Unter allen Nebenfächern liebte meine jüngste Tochter, als sie noch zur Schule ging, Philosophie am allermeisten. Irgendwann stand Erkenntnistheorie auf dem Stundenplan, und sie führte zur Wahrheitsfrage. Worum geht es dabei? Dazu schrieb ich meinem Kind den folgenden Text.
Was ist Wahrheit? Jedenfalls ein Wort, das zu 32,3 Millionen Ergebnissen führt, wenn ich bei Google danach suche. Findet man irgendwo eine Antwort? Ich habe sie bei 0,00005 Prozent der Websites gesucht, die Google auflistet, das sind ungefähr 15. Wieviele Antworten fand ich? Mindestens 15. Das zeigt, wie schwierig es ist, den Begriff Wahrheit zu definieren – wie sehr die Meinungen darüber auseinandergehen.
Und deshalb suche ich nach einer Antwort lieber nicht im Internet, sondern in mir selber. Was geht mich diese Frage überhaupt an? Wann wird sie wichtig für mich? Sie wird es, wenn es um den Unterschied zwischen Glauben und Wissen geht. Bestimmt habe ich mindestens genauso viele Überzeugungen, wie es Wahrheitsdefinitionen im Internet gibt. Alle halte ich für wahr, sonst hätte ich sie nicht. Aber sind sie es? Wenn ich Zweifel habe, wie kann ich sichergehen, dass sie stimmen? Mit anderen Worten, wann wird eine Überzeugung zu Wissen?
Eine Antwort könnte lauten: Sie ist wahr, wenn viele Andere dasselbe glauben, oder besser alle.
Aber könnten nicht alle irren? Es gab Zeiten, zu denen alle Menschen glaubten, Sterne seien an einem Himmelszelt befestigt. Alle glaubten, dass die Erde eine Scheibe ist. Alle glaubten, die Erde sei der Mittelpunkt der Schöpfung. Alle glaubten, dass die ersten Menschen Adam und Eva hießen und von Gott aus dem Paradies auf die Erde verbannt wurden. Alle hatten unrecht.
Was sonst könnte Wahrheit bedeuten? Ich glaube: Die Quadratwurzel aus 16 ist 4. Wie kann ich das wissen? Ich habe Mathematik gelernt, ich kenne ihre Rechenregeln, und wenn ich sie richtig anwende, kann ich nicht auf 5 oder 3 kommen, sondern nur auf 4. Ich glaube: Wenn Heidelberger Baden-Württemberger sind und alle Baden-Württemberger Deutsch sprechen, dann sprechen auch alle Heidelberger Deutsch. Das ergibt sich aus den Gesetzen der Logik.
In beiden Fällen kann ich über die Wahrheit eines Glaubens entscheiden, indem ich einfach nachdenke. Und ähnlich ist es zum Beispiel auch mit dem Glauben, dass ich nicht zu Hause bin, wenn ich verreise. Denn es gehört zur Bedeutung des Begriffs Verreisen, an einem anderen Ort zu sein als dem, wo man normalerweise wohnt. Ebenso weiß ich: Wo Lärm ist, kann es nicht still sein – das muss ich nicht erst nachprüfen. Wenn ein Kreis gemalt wird, muss ich nicht dabei zusehen, um zu wissen, dass er keine Ecken hat. Wenn es morgen stark regnet, wird es draußen nass sein – um das zu wissen, muss ich nicht erst den nächsten Tag abwarten. Das heißt, es gibt eine Art von Wissen, das ich habe, indem ich Sprache beherrsche.
Aber nicht immer kann ich eine Wahrheit herausfinden, indem ich einfach nachdenke. Wenn ich zum Beispiel glaube, dass alle Schwäne weiß sind, behaupte ich etwas, das sich als falsch herausstellen kann – durch Tatsachen, die meine Meinung widerlegen. Auch wenn alle Schwäne weiß waren, denen ich bisher begegnet bin, könnte es irgendwo andersfarbige geben. Und tatsächlich sind im 17. Jahrhundert in Australien schwarze Schwäne entdeckt worden. Was bedeutet Wahrheit in so einem Fall? Es bedeutet, dass meine Überzeugung mit den Tatsachen übereinstimmt.
Einen schwarzen Schwan kann ich sehen. Ich kann das zwar nicht von hier aus. Aber ich könnte es, wenn ich nach Australien fliege. Doch wie ist das mit Überzeugungen über etwas, das weder ich noch sonst jemand wahrnehmen kann? Ich glaube, dass mein ganzer Körper aus Zellen besteht, obwohl ich noch nie eine gesehen habe. Aber ich könnte auf andere Weise herausfinden, dass ich recht habe: Ich lege ein Haar oder einen Hautfetzen unter ein Mikroskop.
Aber nicht alles, was unsichtbar ist, kann sichtbar gemacht werden. Ich glaube, dass mein Klassenkamerad Schmerzen hat, wenn ich ihm ein Buch auf den Kopf haue. Aber ist das wahr? Woher weiß ich das? Seinen Schmerz kann ich nicht beobachten, und niemand sonst kann es. Wenn ich eine Chirurgin wäre, dann könnte ich seinen Schädel öffnen – dort fände ich ein Gehirn, aber keinen Schmerz. Wenn ich trotzdem sicher bin, dann deshalb, weil ich es aus seinem Verhalten erschließe. Er verzieht das Gesicht, er hält sich den Kopf, er schreit, er jammert, er weint, er sagt: „Das tut weh.“ Und all das gibt mir genügend Gründe. Aber könnte er nicht bloß so tun, als ob er Schmerzen hätte? Könnte er wie ein guter Schauspieler eine Empfindung vortäuschen, die er gar nicht hat? Fühlen sich Schmerzen für ihn genauso an wie für mich? Das weiß ich nicht. Und ebensowenig weiß ich, wie ich das herausfinden könnte. Also gibt es Überzeugungen, von denen man nicht feststellen kann, ob sie wahr sind.
Überzeugungen sind wahr, wenn sie mit Tatsachen übereinstimmen. Aber worin besteht diese „Übereinstimmung“ eigentlich? Ich sitze im Café, bestelle ein Eis, probiere es und kann bestätigen: Es schmeckt nach Schokolade. Wie kann diese Tatsache „übereinstimmen“ mit dem Satz „Das Eis schmeckt nach Schokolade“, den ich ausspreche, schreibe oder denke? Ich verstehe, dass zwei Fingerabdrücke übereinstimmen, wenn sie von derselben Person stammen. Ich verstehe, dass ein Schlüssel mit dem Zweitschlüssel übereinstimmen kann, den ich anfertigen ließ; oder ein kopiertes Blatt mit dem Original. Beide sind gleich. Aber ähnelt ein Schokoladeneis im geringsten den Linien, die ich produziere, wenn ich auf einen Zettel „Das Eis schmeckt nach Schokolade“ schreibe? Oder den Lauten, die ich bilde, wenn ich diesen Satz ausspreche? Oder meinem Gedanken an Schokoladeneis? In meinem Kopf wird es dabei weder kalt, noch würde jemand darin auf Schokogeschmack stoßen, falls er ihn öffnet. Wie soll die geheimnisvolle Verbindung zwischen Glauben und Wirklichkeit denn zustande kommen? Wie kann man überhaupt eine Tatsache meinen?
Das zeigt mir zur Zeit Lukas, ein süßer Nachbarsjunge. Knapp ein Jahr alt ist er nun, er lernt gerade seine ersten Wörter. Wie schafft ein Baby das? Bestimmt nicht durch Hellsehen – indem es beispielsweise einen unsichtbaren Pfeil entdeckt, der von einer „Mama“-Schallwelle ausgeht und auf etwas zeigt, das einen bestimmten Sinneseindruck auslöst, wie das nur die Frau kann, die ihn geboren hat. Selbst wenn es so einen „Bedeutungspfeil“ gäbe und Lukas ihn „sehen“ würde, könnte er nichts damit anfangen, denn er hat noch keine Ahnung, was ein Pfeil ist, eine Richtung, eine Spitze, ein Zeigen.
Es ist doch eher so: Oft, wenn vor ihm ein Ball ist, hört er das Wort „Ball“; ist keiner da, hört er es nicht. Ahmt er das Wort in bestimmten Situationen nach, erfährt er zustimmende oder ablehnende Reaktionen. Ist da tatsächlich ein Ball, wird er angelächelt oder übers Köpfchen gestreichelt; er hört „Ja!“, „Gut!“, „Prima!“, „Stimmt!“, „Super!“ in einem bestimmten Tonfall, und diese Worte klingen anders als Verneinungen. (Positive und negative Reaktionen können Säuglinge schon ab der dritten Lebenswoche unterscheiden, las ich irgendwo.) Das wiederholt sich mit anderen Bällen, und dabei lernt Lukas allmählich nicht nur, die typischen Laute des Wortes „Ball“ so zu bilden wie wir, sondern auch, es richtig anzuwenden – nämlich nur auf Bälle, nicht auf Papa, Milchflaschen, Schnuller und Katzen. Ähnlich lernt das Baby die Bedeutung von Adjektiven wie „rot“ und von Verben wie „hüpfen“. Es lernt Verknüpfungen von Wörtern („rot“/“Ball“, „Ball“/hüpft“) und das Bilden von Sätzen daraus („Der Ball ist rot“, „Der Ball hüpft“). Und langsam begreift Lukas: Ob etwas ein Ball ist, hängt nicht davon ab, wie groß es ist, wie es sich anfühlt, welche Farbe es hat, wie schwer es ist - sondern bloß davon, ob es rollen und hüpfen kann und seine Form verändert, wenn man es drückt, das heißt, wenn es elastisch und regelmäßig rund ist. Ist es bloß rund, aber nicht elastisch, dann heißt es „Kugel“. So entdeckt es rollende Bälle und und andere Tatsachen: Mit dem richtigen Gebrauch von Wörtern lernt es Begriffe, mit Begriffen ordnet es seine Erfahrungen. So lernt es zu denken.
Aber Tatsachen bestehen doch unabhängig davon, wie wir sie beschreiben. Sie bestünden auch dann, wenn es im ganzen Universum kein einziges intelligentes Lebewesen gäbe, das sie in Worte fassen könnte. Selbst wenn die Erde menschenleer wäre, bliebe es doch eine Tatsache, dass sie vom Mond umkreist wird – oder etwa nicht?
Richtig, aber das ist nicht der Punkt. Sprache und Wirklichkeit hängen insofern zusammen, als wir Wörtern völlig andere Bedeutungen geben könnten – dann würden wir auch andere Tatsachen feststellen. Angenommen, es gäbe eine Sprache, in der das Wort „Ball“ nur für rote Bälle verwendet wird; für deren Sprecher wäre es dann eine Tatsache, dass Tennis und Golf nicht mit Bällen gespielt werden. Oder angenommen, das Wort „Ball“ würde bedeuten: „alles, was rollen kann“. Dann würden wir es beispielsweise korrekt anwenden auf Autoreifen, Klopapierrollen, Luftballons, Flugzeuge, Orangen, Nudelhölzer, Panzer, Deosticks, Busse, Münzen, Trinkgläser, Züge und Kugelgürteltiere. Und dann wäre es eine Tatsache, dass man mit Bällen zur Schule fahren, Einkäufe bezahlen, fliegen, Orangensaft machen, Krieg führen, sich den Hintern abwischen kann.
Aber ist das alles nicht viel zu unterschiedlich, als dass man es mit ein und demselben Wort bezeichnet könnte? Täte man der Wirklichkeit dabei nicht Gewalt an, würde sie der Sprache nicht gleichsam Widerstand leisten?
Andererseits: Welches Aussehen, welches Verhalten verbindet eine Amöbe, eine Spinne, eine Eule, eine Giraffe und eine Qualle? Trotzdem bezeichnen wir sie alle als „Tier“. Wie sehr unterscheiden sich gefrorenes, flüssiges und verdampftes Wasser! Und doch nennen wir es „Wasser“. Was haben Brettspiele, Kampfspiele, Kartenspiele und Ballspiele gemeinsam – Tarot mit Eishockey, Mühle mit Flippern, Bowling mit Blinde Kuh? Trotzdem heißen sie „Spiele“ - nicht ihrer Natur wegen, aufgrund eines „objektiv“ gemeinsamen Wesensmerkmals, sondern infolge von sprachlichen Regeln. Insofern werden Tatsachen durch Sprache „konstruiert“.
Heißt das: Indem wir eine Sprache teilen, sind auch alle Tatsachen für uns dieselben? Natürlich nicht. Über Tatsachen können Menschen sehr unterschiedliche Meinungen haben. Wenn eine Freundschaft kaputt geht, kann sie sagen: „Das liegt daran, dass er langweilig war.“ Er sieht das vielleicht ganz anders: „Es liegt daran, dass sie immer Action wollte.“ Vielleicht haben beide recht, aus ihrer Sicht – beide sind im Besitz einer subjektiven Wahrheit.
Gibt es darüber hinaus auch objektive Wahrheiten? Oder ist letztlich alles bloß Ansichtssache, und keiner hat jemals Recht? Das wäre nicht nur besorgniserregend, sondern unlogisch. Dass meine Meinung „nur subjektiv wahr“ sei, „aber nicht objektiv“, kann jemand nur dann sinnvoll behaupten, wenn zumindest er selber Zugang zu objektiven Sachverhalten hat. Woher wüsste er sonst, dass das eine das andere verfehlt? In einem indischen Märchen versuchen sechs Blinde zu beschreiben, wie ein Elefant aussieht. Dabei berührt jeder ein anderes Körperteil des Tiers. Anschließend geben sie sechs verschiedene Antworten. „Ein Elefant ist wie eine Säule“, behauptet derjenige, der das Bein befühlt hat. „Nein, wie ein Seil, das am Ende ausgefranst ist“, widerspricht ein Zweiter, nachdem er den Schwanz abgetastet hat. „Nein, wie eine feuchte Hand, die sich immerzu schließen will und sich doch gleich wieder öffnet!“, meint jener, der sich mit dem Rüssel befasst hat. „Wie ein Handfächer!“, befindet einer, der das Ohr untersuchte. „Wie eine spitz zulaufende Röhre!“, glaubt jener, der mit dem Stoßzahn zu tun hatte. Und für den Sechsten fühlt sich der Bauch „wie eine Wand“ an. Recht haben irgendwie alle. Aber wie könnte uns das Märchen lehren, was es zu zeigen versucht, wenn es neben den vielen Blinden nicht wenigstens einen Sehenden gäbe?
Wenn Gegensätze zwischen subjektiven Wahrheiten scheinbar nicht aufzulösen sind, liegt das oft daran, dass beide fälschlicherweise den Anschein erwecken, als gälten sie objektiven Tatsachen. In Wahrheit beschreiben sie aber, was in den beteiligten Subjekten vor sich geht. Tina schwärmt: „Dieses Parfum duftet betörend“. Max winkt ab: „Es stinkt widerlich“. Bernd meckert: „Die Suppe ist versalzen.“ Klara widerspricht: „Quatsch, die hat eher zuwenig Salz.“ Es scheint so, als werde dabei über ein Merkmal des Parfums, der Suppe gestritten: den Duft, den Geschmack. Tatsächlich geben die Streithähne bloß wieder, welche Empfindungen in ihnen ausgelöst worden sind. Gleichermaßen Recht haben können sie deshalb, weil zwei Subjekte von ein und derselben Sache zweierlei Eindrücke gewinnen können.
In anderen Fällen lässt sich durchaus objektiv feststellen, ob eine subjektive Meinung zutrifft oder danebenliegt. Da sagt jemand: „Hitler war ein skrupelloser Massenmörder.“ Der Neonazi ist ganz anderer Meinung: „Hitler war ein guter Mensch, der wollte keinen umbringen, es sei denn aus Notwehr.“ Müssen wir das so stehen lassen, weil letztlich „jeder aus seiner Perspektive recht hat“? „Skrupel“, „Massenmord“, „Notwehr“, „jemanden umbringen wollen“: Zur Bedeutung dieser Begriffe gehören gewisse Anwendungsbedingungen, von denen wir sehr wohl feststellen können, ob sie vorliegen oder fehlen: etwa indem wir Zeitzeugen befragen, Filmaufnahmen auswerten, Redetexte, Tagebücher und andere Schriften von Hitler lesen. Wer sie ignoriert oder leugnet, hat nicht bloß eine „subjektive Perspektive“, sondern eine verkehrte.
Aber kann es überhaupt eine objektive Wahrheit geben? Tatsachen hat niemand von uns jemals direkt wahrnehmen können. Im Physik- und Biologieunterricht habe ich gelernt: Wie die Welt ist, vermitteln mir die Sinnesorgane. Augen, Ohren, Nase, Haut empfangen Reize, Nerven leiten diese in mein Gehirn, dort entstehen Wahrnehmungen. Ist es wahr, dass vor mir ein Tisch steht? Sind hier Menschen um mich herum? Oder etwas ganz anderes? Bloß Wolken von Atomen, deren Kerne von Elektronen umschwirrt werden? Der Tisch, mein Sitznachbar, der Lehrer da vorne kommen mir fest vor. Doch im Grunde, so lerne ich im Physikunterricht, ist da, wo sie sich befinden, fast nur Leere: Könnte ich eines der Atome, aus denen sie bestehen, tausend Billionen Mal vergrößern, dann sähe ich einen Kern mit knapp zwei Metern Durchmesser, um den 0,1 Millimeter große Elektronen kreisen – in fünfzig Kilometern Entfernung. Was mein Auge reizt, sind Lichtwellen, die von solchen Gebilden reflektiert werden. Aus Sinneseindrücken macht mein Gehirn dreidimensionale geistige Bilder, die mir eine Außenwelt voller Gegenstände und Personen zeigen, anscheinend unabhängig von meinem Bewusstsein. Aber stimmt die Außenwelt mit diesen Bildern überein?
Das kann ich unmöglich wissen. Um es herauszufinden, müsste ich meine Bilder mit dem vergleichen, was sie abbilden. Aber egal wie ich das versuche, ich bekäme doch nur weitere geistige Bilder.
Ist Wahrheit also immer subjektiv? Insofern ja. Aber wenn dir deine subjektive Wahrheit deine Mitschüler und deinen Tisch lässt, kannst du gut damit leben, nicht wahr?
Titelbild: OpenClipart-Vectors/Pixabay
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