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Verrückt, weil informiert

  • Autorenbild: Dr. Harald Wiesendanger
    Dr. Harald Wiesendanger
  • 21. Juli
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 27. Juli

Sie vergiften, was wir essen und trinken - und wenn wir uns deswegen Sorgen machen, erklären sie uns für psychisch gestört. Dafür gibt es neuerdings ein diagnostisches Etikett: „Orthorexie“. Letztlich schützt es - streng wissenschaftlich, versteht sich – die Lebensmittelindustrie vor allzu kritischen Verbrauchern.

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Orthorexie - das klingt wie der lateinische Name eines zahnlosen Dinosauriers mit Selleriestange im Maul. Tatsächlich bezeichnet er eine vermeintliche „Essstörung“, die sich durch eine „Fixierung“ auf gesunde Ernährung auszeichnet. Geradezu zwanghaft befassen sich Betroffene mit „reinen“, „natürlichen“ Lebensmitteln. Wie unvernünftig, wie pathologisch – im Zeitalter von Glyphosat im Weizen, Nanoplastik im Leitungswasser, Titandioxid im Kaugummi und Nitrosaminen im Würstchen.


 „Orthorexie“ ist das, was man bekommt, wenn man Listen von Inhaltsstoffen wirklich liest, notfalls unter Zuhilfenahme einer Lupe. Was entsteht, wenn man sich fragt, warum Kinder im Jahr 2025 keine Vollmilch mehr trinken dürfen, wohl aber Energy-Drinks mit 43 Zusatzstoffen.


Es ist das Unbehagen, das einen überkommt, wenn „Zuckerfreie Gummibärchen“ Sorbit, Maltit, Erythrit enthalten.


Es ist das diffuse Grauen vor Produkten mit der Aufschrift: „Jetzt noch gesünder – mit Süßmolkenpulver und Hydrolysiertem Erbsenprotein!“


Es ist der Reflex, sich eine Notiz zu machen, wenn man zum dritten Mal das Wort „ultrahochverarbeitet“ hört – und nicht sicher ist, ob damit das Produkt oder der Kunde gemeint ist.


Früher nannte man es „kritisches Denken“. Heute lautet die Diagnose: Orthorexie – ein Leiden, das „krankhafte Gesundesser“ heimsucht. (1)

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Ja, besagte „Störung“ kann mit gehörigem Leidensdruck verbunden sein. Aber dieser Druck entsteigt nicht den Untiefen einer neurotischen Seele – er kommt von außen, erzeugt von schamlosen Profiteuren eines zivilisatorischen Irrwegs. Wer ihn traurig wahrnimmt und sich ihm widersetzt, tut dies aus bewusstseinsklarer Einsicht in Sachverhalte, die nachweislich Gesundheit gefährden. Ihnen möglichst ausweichen zu wollen, ist nicht krankhaft, sondern zutiefst vernünftig. Ja, lebensnotwendig. Wüsste jedermann über die wahre Qualität industrieller Nahrungsmittel und die langfristigen Folgen ihres Konsums so viel wie der "Orthorektiker", dem man in Alnatura-Filialen, in vegetarischen Restaurants, auf Bio-Bauernhöfen begegnet - womöglich bräche dann Massenpanik aus, gefolgt von Konsumboykott.


Und ja, diese „Störung“ kann zu sozialer Isolation führen. Wer ihr kompromisslos frönt, der gilt am Essenstisch von „Normal“essern im Nu als verbohrte, masochistische Spaßbremse, er wird gemieden. Auch arrogante Besserwisserei wird ihm vorgehalten – aber er weiß ja tatsächlich mehr. Und deshalb hält er Ausgrenzung aus, zumal er nicht allein ist.


"Für diese gesunde Ernährung werden von Orthorektikern ganz persönliche, subjektive Maßstäbe angelegt", behauptet eine Psychologin vom Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung in Kiel. (2) Mit Verlaub, das ist Quatsch mit Instantsoße: Welchen Maßstab sollte man denn zuallererst und ganz unpersönlich-allgemein an Lebensmittel anlegen, wenn nicht den, dem Leben zu dienen?


Wer Fragen stellt, gefährdet das System


„Er achtet penibel auf biologische Herkunft, isst nur noch frisches Gemüse, verzichtet auf Zucker, verarbeitet nichts aus Aluminiumverpackungen, kontrolliert jedes Etikett, glaubt, dass Ernährung Krankheiten beeinflusst – schwerer Fall!“


So spricht der Arzt. Nicht über einen Verschwörungstheoretiker, sondern über einen „Orthorektiker“.


Ein Mensch, der lieber stilles Wasser trinkt als Cola Zero.


Ein Mensch, der keine Hefeextrakt-Zusatzwürze, Säureregulatoren, Emulgatoren, Calciumpropanat und Sorbinsäure im Brot will, sondern… Brot.


Ein Mensch, der fragt, warum die Lebensmittelindustrie 17 verschiedene Bezeichnungen für Glutamat kennt – aber keine für Aufrichtigkeit.


Orthorexie ist die ultimative Sünde im modernen Speiseplan.


Der Sünder ist nicht nur lästig, weil er moralisch riecht. Er ist gefährlich, weil er Fragen stellt. Je mehr es davon gibt, desto wahrscheinlicher wird eine WHO-Warnung vor einem Notstand namens epidemischer Selbstverantwortung – und ein Pfizer-Impfstoff gegen gesundes Misstrauen.


Warum enthalten Kinderriegel Palmöl aus gerodeten Urwäldern?


Warum darf ein Joghurt „mit Erdbeeren“ heißen, obwohl die rote Farbe von Läusen stammt und der Erdbeeranteil kleiner ist als der IQ eines Marketing-Teams?


Weil man den Vollwertesser nicht zum Schweigen bringen kann, etikettiert man ihn. „Orthorexie“ – das ist das T-Shirt mit dem Aufdruck: „Verrückt, weil informiert“.

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Iss, was auf den Tisch kommt – oder wir therapieren dich


Es ist bemerkenswert: Noch nie war die Auswahl im Supermarkt so groß – und noch nie so künstlich. Ein Regal mit 27 Müslisorten. Alle „natürlich“. Alle in Plastik. Alle mit Aromen, die nur unter Laborbedingungen wachsen.


Wer sich beim Einkaufen notgedrungen so anstellt wie ein CIA-Agent auf Spurensuche, gilt als psychisch auffällig - genauso wie der Maskenmuffel, der PCR-Testphobiker, der Impfverweigerer zu Coronoia-Zeiten.


Weil er keine Farbstoffe essen will, die unter Krebsverdacht stehen.


Weil er keine Tiefkühlpizza kauft, die 67 Zutaten hat, aber keinen echten Käse.


Weil er nicht glaubt, dass ein „Clean Label“ die Welt rettet, wenn der Inhalt aussieht wie ein Chemieabfall mit Tomatensoße.


Man nennt ihn „extrem“ – dabei isst er doch nur das, was auch bei Oma auf den Tisch gekommen wäre.


Orthorexie ist der einzige Krankheitszustand, den man durch das Lesen von Zutatenlisten erwerben kann.


Man liest einmal zu oft „Natriumglutamat“.


Man googelt „Carrageen“.


Man hinterfragt, warum in Babynahrung Pestizidrückstände erlaubt sind – aber keine Fragen dazu.


Und schon sitzt man im Wartezimmer des Psychiaters.


Es beginnt mit Bioeiern.


Dann kommt der Verzicht auf Aspartam.


Dann glutenfreies Brot.


Und ehe man sich versieht, hockt man im Stuhlkreis einer Selbsthilfegruppe: „Anonyme Zutatenleser – Hilfe für Betroffene und ihre Angehörigen.“ Lauter Essensnostalgiker mit Realitätsverdrängung.


Zur „Behandlung“ schlägt das Deutsche Ärzteblatt vor: „Psychoedukation mit Ernährungsberatung, kognitive Umstrukturierung oder Reizkonfrontation, um die Angst vor vermeintlich ungesunden Nahrungsmitteln abzubauen.”

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Industrie schützt sich selbst – mit einer Diagnose wie bestellt


Ist es nicht grundlegendes Menschenrecht, frei zu entscheiden, was man sich einflößt und meidet?


Doch im Namen einer prostituierten „Wissenschaft“ wird heute jeder zum Risiko, der beim Essen denkt, bevor er kaut.


Eine Medizin, die Orthorexie zur behandlungsbedürftigen Störung erklärt, schützt nicht den Patienten – sondern das Produkt.


Denn wenn man die berechtigte Sorge vor Weichmachern, Nitrat, Schwermetallen oder ultrahocherhitzten Transfetten als „krankhaft“ einstuft, muss man sich mit deren Ursachen nicht befassen.


Die neue Normalität: Paniermehl mit Mikroplastik und Schmelzkäse mit Leberwert-Trigger.


Fast alles ist aromatisiert, extrudiert, raffiniert, homogenisiert, stabilisiert, sterilisiert – und marketingtechnisch optimiert.


Was aussieht wie Essen, ist oft nur Simulation: die trügerische Oberfläche einer geschmacklich rekonstruierten Illusion.


Und wer sich dieser Matrix entziehen will, wird krankgeschrieben.


Die Diagnose: Orthorexie.


Das Rezept: Mehr Vertrauen in Nestlé, Bayer, Danone & Co. – und eine Flasche Cola Light zur Beruhigung.


Ironie der Therapie: „Essen Sie doch einfach wieder normal.“


Die Therapien gegen Orthorexie bestehen darin, wieder zu lernen, bedenkenfrei „ganz normal“ zu essen.


Wieder Fleisch aus Massentierhaltung.


Wieder Chips mit Palmöl, Dosenravioli mit Aluminium und antibiotika-optimierte Brathähnchen.


Wieder E110-kanzerogenisierter Aperol Spritz, Süßkram mit allergenem E124, Natriumnitrit-gepökelte Wurst, Fertigsuppe mit entzündungsfördernder Carboxymethylcellulose.


Wieder Frühstückscerealien mit mehr Zucker als ein Gummibärchenlager in Not.

 „Wiedereingliederung in die Normalität“ soll dabei stattfinden.


Und wehe, man sagt: „Aber ich fühl mich besser ohne diese Sachen.“


Dann heißt es: „Klassisches Abwehrverhalten – typisch für Orthorektiker.“


Fazit: Orthorexie ist das, was passiert, wenn der Konsument zurückbeißt.


Wenn der Körper mehr will als E-Nummern und versteckten Zucker.


Wenn der Geist sich nicht zufrieden gibt mit: „Alles legal, alles geprüft, alles sicher – sonst wär’s doch verboten!“


Wenn er den Grenzwert-Schwindel durchschaut.

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Was nun?


KLARTEXT fordert:


•  die Abschaffung der Diagnose „Orthorexie“ – oder zumindest ihre Umbenennung in „Realitätswahrnehmungssyndrom“


•  verpflichtende Etiketten mit dem Aufdruck: „Dieses Produkt könnte Ihren Glauben an die Unbedenklichkeit industrieller Lebensmittel erschüttern“


•  und vor allem: ein Zertifikat für alle, die es trotz E-Stoffen, Phosphaten, Glyphosat und Aromen überhaupt noch schaffen, sich gesund zu ernähren – das ist immerhin ein Kraftakt. Fast schon olympisch. Wer sich das heutzutage noch traut und beharrlich durchhält, der hat kein psychisches Problem – sondern Rückgrat, Mut, Grips und gute Gründe.


Orthorexie ist keine Krankheit. Es ist der gesunde Reflex eines Körpers, der sich weigert, zum Behälter für Sondermüll zu werden.


Nein, „es ist kein Anzeichen von seelischer Gesundheit, an eine zutiefst gestörte Gesellschaft angepasst zu sein”. Lehrte Jiddu Krishnamurti (1895–1986), indischer Philosoph und spiritueller Lehrer. (3) Der bevorzugte übrigens zeitlebens einfache, natürliche, frische Speisen. “The body must be sensitive, alert – not made dull by what we eat“, so lehrte er: „Der Körper muss sensibel und wach sein – nicht abgestumpft durch das, was wir essen.“ (4) Als Influencer für Nestlé & Co. wäre so jemand eher ungeeignet.


Zu polemisch? Polemik ist bisweilen die letzte Zuflucht der Klarheit und Wahrhaftigkeit in einer Welt, die lieber im Nebel von Konsens verrottet, als sich erschütternden Fakten zu stellen.



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Anmerkungen


(1)   So werden Orthorektiker vom österreichischen Medizinportal „Gesundheit.gv.at definiert: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/essstoerungen/orthorexie.html

(3)   Krishnamurti Foundation Trust: Commentaries on Living https://store.kfoundation.org/books/books-by-j-krishnamurti/books/commentaries-on-living-series-iii, Series 3 (1960).

(4)   Aus Der Flug des Adlers, Originaltitel: The Flight of the Eagle, 1971.

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