Fachfremd? Na und.
- Dr. Harald Wiesendanger
- 29. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 4 Tagen
Zu den personellen Überraschungen im Kabinett Merz zählt die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken – keine Medizinerin, sondern Juristin. Was spricht für die Quereinsteigerin? Was ist von ihr zu erwarten?

Mindestens fünf Punkte sprechen zweifellos für Nina Warken: Nach übereinstimmenden Recherchen ist sie keinesfalls identisch mit Karl Lauterbach. Sie hat drei Kinder, was vermuten lässt, dass ihr das gesundheitliche Wohlergehen der nächsten Generation tatsächlich am Herzen liegt. Am Kabinettstisch poliert sie mehrere Quoten auf – als nichtmännliche, nichtglatzköpfige Baden-Württembergerin mit Mutterstatus. Geboren wurde sie am 15. Mai 1979, demselben Tag wie Naroa Agirre Kamio, die spanische Rekordhalterin im Stabhochsprung – eine vielversprechende astrologische Ausgangslage, denn sie wird über jede Menge Stöckchen springen müssen, die man ihr hinhält. Ihr Sternzeichen Stier steht für Zuverlässigkeit, Realismus und Zielstrebigkeit; als Schaf, nach chinesischem Horoskop, ist sie einfühlsam, kreativ, bescheiden und hilfsbereit. Klingt gut.
Dickster Pluspunkt: Nina Warken hat sich niemals abfällig über meine Stiftung AUSWEGE geäußert.
Und sonst? Keine Ahnung. Die Dame ist studierte Juristin und seit 2006 als Rechtsanwältin tätig. Ihre politischen Schwerpunkte lagen bisher vor allem in der Innen- und Rechtspolitik - unter anderem als Obfrau in einem Untersuchungsausschuss, der Ausmaß und Hintergründe der Ausspähungen durch ausländische Geheimdienste in Deutschland aufklären sollte. Sie sitzt im Innenausschuss des Bundestages, dem sie seit 2018 angehört. In der Unionsfraktion war sie Berichterstatterin für Asylrecht, Zivil- und Katastrophenschutz. Seit 2019 leitet sie den Bundesfachausschuss Innere Sicherheit der CDU; dort geht es um eher medizinferne Themen wie Stärkung der Polizei, Strategien gegen Terrorismus, Katastrophenschutz, Grenzsicherung, Cyberkriminalität und IT-Sicherheit, Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung.
Macht nix - Parteikollegen beschreiben sie als bestens vernetzte "Powerfrau mit Herz, Haltung und Verstand". Als “„blitzgescheite Generalistin“ werde sie sich “in Windeseile” einarbeiten, traut ihr der Tagesspiegel zu.
Diagnose: Ahnungslos. Therapie: Ministerposten.
Was hatte Nina Warken, Merz´ “faustdicke Überraschung”, bisher mit medizinischen Fragen am Hut? Dass sie vom Fach ist, “lässt sich allerdings nicht behaupten. Sie ist bisher nicht als Gesundheitsexpertin in Erscheinung getreten”, stellt das Nachrichtenportal n-tv.de fest. In diesem Bereich sei sie ein "unbeschriebenes Blatt", findet die Ärzte Zeitung. “Ihre Positionen zur medizinischen und pharmazeutischen Versorgung”, so konstatiert der Infodienst Medscape, “sind im Detail noch unklar” – und im Groben ebenfalls, genauer gesagt.
Was Mainstream-Medien nach angestrengten Nachforschungen hervorzukramen gelang, erschöpft sich weitgehend in ein paar Zitaten. “Die Mainpost gibt Statements von Warken zu Wahlkampfzeiten wieder: „Die CDU/CSU setzt sich entschieden für den Erhalt von Apotheken vor Ort ein und will zum Beispiel Wartezeiten für Arzttermine reduzieren, indem Patienten besser geholfen wird, einen passenden Arzt mit Terminkapazitäten zu finden.“ - „Unser Gesundheitssystem muss aus verschiedenen Bausteinen zusammengesetzt sein, die zusammen eine sicherere Versorgung in allen Lebensaltern und Lebensbereichen bieten.“ - „Eine höhere Bezahlung allein reicht nicht aus, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Gleichzeitig müssen Angehörige, die Familienmitglieder zu Hause betreuen, spürbar entlastet werden.“ Weil davon auszugehen ist, dass der angehende Bundeskanzler über fachliche Qualifikationen von Frau Warken auch nicht wesentlich mehr weiß, liegt die Befürchtung nahe: Um im Gesundheitsministerium den Chefsessel zu besetzen, genügt es, gewisse Quoten anzuheben, es mit Apothekern und Pflegenden gut zu meinen – und über ein so spektakulär ausgeprägtes Vorstellungsvermögen zu verfügen, dass man das Gesundheitswesen imaginär in Bausteine zerlegen kann.
Wieso erfährt das Wahlvolk nichts darüber, wie Frau Warken über die vordringlichsten Herausforderungen unseres Gesundheitswesens denkt – und wie sie mit ihnen umgehen will? Die Epidemie chronischer Krankheiten. Die Vernachlässigung echter Vorsorge. Der Einfluss der Pharmalobby. Die Industrialisierung und Profitorientierung des Medizinbetriebs. Fehlanreize. Die Kostenexplosion. Der drohende Kollaps der Krankenkassen, in der “größten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik”, wie der DAK-Vorstand soeben warnte. Der Mangel an Fachkräften. Der Datenschutz des “gläsernen”, digital durchleuchteten Patienten. Die Rolle der Komplementärmedizin. Die Vorbereitung auf die nächste Pandemie. Nutzen und Risiken von Impfungen. Undsoweiterundsofort. MGHA, Make Germany Healthy Again: Kein geringeres Projekt täte dringend not.
Niemanden würden wir jemals ins Cockpit eines Flugzeugs setzen, nachdem er bisher unfallfrei Pkw gefahren ist. Wie können wir dann einer Quereinsteigerin ein Ministerium anvertrauen, von dessen Einschätzungen und Entscheidungen Leib und Leben von Millionen abhängen, nicht nur von Hunderten?
Doch so geht repräsentative Demokratie: Millionen Wahlberechtigte, die von Medizin herzlich wenig Ahnung haben, lassen sich von Leuten vertreten, denen es genauso geht. Eine “Nähe zur Basis” besonderer Art.
Fachkompetenz? Zu riskant fürs Kabinett
Nur Zyniker sehen diese Personalie entspannter. Wer könnte besser geeignet sein, das deutsche Gesundheitswesen zu retten, als jemand, der damit absolut nichts am Hut hat? Ohne jeden Bezug zur Materie läuft man weniger Gefahr, sich in lästigen Details zu verlieren. Fachwissen ist schließlich völlig überbewertet – das macht doch eh nur alles komplizierter. Im Politikbetrieb von heute zählt der Mut zur Lücke, samt einer ausgeprägten Begabung, diese Lücke mit Eloquenz und Stil zu füllen. Frag nach bei Trump: Kompetenz ist was für Anfänger – echte Profis regieren blind. Ihre Stärke: Sie ahnen nicht mal, wovon sie alles keine Ahnung haben. Gut fürs innere Gleichgewicht.
Nicht zu vergessen: Nina Warkens bisher weitgehend unsichtbares Sein im Bundestag zeigt, dass sie weiß, wie man es vermeidet, Aufsehen zu erregen. Eine Eigenschaft, die sich gerade im Haifischbecken Gesundheitssystem als äußerst nützlich erweisen dürfte, ja als geradezu überlebensnotwendig.
Wer bisher nicht als Gesundheitsexpertin aufgefallen ist, hat wenigstens keinen Ruf zu verlieren.
Eines steht fest: Das deutsche Gesundheitswesen war noch nie in fachfremderen Händen. Und das ist – natürlich – volle Absicht, mutmaßen Querdenker. Freuen wir uns also auf eine weitere Legislaturperiode, die den jahrzehntelangen Gesundheitsnotstand konsequent fortsetzt - diesmal aber juristisch wasserdicht.
Wie hielt sie´s mit Corona?
Spezielle, besonders lästige Fragen beschäftigen jene Mitmenschen, die sich in Schlands Coronoia-Jahren als Desinformanten und Covidioten, als asoziale Trittbrettfahrer und wirre Verschwörungstheoretiker beschimpfen, ausgrenzen, verfolgen lassen mussten. Wie verhielt sich Nina Warken denn während der Pandemie? Trug sie brav Maske, überall und jederzeit? Hielt sie meterweit Abstand? Ließ sie sich und ihren Kindern die experimentelle Genspritze verpassen? Trug sie, wie nahezu ihre gesamte Fraktion, die Lockdowns mit?
Jedenfalls unterstützte sie die “Bundesnotbremse”: Im April 2021 stimmte sie für das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz, das bundeseinheitliche Maßnahmen bei hohen Inzidenzen vorsah – so als ergäbe sich die Bedrohlichkeit der Coronawelle aus der Anzahl positiver PCR-Tests. Sie betonte dabei, dass Grundrechte auch in Krisenzeiten gelten - jedoch nicht schrankenlos. (“Sie gelten weiterhin, bloß anders”, wie aus dem Bundesverfassungsgericht verlautete.)
Im April 2022 kritisierte Warken die Ampel-Koalition für das ihrer Meinung nach unklare Vorgehen bei der Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht. Sie bemängelte, es fehle ein einheitlicher Gesetzentwurf, und bezeichnete die verschiedenen Gruppenanträge als "Wirrwarr", das die Bevölkerung verunsichere. „Statt ihrer Verantwortung gerecht zu werden und mit einer Stimme einen tragfähigen Gesetzentwurf einzubringen, haben sich die Regierungsfraktionen in Gruppenanträge geflüchtet. [...] Das war ein falsches Signal.“
Eine allgemeine Impfpflicht ab 60 Jahren lehnte Warken ab: Eine solche Maßnahme sei unverhältnismäßig, vor Gericht halte sie womöglich nicht stand. Sie betonte die Bedeutung individueller Entscheidungen – das Gesundheitssystem müsse auf andere Weise geschützt werden. Wie? Beispielsweise mittels eines Impfregisters, das ihr notwendig erscheint.
Die Alleingänge des Kanzleramts in der Pandemie, am Bundestag vorbei, gingen Frau Warken gegen den Strich. Um die “epidemische Lage” festzustellen, müsse das Parlament stärker eingebunden werden: „Wir stellen hier keinen Blankoscheck aus, im Gegenteil.” Der Bundestag müsse “in kurzen und regelmäßigen Abständen überprüfen, ob diese epidemische Lage nach wie vor gegeben ist.“
Nahm unsere künftige Gesundheitsministerin inzwischen die RKI-Leaks (1) zur Kenntnis, und was hält sie davon? Ist ihr die Tragweite dieser Enthüllungen bewusst? Die nationale Behörde für Infektionskrankheiten und Public Health, eine der zentralen Säulen des deutschen Gesundheitswesens und ihrem Ministerium unmittelbar unterstellt, täuschte Regierungen und Parlamente, Gerichte und Medien über nahezu sämtliche Aspekte der Pandemie – auf wessen Anweisung auch immer. Welche Schlüsse zieht die Juristin daraus? Was bedauert sie? Was gedenkt sie zur Aufarbeitung der unsäglichen Coronajahre beizutragen?
Zumindest die AfD traut sich, an Warkens eher unrühmliche Rolle während der sonderbarsten Pandemie der Menschheitsgeschichte zu erinnern. Die Entscheidung für sie sei die „schlimmstmögliche Wahl“, erklärt der gesundheitspolitische Sprecher der AfD, Martin Sichert. Ausgerechnet sie zu nominieren, zeuge von einer „Geringschätzung der Gesundheitspolitik“ durch den künftigen Kanzler Merz: Anstelle eines Gesundheitsexperten habe er eine „treue CDU-Parteisoldatin und Innenpolitikerin“ berufen.
Stutzig machen Lobhudeleien seitens “Pharma Deutschland”: Der größte Branchenverband der pharmazeutischen Industrie hierzulande, der über 400 Mitgliedsunternehmen vertritt, bezeichnet Warken als „ausgezeichnete Wahl“ und preist ihre Fähigkeit, sich flexibel auf neue Themen einzustellen. Welche Art von “Flexibilität” die Arzneimittelbranche bei Frau Warken in Kürze einfordern wird, lässt sich mühelos erahnen.
Anmerkung
(1) Die vollständig ungeschwärzten „RKI-Leaks“-Dokumente wurden vom Online-Magazin Multipolar am 23. Juli 2024 veröffentlicht. Sie umfassten über 4.000 Seiten interner Protokolle des RKI-Krisenstabs aus den Jahren 2020 bis 2023. Die Dokumente wurden von einem anonymen Informanten an ein Journalistenteam um Aya Velázquez übergeben und auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Die vollständige Veröffentlichung finden Sie hier: https://multipolar-magazin.de/meldungen/0076
Zusätzlich erschien ein begleitender PDF-Bericht mit dem Titel „RKI-Protokolle und Leak: Offene Fragen“, der weitere Analysen und Kontext bietet.
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