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Es ist die Hölle.

  • Autorenbild: Dr. Harald Wiesendanger
    Dr. Harald Wiesendanger
  • 26. Juli
  • 13 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 4. Aug.

Wie ist es, hochgradig empfindlich auf elektromagnetische Felder zu reagieren? Die Hölle. Allein in Deutschland leiden Zehntausende daran. Vom Staat schutzlos gelassen, von Ärzten als Psychos abgestempelt, von ihrem Umfeld unverstanden und ausgegrenzt, sehen viele in ihrer Not nur noch einen Ausweg: Suizid. Im folgenden Brief versucht eine Betroffene zu erklären, was sie durchmacht.

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Lieber Thomas,


ich habe lange gezögert, Dir diesen Brief zu schreiben. Nicht, weil ich Dir misstraue. Sondern weil es mir schwerfällt, über etwas zu sprechen, das für die meisten Menschen so unsichtbar ist wie Radiowellen – und dabei doch mein ganzes Leben verändert hat. Aber ich spüre, dass Du wirklich verstehen willst, was es heißt, elektrosensibel zu sein. Deshalb möchte ich Dir schildern, wie sich mein Alltag anfühlt – aus der Perspektive eines Menschen, dessen Körper elektromagnetische Felder nicht einfach ignoriert, sondern sie wahrnimmt, als wäre es dröhnender Lärm oder grelles Licht, das die Haut verbrennt.


Mir ist vollauf klar, wie irrational Dir das vorkommen mag. Es klingt nach Hypochondrie oder Einbildung. Genau das macht es ja so schwer, mit dieser Empfindlichkeit zu leben: Man leidet real – aber das Leid ist für andere unsichtbar, deshalb können sie es nicht nachvollziehen, geschweige denn ernstnehmen. Schlimmer noch: Häufig wird man nicht nur belächelt, sondern sogleich als psychisch gestört abgestempelt. Die WHO nennt das "Idiopathic Environmental Intolerance attributed to EMF" – und schiebt es, trotz aller Hinweise auf physiologische Ursachen, letztlich in die psychosomatische Ecke.


Aber für mich ist es sehr real. Und es hat nichts mit Hysterie zu tun. Ich war früher technikaffin, hatte WLAN, ein schnurloses Telefon, mein Handy unter dem Kopfkissen – ohne je ein Problem damit zu haben. Erst Jahre später begannen die Symptome. Schleichend. Und dann irgendwann unverkennbar.


„Wie aus dem Nichts“


Was für Symptome? Es ist eine ganze Palette – und sie kommen nicht immer alle auf einmal, aber oft genug wie aus dem Nichts:


·    Mein Kopf beginnt zu dröhnen und ich spüre einen stechenden Druck, als würde ein Presslufthammer von innen gegen die Schädelwand schlagen.


·    Meine Haut juckt, kribbelt, brennt – besonders im Gesicht, auf den Armen, am Nacken. Wie ein Sonnenbrand ohne Sonne.


·    Ich bekomme Herzrasen, schlagartig steigt mein Puls, scheinbar ohne ersichtlichen Grund


·    Ich kann mich nicht mehr konzentrieren und orientieren, nicht mehr klar denken. In Gesprächen verliere ich den Faden. Ich kann keine Texte mehr lesen, weil meine Gedanken flackern, als hätte jemand einen Wackelkontakt in meinem Gehirn ausgelöst.


·    Ich fühle mich kraftlos, kann kaum laufen oder mit den Händen greifen.


·    Mir wird schwindlig und übel. Muskeln zuckeln. Mein Nacken verspannt sich. Ich habe einen metallischen Geschmack im Mund.


·    Meine Hände zittern, meine Augen brennen.


·    Ich kann Gehörtes nicht mehr filtern, jeder Ton wird zur Reizüberflutung.


·    Meine Brust tut weh, ich ringe nach Luft.


·    Im Ohr setzen plötzlich „Stromgeräusche“ ein.


·    Mein ganzer Körper fühlt sich „elektrisch aufgeladen“ an – fast so, als hätte ich einen Finger in der Steckdose.


·    Magen-Darm-Krämpfe und Durchfall setzen ein.


·    Obwohl ich hundemüde bin, kann ich nicht einschlafen – mein Körper kommt einfach nicht in den Entspannungsmodus. Stundenlang liege ich wach und frage mich, ob irgendwo im Haus jemand sein Handy auflädt.


Nach solchen Belastungen brauche ich oft zwei, drei Tage völlige Funkstille, um mich einigermaßen zu regenerieren. Dann liege ich stundenlang im Dunkeln, mit einer Bleimütze über dem Kopf, und warte, bis die Symptome abklingen.


Und diese Symptome sind nicht einfach nur unangenehm. Sie entkräften. Zermürben. Wie ein permanenter Angriff auf das Nervensystem. Stell Dir vor, Du müsstest in einem Raum leben, in dem konstant eine Sirene auf 80 Dezibel läuft. Du kannst nicht fliehen. Du kannst nicht abschalten. In Dir schreit es unentwegt. Du kannst nur versuchen, nicht daran zu zerbrechen. Denn jeder Aspekt Deines Lebens, wirklich jeder, steht auf dem Spiel.


Die Strahlenfolter ist allgegenwärtig, das Unverständnis ebenfalls


Wenn ich anderen davon erzähle, kommt oft die Reaktion: „Aber das kann doch nicht sein. Ich merke da rein gar nichts.“ Oder: „Vielleicht brauchst Du einfach Urlaub.“ Oder: „Vielleicht solltest Du mal wieder richtig schlafen.“ Als wäre es ein Luxusproblem, das sich mit ein bisschen Achtsamkeit erledigen ließe. Manche machen sich sogar darüber lustig: „Kauf Dir doch einen Aluhut, dann bist Du sicher.“ Manche sagen, das sei alles „Nocebo“: Was mich quält, sei nichts Reales, sondern bloß mein starke Glaube, etwas quäle mich. Eine „Einstellungssache“. „Du steigerst Dich da rein“, heißt es. „Hab dich nicht so.“


Darüber könnte ich mitlachen, wenn mir nicht zum Heulen zumute wäre. Es trifft mich. Nicht wegen des Spottes. Sondern weil es zeigt, wie tief das Unverständnis sitzt.


Was ich erleben muss, ist kein eingebildetes Leiden. Es ist so konkret, dass ich – ohne es zu wissen – in fremden Wohnungen präzise orten kann, wo genau sich hinter einer Wand ein WLAN-Router versteckt. Mein Schlafzimmer habe ich systematisch entstört, alle elektrischen Geräte entfernt, Wände abgeschirmt – anschließend konnte ich zum ersten Mal seit Monaten wieder schlafen. Das ist keine Einbildung. Das ist Erfahrung.


Die Strahlenfolter ist für mich allgegenwärtig.


Was das für meinen Alltag bedeutet? Vielleicht verstehst Du es besser, wenn ich Dir meinen typischen Tagesablauf schildere:


Ich wache gegen 4 oder 5 Uhr auf. Nicht, weil ich ausgeruht bin – sondern weil mein Körper nicht mehr schlafen kann. Mein Schlafzimmer ist ein abgeschirmter Raum – fast frei von Funkfeldern. Kein WLAN, kein DECT, kein Smart Meter. Ich habe sogar eine Zeitschaltuhr, die nachts den Stromkreis trennt. Es ist der einzige Ort, an dem ich mich einigermaßen sicher fühle.


Doch schon das Aufstehen wird zur Gratwanderung. Wenn mein Nachbar seinen Router um 6 Uhr morgens einschaltet, spüre ich es. Kein Witz. Mein Kopf beginnt zu drücken, mein Herz stolpert, meine Haut juckt. Ich frühstücke im Halbdunkel, weil selbst das LED-Licht Kopfdruck verursachen kann. Mein Handy ist ausgeschaltet – ich verwende ein altes Tastentelefon mit Kabel. Kontakt zur Außenwelt nur per Festnetz – oder per Brief, wie jetzt.


„Rausgehen ist ein Abenteuer“


Rausgehen ist ein Abenteuer. Ein Besuch in der Stadt ist für mich wie für einen Heuschnupfler ein Spaziergang über blühende Wiesen und Felder. Oft trage ich eine Mütze mit Silberfäden, um meinen Kopf abzuschirmen – das sieht komisch aus, ich weiß. Aber es hilft. Manchmal. Ein bisschen.


Einkaufen? Nur in kleinen Läden, zu Randzeiten. Große Supermärkte sind mit Selbstscannerkassen, WLAN und LED-Strahlern übersät – ich bekomme darin Kopfschmerzen nach wenigen Minuten.


Arztbesuche? Kaum möglich. Wartezimmer voller Smartphones, Empfangsmonitore, Bluetooth. Selbst viele Landärzte haben heute DECT-Telefone, WLAN und strahlende Monitore im Behandlungszimmer – für Patienten wie mich eine Tortur.


Wie irgendwohin kommen? Öffentliche Verkehrsmittel kann ich nicht benutzen – zu viele Handys, zu viele WLAN-Signale. Also im eigenen Auto? Früher war das für mich Freiheit – heute ist es ein Spießrutenlauf durch ein elektromagnetisches Minenfeld. Kaum jemand weiß, wie sehr moderne Autos Strahlung abgeben: Die Bordelektronik, das Infotainmentsystem, der automatische Türöffner, die Bluetooth-Freisprechanlage, die GPS-Antenne, manchmal sogar ein WLAN-Hotspot. Ich kann kein Auto mehr benutzen, das jünger ist als zehn Jahre – und selbst bei älteren Modellen muss ich Sicherungen ziehen, Antennen abklemmen, das Autoradio ausbauen. Sobald ich in ein "smarteres" Auto einsteige, beginnt mein Kopf zu pochen, mein Herz zu rasen. Ich bekomme Kribbeln in den Händen, ein metallisches Brennen auf der Zunge, meine Konzentration lässt nach. Einmal bin ich rechts rangefahren, weil ich dachte, ich verliere die Kontrolle. Ich habe sogar in Erwägung gezogen, ganz auf das Autofahren zu verzichten. Aber wie soll ich sonst aus meinem Rückzugsort herauskommen?


Also bleibe ich abhängig von einem alten, störungsarmen Fahrzeug. Darin stehen dem die Fenster einen Spalt offen, um den "Stau" der Strahlung zu verringern. Über die Mittelkonsole lege ich eine Decke, um nicht direkt über den elektrischen Leitungen zu sitzen.


Wenn ich das jemandem erzähle, schaut er mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Manche sagen: „Dann fahr halt Fahrrad.“ Andere: „Du bist doch nicht aus Zucker.“ Aber ich merke: Sie hören nicht zu. Sie urteilen, weil sie nicht spüren, was ich spüre. Weil sie sich nicht vorstellen können, dass die Welt, die für sie ganz normal ist, für andere zur Qual wird.


Ich will nicht jammern. Ich will Dir nur erklären, wie es ist, in einer Welt zu leben, die voller unsichtbarer Reizquellen ist – was außer Dir kaum jemand bemerkt. Für mich sind diese Reize wie dröhnend laute Musik für einen Menschen mit Migräne. Ich reagiere darauf – mein Körper rebelliert. Und ich kann ihm nicht entkommen, außer ich ziehe mich vollständig zurück. Eben das ist es, was viele EHS-Betroffene am allermeisten belastet: der Verlust der Teilhabe. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein aus der schönen neuen digitalen Welt. Nicht aus Trotz – sondern aus Not.


Glaub mir, ich habe viel versucht, um mich zu retten. Ich habe das WLAN abgeschaltet, die DECT-Telefone verschenkt, mein Handy verkauft. Ich habe mein Schlafzimmer abgeschirmt, über meinem Bett einen Baldachin aus Silber- und Kupferfäden angebracht, Wände mit Graphitfarbe gestrichen, den Stromkreis nachts per Netzfreischalter getrennt. Ich habe Erdungsbetten getestet, Abschirmkleidung gekauft, Silbergarn-Mützen getragen. Ich habe in der Küche auf dem Fußboden geschlafen, weil dort das Handysignal am schwächsten war.Ich bin umgezogen, raus aus der Stadt, in ein altes Steinhaus, fernab vom nächsten Funkmast.


Ich bin gereist, um funkstille Orte zu finden. Ich war in einem Elektrosmog-Schutzcamp in der Schweiz, in den Pyrenäen, in Waldhütten in Schweden. Ich habe gelernt, WLAN mit dem eigenen Körper zu "spüren", wie ein Radiodetektor. Ich habe Techniken zur Selbstregulation geübt, von Meditation über Autosuggestion bis Atemtherapie. Ich habe Heilpraktiker, Umweltmediziner, Baubiologen konsultiert. Ich habe alles versucht. Und vieles hat geholfen. Kurzfristig. Doch die Welt ist schneller als ich.


Nirgends mehr willkommen


Denn was bedeutet es, wenn auch noch das letzte Funkloch geschlossen wird? Für mich bedeutet es: totale Vertreibung. Kein Ort mehr zum Ausweichen. Keine Zuflucht. Kein sicherer Hafen. Schlagzeilen wie „5G jetzt auch im letzten Dorf“ klingen für mich wie: „Du bist jetzt nirgends mehr willkommen.“


Und es ist nicht nur der physische Druck. Es ist die soziale Isolation. Jegliche persönlichen Kontakte werden schwierig. Früher war ich gesellig. Heute sage ich Einladungen ab, weil ich weiß, dass dort Handys funken, Smartwatches piepen, WLAN-Router strahlen. Freunde verstehen das nicht. "Komm schon, Karin, das bildest Du Dir doch nur ein." Oder: "Du musst Dich halt mal entspannen, Du denkst zu viel drüber nach." Der Rückzug beginnt schleichend – bis man irgendwann merkt, dass man mehr mit Zimmerpflanzen kommuniziert als mit Menschen.


Nachbarn tuscheln, wenn ich meine Abschirmmütze trage oder den Stromkasten nachts abschalte. Manche grinsen, andere weichen aus. Ich bin die "Elektrospinnerin". Kollegen kapieren nicht, warum ich nicht ins Großraumbüro kann. Arbeitgeber winken ab. Ich habe meinen Job verloren, weil ich nicht mehr in WLAN-Räumen arbeiten konnte. Und nein, Homeoffice ist keine Alternative, solange auch dort alle Leitungssysteme strahlen.


Am schlimmsten ist aber: Man wird entmenschlicht. Ich bin nicht mehr Karin, die Freundin, die Musikerin, die humorvolle Kollegin, die nette Nachbarin. Ich bin ein wandelndes Symptom. Eine zweibeinige Störung. Eine Belastung. Eine Zumutung. Ich merke, wie Menschen sich innerlich distanzieren, weil ich unbequem bin. Weil ich eine Realität sichtbar mache, die sie lieber verdrängen.


 „Du übertreibst maßlos“


Vielleicht hilft es Dir, meine Situation besser zu verstehen, wenn ich Dir einige Episoden erzähle, die mir besonders nahegegangen sind. Zum Beispiel der Geburtstag meines Neffen. Ich hatte mich so darauf gefreut. Aber als ich das Wohnzimmer betrat, standen auf dem Tisch zwei Tablets, in der Ecke lief Alexa, und alle Gäste hatten natürlich ihr Handy in der Hosentasche oder auf dem Tisch. Nach zehn Minuten begann mein Kopf zu pochen, nach zwanzig Minuten fing meine Haut an zu brennen, nach dreißig Minuten musste ich mich verabschieden. Mein Bruder sah mich an, als hätte ich ihn beleidigt. "Das ist doch nicht normal, Karin", sagte er. "Du übertreibst maßlos."


Oder der Vorfall mit der Nachbarin, die sich beschwert hat, dass ich sie gebeten habe, ihren neuen WLAN-Router nachts auszuschalten. Ich sei ein „Störer“, sagte sie, ein „Rückschrittlicher“. Sie sagte, sie wolle nicht in einer Welt leben, in der man wegen der Befindlichkeiten einzelner auf moderne Technik verzichten soll. Ich fragte sie, ob sie auch so reagieren würde, wenn jemand mit einer Duftstoffallergie darum bittet, kein Parfüm zu tragen. Sie lachte nur. Verständnis? Null.


Und dann war da mein früherer Freund, Martin. Anfangs hat er sich bemüht, Rücksicht zu nehmen. Gelassen sah er mich eine Silberkette tragen, um mich zu entstören, und ersparte sich abfällige Bemerkungen, wenn ich zur Erdung einen Baum anfasste, ehe ich nach Hause kam. Doch mit der Zeit wurde es ihm zuviel. Kein Kino, kein Hotelurlaub, keine spontanen Cafétreffen – ich konnte nicht mit in die Stadt, nicht mit in seine Wohnung, nicht mit auf Familienfeiern. „Du bist wie eine wehleidige Einschränkung auf zwei Beinen“, sagte er eines Abends. Ich verstand ihn. Trotzdem tat es entsetzlich weh. Schließlich haben wir uns getrennt, weil unsere Lebenswelten so unvereinbar wurden, als kämen wir von verschiedenen Planeten.


Oft fühle ich mich wie ein lächerliches Relikt von vorgestern. Ich kann kein E‑Ticket nutzen, keine Bankgeschäfte per App erledigen, keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, weil selbst in den Zügen WLAN, Bluetooth, 5G laufen. Ich reise mit Alufolie in der Tasche, um mich notfalls abschirmen zu können. Ich kann nicht mal zum Amt oder zur Bank gehen, ohne Symptome zu riskieren – selbst dort gibt es mittlerweile digitale Warteschlangen und „intelligente“ Terminals.


Einkaufen ist ein logistischer Kraftakt. Ich meide Supermärkte mit Selbstscankassen und LED-Flutlicht, ich suche kleine Bioläden, in denen noch bar bezahlt werden darf. Aber selbst dort bin ich nie sicher – der Kassierer mit der Apple Watch reicht schon aus, um mein Nervensystem in den roten Bereich zu treiben.


Was stimmt nicht mit mir?


Natürlich frage mich unentwegt, warum ausgerechnet ich so reagiere – und andere überhaupt nicht. Was ist in meinem Körper anders? Warum kann mein Nachbar seelenruhig mit vier Routern im Haus leben, während ich beim bloßen Einschalten Kopfdruck bekomme? Natürlich habe ich recherchiert, gelesen, gefragt – und einige Antworten gefunden. Keine einfachen, keine endgültigen, aber zumindest Erklärungsansätze, von Wissenschaftlern, die das Phänomen ernstnehmen und ihm auf den Grund gehen.


Vielleicht liegt es an einer genetischen Disposition – bestimmten Entgiftungsenzymen, die bei mir weniger gut arbeiten. Oder an einer gestörten Reizverarbeitung im Gehirn, ähnlich wie bei Menschen mit Tinnitus oder Fibromyalgie. Manche Wissenschaftler vermuten eine Art "zentraler Sensitivierung", bei der das Nervensystem wie ein überempfindlicher Rauchmelder auf Reize reagiert, die andere gar nicht wahrnehmen.


Andere wiederum sprechen von chronischem oxidativem Stress, einer dauerhaften Überlastung der Zellen durch stille Entzündungen. Manche Umweltmediziner berichten von Schädigungen der Blut-Hirn-Schranke durch hochfrequente Felder. Und dann gibt es die These, dass wir alle in einem elektromagnetischen „Versuchslabor“ leben – und manche Körper einfach früher und stärker darauf reagieren als andere.


Was ich sicher sagen kann: Ich war nicht immer so. Irgendwann ist ein Punkt gekommen, an dem mein Körper angefangen hat, sich zu wehren. Vielleicht war es eine schleichende Summe aus zu vielen Jahren mit Dauer-WLAN, mit Smartphone unter dem Kopfkissen, mit Bluetooth-Kopfhörern, mit beruflichem Dauerstress. Vielleicht war es auch der eine Moment, als der neue Mobilfunkmast drei Häuser weiter in Betrieb ging – und ich nachts zum ersten Mal das Gefühl hatte, von innen heraus zu glühen.


Was ich sicher weiß: Es ist keine Einbildung. Mein Körper reagiert. Nicht immer gleich, nicht immer kalkulierbar – aber eindeutig. Ich wäre froh, wenn es nicht so wäre. Aber es ist so.


Von der Medizin im Stich gelassen, vom Staat unbeschützt


Von der Medizin fühle ich mich im Stich gelassen. Die meisten Ärzte kennen Elektrosensibilität nicht – oder tun sie ab. Ich wurde zu Psychiatern geschickt, bekam Antidepressiva verordnet, obwohl ich nie depressiv war. Nur erschöpft. Ausgelaugt. Und verzweifelt. Das offizielle Gesundheitssystem kennt für Menschen wie mich keine Kategorie. Ohne ICD-Code keine diagnostische Schublade, in die meinesgleichen zu verstauen ist.


Und der Staat? Der tut so, als gäbe es uns nicht. Elektrosensible Menschen tauchen in keiner amtlichen Statistik auf. Es gibt so gut wie keine funkfreien Zonen mehr, keine gesetzlich geregelte Rücksichtnahme, keine baulichen Schutzauflagen, keine barrierefreien öffentlichen Räume. Selbst Richter urteilen gegen Funkmasten nur in Ausnahmefällen. Alles ist dem Fortschritt untergeordnet. Digitalisierung über alles. Technologiekritik ist Wachstumsbremse.


Verstoßen Staat und Gesellschaft dabei nicht gegen fundamentale Schutzpflichten? „Jeder“, so besagt Artikel 2 unseres Grundgesetzes klipp und klar, „hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ – wo bleibt meines? „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wenn Elektrosensible gezwungen sind, unter Bedingungen zu leben, die sie krank machen, und keine Rückzugsräume haben: Verletzt das etwa nicht ihre Menschenwürde? Verdienen sie weniger Aufmerksamkeit, Solidarität und Rückendeckung als Blinde, Queers und Asylanten?


Was müsste geschehen? Ganz einfach:


•    Schaffung von gesetzlich geschützten funkfreien Gebieten, etwa in Wäldern oder Hochgebirgstälern – muss denn jedes Funkloch auf Teufel komm raus gestopft werden?


•     Kennzeichnungspflicht für Strahlungsquellen in öffentlichen Räumen;


•     Wahlfreiheit zwischen kabelgebundener und drahtloser Infrastruktur;


•     Forschungsförderung, um biologische Wirkungen niederfrequenter Felder festzustellen – und herauszufinden, welche Faktoren Menschen wie mich elektrosensibel machen;


•     medizinische Schulungen für Umweltärzte, Hausärzte, Psychiater – die meisten sind bisher ahnungslos;


•     Schutzrichtlinien, die auf biologischen Effekten basieren und nicht allein auf thermischen Grenzwerten.


Aber nichts dergleichen geschieht. Warum? Weil keine Lobby dahintersteht. Weil Funkfrequenzen Milliarden bringen. Weil es einfacher ist, uns als "Spinner" zu diskreditieren, als Grenzwerte zu senken. Weil die Funkindustrie Einfluss nimmt auf Forschung, Gesetzgebung, Aufklärung. Weil Betroffene außerstande sind, ihre Menschenrechte langwierig einzuklagen. Und weil eine Gesellschaft, die sich der totalen Vernetzung verschrieben hat, nicht bereit ist, den Preis zu reflektieren, den einige von uns dafür zahlen.


„Ich brauche kein Mitleid, sondern Verständnis und Schutz“


Was ich mir wünsche? Kein Mitleid. Keine Sonderbehandlung. Nur Räume, in denen Menschen wie ich existieren dürfen, ohne ständig kämpfen zu müssen. Ohne sich ständig entschuldigen und rechtfertigen zu müssen.


Ich wünsche mir, dass wir nicht mehr über Fortschritt reden, ohne seine Opfer zu berücksichtigen. Dass wir nicht weiter blind voranschreiten, ohne zu prüfen, wen wir zurücklassen. Ich wünsche mir, dass Menschen zuhören, auch wenn sie nicht alles begreifen. Dass sie anerkennen: Es gibt andere Lebenswirklichkeiten. Dass Rücksicht keine Schwäche ist, sondern eine Form von Menschlichkeit.


Manchmal frage ich mich, wie lange ich das noch aushalte. Ich hasse es zu jammern. Aber es gibt Tage, da denke ich: Wenn mir kein Ort mehr bleibt, an dem ich sicher bin – was dann? Wenn mein Nervensystem nicht mehr zur Ruhe kommt, wenn ich nicht mehr schlafen, denken, leben kann? Ist das dann noch ein Leben? Oder nur noch ein freudloses, qualvolles, sinnleeres Dahinvegetieren?


Ich rede mit Bäumen und Tieren, weil sie mich nicht für verrückt erklären. Ich meide Bahnhöfe, Innenstädte, Supermärkte, Arztpraxen, Cafés, Hotels, Kinos, weil sie mir den Verstand rauben, die Haut brennen lassen, mein Herz rasen. Ich lebe in einem Kokon. Mein Zuhause ist ein letzter Rückzugsort in einer feindlich gewordenen Welt – und allmählich nicht einmal mehr das. Ich kenne Mitbetroffene, in deren Nähe ein neuer Mobilfunkmast errichtet wurde – seither ziehen sie es vor, obdachlos im Wald zu leben, im Zelt.


Ja, ich habe schon an Suizid gedacht. Nicht aus Wut. Sondern aus Erschöpfung und Verzweiflung. Weil das Leben unter ständiger Strahlenbelastung für mich wie ein permanenter Alarmzustand ist. Wie ein Krieg gegen meinen eigenen Körper. Ich will leben – aber nicht unter Dauerbeschuss. Ich will atmen – aber nicht durch Bleiwesten. Ich will dazugehören – aber nicht auf Kosten meiner Gesundheit.


Ich schreibe Dir das nicht, weil ich auf Mitleid aus bin. Ich brauche keines, es erleichtert mich nicht im geringsten. Ich will bloß gesehen werden. Gehört. Verstanden.


Wenn Du magst, komm mich mal besuchen. Hier, in meinem Funkloch – solange ich noch eines habe. Bring kein Handy mit, nur offene Ohren. Es ist still hier. Vielleicht hörst Du dann, was ich meine.


Danke für Deine Aufmerksamkeit, sie bedeutet mir viel.


In Verbundenheit


Deine Karin

 


 

Rat und Hilfe für Elektrosensible bieten:

Verein für Elektrosensible und Mobilfunkgeschädigte e. V. (München)

  • Bietet: Beratung, Erfahrungsaustausch, Hilfe zur Selbsthilfe

  • Aktive Vertretung im Bereich rechtlicher Anerkennung (z. B. Mobilfunkfreie Wohngebiete, Schutz am Arbeitsplatz etc.) (elektrosensibel-muenchen.de)

Diagnose:funk / Bürgerwelle e. V.

  • Plattform für Aufklärung, Webinare (z. B. zum Welttag der Elektrohypersensibilität am 16. Juni) und Vernetzung

  • Engagiert sich für öffentliche Sensibilisierung und politische Maßnahmen (diagnose-funk.org)

Lokale & regionale Selbsthilfegruppen

  • z. B. Odenwälder Interessengemeinschaft für ein gesundes Leben, Bürgerforum Karlsruhe, Weisse Zone Rhön e. V., Initiative Flieden etc.

  • Fokus: Unterstützung vor Ort, Erfahrungsaustausch, regionale Aktionen zur Reduzierung von EMF (elektro-sensibel.de, Elektrosensibilität)


Fachberatungen & Messungen:

IBES – Institut für biologische Elektrotechnik

  • Fachliche Messungen und Gutachten zu EMF in Wohn- und Arbeitsräumen

  • Beratung zu Schutzmaßnahmen, Alltagsempfehlungen oder Abschirmmaßnahmen (TINY and small HOUSES)

Baubiologische Beratungsstellen (z. B. IBN Berlin)

  • Analysen, Abschirmungsstrategien, baubiologische Sanierungen (z. B. Abschirmfarben, Gewebeverkleidung, spezielle Baustoffe) (TINY and small HOUSES)

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