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  • Dr. Harald Wiesendanger

„Vollkommenes Wohlergehen“

Ärzte interessiert der Befund, Patienten geht es nicht minder um ihr Befinden. Symptom- und organfixiert versäumt es die Schulmedizin, die subjektiven Aspekte von Krankheit wahr- und ernstzunehmen. Gesundwerden bedeutet mehr, als Symptome loszuwerden.


Schwere Krankheit hat zwei Seiten. Die eine spiegelt sich im objektiven medizinischen Befund: in Mess­kur­ven und Laborwerten, in Röntgenbildern und Tomo­grammen. Die andere besteht aus den Beein­träch­ti­gun­gen, Beschwerden und Ver­lusten, die der Betroffe­ne selbst erlebt. Schwere Krankheit kann für ihn andauernden Schmerz und Schwä­che bedeuten. Sie kann ihn zunehmend entstellen und behindern. Sie lässt ihn oft einsam werden. Sie kann ihn launisch, verbittert, hoffnungslos, sinnleer machen. Und voller Angst.


Welche Seite verdient stärkere Be­ach­tung? Wenn Heiler sich eines Hilfe­suchenden annehmen, fragen sie nicht danach. Sie betrachten und behandeln ihn als ganze Person: als eine untrennbare Einheit von Kör­per, Geist und Seele. Was sie ihm vermitteln, ist vielleicht eine rätselhafte, physikalisch noch unfassbare Ener­gie, fast immer aber zwischenmenschliche Wärme, Ver­ständ­nis, Auf­merksamkeit, Geborgenheit. Falls sie auf diese Weise, gegen alle ärztlichen Prognosen, im organischen Bereich eine Wende zum Bes­seren anstoßen oder auch nur einen für unabwendbar gehaltenen Verfall aufhalten können, ist das bemerkenswert. Sollte, was Heiler können, trotzdem vornehmlich an organischen Veränderungen gemessen werden, und jeder Fort­schritt, der unterhalb der vollständigen Remission bleibt, als minderwertig dastehen?


Viele Patienten tun dies, weil sie in den üblichen Arzt­praxen und Krankenhäusern gelernt haben, Heilerfolge vornehmlich nach diesem Maßstab zu beurteilen - ebenso wie ihre behandelnden Ärzte dies während ihres Stu­diums vom vorherrschenden klinischen For­schungs­stil lernten. (1) Mit entsprechenden Erwartungen suchen Patienten einen Geistheiler auf, und mit denselben Er­wartungen blättern viele vermutlich in diesem Buch. Mancher Krebs­patient beispielsweise einer verspricht sich vielleicht Hinweise darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich selbst ein metastasierter, inoperabler Tumor noch irgendwie auflöst, wenn die Hand eines Begnadeten lange genug darüberliegt. Was ihn interessiert, sind Schicksalsberichte über Leidensgefährten, deren Karzi­nome von purem "Geist" spurlos weggeschmolzen wurden, und Emp­feh­lun­gen von Heilern, die als Spe­zialisten für eine solche "übersinnliche" Strah­lentherapie gelten.


Aber sind die subjektiven Verände­run­gen, die Heiler zustandebringen, etwa weniger erstaunlich und be­deutsam als die objektiven? Wenn ein Krebskranker, den Ärzte aufgegeben haben, nach wenigen Sitzun­gen wieder Kraft, Mut und Lebens­freude spürt; wenn seine Schmerzen und Ängste nachlassen; wenn er so ausgeglichen, gelassen und zuversichtlich ist wie seit Jahren nicht mehr; wenn er aufhört, mit seinem Schicksal zu hadern, und neuen Sinn findet: dann ist dies bewundernswert, ein kleines Wunder. Wiegt es geringer, wenn das große "Wunder" ausbleibt: das Verschwinden der Sym­ptome, die körperliche Gene­sung? Ganzheitliche Therapieformen wie Geistiges Heilen tun gut - auch wenn dies, selbst unter dem stärksten Elektronen­mikroskop, keiner Zell­probe anzusehen sein mag.


Wer mehr verlangt, verwechselt Heilen mit Kurieren. Was bedeutet es überhaupt, einen Menschen zu heilen? Heilung ist die Wiederherstel­lung von Gesundheit. Aber was heißt es, gesund zu sein? Wir alle sind in einer medikalisierten Kultur aufgewachsen, in der wir gelernt haben, unsere Befindlichkeit durch die Brille einer ärztlichen Expertokratie wahrzunehmen und zu bewerten, die sich alleinzuständig für sie wähnt. Der Sinnspruch "Es gibt tausend Krank­heiten, aber nur eine Gesundheit" stimmt nicht - es gibt mehrere. Für unser vorherrschendes Medizinsy­stem werden wir zum Fall, wenn wir Symptome entwickeln, für die es Begriffe, Mittel und Theorien entwickelt hat: messbare Defekte in der Maschinerie unseres Körpers. Ent­sprechende Definitio­nen beherrschen denn auch unsere Lexika: Das 25-bändige "Meyer"-Lexikon etwa (2) setzt Gesundheit gleich mit dem "Fehlen ärztlicher und labormedizinischer Befun­de, die von der Norm abweichen"; gesund sei, wessen "Kör­perfunktionen ohne Einschrän­kung intakt sind". Folgerichtig er­kundigt sich der Hausarzt in der Sprechstunde: "Was fehlt Ihnen denn?" - und wir reagieren wie selbst­verständlich mit der Aufzäh­lung von einzelnen, isolierten Ab­weichungen von der Norm, statt zu sagen, was uns wirklich fehlt: Liebe vielleicht, oder Sicherheit, Angst­freiheit, Geborgenheit, innere Ruhe und Ausgegli­chen­heit, Bindungen, eine Aufgabe, Sinn.


Gesundheit als Wohlergehen


Kurz nach Ende des Zweiten Welt­kriegs – also lange bevor in der westlichen Welt der Boom der „Ganz­heits­medizin“ einsetzte -, schrieb die Weltgesundheits­orga­nisation (WHO) anlässlich ihrer Gründung 1946 in ihre „Verfassung“ eine geradezu revolutionäre Begriffs­bestimmung: „Gesundheit“, so definierte sie, sei „ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohl­ergehens und nicht nur das Feh­­len von Beschwer­den oder Krank­­heit.“ (3) 1988 ergänzte die WHO: Gesundheit schließe die “Fähigkeit des Individu­ums“ ein, „die eigenen Gesundheitspotenziale auszuschöpfen und auf die Heraus­forderungen der Umwelt zu reagieren” In dieselbe Richtung zielt eine programmatische Erklärung der Bun­desregierung von 1997: „Ge­sund­­heit wird als mehr­dimensionales Phänomen ver­stan­den und reicht über den ‚Zu­stand der Abwesenheit von Krank­heit‘ hinaus.“ (4) In der Tat. In diesem Sinne können wir krank sein, ohne Symptome zu entwickeln; wir können gesund sein, obwohl un­sere Funktionen von der medizinischen Norm abweichen. Denn Vita­lität und Wohlbefinden, auch wenn sie in engem Zusammenhang mit körperlicher Intaktheit stehen, sind nicht notwendig daran gebunden. Deshalb muss eine Geistheilung keineswegs misslungen sein, nachdem sie an der Sympto­matik nichts oder zuwenig geändert hat: genesen, in einem um­fassenderen Sinn heil werden, kann ein Patient durch sie dennoch, und da­rin liegt vielleicht ihre größte Stärke.


Es gibt Krebskranke, die sich heiler fühlen als ihre tumorfreien An­gehörigen. Es gibt Todgeweihte, die heiler hinübergehen, als ihre Hin­terbliebenen je gelebt haben. Letzt­lich stirbt man nicht an einer be­stimmten Krankheit - man stirbt an einem ganzen Leben.

Anmerkungen

1 Bezeichnend: 90’000 Arzneistudien fanden britische Epide­mio­logen im Cochrane Controlled Trials Register, einer Daten­bank, in der ein Großteil aller klinischen Studien weltweit gespeichert ist; nur 2000 von ihnen bezogen auch den Faktor “Lebensqualität” ein. Diese Studie wur­de von Stephen Fran­kel, Universität Bri­stol, Ende 1998 veröffentlicht. Siehe Wieb­ke Rögener, “Wunderdroge sucht pas­sende Krankheit”, Süd­deutsche Zei­tung Nr. 271, 24.11.1998, S. V2/9.

2 Meyer, Bd. 10, S. 263f.

3 „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”. Zweiter Abschnitt der Verfassung der Weltgesundheitsorga­nisa­tion, unterzeichnet in New York am 22. Juli 1946.

4 Bundesministerium für Bildung, Wis­sen­schaft, Forschung und Techno­logie, 1997.

Dieser Betrag stammt aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).

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