswege“-Camps stattfinden, von den Teilnehmern als hilfreich empfunden werden, liegt daran, dass es Teammitgliedern gelingt, ihnen einen solchen Spiegel vorzuhalten, und ihre Widerstände dagegen überwinden, hineinzuschauen.
Die ebenso unangenehme wie absurde Schlussfolgerung daraus wäre, dass wir in Wahrheit von uns selbst keine Ahnung haben. Am meisten Zeit verbringt jeder von uns mit sich selber, keiner anderen Person widmet er mehr Aufmerksamkeit. Daraus erwächst eine gewisse Autorität: Im allgemeinen weiß niemand besser über uns Bescheid als wir selbst, keiner kennt sich da besser aus. Mehr noch, manches über uns können bloß wir allein wissen: bestimmte Phantasien, Impulse, Tagträume und Sehnsüchte, die wir für uns behalten. Aber diese Art von Erkenntnisprivileg in bezug auf sich selbst ist eine relative, keine absolute.
Auf dem Weg zu mehr Selbsterkenntnis
Selbsterkenntnis kann zunehmen. Worin besteht der Fortschritt dabei? Wenn mir Introspektion nicht herausfinden helfen kann, wer ich bin, kann ich auch nicht mehr über mich in Erfahrung bringen, indem ich eine unräumliche Privathöhle ausdauernd ausleuchte. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, dass ich mir wichtige Tatsachen vergegenwärtige, die mich betreffen – einschließlich der unangenehmen, selbst der beschämendsten -, und sie in einem verständlichen Zusammenhang bringen, stimmig für mich selbst wie für Andere, jederzeit willens, Schein und Wirklichkeit zu trennen, mit Selbsttäuschungen zu rechnen und sie von Anderen korrigieren zu lassen. Mit anderen Worten: Es geht darum, zum verlässlichen Erzähler in eigener Sache zu werden. Passen Erleben und Selbstbild, Handlungen und Werte zusammen – sind sie also „kongruent“? Die Anforderungen an die Geschichte, die wir dabei entstehen lassen, gleichen denen, die wir ein historisches Sachbuch gelten: Trägt sie einen geeigneten Titel? Passen die Kapitelüberschriften? Stimmt die chronologische Abfolge? Kommen alle relevanten Tatsachen darin vor? Bleibt nichts Erhebliches unerwähnt? Wird nichts verfälscht? Unterwegs zur Selbsterkenntnis komponieren wir an einer Biografie, die ständig neue Auflagen erlebt – unter dem Aktualitätsdruck neuer Ereignisse und um veränderten Sichtweisen, Standpunkten, Informationen und Wünschen Rechnung zu tragen.
Aus ihrem Gelingen schöpfen wir Selbstachtung und ein Gefühl von Wahrhaftigkeit. Und je stimmiger wir diese Geschichte hinbekommen, desto echter, achtsamer, tiefer, wertvoller werden im übrigen unsere Beziehungen zu Anderen. (4) Wer sich selbst kennt, macht sich über die Motive des eigenen Tuns nichts vor – das verringert das Risiko, aus vorgeblichen Gründen mit Anderen lieblos umzugehen. Er durchschaut leichter eigene Projektionen, weil er eher auseinanderhalten kann, wie der Andere ist und wie er ihn gerne hätte. Und er erkennt besser die Projektionen der Anderen, was ihn davor schützen kann, ihnen blindlings zum Opfer zu fallen.
Sich selbst verwirklichen: ein Optimierungsprojekt?
Und was bedeutet Selbstverwirklichung? Wie großartig eine solche Transformation sein muss, illustriert die esoterische Pop-Art farbenfroh mit kitschigen Gemälden, Magazintiteln und Buchcovern: Da zwängen sich aus engen Kokons die bezauberndsten Schmetterlinge, unscheinbaren Samen entsprießen die prachtvollsten Blüten. Weil unsereins aber weder mit Saatgut noch mit Raupen schwanger geht, dürsten wir nach Aufklärung, wie ein solcher Prozess denn realiter vonstatten gehen soll. Was bedeutet es, mich selbst zu verwirklichen?
Viele Esoteriker zeichnen davon ein Bild, das mittlerweile eines der florierendsten Geschäftsfelder im ohnehin boomenden Lebenshilfe-Markt inspiriert hat; allein in den USA wird mit rund 50'000 Buchtiteln für angehende Selbstverwirklicher ein Jahresumsatz von weit über zehn Milliarden Dollar erzielt. (5) Einer wie der andere deutet Selbstverwirklichung zur Selbstoptimierung um, unter dem Motto „Werde, der du wirklich bist“. (6) Ein solches Projekt erfordert, etwas zum Vorschein zu bringen, was unerkannt schon in uns steckt: ein zweites Selbst, das viel großartiger, schöner, mächtiger, edler, begabter, kreativer ist als jenes, in dem wir uns bislang zu erkennen glaubten. Ist es nicht ein Jammer, dieses herrliche, phantastische Potential ungenutzt in uns verkümmern zu lassen: diese gewaltige „Power Within“ (7), diese wundervoll „schöpferischen Ressourcen” (8) in uns, das grenzenlose „kreative Potential“ eines schlummernden „Giganten“ (9)?
Wer dem beeindruckt zustimmt, ist reif für die weiteren bewusstseinstechnologischen Schritte: Er lässt sich von Sachverständigen an die Hand nehmen, um herausfinden zu können, wie er die Widerstände seines ersten, niederen Selbsts überwindet – der selbsternannte „Erfolgsreferent“ Stefan Frädrich veranschaulicht ihn gerne mit „Günter, dem inneren Schweinehund“, einem schmutzig-gelben Plüschtier -, zu seiner „inneren Kraftquelle“ (10) vorstößt und sie anzapft, damit sie endlich munter sprudelt. Dazu muss er „48 Gesetze“ (11) befolgen, „zwölf Schritte“ gehen (12), „sieben Wege“ (13) einschlagen, das „neue Einmaleins“ beherzigen – so als ginge es um einen arbeitswissenschaftlich abgesicherten Prozess, bei dem sich komplexe Abläufe in einfache Module zerlegen lassen.
Solchen Verheißungen auf den Leim zu gehen, kann fatale Folgen haben. (14) Nicht nur schürt es den Eindruck, sich selbst verwirklichen könne man erst unter Anleitung von Experten. Vor allem macht es chronisch unzufrieden, denn „Besser geht immer!“, und „Günter“ schläft nie. Und es sorgt für manisch-depressiven Dauerstress: Immerzu schwankt man zwischen grandioser Selbstüberschätzung, die dem Narziss in uns größtmöglich schmeichelt („Eigentlich bin ich göttlich!“) und steilem Absacken des Selbstwertgefühls. Wer es nicht hinkriegt, Modul für Modul immer großartiger und herrlicher zu werden, muss sich als jämmerlicher Versager vorkommen, der die verabreichten Lektionen entweder nicht kapiert oder nicht umsetzen kann. Er scheitert an der Aufgabe, sein ganz wundervolles Zweites Ich gegen den Schlendrian, die Trägheit, die Inkonsequenz des Ersten zu verteidigen. Er ist zu schwach, das Wollen ausreichend zu wollen. Hinter alledem wirkt eben jene fixe Idee, um die es in den vorherigen Abschnitten ging: das Selbst als etwas inwendig Verborgenes.
Müssen wir ein zweites Ich zum Vorschein zu bringen, das schon in uns steckt: eines, das viel großartiger ist als jenes, in dem wir uns bislang zu erkennen glaubten?
Wie entsteht die Vorstellung, man könne und müsse sich in eine verbesserte Variante seiner selbst verwandeln? Sie ergibt sich aus einer Bestandsaufnahme: Was ist aus mir geworden? Und welche Hoffnungen habe ich, dass noch etwas anderes aus mir werden könnte? Aber Hoffnung braucht Gründe. Von alledem, was wir gerne noch erreichen, besitzen, werden, sein möchten, mag manches mit der nötigen Zielstrebigkeit und Ausdauer irgendwann durchaus erreichbar sein. Doch wann, und ob überhaupt, wir je dorthin gelangen, hängt von unseren besonderen Fähigkeiten, Erfahrungen und Wesenszügen, von unserer körperlichen und psychischen Verfassung, von unserer sozialen Situation und materiellen Umständen nicht weniger ab als von Willensstärke und Glaubensbereitschaft. Uns in dieser Hinsicht an der Nase herumzuführen, verbindet Selbstoptimierer und Positivdenker.
Wenn nicht Geburtshilfe für ein perfektes, in uns verborgenes Zweitselbst: Was sonst bedeutet Selbstverwirklichung? Es heißt, ein Leben zu führen, in dem sich mein Wesen - die Fülle der Eigenschaften, die ich mir als grundlegend zuschreibe - frei entfalten kann, im Rahmen der Möglichkeiten, die ich dazu habe. Wann beschleicht mich das Gefühl, dass ich „mich selbst verloren“ habe, uneigentlich lebe, an meinem „wahren Ich“ vorbei? Wenn ich mich daran gehindert fühle, die Wesensmerkmale zum Ausdruck zu bringen, von denen ich annehme, dass sie mich grundlegend charakterisieren. Solche Hindernisse können in mir selbst liegen – beispielsweise wenn mich bestimmte Wertvorstellungen oder ein Mangel an Fähigkeiten davon abhalten, meine Bedürfnisse zu befriedigen, meine Ziele zu verwirklichen -, aber auch in äußeren Umständen wie einer einengenden Beziehung, einer unbefriedigenden Arbeit, in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten. „Auswege“-Camps zeigen Wege zur Selbstverwirklichung auf, indem sie Teilnehmern helfen, sich die Möglichkeiten bewusst zu machen, die sie dazu haben, und sie dazu ermutigen, vorhandene Handlungsspielräume zu nutzen.
Wann gelingt es Patienten demnach, ihre Erkrankung als Chance zur Selbstfindung und innerem Wachstum zu begreifen? Es erfordert nicht, mittels esoterischer Bewusstseinstechniken eines immateriellen Etwas habhaft zu werden. Es bedeutet vielmehr, ein stimmiges Bild von den wesentlichen Merkmalen der eigenen Person zu entwickeln – sowie von der Fähigkeit, Bereitschaft und objektiven Möglichkeit, bestimmte Merkmale zum eigenen Besten zu verändern. Dabei helfen Gespräche mit Menschen, denen man vertraut, weitaus mehr als jede kontemplative Innenschau. In unseren Camps finden sie statt.
Anmerkungen
1 Nach einer Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 2013, Allensbacher Archiv, IfD 11012.
2 Peter Bieri, „Der Blick nach innen“, Zeit Magazin, 24.10.2007.
3 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen II, Abschnitt XI; in der „kritisch-genetischen Edition“ herausgegeben von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2001.
4 Peter Bieri, a.a.O.
5 Nach Thomas Steinfeld: „Das Wollen wollen“, Süddeutsche Zeitung Nr. 22, 26./27.1.2013, S. V2/1.
6 Wayne W. Dyer: Der wunde Punkt: Die Kunst nicht unglücklich zu sein. Zwölf Schritte zur Überwindung unserer seelischen Problemzonen, Reinbek b. Hamburg 1977.
7 Anthony Robbins: Grenzenlose Energie, 1986, engl. Unlimited Power: The New Science of Personal Achievement; ders.: Das Robbins Power Prinzip (1992, Or.: Awaken the Giant Within; ders.: Das Prinzip des geistigen Erfolgs: der Schlüssel zum Power-Programm (1995)
8 Verena Kast: Lass dich nicht leben - lebe!: Die eigenen Ressourcen schöpferisch nutzen, Freiburg i. Br. 2002
9 George Lois: Damn Good Advice (For People with Talent!): How To Unleash Your Creative Potential by America's Master Communicator (2012), dt. Verdammt gute Tipps (für Leute mit Talent) (2012)
10 Robert Hartzema: Innere Kraftquellen: Wege zum Ursprung (2004)
11 Robert Greene: Power – Die 48 Gesetze der Macht (1998)
12 Dyer, a.a.O.
13 Detlef Rahmer: 7 Wege zu Dir selbst: Lebenskunst für den Alltag (2008)
14 Eine anregende Kritik des Selbstoptimierungswahns liefert Klaus Werle: Die Perfektionierer, Frankfurt/New York 2010.
Dieser Betrag enthält Auszüge aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015)
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