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  • Dr. Harald Wiesendanger

„Wir können das Leben nicht pausieren lassen“

Der Virologe Hendrik Streeck fordert ein rasches Umdenken in der Corona-Politik: „Wir dürfen uns nicht allein auf die reinen Infektionszahlen beschränken.“



Ein rasches Umdenken in der Corona-Politik fordert Professor Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universitätsklinik Bonn. Eine panische Angst vor Fehlern dürfe das öffentliche Leben nicht lähmen. Allein auf die Infektionszahlen zu schauen, sei töricht.


Streeck, der dem virologischen Halbgott der Nation, Christian Drosten, schon öfters zu widersprechen wagte, fordert mehr Mut zum Handeln. Für eine Debatte über Umfang und Dauer der staatlichen Corona-Maßnahmen sei es höchste Zeit. „Wir dürfen uns bei der Bewertung der Situation nicht allein auf die reinen Infektionszahlen beschränken", erklärte Streeck der Welt am Sonntag (1), wie zuvor schon in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen (2) und einem Fernsehauftritt bei „Maischberger“. (3)


Zwar steige die Zahl der positiv getesteten Menschen in Deutschland und Europa deutlich an. „Gleichzeitig sehen wir aber kaum einen Anstieg der Todeszahlen.“ In seinem Twitter-Account untermauert Streeck dies mit erfreulichen Statistiken aus Spanien, Italien, Frankreich und Großbritannien. (4)


„Wir können das Leben ja nicht pausieren lassen“, so betont Streeck. „Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass niemand – kein Politiker, kein Virologe, kein Epidemiologe – den einen, richtigen Weg im Umgang mit der Pandemie kennt. Wir können nur ausprobieren, und wir müssen auch Fehler machen dürfen.“


Infektionen ohne Symptome: Was ist schlimm daran?


Natürlich solle man Ansteckungen vermeiden, so gut es geht. Man könne Infektionszahlen aber auch anders lesen: „Gesellschaftlich betrachtet sind Infektionen mit keinen Symptomen nicht zwangsweise schlimm. Je mehr Menschen sich infizieren und keine Symptome entwickeln, umso mehr sind – zumindest für einen kurzen Zeitraum – immun. Sie können zum pandemischen Geschehen nicht mehr beitragen“, so Streeck. Die enorme Anzahl von Infektionen, die folgenlos blieben, müsse dringend zu einer gelasseneren Risikobewertung führen.


Wann begreifen das unsere politisch verantwortlichen Seuchenschützer endlich?


Im übrigen glaubt Streeck „weiterhin nicht, dass wir am Ende des Jahres in Deutschland mehr Todesfälle als in anderen Jahren gehabt haben werden". Er verweist auf das Durchschnittsalter der Pandemietoten von 81, das eher "oberhalb der durchschnittlichen Lebenserwartung" liege. Mancher, den Covid-19 in Deutschland verschone, sterbe stattdessen "an einem anderen Virus oder Bakterium". (5) „Meine Position war immer, dass das Virus nicht bagatellisiert werden sollte, aber auch nicht dramatisiert werden darf.“ (6)


Medien wie die "Tagesschau", die Zeit und die Süddeutsche hätten in der Corona-Berichterstattung eine fragwürdige Rolle gespielt, kritisiert Streeck. (7)


Schon Anfang Juni 2020 wagte Streeck die Lockdown-Politik zu hinterfragen. (8) Vieles sei übereilt beschlossen worden, so bemängelte er. "Wir sind zu schnell in den Lockdown gegangen." (9) „Die weiteren Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen hätte ich vom tatsächlichen Verlauf abhängig gemacht, auch um zu sehen, wie die einzelnen Beschränkungen wirken und ob zusätzliche Schritte wirklich notwendig sind."


Allerdings steht Streeck weiterhin hinter den staatlichen Hygienemaßnahmen der ersten Monate (10) - so als wäre ihm entgangen, wie vorbildlich unaufgeregt, liberal und grundrechtekonform Schweden die Krise bewältigt hat. Nicht erst im September 2020, sondern schon zu Beginn der zweiten Märzhälfte verrieten ausgerechnet RKI-Statistiken, dass alle klinisch bedeutsamen Kurven nicht bloß„abgeflacht“, sondern im Sinkflug begriffen waren: die Häufigkeit von Arztbesuchen wegen schwerer akuter Atemwegserkrankungen, die Anzahl entsprechender Diagnosen, die Anzahl von Einweisungen ins Krankenhaus deswegen, die Belegung von Intensivstationen und Friedhöfen. Und ja, lieber Professor Streeck, schon damals hätte es nicht geschadet, wenn Sie ebenso vernehmlich auf Distanz gegangen wären wie heute.


Andererseits: Eine gelegentliche Stimme der Vernunft ist immer noch besser als gar keine.


Strategiewechsel tut not


Nachdrücklich plädiert Streeck dafür, mit dem neuen Coronavirus pragmatisch umzugehen und Schutzmaßnahmen auf Menschen mit hohem Risiko oder schweren Krankheitsverläufen zu konzentrieren. Das Virus langfristig zu unterdrücken, gar seine Ausrottung anzustreben und auf einen möglichen Impfstoff zu hoffen, hält er für keine sinnvolle Strategie. (11)


Vielmehr plädiert er für Pragmatismus. „Es ist wichtig, auch Szenarien zu entwerfen für den Fall, dass es vielleicht keinen Impfstoff geben wird.“ Denn bisher habe man für keines der verschiedenen Coronaviren einen Impfstoff gefunden - ähnlich wie bei Malaria, Dengue, Tuberkulose oder HIV. „Es gibt keinen Universalimpfstoff.“ Wie bei der Influenza müsse man jedes Jahr erneut einen Impfstoff entwickeln. Jegliche Sars-CoV-2-Infektionen zu unterbinden, sei unmöglich - „und es stellt sich die Frage, ob das überhaupt sinnvoll und notwendig ist“.


Jegliche Infektion verhindern, das Virus auslöschen: weder sinnvoll noch notwendig noch möglich


Den Begriff „zweite Welle“ findet Streeck „irreführend“: „Wir müssen realisieren, dass das Virus hier ist und nicht mehr weggehen wird, dass wir es gewissermaßen mit einer Dauerwelle zu tun haben. (…) Unser Ziel kann es nicht sein, das Virus auszutreiben. Das wird nicht möglich sein.“ (12)


Hinter den Einsatz von Atemschutzmasken im Alltag setzt Streeck dicke Fragezeichen. Die Frage nach ihrem Sinn hält er für „sehr berechtigt. Am Anfang der Pandemie wurde ja dezidiert gewarnt vor Masken. Die Gründe dafür gelten immer noch, auch wenn sie merkwürdigerweise keine Rolle mehr zu spielen scheinen.“ (13) Auch wenn „Masken wirken“ (14), wie der Bonner Virologe entgegen zahlreicher internationaler Studien (15) glaubt, würden sie nach seiner Beobachtung oft falsch angewandt. „Die Leute knüllen sie in die Hosentasche, fassen sie ständig an und schnallen sie sich zwei Wochen lang immer wieder vor den Mund, wahrscheinlich ungewaschen.“ Solcher Mund-Nase-Schutz sei „ein Nährboden für Bakterien und Pilze“.


Im übrigen verweist Streeck auf die Empfehlung der WHO, die eine allgemeine Maskenpflicht bis vor kurzem nicht empfohlen hat. Masken sollten medizinischem Personal vorbehalten bleiben. (16) In Ostasien, wo die meisten Menschen in der Öffentlichkeit grundsätzlich eine Maske trügen, habe die Ausbrüche dort auch nicht verhindert. Bei Großveranstaltungen seien Masken nicht effektiv, da diese nach kurzer Zeit durchfeuchtet seien und so gar keinen Effekt mehr hätten. (17)

Auch den Nutzen der zahlreichen Corona-Tests stellt Streeck angesichts der enormen Kosten infrage. "Je nach Labor kommen im besten Fall 59 Euro pro Test auf das Gesundheitssystem zu - bei 400.000 Stück pro Woche bedeutet es eine Stange Geld. Wenn dann noch systematisch gescreened werden soll, wird es noch mehr. Wenn wir nur 1 positives Ergebnis auf 100 Tests sehen, fragt sich ja, ob das noch lohnt." (18)

Mit Blick auf Schulen und Kitas erklärt Streeck: "Kinder sind nicht die großen Virenschleudern.“ Und „Lehrer haben kein höheres Infektionsrisiko als andere Berufsgruppen, die in vergleichbarer Weise mit Menschen arbeiten." (19)


Zum Heulen


Wer nicht an massiven Gedächtnisstörungen leidet, fasst sich verzweifelt an die Stirn, wenn er Streeck jetzt einen „Strategiewechsel“ in der Coronakrise anregen hört – so als wäre dies erst ein knappes Dreivierteljahr nach Pandemiebeginn eine glänzende Idee. Eben diesen „Wechsel“ hätte Deutschland bereits im Frühjahr haben können, sofern Experten wie Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg, John Ioannidis und Knut Wittkowski, Ralf Otte und Drostens Amtsvorgänger Detlev Krüger gehört statt mundtot gemacht, einbezogen statt ausgegrenzt, ernstgenommen statt verhöhnt worden wären – mit jedem weiteren coronoiden Krisenmonat wird immer deutlicher, wie richtig diese einsamen, verkannten Mahner im großen und ganzen von Anfang an gelegen hatten, aller „Faktenchecks“ zum Trotz. Für einen frühen „Strategiewechsel“ hätten Merkel, Spahn & Co. lediglich begreifen müssen, dass „die Wissenschaft“ nicht bloß aus RKI, Charité und WHO-Beratern besteht. Auch hätte es nicht geschadet, frühzeitig den Architekten des schwedischen Sonderwegs, Anders Tegnell, zu Rate zu ziehen.


Nun ist der historisch beispiellose Megaschaden angerichtet, selbst wenn künftiger begrenzt wird, selbst wenn die Verantwortlichen - vom Kabinett Merkel über Landesfürsten wie Laschet und Söder bis hin zu den Alarmisten Drosten und Wieler – irgendwann zur Verantwortung gezogen werden sollten. Es ist: zum Heulen.

Anmerkungen

(17) „Markus Lanz“ vom 31. März 2020, https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-31-maerz-2020-100.html; „Virologe Streeck kritisiert bei Lanz Corona-Maßnahmen“, https://www.youtube.com/watch?v=VP7La2bkOMo, YouTube-Video, 1. April 2020.

Porträtfoto Streeck: Von Frank Burkhardt - http://hiv-forschung.de/essen-lab-members/streeck, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=76598170

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