Unheil.
- Dr. Harald Wiesendanger
- 6. Aug.
- 10 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Aug.
Was ist bloß aus dem Geistigen Heilen geworden? Auf den Boom der 90-er Jahre folgte ein kläglicher Niedergang. Schuld daran sind: zuviele Möchtegerns, Vereinsmeierei, Verschulung, eine verhängnisvolle Gesetzesänderung und eine radikal veränderte Medienlandschaft. Ein wehmütiger Abgesang auf das deutsche Heilerwesen – in 11 Strophen.

Die wohl umstrittenste, am übelsten beleumundete Variante der Alternativmedizin ist zugleich eine der faszinierendsten: Geistiges Heilen – der Versuch, Krankheit mittels eines nichtphysischen Etwas zu lindern oder zu beseitigen, nämlich durch das Bewusstsein des Behandlers. (1)
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte dieser uralte Ansatz, den wohl schon ein gewisser Jesus Christus praktizierte, ein extremes Auf und Ab, zwischen staatlich verfolgter Scharlatanerie und massenmedial gefeierter Wunderproduktion. Unter dem Strich steht ein kläglicher Niedergang – mit wenig Aussicht auf Besserung, womöglich unheilbar.
1. Die Entfesselung. Ab 1873 besteht im gesamten Deutschen Reich eine nahezu grenzenlose "Kurierfreiheit" auch für nichtärztliche Heilkundige. Daraufhin kommt es zu einem sprunghaften Anstieg von hauptberuflichen Laienbehandlern. Ärztliche Standesvertretungen laufen beharrlich Sturm gegen den Wildwuchs - und setzen sich schließlich durch:
2. Die HPG-Depression. Im Februar 1939 verabschiedet der Deutsche Reichstag das "Heilpraktikergesetz" (HPG). Nach Kriegsende übernimmt es die Bundesrepublik unverändert - und folgt dem Naziregime im Bemühen, Heiler in die Illegalität zu zwingen. In den folgenden Jahrzehnten sorgen Gerichtsurteile sogar noch für eine verschärfte Anwendung: Nach der sogenannten "Eindruckstheorie" macht sich ein Heiler unabhängig von seinen Intentionen, seiner Gesinnung, seinen Erfolgen, der Unschädlichkeit seines Tuns allein schon dadurch strafbar, dass Hilfesuchende den subjektiven Eindruck gewinnen können, er führe an ihnen eine Heilbehandlung durch.
3. Das Gröning-Zwischenhoch. In den fünfziger Jahren macht Bruno Grönings Wirken das Geistige Heilen eine Zeitlang zu einem öffentlichen Faszinosum: Zehntausende suchen seine Hilfe, Presse und Rundfunk schlachten das Phänomen aus. Als Gröning, verbittert und zermürbt von einer Prozessflut sowie Anfeindungen durch die Interessenvertretungen anerkannter Heilberufe, 53-jährig 1959 stirbt, lässt auch das allgemeine Interesse an der Heilweise nach, für die er damals wie kein zweiter stand.
4. Der Edwards-Impuls. Inspiriert von der englischen Heilerbewegung um Harry Edwards, entstehen in den sechziger Jahren auch in Deutschland die ersten Heilervereine: die "Deutsche Vereinigung für Geistheilung" (DVGH), bald darauf die "Gemeinschaft für geistige Entfaltung". Sie führen Menschen zusammen, die zuvor sozial isoliert und im Verborgenen praktiziert hatten - doch mehr als ein geselliges Miteinander bringen sie kaum zuwege.
5. Die Esoterisierung. Von der zweiten Hälfte der sechziger Jahre an bricht eine neue "Esoterikwelle" von anderen Kulturkreisen aus über Deutschlands alternative Gesundheitsszene herein - und erfasst rasch auch das Heilerwesen. Neue, exotische Behandlungsformen mit publikumswirksamen Vertretern tauchen auf: von philippinischen "Logurgen" über Schamanen aus Afrika, Amerika, Zentralasien und Ozeanien bis hin zu Qi-Gong-Meistern aus China, Propagandisten von Reiki, Prana-Heilen, Chakratherapie und anderen “energetischen" Behandlungsformen. (3) Sie alle teilen die Vision eines New Age voller spirituell entfalteter, ihr unermessliches geistiges Potential freisetzender Individuen, das die Verheißung einschließt: In jedem von uns steckt ein Heiler, der bloß darauf wartet, erweckt zu werden.
Zuvor waren in Deutschland vermutlich nur wenige hundert Geistheiler tätig, neben Besprechern und ein paar Exorzisten vor allem christliche Handaufleger und Gebetsheiler. Es überwogen schlichte, bodenständige Gemüter mit geringer Bildung aus mittleren und unteren sozialen Schichten. (4) Ein Großteil wirkte zurückgezogen in ländlicher Gegend, und sie halfen vornehmlich aus zutiefst empfundener Berufung. Vollprofis fanden sich kaum darunter: Die meisten übten Geistiges Heilen nebenbei aus, an Feierabenden und Wochenenden - nicht in regelrechten "Praxen", sondern in Wohnzimmern und Küchen; ihren Lebensunterhalt sicherten sie anderweitig. Kommerziell insofern nicht von Heilerhonoraren abhängig, arbeiteten sie vorwiegend unentgeltlich, allenfalls Spenden wurden angenommen. (5)
Weil Geistheilung selten ein Geschäft war, wurde kaum je Werbung dafür getrieben; ihren Heiler fanden Hilfesuchende überwiegend durch Mundpropaganda, auf Empfehlung von Verwandten und Kollegen, Freunden und Bekannten. Unter solchen Umständen hielten sich Heiler nur, wenn sie in bemerkenswert vielen Fällen tatsächlich etwas therapeutisch Außergewöhnliches, aus ärztlicher Sicht Unerwartetes zustande brachten; andernfalls blieben ihre Stuben leer. (Kein Markt selektiert härter als einer, der auf mündlich kolportierten "Geheimtipps" beruht, in denen Konsumenten ihre persönlichen Erfahrungen mit gewissen Produkten weitergeben.) Daher überwogen ältere Heiler mit jahre-, oft jahrzehntelanger Erfahrung. (Mehrere Studien stimmen darin überein, dass vor Einsetzen der Esoterikwelle die Mehrzahl der befragten bzw. aktenkundig gewordenen Gesundbeter, Besprecher und sonstiger “magischer” Heiler zwischen 66 und 77 Jahre alt war. (6)
Ihre Heilbegabung war fast immer schon in der Kindheit oder Jugend zum Vorschein gekommen. Keiner hatte zuvor eine regelrechte "Schule" durchlaufen, denn es gab keine. Die typische Heilerkarriere begann vielmehr in einer privaten, mehr oder minder intensiven Zweierbeziehung mit einem erfahrenen, bewunderten Vorbild - etwa der Mutter, dem Großvater, dem Nachbarn, dem Bekannten -, das begabte Nacheiferer meist über einen längeren Zeitraum beaufsichtigte und anleitete; oder Heilfähigkeiten stellten sich unvermittelt ein: etwa nach Eingebungen in Träumen, unter dem Eindruck einer Vision, von einer inneren Stimme angesprochen, auf dem Höhepunkt einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder nach einem schweren Unfall; oder sie kamen bei zufälligem Ausprobieren zum Vorschein. Der traditionelle Heiler ging weitgehend intuitiv vor: Wie von selbst fanden seine Hände jene Stellen, auf die sie aufgelegt werden mussten. Er diagnostizierte nicht eigentlich; er "spürte" irgendwie, wo "etwas nicht in Ordnung" war. Um das, was er tat, machte er wenig Worte. Dazu fehlte ihm das Vokabular. Wenn er erklären sollte, wie und warum er heilen kann, trug er keine ausgefeilte Theorie vor. Seine Kraft und Zuversicht schöpfte er aus Gott - traditionelle Heiler aus unserem Kulturkreis waren durchweg tiefgläubige, praktizierende Christen -, dessen unergründlicher Ratschluss ausgerechnet ihn berufen hatte.
Doch dieser Heilertypus ist nun im Aussterben begriffen. Ab den sechziger Jahren schwillt die Zahl der haupt- oder nebenberuflichen Geistheiler in Deutschland auf weit über 10'000 an - diejenigen eingerechnet, die zumindest eine Grundausbildung wie z.B. einen der beiden ersten Reiki-Grade absolviert haben, sogar auf mehrere Hunderttausend. Doch deutlich über neunzig Prozent dieser Heiler verkörpern inzwischen, auf einem zunehmend kommerzialisierten Markt, einen radikal anderen Therapeutentyp. Überdurchschnittlich viele Midlife-Kriselnde sind darunter, entlassen oder ausgestiegen aus bisherigen Berufen und kaputten Beziehungen - Unausgefüllte, Vereinsamte und Frustrierte, von Selbstzweifeln und Sinnkrisen Geschüttelte, neuen Halt, Orientierung und Einkommen Suchende. Ihre Berufung entdeckten sie in Begegnungen mit "Hellsichtigen", Medien, Astrologen, "spirituellen Weisheitslehrern", Bhagwans oder anderen respektierten Autoritäten der Esoterikszene, in Kursen und Workshops, an Messeständen, in Literaturstudien, auf ausgedehnten Selbstfindungstrips zu den süßlich durchräucherten Szenetempeln im Großstadtdschungel oder zu Ashrams und anderen exotischen Retreats in der Dritten Welt. Traditionellen Heilern wurde ihre Fähigkeit zuteil - esoterische erlernen sie, ähnlich wie die Kunst des Deutens von Horoskopen oder Tarotkarten. (Reiki, Prana-Heilen und Neoschamanismus haben sich dabei als die drei dicksten Nägel im Sarg des ursprünglichen Heilerwesens erwiesen.) Traditionelle Heiler ließen Taten sprechen, esoterische - Sternzeichen Vage, Aszendent Großer Nebel - versuchen hinter spiritualistischem Wortgeklingel und pseudophysikalisch gequantelt-skalarwellig-vakuumfeldig-nullpunktenergetisiertem Kauderwelsch zu verhüllen, was ihren therapeutischen Taten an Effizienz abgeht.
6. Die Verschulung. Von der Verheißung “Heilen-kann-jeder” inspiriert, entstehen die ersten Ausbildungseinrichtungen - und beginnen, für bis zu fünfstellige Kursgebühren innerhalb weniger Wochen oder Monate, Abertausende von Geistheilern eines neuen Typus zu produzieren: des lehrbuchkonform Geschulten anstelle des Naturtalents. (7)

6. Durchbruch zur Massenattraktion. In den neunziger Jahren sorgen Großveranstaltungen wie die Basler "Weltkongresse für Geistiges Heilen", Esoterikmessen in beinahe jeder größeren Stadt und bestsellernde Buchproduktionen dafür, dass Geistiges Heilen über die "Szene" hinaus öffentliche Aufmerksamkeit findet wie seit Grönings Zeiten nicht mehr. (Allein mein Großes Buch vom Geistigen Heilen verkauft sich rund 100.000 Mal.) Erneut, und diesmal noch eifriger, greifen Massenmedien - insbesondere vom journalistischen Boulevard und den neuen Privatsendern - das Phänomen auf, präsentieren Behandlungssensationen und vermeintliche “Wunderheiler”, schenken den Therapieresistenten des konventionellen Medizinbetriebs neue Hoffnung. Das fördert Druckauflagen und Einschaltquoten – und zeigt Massenwirkung: Einer 1992 durchgeführten Repräsentativumfrage zufolge würden sich 65 Prozent aller Westdeutschen über 16 Jahren auf einen Heiler einlassen, falls sie schwer erkranken und Ärzte nicht mehr weiterwissen.
7. Organisationsversuch. Von wohldokumentierten Behandlungserfolgen, hochwertigen Studien und herausragenden Heilerpersönlichkeiten beeindruckt, rufe ich 1993 den "Dachverband Geistiges Heilen" (DGH) ins Leben. (8) Fünf Jahre lang leite ich ihn, mit dem Ziel, verstreute Kräfte zu bündeln – für wirkungsvollere öffentliche Aufklärung über das Potenzial dieser Heilweise, für ihre Integration ins Gesundheitswesen. Bis dahin hatten mehrere Dutzend Zusammenschlüsse eher neben- und gegen- als miteinander gewerkelt – also kontraproduktiv, nach dem Motto “Warum gemeinsam stärker, wenn´s uns einsam gut genug geht?”
Bis 1997 gelingt es mir, immerhin 23 Vereine ins Boot zu holen; zusammengerechnet vertreten sie zeitweise rund 50.000 Mitglieder. Was mich allerdings zunehmend demotivierte, war zum einen eine heillose Überforderung durchs Ehrenamt: Von Anfang an bestand dieses Projekt im wesentlichen darin, dass andere mir bei der Arbeit zusahen und sich von mir wohlbetitelte Funktionärssessel unter den Hintern schieben ließen, um von dort aus zu intrigieren und bei Vorstandssitzungen querzuschießen. Zum anderen, und vor allem, ernüchterte mich, welches Hauptmotiv die meisten Heiler in Wahrheit unter das Dach meiner Organisation führte: zahlende Kundschaft vermittelt zu bekommen. Am meisten schätzten sie den telefonischen “Infodienst” meines DGH sowie mein umfangreiches Heilerverzeichnis namens “Auswege” – beides schleuste ihnen notleidende Kundschaft zu.
Anfang 1998 ziehe ich mich von meinem DGH zurück. Auch Geisteskinder missraten mitunter derart, dass man sie schließlich, mit einem Seufzer der Erleichterung, zur Adoption freigibt.
8. Höchstrichterliche Schleusenöffnung. Im März 2004 befreit das Bundesverfassungsgericht Geistheiler von dem Zwang, eine Heilpraktikerprüfung beim zuständigen Gesundheitsamt abzulegen - und restauriert damit faktisch die "Kurierfreiheit" des Deutschen Reichs, mit vergleichbaren Konsequenzen.
9. Heilerschwemme. Der Angst vor behördlicher Schikane und Strafverfolgung entledigt, trauen sich immer mehr Selbstberufene, das Heilen zur Profession zu machen und offensiv Werbung zu treiben, statt sich verstecken zu müssen. Das boomende Internet eröffnet ihnen ein neues, breitenwirksames Mittel zur billigen Selbstdarstellung. Solange Deutschlands Geistheiler mit einem Bein im Gefängnis standen, trauten sich in der Regel nur besonders Fähige zu praktizieren, im Vertrauen auf Mundpropaganda, ständig bedroht durch Denunzianten und Futterneider. Doch nun zählen Hochglanzbroschüren, professionell gestaltete Inserate und suchmaschinenoptimierte Websites mehr als natürliche Begabung.
Dem Kundenfang förderlich sind Ausbildungsangebote und Zeugnisse von Heilerschulen – sowie mancherlei werbewirksame Dienstleistungen von Vereinen, allen voran des DGH, der sich nun in erster Linie darauf verlegt, zahlende Einzelmitglieder zu gewinnen und bei der Stange zu halten. Während er auf kümmerliche drei Mitgliedsvereine schrumpft, verkommt er zur Klientenbeschaffungsagentur, Titelschleuder (“Anerkannte/r Heiler/in”) und Urkundendruckerei. Statt den Wildwuchs der Heilerszene zu beschneiden, verschärft der Dachverband ihn weiter – womit er zum Teil des Problems wird, das er lösen sollte.

Magisches Dreieck der Geldvermehrung.
Binnen weniger Jahre vervielfacht sich die Anzahl deutscher Geistheiler – auf geschätzt über 15.000. Mit dem enormen Zuwachs an Quantität einher geht ein dramatischer Qualitätsverfall: Zunehmend überwiegen aufrichtig bemühte Dilettanten: unerfahrene, mäßig begabte, sich selbst überschätzende Möchtegerns, die mit wolkiger Esoterik, mit dubiosen Titeln und Diplomen wettzumachen versuchen, was ihnen an therapeutischer Befähigung abgeht. Meisterhaft beherrschen sie die Kunst, das Unsichtbare unsichtbar zu lassen – vor allem die Wirkung. Sie mit Kritik zu konfrontieren, gleicht dem Bemühen, einen Pudding an die Wand zu nageln. Egal: Vermeintlich “geprüft” zu sein, kommt halt gut an bei Hilfesuchenden, erst recht mit einem Zertifikat im Goldrahmen an der Praxiswand. Derart ausgestattet, scheinen manchem Anbieter für unüberprüfbare “Energieübertragungen” Honorarsätze angemessen, die höchstens Anwälten und Steuerberatern nicht die Schamesröte ins Gesicht treiben würden.

10. Beginnender Niedergang. Von der Jahrtausendwende an beginnt das öffentliche Interesse spürbar nachzulassen, die Besucherzahlen von Fachkongressen und Messen sinken ebenso abrupt wie die Auflagen von Sachbüchern und Szenezeitschriften; das Thema zeigt medientypische Abnutzungserscheinungen, wie man sie von Aids, dem Waldsterben, dem Ozonloch her kennt. Ebenso erging es anderen "Psi"-Sensationen früherer Tage, von fliegenden Untertassen über psychokinetisch verbogene Löffel und blutigen "psychochirurgischen" Eingriffen bis hin zu Reinkarnationserinnerungen, Spukhäusern, geometrischen Riesenmustern in reifen Kornfeldern und Jenseitskontakten per Tonband. Kräht heute noch irgendein Hahn danach?
Unter Hilfesuchenden macht sich Ernüchterung breit: Inzwischen haben unzählige chronisch Kranke frustrierende Erfahrungen mit dem neuen Typus von sogenannten “Heilern” gemacht - das spricht sich herum. Die explosionsartig gestiegene Konkurrenz sorgt bei immer mehr Heilern für leere Praxen; die Werbewirkung von erworbenen Lizenzen, Diplomen und Titeln lässt nach, weil zuviele Mitbewerber sie ebenfalls ergattert haben und zum Kundenfang einsetzen. Heilerschulen beklagen einen rapiden Preisverfall, nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft erzwungen durch ein Überangebot an Mitbewerbern. So sind Reiki-”Einweihungen”, für welche in den siebziger und achtziger Jahren noch umgerechnet über zehntausend Euro verlangt und bezahlt wurden, mittlerweile für einen Hunderter zu erkaufen.
Ein übriges tun dramatische Veränderungen der Medienlandschaft. Bis weit in die 90-er Jahre hinein fanden Heiler immer wieder mal einen Journalisten mit offenen Ohren; regelmäßig tauchten sie in Zeitungen und Zeitschriften, in TV-Magazinen und Talkshows auf. Webprofis gestalteten für sie Homepages, die für Hilfesuchende leicht zu finden waren. Damit ist es nach und nach vorbei. Ein enormer Konzentrationsprozess lässt immer weniger Medien übrig; diese sparen Kosten, indem sie ihr Material überwiegend im Abo von großen Nachrichtenagenturen beziehen - und für diese gilt: “Follow the Science” oder was sie dafür halten. Ihre Redakteure schreiben lieber von der Mainstream-Enzyklopädie Wikipedia (9) und systemkonformen “Faktencheckern” ab, als selber zu recherchieren. Suchmaschinen, allen voran Google, werden zu Zensurhelfern: Alternativmedizinisches verbannen sie auf hintere Trefferseiten, wo sie kaum noch jemand findet. Global agierende PR-Agenturmonster wie Publicis, zu deren Milliardenumsätzen die Pharmabranche und ihr nahestehende Stiftungen maßgeblich beitragen, setzen alles daran, den Ruf von jedermann zu ruinieren, der mit Äußerungen, Angeboten und Auftritten abseits der Schulmedizin auffällt. (Projekte wie “Newsguard” (10), “Web of Trust” (11) und die Online-Dreckschleuder “Psiram” (12) schöpfen vermutlich aus diesen vergifteten Geldquellen.) Künstliche Intelligenzen wie ChatGPT, Gemini oder Perplexity, die zeitaufwändiges Internetsurfen erübrigen, indem sie blitzschnell Informationen beschaffen, komprimieren und laiengerecht aufbereiten, sind seit kurzem dabei, den Trend zuzuspitzen: Sie “verdauen” immer nur, womit man sie füttert – aus sogenannten “verlässlichen” Quellen. Medien, die Geistiges Heilen ernstnehmen, finden sich gewiss nicht in diesem vorselektierten Datenpool.
11. Unterwegs zur Bedeutungslosigkeit. Deutschlands Geistheilerei ist dabei, zum Wellness-Ritual einer neoreligiösen Subkultur zu verkümmern, ins soziale Abseits der Esoterikgemeinde zurückzukehren - es sei denn, es gelingt, auf eine auch für Außenstehende nachvollziehbare und glaubwürdige Weise jene therapeutische Qualität sicherzustellen, die ihr längst abhanden gekommen ist. Einer Geistheilung bedürfte sie zuallererst selber.
Dazu rief ich 2005, ergänzend zu meiner Stiftung AUSWEGE, die “Internationale Vermittlungsstelle für Heilkundige” (IVH) ins Leben. Mit einem aufwändigen Auswahlverfahren versucht sie in der Szene die Spreu vom Weizen zu trennen und die raren Könner herauszufiltern. An der Resonanz auf dieses Projekt wird ablesbar sein, ob es dafür nicht schon zu spät ist.
Heilen “Heiler”? Neuerdings lautet die ehrliche Antwort: allenfalls ausnahmsweise.
Anmerkungen
Dieser Artikel ist die erweiterte und aktualisierte Fassung des Abschnitts “Die 10 Phasen des deutschen Heilerwesens” in meinem Buch Heilen “Heiler”?, 4. Aufl. 2011, S. 87 ff.
(1) Siehe Harald Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen - Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, 4. Aufl. 2004; ders.: Geistheiler - Der Ratgeber - Was Hilfesuchende wissen sollten - Ehrliche Antworten auf 51 spannende Fragen, 5. Erw. Aufl. 2007.
(2) Siehe Harald Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., S. 70 ff.
(3) Zu deren Kritik s. Harald Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen, Geistheiler - Der Ratgeber sowie Fernheilen, Band 1: Die Vielfalt der Methoden.
(4) Jahrhundertelang stammten Besprecher, Gesundbeter und andere Geistheiler “meist aus bescheidenen sozialen Verhältnissen”, wie der Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte in seiner Geschichte der Alternativen Medizin ausführt (München 1996, S. 100).
(5) Die meisten Heiler, so belegt Jütte (a.a.O., S. 102 f.), waren “aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, ihren erlernten Beruf weiter auszuüben”; sie besserten “lediglich ihr festes Einkommen mit der Heilertätigkeit ein wenig auf”.
(6) Siehe Herbert Schäfer: Der Okkulttäter, Hamburg 1959, S. 91; Ebermut Rudolph, “Zur Psychologie deutschsprachiger ‘Spruchheiler’”, in Heilen und Pflegen, Marburg 1986, S. 147-153, dort S. 147; Anita Chmielewski-Hagius, “Gesundbeten in Oberschwaben”, Bodensee-Hefte 12/1993 - 1/1994, S. 42-46, dort S. 42.
(7) Siehe Harald Wiesendanger: Heilen “Heiler”?, 4. Aufl. 2011, S. 40 ff.
(8) Näheres in meinem Großen Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O., Kap. “Mein Projekt ‘Dachverband’: ein Lehrstück für die Heilerbewegung”, S. 352 ff.; in meiner Anthologie Geistiges Heilen für eine neue Zeit – Vom “Wunderheilen” zur ganzheitlichen Medizin, 2. Aufl. 2005, S. 221 ff.; sowie in meinem Wegweiser für Hilfesuchende Heilen “Heiler”?, a.a.O., S. 52 ff.
(9) Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln (2019), S. 364-407.
(10) Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen – Wie wir es durchschauen, überleben und verwandeln (2019), Kap. “Vergiftete Quellen”, S. 317 ff.
(11) Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen, a.a.O. (2019), S. 358 ff.
(12) Harald Wiesendanger: Das GesundheitsUNwesen, a.a.O. (2019), S. 458 ff.
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