Polio-Impfung auf dem Prüfstand
- Dr. Harald Wiesendanger
- 28. Apr.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Apr.
Benötigen Kinder heutzutage noch eine Impfung gegen Polio? Nutzen und Risiken will Amerikas neuer Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. gegeneinander abwägen lassen. Sein wichtigster Berater fordert, die Zulassung zu widerrufen. Pro-Vaxxer reagieren entsetzt. Zurecht?

Nein, grundsätzlich habe er überhaupt nichts gegen Impfungen, so beteuerte Robert F. Kennedy am 29. Januar bei jener Anhörung im Senat, von der seine Berufung zu Amerikas neuem Gesundheitsminister abhing. Er setze sich lediglich dafür ein, jede einzelne auf den Prüfstand zu stellen, um Nutzen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Wozu? Damit Eltern eine wahrhaft „informierte Zustimmung“ zu Impfungen ihres Kinds überhaupt erst möglich wird. „Herr Kennedy hat schon lange gesagt, dass er Transparenz bei Impfstoffen will und den Menschen eine Wahlmöglichkeit geben möchte”, erläuterte seine Sprecherin Katie Miller.
Kennedys ambitionierter Faktencheck soll auch Polio-Impfstoffe einschließen. Schließlich hatte Kennedys wichtigster Berater, der Anwalt Aaron Siri, schon 2022 bei Amerikas oberster Aufsichtsbehörde für Arzneimittel, der FDA, beantragt, die Zulassung des Vakzins gegen Kinderlähmung zu widerrufen – wie auch gegen Hepatitis B und 12 weitere Valkzine. (Seit drei Jahren „prüft“ die FDA diesen Antrag.) Seine Polio-Petition hatte der auf Impfstoffklagen spezialisierte Siri im Namen des gemeinnützigen Informed Consent Action Network (ICAN) eingereicht; dessen Gründer, der überaus impfkritische Fernseh- und Filmproduzent Del Bigtree, steht Kennedy ebenfalls nahe, wie die New York Times berichtete. An der Befragung und Auswahl von Kandidaten für Spitzenpositionen im Gesundheitsministerium wirkte Siri mit. Schon während Kennedys eigener Präsidentschaftskampagne hatte Siri ihm assistiert. Er galt als aussichtsreichster Kandidat für den höchsten juristischen Posten im Gesundheits- und Sozialministerium, den des General Counsel. Dazu kam es wohl nur deshalb nicht, weil Siri davon ausgeht, außerhalb der Verwaltung mehr Einfluss nehmen zu können;.in seiner Kanzlei Siri & Glimstad beaufsichtigt er etwa 40 Fachleute, die an Impfstofffällen und -richtlinien arbeiten. Zahlreichen Eltern half er, Impfvorschriften zu umgehen. (1) “Ich liebe ihn”, schwärmte Kennedy über Siri in einem Podcast.
Bald wieder “schutzlos ausgeliefert”?
Pro-Vaxxer schlagen entsetzt Alarm. Schnappatmend warnen sie vor einer katastrophalen Fehlentscheidung, die womöglich eine der vermeintlich größten Errungenschaften in der Geschichte der Medizin zunichte macht. Am 12. April 1955 gab die damalige US-Regierung unter Präsident Dwight D. Eisenhower den von Jonas E. Salk entwickelten Polio-Impfstoff frei. Bevor er verfügbar war, habe Polio allein in den USA jedes Jahr 15.000 Fälle von Lähmungen verursacht; bei einem großen Ausbruch 1952 waren es angeblich 58.000, mit über 3000 Todesopfern. Krankenhäuser seien überfüllt gewesen mit behinderten oder schwer kranken Patienten, so die National Library of Medicine. Voller Angst isolierten sich damals Familien, weil sich das Virus leicht unter Kindern verbreitete. Erst mit Salks Entdeckung habe dann die Kehrtwende eingesetzt; der große Durchbruch sei sechs Jahre später gelungen, als die Schluckimpfung eingeführt wurde, anstelle der gefürchteten Spritzennadel. Innerhalb kürzester Zeit, so behaupten Befürworter, seien die Meldezahlen für Polio-Fälle anschließend praktisch gegen Null gesunken. Längst gelten die Industrienationen offiziell als poliofrei. Allerdings warnen Ärzte davor, ein Aussetzen der Polioimpfungen könne dazu beitragen, dass die gefürchtete Krankheit wieder Fuß fasst. „Millionen von Menschen“, schwante der New York Times, wären dann wieder schutzlos einem Virus ausgeliefert, das “Lähmungen oder den Tod verursachen kann”.
Zudem müssten Kennedy und Siri selbst im Weißen Haus auf Widerstand gefasst sein. Zwar hat auch Donald Trump versprochen, „sehr ernsthafte Tests“ durchführen zu lassen und einige Impfstoffe abzuschaffen, „wenn ich denke, dass sie gefährlich und nicht nützlich sind“, wie er in einem Interview mit dem Time Magazine betonte. Am 8. Dezember 2024 erklärte Trump in der NBC-Sendung „Meet the Press”, er sei durchaus offen für eine Überprüfung von Impfstoffen und Autismus – mit einer Ausnahme: „Der Polio-Impfstoff ist das Beste” (“the greatest thing”). Wenn mir jemand sagt, ich solle den Polio-Impfstoff abschaffen, muss er sich wirklich anstrengen, um mich zu überzeugen.“ (2)
Ist Kennedy nun dabei, Wortbruch zu begehen? Hatte er während seiner Senatsanhörung nicht wörtlich versichert: “I support the measles vaccine. I support the polio vaccine. I will do nothing as HHS secretary that makes it difficult or discourages people from taking either of those vaccines.”
Sind Kennedy und Siri tatsächlich von Sinnen?
Faktencheck: Wie begründet ist die Panikmache um Kinderlähmung?
Kinderlähmung handelt man sich durch den Mund ein, nicht über die Nase. Anders als bei Covid-19, Influenza, Masern, Tuberkulose, Windpocken, Keuchhusten, Mumps und Röteln wird der Polio-Erreger in erster Linie nicht über die Luft übertragen, sondern hauptsächlich oral aufgenommen – insbesondere durch Trinkwasser, das Fäkalien mit dem Wildvirus verseucht haben. Daraus folgt: Die wirksamste Maßnahme, um Kinderlähmung einzudämmen, besteht in einer guten Trinkwasseraufbereitung, besseren sanitären Verhältnissen und moderner Hygiene - dadurch wird ein Kontakt mit dem Wildvirus unwahrscheinlich.
Diese Art von Seuchenprophylaxe findet seit dem 20. Jahrhundert in Industrienationen statt. Und eben deshalb ging die Anzahl der Polio-Erkrankungen und –Todesfälle drastisch zurück, lange bevor geeignete Impfstoffe auf dem Markt waren:

“Im Großteil der zivilisierten Welt”, so stellt der Medizinjournalist Bert Ehgartner klar, “ist eine Kontamination mit Polio-Wildviren heute ähnlich unwahrscheinlich wie ein Kontakt mit Außerirdischen. Die Polio ist in den Industrieländern nicht wegen der Impfung ausgestorben. (…) Es ist deshalb völlig unlogisch, dass ein Aussetzen der Impfung wieder zu einem Comeback der Polio führen würde. (…) Ihre Sinnhaftigkeit für die Normalbevölkerung? Sehr gering bis null.” (3)
Zudem verschwand eine Verwechslungsgefahr. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kam es öfters zu Poliomyelitiswellen, wo neurotoxische Gifte wie Blei-Azetat und DDT ausgiebig versprüht wurden. Kaum war ihr Einsatz verboten, sanken die offiziellen Poliozahlen. (4)
Seit 1978 kein einziges poliokrankes Kind mehr hierzulande
“Das letzte deutsche Kleinkind”, konstatierte Dr. Gerhard Buchwald (1920-2009), impfkritischer Facharzt für Lungenkrankheiten und Innere Medizin, Mitte der neunziger Jahre (5), “erkrankte 1978 an Poliomyelitis. Seitdem hat es nur noch Lähmungsfälle gegeben, die nach der Poliomyelitis-Impfung aufgetreten sind.”
Dabei blieb es bis heute: Auch im 21. Jahrhundert wurde in Deutschland bislang kein einziger durch Wildviren verursachter Poliomyelitis-Fall mehr registriert. Zwar tauchten im November 2024 in Abwasserproben aus mehreren deutschen Städten - darunter München, Bonn, Köln und Hamburg - Polioviren auf; sie stammten aber vermutlich von Migranten aus Ländern, in denen noch der orale Lebendimpfstoff verwendet wird. “Wenn seit 1978 kein deutsches Kind an Polio erkrankt ist, muss doch die Frage erlaubt sein, ob die Impfung gegen Polio überhaupt noch notwendig ist, denn sie hinterlässt zwar wenige, aber besonders folgenschwere Impfschäden”, fand Dr. Buchwald. “Meines Erachtens kann auch diese Impfung ohne Bedenken in ein späteres Lebensjahr verlegt werden. (…) Wenn die Polioimpfung wirklich einen Schutz hinterlässt, dann können beim Wiederauftreten der Polio in kürzester Zeit die gefährderten Regionen geimpft werden.”
Verantwortungslos? Wir schließen Kranken- und Unfallversicherungen, Haftpflicht- und Berufsunfähigkeitsversicherungen ab, um für persönliche Katastrophen gewappnet zu sein - egal wie unwahrscheinlich es ist, dass sie eintreten. Sollten wir, um auf Nummer Bombensicher zu gehen, mit Polio nicht genauso hypervorsichtig verfahren?
Wir tun es, weil uns eine Heidenangst vor dem Polio-Erreger, dem Neurotropen Enterovirus, eingejagt worden ist. Doch diese Angst ist extrem übertrieben. 90 bis 95 % aller von ihm ausgelösten Fälle verlaufen klinisch unauffällig, symptomarm oder völlig symptomfrei. Jeder zwanzigste Infizierte entwickelt Beschwerden, die einem grippalen Infekt ähneln; noch seltener kommt es zu einer aseptischen Meningitis. Davon genesen Betroffene innerhalb weniger Tage – und sind fortan ein Leben lang immun gegen eine erneute Infektion. Nur bei jedem hundertsten bis tausendsten (!) Infizierten treten die typischen Symptome der Poliomyelitis auf, meist in Form von gelähmten Gliedmaßen. Jedoch bilden sie sich in den meisten Fällen innerhalb eines Jahres zurück. (6)
Gegen dieses unstrittige Restrisiko sollten Eltern mögliche Impfschäden infolge der Polioimpfung abwägen. (7) Wie selbst deren Befürworter einräumen, können auch die abgeschwächten Erreger im Lebendimpfstoff Kinderlähmung auslösen, besonders bei beeinträchtigtem Immunsystem. Obwohl dies laut offiziellen Quellen bloß bei etwa 1 von 2,7 Millionen Dosen auftritt, hat die Schluckimpfung deswegen seit 1998 in Deutschland ausgedient. An ihre Stelle sind injizierte Totimpfstoffe getreten, mit abgetöteten Pathogenen oder einzelnen Bestandteilen, die auch künstlich erzeugt sein können. Bei diesen, so erklären RKI und STIKO, kommen bloß eher harmlose Nebenwirkungen - Rötung, Schwellung oder Schmerz an der Einstichstelle, Fieber, Müdigkeit – recht häufig vor, in 5 bis 15 % aller Fälle. Allergische Reaktionen - wie Hautausschlag, Atemnot oder Schwellungen von Gesicht oder Zunge – treten nur bei jedem 10.000 Geimpften auf. (8) Ebenso selten kommt es zu heftigen Fieberkrämpfen und einem kurzzeitigen schockähnlichen Zustand - einer „hypoton-hyporesponsiven Episode" (HHE) -, in dem die Muskeln des Kindes erschlaffen und es nicht ansprechbar ist.
Aber was nützt meinem Kind eine statistische Unwahrscheinlichkeit, falls sie ausgerechnet bei ihm zu 100 % eintritt? Nachdem ab 1960 in Deutschland staatlich angeordnete Polio-Massenimpfungen einsetzten – zunächst in Westberlin, dann im gesamten Bundesgebiet -, wurden zahlreiche schwere Impfschäden bekannt: 25 bei Geimpften, 23 bei ungeimpften Kontaktpersonen. Dazu zählten mehrere Fälle von Guillain-Barré-Syndrom, Enzephalomyelitis und Multipler Sklerose sowie je einmal Meningitis und postencephalitisches Syndrom. (9) Gerhard Buchwald präsentiert in seinem Buch Impfen – Das Geschäft mit der Angst mehrere tragische Fälle von Kindern, deren Leben der vermeintliche “Impfschutz” für immer zerstörte. (10)
In jedem Vakzin steckt mehr als bloß das Antigen. Das gilt sowohl für die Kombinationsimpfstoffe wie Infanrix-IPV+Hib, welche die Ständige Impfkommission (STIKO) zur sogenannten “Grundimmunisierung” im Säuglingsalter bevorzugt, als auch für Einzelimpfstoffe wie Imovax Polio®, IPV Mérieux®, Poliovaccine AJV, die eher für “Auffrischungen” oder zum “Nachholen” vorgesehen sind. Bis heute weiß niemand, was die Zusatzstoffe auf lange Sicht, im Laufe mehrerer Jahre und Jahrzehnte, in Körpern anrichten können - besonders in überempfindlichen oder vorerkrankten.
Langer Rede kurzer Sinn: In den USA, ebenso wie in Deutschland und dem Rest der zivilisierten Welt, geht der Nutzen einer Polio-Impfung mittlerweile gegen null, während Risiken fortbestehen. Und deshalb hinterfragen Kennedy und Siri sie völlig zurecht, Punkt.
Anmerkungen
(1) https://www.sirillp.com/aaron-siri/; https://www.nytimes.com/2023/12/03/us/politics/mississippi-childhood-vaccine-mandates.html; https://www.sirillp.com/newsmax-aaron-siri-discusses-san-diego-judges-ruling-against-student-vaccine-mandate/
(2) Trump wörtlich: “Hey, look, I’m not against vaccines. The polio vaccine is the greatest thing. If somebody told me to get rid of the polio vaccine, they’re going to have to work real hard to convince me. I think vaccines are — certain vaccines — are incredible.”
(3) Bert Ehgartner: Was Sie schon immer über Impfung wissen wollten (2023), S. 283.
(4) Siehe Forrest Maready: The Moth in the Iron Lung - A Biography of Polio (2018).
(5) Dr. Gerhard Buchwald: Impfen – Das Geschäft mit der Angst, 5. Aufl. 2008, S. 127 f.
(6) Buchwald: Impfen – Das Geschäft mit der Angst, a.a.O., S. 120 ff.
(7) Buchwald, a.a.O, S. 288 ff.
(8) https://www.nali-impfen.de/impfempfehlungen/impfungen-a-z/poliomyelitis-impfung/; https://portal.dimdi.de/amispb/doc/pei/Web/2611894-palde-20140201.pdf; https://www.netdoktor.de/krankheiten/polio/impfung/
(9) Nach P. E. Trüb: Die orale Poliomyelitisschutzimpfung, Düsseldorf 1969.
(10) s. Buchwald, a.a.O., S. 291-303.
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