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  • Dr. Harald Wiesendanger

„Empfehlungen statt Verbote“

Am 6. Juni 2020 soll im ersten Bundesland die Corona-Verordnung fallen - Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow will eine radikale Kehrtwende vollziehen. Warum erst jetzt? Und vor allem: Wie lange bleibt es beim guten Vorsatz, trotz mächtig Gegenwind aus Berlin?



Sterben die Thüringer aus? Bekommt Deutschland in Kürze sein erstes Bundesland ohne Volk? Landauf, landab dürften sich Corona-Bangemacher gerade glücklich schätzen, dass Friseursalons wieder öffnen dürfen. Denn ihnen stehen die Haare zu Berge, seit sie von der gestrigen Ankündigung von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow erfahren haben, er wolle eine radikale Kehrtwende vollziehen: Ab 6. Juni soll für 2,1 Millionen in der geografischen Mitte Deutschlands die Corona-Verordnung fallen – Schluss mit allen Beschränkungen. Paukenschlag!


Nicht nur Versammlungsverbote, auch Mundschutz, Mindestabstand und Kontaktbeschränkungen dürften für die Thüringer dann der Vergangenheit angehören – zumindest als vorgeschriebene, polizeilich überwachte und mit Strafandrohung versehene Auflagen. An die Stelle von Zwang sollen Gebote treten. „Ich möchte den allgemeinen Lockdown aufheben“, sagt Ramelow. Und so werde er „dem Kabinett vorschlagen, dass wir jetzt die Weichen stellen, damit wir im Kern auf besondere Schutzvorschriften, die für alle Menschen in Thüringen gelten, verzichten können“, kündigt er an. „Es sollen nur noch Empfehlungen ausgesprochen werden.“ (1) Es sei „falsch, immer nur Angst zu bedienen“.


Um Himmels willen, ist dieser Mann denn noch bei Sinnen?


„Was Ramelow macht, ist nicht mutig, sondern töricht“, weiß Die Welt.


„Ein Gang aufs Minenfeld“ sei das, warnt Jenas Oberbürgermeister prompt.


Erwartungsgemäß gibt Ministerpräsident Markus Söder blauweißen Senf dazu: „Ich möchte nicht, dass Bayern noch mal infiziert wird durch eine unvorsichtige Politik, die in Thüringen gemacht wird.“


„Wir haben keine Neuigkeiten in Bezug auf die Gefährlichkeit des Virus“, so kommentiert SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in der Saarbrücker Zeitung den Vorstoß Ramelows: „Das ist ganz klar ein Fehler!“ (2)


Weiß Thüringens Landesvater denn nicht, dass wir weiterhin „erst am Anfang der Pandemie“ stehen, eine „zweite Welle“ auf uns zukommt, ein Kollaps des „überforderten Gesundheitssystems“ droht, mit Hunderttausenden von Covid-19-Opfern gerechnet werden muss? Dass es „um Leben und Tod geht“ (Armin Laschet)? Steigen Infektions- und Todesraten nicht weiter an? Es ist gerade erst ein, zwei Wochen her, seit das Berliner Panikorchester MerkelSpahnDrostenWieler &Co. der verängstigten Nation ein weiteres Mal einschärfte, wie schrecklich ernst die Lage ist – und wie viel ernster sie erst noch werden könnte. Ermahnte uns Bundespräsident Steinmeier nicht kürzlich noch zu jeder Menge „Geduld und Disziplin“?


„April, April!“ mit Smiley Ende Mai? Gilt nun plötzlich Adenauers Devise: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“


Nein, Bodo Ramelow liegt goldrichtig, und dafür hätten wir ihn gerne bereits zwei Monate früher gelobt. Denn schon damals wäre der schwedische Weg, mit der Corona-Krise umzugehen, der richtige gewesen – der einzige, der einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat voller mündiger, selbstverantwortlicher Bürger angemessen ist. Wie viel Schaden hätten inkompetente, expertenhörige, hyperaktive Regierungen in Bund und Ländern vom deutschen Volk abwenden können, ihrem Amtseid gemäß, wenn sie ihre Entscheidungen frühzeitig ramelowisiert hätten?


Nur eine Frage bleibt in Thüringen noch offen: Warum erst jetzt, Bodo? Wie kann Ende März in Erfurt, Gotha und Weimar absolut falsch und lebensbedrohlich gewesen sein, was jetzt plötzlich mit vertretbarem Risiko möglich sein soll? Hätten die Thüringer nicht schon am 23. März, dem Beginn des Lockdowns, ohne weiteres hingekriegt, was ihnen erst ab 6. Juni zugetraut wird?


„Wir haben im März auf der Grundlage von Schätzungen von 60.000 Infizierten entschieden – jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte", so rechtfertigt sich Ramelow. Gab es in seinem Umfeld denn niemanden, der ihn frühzeitig über den Unterschied zwischen Infektion und Erkrankung hätte aufklären können?


Überzogene Erwartungen an ein Ende der allgemeinen Corona-Beschränkungen in Thüringen dämpft SPD-Fraktionschef Matthias Hey. „Es ist nicht so, dass wir jetzt das Schweden Deutschlands werden“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Es gehe nicht darum, alle Beschränkungen aufzuheben, sondern sie regional so weit zurückzufahren, wie es das Infektionsgeschehen zulasse. Dazu sollen die Kommunen mehr Zuständigkeiten und Rechte erhalten. Wäre dies vor zwei Monaten etwa noch völlig ausgeschlossen gewesen – mitgetragen von informierten Bürgern, die auch in Kommunen außerhalb Schwedens durchaus willens und imstande sind, Mitverantwortung zu tragen, Gefährdete zu schützen und Rücksicht zu nehmen?


Mündige Bürger verweigern sich allerdings, wenn ihr Staat verrückt spielt. Bodo Ramelow ist insofern Vorbild: Trotz Kontaktsperre nahm er kürzlich unzulässigerweise an der Beerdigung seiner Nachbarin teil. Damit habe er bewusst gegen seine eigene Corona-Verordnung verstoßen, so bekannte er in einem Interview. Alles andere wäre ihm unmenschlich vorgekommen.

P.S.: Nach wenigen Tagen machte Thüringens Ministerpräsident einen Rückzieher.


Anmerkungen

Foto Ramelow: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=83439966

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