Besonders gut tun „Auswege“-Camps seelisch Belasteten – selbst jenen, die ihren Psychiatern und Psychotherapeuten zufolge unter schwersten psychischen Erkrankungen leiden. Jahrelang, manchmal sogar seit Jahrzehnten waren sie erfolglos behandelt worden – doch zumeist genügen neun Camptage, um ihnen erhebliche Erleichterung zu verschaffen. Oft verschwindet ihr Leidensdruck sogar vollständig. Wie ist das möglich, wo in den Camps doch zumeist nur psychologische Laien im Einsatz sind?
„Meine fünfzehn Heilsitzungen bei euch haben mir viel, viel besser getan als die vorherigen 480 bei meinem Analytiker“, befand ein 47jähriger Schwerstdepressiver. Eine Lehrerin (62), die das frühkindliche Trauma wiederholten sexuellen Missbrauchs durch den eigenen Vater nie losgeworden war, schwärmte: „Ich habe schon so viele Psychotherapien gemacht, die mir nullkommanix gebracht haben. Was ihr bei mir in Gang gesetzt habt, ist unglaublich. So intensiv!“ - „Es war, als hätte ich meine vergangenen vier Jahrzehnte in einem fensterlosen Raum zugebracht“, verglich Ludwig (55), den fortwährende Ängste mit heftigen körperlichen Begleitsymptomen quälten, seit er Augenzeuge der Ermordung von Mutter und Vater wurde. „Ihr habt mir ein Fenster geöffnet, und endlich sehe ich Licht.“
Wie diesen Drei, so ergeht es nahezu allen psychisch Schwerbelasteten, die den Weg in ein Therapiecamp der Stiftung Auswege finden. Ob bei anhaltenden Depressionen oder Ängsten, Ess- oder Schlafstörungen, Zwängen oder Süchten, bei ADHS, Hyperaggressivität oder sonstigen Verhaltensstörungen, bei einem Trauma, Burnout oder Autismus: Weniger als zwei Prozent der betroffenen Teilnehmer verlassen uns nach neun Tagen mit unveränderter oder gar verschlimmerter Symptomatik. Dieselbe Quote stellen wir bei Patienten fest, denen eine körperliche Erkrankung arg aufs Gemüt schlägt, sowie bei mitgereisten Angehörigen, die ständige Sorge und Fürsorge derart bedrückt, dass sie oftmals nicht minder behandlungsbedürftig sind wie die angemeldeten Patienten, die sie begleiten.
Was für hochwirksame Psychotherapien kommen da zum Einsatz? Welche fabelhaften Psychotherapeuten konnten wir für einen Campeinsatz gewinnen?
Zumeist gar keine. An zwei Drittel der 34 „Auswege“-Camps, die zwischen 2007 und 2021 stattfanden, wirkte kein einziger professioneller Psychologe, Psychotherapeut oder Psychiater mit. Die erwähnten Erfolge erzielte in der Regel ein Helferteam, das ausnahmslos aus psychologischen Laien bestand: überwiegend Geistheiler, gemeinsam mit einzelnen Heilpraktikern und Ärzten ohne psychiatrische oder psychotherapeutische Spezialisierung. Und wo Profis im Einsatz waren, blieb stets fraglich, ob erzielte Fortschritte ausschließlich oder hauptsächlich ihr Verdienst waren.
Wollen wir damit etwa weismachen, Laienhilfe könne jenen fachkundigen Leistungen gleichwertig oder gar überlegen sein, die ausgebildete Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater zu erbringen verstehen?
In der Tat – im Einklang mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien.
Laien: oft die besseren Therapeuten
Längst lassen Massenmedien besorgte Ärzte und Psychologen schrillen Daueralarm schlagen: In Windeseile greifen „psychische Störungen“ scheinbar wie eine ansteckende Seuche um sich, allen voran Depressionen, Ängste und Süchte. Von mindestens einer soll schon jeder dritte bis vierte Deutsche behandlungsbedürftig betroffen sein. (1) Im EU-Durchschnitt liegen angeblich sogar bei 38,2 Prozent „klinisch bedeutsame“ seelische Probleme vor. (2) Im Verlauf des Lebens soll das Risiko auf 50 Prozent steigen. (3) Und es könnte noch viel schlimmer kommen: In einer jüngeren Studie erfüllten bestürzenderweise vier von fünf jungen Erwachsenen die Kriterien einer psychischen Störung. (4) In den Klinikabteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie stieg die Zahl von Eingewiesenen seit Anfang der neunziger Jahre bis 2010 um annähernd hundert Prozent auf 407'000 Fälle pro Jahr, bei Kindern und Jugendlichen sogar um 130 Prozent auf über 20'000 Fälle. (5) Die Rede ist bereits von einer „Epidemie des 21. Jahrhunderts“, die „zur größten gesundheitspolitischen Herausforderung geworden“ sei. (6)
So gewaltige Fortschritte hat die moderne Psychiatrie demnach gemacht, dass es kaum noch psychisch Gesunde gibt. Dass trotzdem nur jeder fünfte Betroffene professionelle Hilfe sucht (7), erscheint neuerdings als unverzeihliche Unterlassungssünde. Die 80 Prozent, die um den Psychiatriebetrieb einen Bogen machen, stehen zunehmend als ahnungslose, uneinsichtige, starrköpfige „Therapieverweigerer“ da, als verantwortungslose Drückeberger auf einer Stufe mit Schulschwänzern und Arbeitsunwilligen, die sich ihrer Pflicht zu sozialverträglicher Normalität und Funktionstüchtigkeit zu entziehen trachten. Wer eine Psychotherapie ablehnt, obwohl er doch die allseits bekannten Symptome einer „psychischen Erkrankung“ aufweist, gerät unter wachsenden Rechtfertigungsdruck.
Angesichts der nahen Psycho-Apokalypse beruhigt Otto Normalversteher ungemein, dass sich inzwischen eine „gigantische Seelenheilindustrie“ (Welt am Sonntag), in der bereits mehr Menschen arbeiten als in der Automobilbranche, der globalen Bedrohung heroisch entgegenstemmt. Kranker Seelen nehmen sich in Deutschland ambulant 18'000 niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde an, 15'000 ärztliche und knapp 16'000 psychologische Psychotherapeuten, ein erheblicher Teil der 35'000 Heilpraktiker. Wer so übel dran ist, dass er stationär betreut werden muss, legt sich in eines von 63'000 Betten, die über 450 Fachkliniken für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Allgemeinkrankenhäuser mit entsprechenden Fachabteilungen für seinesgleichen aufgestellt haben. (8) Die Seelenklempnerei wird mit Vorliebe chemisch unterstützt: Innerhalb eines Jahrzehnts, von 2003 bis 2012, hat sich die Zahl ambulant verordneter Psychopharmaka in Deutschland fast verdoppelt, auf 2,1 Millionen Tagesdosen. (9) Jährlich werden weltweit Präparate für „psychische Gesundheit“ im Wert von knapp 42 Milliarden Dollar verkauft, womit sie bereits die fünftstärkste Therapieklasse auf dem Pharmamarkt bilden; nur an Arzneimitteln gegen Krebs, Schmerz, Bluthochdruck und Diabetes wird noch mehr verdient. (10) In Deutschland wurden 2009 mit rund 80 Millionen Packungen 1,1 Milliarden Euro umgesetzt, zu drei Vierteln mit Antidepressiva. (11)
Muss das alles sein?
Er mutet geradezu grotesk an, an den Haaren herbeigezogen, vom Stammtisch aufgeschnappt. Und doch zählt er zu den bestbestätigten Erkenntnissen psychologischer Forschung, mittlerweile gesichert durch Hunderte von Studien und Dutzende von Metaanalysen: der Befund, dass Laien beim Beraten und Behandeln von Menschen, die als psychisch krank gelten, nicht weniger zustande bringen als professionelle Psychotherapeuten – vorausgesetzt, sie sind „interpersonal kompetent“, wie Sozialwissenschaftler sagen: offen, herzlich, einfühlsam, verständnisvoll, kommunikativ. Dies gilt sowohl im allgemeinen als auch für einzelne „Störungsbilder“, wie z.B. soziale Fehlanpassung, Phobien, Psychosen und Übergewicht. (12) Manche Studien ergaben sogar einen deutlichen Trend, dass Laien effektiver sind. (13)
Minimales Training reicht aus, um Laien im Umgang mit psychisch Belasteten sogar noch erfolgreicher zu machen. So kümmerten sich in einer britischen Studie Krankenschwestern, nachdem sie in zwei Workshops mit Verhaltenstherapie vertraut gemacht worden waren, um 222 Hypochondriker, die zuvor unter 29'000 stationär Aufgenommenen in englischen Fachkliniken als hochgradig ängstlich in Bezug auf eigene Krankheiten identifiziert worden waren; zur Kontrolle blieben 222 weitere unbehandelt, sie wurden lediglich regelversorgt. Nach fünf bis zehn Sitzungen hatten die Krankheitsängste in der Behandlungsgruppe signifikant abgenommen, und dieser Effekt war noch ein Jahr später nachweisbar: Von den Laienbehandelten sorgten sich weiterhin 13,9 Prozent nicht übermäßig um die eigene Gesundheit, in der Kontrollgruppe nur 7,3 Prozent. Auch auf allgemeine Ängstlichkeit und Depressionen hatten sich die Bemühungen der Nichtprofis vorteilhaft ausgewirkt. (14) In den sechziger Jahren waren Laien im Großraum Hamburg bemerkenswert erfolgreich im Einsatz, nachdem sie von dem Ehepaar Reinhardt und Anne-Marie Tausch mit Grundlagen der Gesprächspsychotherapie vertraut gemacht worden waren. (15)
In über 100'000 Selbsthilfegruppen kommen in Deutschland 3,5 Millionen Laien zusammen (16), um einander in gesundheitlichen Nöten beizustehen, häufig auch bei seelischen. Wie etliche Studien belegen (17), gelingt ihnen das in der Regel keineswegs schlechter als Gruppenpsychotherapien oder irgendeiner anderen Variante professionellen Seelenheilens. Je länger die Mitgliedschaft, je regelmäßiger die Teilnahme, desto größer der persönliche Nutzen: Konsequente Besucher von Selbsthilfegruppen können mit ihrer Erkrankung besser umgehen, schätzen sich als selbstbewusster ein, fühlen sich besser verstanden und weniger isoliert, erfahren einen Zugewinn an Kompetenz, Lebensmut und Wohlbefinden. Unter ihresgleichen fanden sie also, wonach viele von ihnen zuvor bei Profis vergeblich gesucht hatten.
Laien kämen bloß vergleichsweise harmlosen „Alltagsproblemen“ bei, Profis hingegen auch „schweren, tiefgehenden, komplexen und weitreichenden Problemen“, heißt es gelegentlich. (18) Wer bedenkt, wie oft Probleme beliebiger „Störungstiefe“ unter Lebensgefährten, Freunden und Familienmitgliedern erfolgreich angegangen werden, während sie in Profipraxen unbewältigt liegenbleiben, kann darin nur ein Marketinggerücht sehen, solange empirische Forschung ihn nicht eines besseren belehrt.
Laien können allenfalls beraten, aber nicht behandeln, wenden Profis ein und warnen vor einer „Vermischung“. (19) Doch was trennt beides denn grundsätzlich?
Psychotherapie biete einen „Heilungsdiskurs“; „behandelt Menschen, die an Krankheiten leiden“; verwende „deutende und aufdeckende Techniken“. Beratung hingegen bringe bloß einen „offenen Hilfediskurs“ zustande; „unterstützt Menschen in Krisen, mit Problemen oder schwierigen Fragen und dient dazu, eine gute Lösung zu finden“; setze allenfalls „unterstützende Techniken“ ein. (20) Diese Abgrenzungen sind willkürlich und wirklichkeitsfremd; im Alltag, wie auch in „Auswege“-Camps, verschwimmen sie, die Übergänge sind fließend. Laien, die einfühlsam und verständnisvoll einen Nächsten beraten – ob im Zweiergespräch oder in der Gruppe -, können dabei ebenfalls deuten, aufdecken, heilsam wirken. Bewusst oder unreflektiert, jedenfalls erstaunlich erfolgreich nutzen sie Methoden der Psychotherapie, auch bei als „krank“ Etikettierten. Andererseits intervenieren berufsmäßige Therapeuten natürlich auch offen, unterstützend und lösungsorientiert. (21) Im übrigen zeigen etliche Vergleichsstudien: Beratung und Psychotherapie sind gleich wirksam. (22)
Ungeheuerlich, aber wahr: Nach heutigem Forschungsstand können professionelle Psychotherapeuten nicht für sich beanspruchen, bessere Leistungen zu erbringen als sogenannte „blutige“ Laien mit keinerlei oder bloß minimalem Training.
In dieser Tatsache steckt gesundheitspolitischer und –ökonomischer Sprengstoff ohnegleichen, weshalb sich in Therapeutenkreisen ein heimlicher Konsens herausgebildet zu haben scheint, es sei klüger, sie nicht an die große Glocke zu hängen. Sie bedeutet nämlich:
- In der Psychotherapie führt langjährige, kostspielige Ausbildung zu keinem nennenswerten Effizienzvorsprung – bestätigt durch zwei umfangreiche Meta-Analysen, die nicht weniger als 375 Studien über den Zusammenhang zwischen Ausbildungsdauer und Therapieerfolg einbezogen. (23)
- Ebenso unerheblich ist die Fachrichtung. Ob Arzt, Psychologe, Heilpraktiker oder Lebensberater: Keiner hilft wirkungsvoller als die anderen.
- Im Umgang mit psychischen Belastungen spielt Berufserfahrung keine Rolle. (Hingegen könnte Erfahrung damit durchaus bedeutsam sein – hierzu später.)
- Der Nachweis, dass Psychotherapeuten tatsächlich „Experten“ darin sind, mit welchen Mitteln man psychischen Erkrankungen entgegenwirken kann, steht aus.
- Es gibt keinen plausiblen Grund, Laien von der medizinischen Versorgung psychisch Kranker auszuschließen.
- Zur Eindämmung der Kostenexplosion im Gesundheitswesen könnte wesentlich beitragen, Ärzten und Psychotherapeuten das Behandlungsmonopol für psychische Leiden zu entreißen und Laien einzubeziehen.
Für die Stiftung Auswege folgt daraus: Nichts spricht dagegen, in ihren Therapiecamps psychisch Belastete durch psychotherapeutisch Unausgebildete betreuen zu lassen – und nichts dafür, für die Campteams unbedingt Psychoprofis anzuwerben.
Auf Forschungsergebnisse, die uns darin bestärken, reagieren Standesorganisationen von Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten seit eh und je überaus gereizt und beleidigt. Wie kann man allen Ernstes behaupten, ein mindestens dreijähriges Universitätsstudium sorge für keinerlei Kompetenzvorsprung? Wie könnte eine fundierte akademische Ausbildung, die 20'000 bis 40'000 Euro kostet, mit mindestens 600 Stunden Theorie, 600 Stunden Behandlung unter mindestens 150 Stunden Supervision, 120 Stunden Selbsterfahrung und 1800 Stunden praktische Tätigkeit, davon ein Drittel in einer psychiatrischen Einrichtung (24), weitgehend für die Katz sein? Ihren empörten Widerstand stützen Fachkreise vornehmlich auf drei Argumente:
1. Bloß Experten wissen, wie psychische Erkrankungen entstehen – aber nur wer Ursachen kennt, kann sie auch beheben.
2. Nur Experten verfügen über geeignete Techniken, um psychischen Erkrankungen beizukommen. Welcher Laie beherrscht schon die filigranen Vorgehensweisen eines Freudschen Analytikers, eines Tiefenpsychologen nach C. G. Jung, eines kognitiven Verhaltenstherapeuten?
3. Nur Experten können psychische Erkrankungen erkennen – die richtige Diagnose stellen. Welcher Laie kennt schon das klinische „Störungsbild“ einer depressiven Episode, eines Borderline-Syndroms, einer Angststörung, eines chronischen Erschöpfungssyndroms usw.?
Mich überzeugt keines dieser Argumente. Denn aus wissenschaftlicher Sicht steht eines wie das andere auf tönernen Füßen:
1. Wie und warum die Psyche erkrankt, ist weiterhin rätselhaft.
Angenommen, Naturwissenschaftler böten uns fünfzig verschiedene Theorien dafür an, weshalb ein Gegenstand senkrecht und beschleunigt nach unten fällt, dem Blitz der Donner folgt, ein Magnet Eisenfeilspäne anzieht, Planetenbahnen elliptisch verlaufen, Laubbäume im Herbst ihre Blätter verlieren. Würden wir ihnen bescheinigen, sie könnten uns die Welt erklären? Ein unverbundenes Nebeneinander von Theorien kennzeichnet das vorwissenschaftliche Stadium einer Disziplin, und in eben diesem kümmerlichen Zustand befinden sich bis heute die klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie. Wer in irgendeinem ihrer Lehrbücher25 über Störungstheorien nachliest, dem schwirrt nach wenigen Seiten der Kopf: Unterschiedlicher, widersprüchlicher, verquaster könnten die dort vorgestellten intellektuellen Luftschlösser kaum sein. Dennoch vertreten ihre Anhänger die jeweils bevorzugte Lehre mit der gleichen unerschütterlichen Gewissheit. All diese Glaubensbekenntnisse können aber unmöglich gleichzeitig zutreffen. Solange ein derartiges Wirrwarr anhält, zeigt es an, dass unsere Seelenheilkunde im Grunde nicht weiß, wie psychische Krankheiten zustande kommen.
2. Techniken sind im psychotherapeutischen Prozess weitgehend unerheblich.
Wer Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice im Wunderland“ kennt, wird sich an jenen Wettlauf erinnern, bei dem niemand feststellt, wie weit und wie lange die Teilnehmer gelaufen sind. Als der putzige Vogel Dodo gefragt wird, wer denn nun der Sieger sei, sagt er: „Jeder hat gewonnen und alle müssen Preise bekommen.“
In solch wunderländischem Wettbewerb stehen all die Hunderte von psychotherapeutischen Verfahren, die Hilfesuchende vor die schweißtreibende Qual der Wahl stellen. Eine Metaanalyse (26) von fast 400 Therapie-Vergleichsstudien ergab: Keine bringt rein gar nichts, keine nützt immer, keine ist den übrigen deutlich überlegen - sie alle sind annähernd gleich wirksam (27), und dieser Sachverhalt wird als „Dodo-Bird-Verdikt“ (28) bezeichnet, gelegentlich auch als „Äquivalenzparadox“.
In diesem Licht erweist sich die sogenannte „Differentielle Indikation“ – die Beurteilung, welche Form der Psychotherapie bei welchem Hilfesuchenden angezeigt ist – als windige Luftnummer. Wenn keine Methode mehr ausrichtet als die andere, machen jene den Unterschied, die sie anwenden; Patienten brauchen den passenden Therapeuten. Zwar sollen vereinzelte Studien ergeben haben, dass Patienten mit hoher „Direktivität“ – einem ausgeprägtem Bedürfnis nach Selbstbestimmung bzw. starker „Reaktanz“, einem deutlichen Abwehrverhalten auf den Eindruck hin, unter Druck gesetzt zu werden – eher von mäßig strukturierten, nichtdirektiven Ansätzen wie z.B. der Gesprächstherapie profitieren, während „submissiven“ Patienten, die zur Unterordnung neigen, direktive Verfahren wie z.B. die Verhaltenstheorie eher nützen. (29) Doch letztlich ist es kein methodisches Abstraktum, das Hilfsbedürftige „dirigiert“, „unterwirft“ oder ihnen Freiraum lässt, sondern die individuelle Persönlichkeit des jeweiligen Behandlers. Worauf er aus ist, kann er mit jeder beliebigen Technik erreichen.
3. Psychodiagnostik stellt nicht fest, sondern schreibt zu – sie ist unwissenschaftlich, willkürlich und überflüssig.
In „Auswege“-Camps werden weder psychiatrische Diagnosen gestellt, noch gestellte handlungsleitend gemacht. Aber wie sollten wir seelisch Belasteten dort überhaupt helfen können, solange wir nicht genau wissen, was ihnen fehlt?
Das wissen wir freilich immer. Seit längerem geht es ihnen schlecht, ohne dass ihre Ärzte eine organische Ursache dafür gefunden haben, und bei ihren Campterminen lassen wir sie ihr Unwohlsein ausführlich schildern: Wie fühlt es sich für sie an? In welcher Weise belastet es sie? Wann und unter welchen Umständen ist es entstanden? Wie hat es sich im Laufe der Zeit entwickelt? Wie wirkt es sich auf ihr Leben aus? Ihre Angaben lassen wir von mitgereisten Angehörigen bestätigen, ergänzen oder einschränken. So erhalten wir ein recht detailliertes Bild von ihrem Problem. Darauf gehen wir ein, und was wir mit Hilfesuchenden anschließend tun – wir reden, lachen, tanzen mit ihnen, wir berühren, umarmen und massieren sie, legen ihnen Hände auf, lassen sie basteln, Bilder malen und Klänge hören, entspannen, die Gemeinschaft Mitbetroffener erleben, eine idyllische Natur genießen -, führt offenkundig binnen weniger Tage dazu, dass es den meisten erheblich besser geht, in der Regel weit über die Campwoche hinaus. An keinem Punkt dieses Geschehens muss notwendig festgestellt werden, welche psychische Krankheit bei einem Teilnehmer vorliegt – ja, ob es sich überhaupt um eine Krankheit handelt, die ihn zum „Patienten“ macht. Dass sich ein Betroffener selber krank fühlt, bedeutet nicht zwingend, dass er es ist.
Warum meint er, krank zu sein? Sein Empfinden, Erleben und Fühlen, seine Erinnerungen und Vorstellungen, sein Denken und Verhalten belasten ihn seit längerem, ohne dass er daran willentlich etwas ändern könnte; sie sorgen für Leidensdruck und weichen auf merkwürdige, schwer nachvollziehbare Weise von der Norm ab, womit sie Anderen und ihm selbst Rätsel aufgeben. Wer ihm als Ursache dafür eine „psychische Krankheit“ unterstellt, äußert eine Hypothese: eine Mutmaßung, die erst einmal zu beweisen wäre.
Die moderne Psychotherapie versteht sich als behandelnder Teilbereich der Psychiatrie, diese wiederum als Fachgebiet der Medizin, die allergrößten Wert darauf legt, als „empirische Wissenschaft“ zu gelten. Eine Krankheit im medizinischen Sinn ist ein im Individuum bestehender Zustand oder ablaufender Prozess, der sich in typischen Zeichen, „Symptomen“, bemerkbar macht. (Liegen gleichzeitig verschiedene solche Zeichen vor, sprechen Mediziner von einem „Syndrom“, von griech. syndromos: begleitend, zusammentreffend.) Dass überhaupt eine Krankheit vorliegt, lässt sich demnach nur dann behaupten, wenn dieser Zustand bzw. Prozess entweder unmittelbar festgestellt oder aus Indikatoren erschlossen werden kann. Wissenschaftlich ist eine solche „Diagnose“, wenn die dazu verwendeten Verfahren objektiv, zuverlässig und valide sind. Und in diesem Sinne ist fraglich, ob unseren Campteilnehmern, ja irgendeinem Menschen jemals eine „psychische Krankheit“ nachgewiesen worden ist – mehr noch, ob es eine derartige Entität überhaupt gibt. An entsprechenden Methoden mangelt es der Psychiatrie nämlich bis heute.
Den ungetrübten Blick darauf verstellt ein Zwillingspaar aus monströsen Begriffsgebilden von den Ausmaßen turmhoher Apothekerschränke, jeweils mit Hunderten von fein säuberlich etikettierten Schubladen: eine für jede „psychische Krankheit“. Welche das sein sollen, ist in zwei voluminösen Katalogen zusammengestellt worden, an denen sich Psychodiagnostiker mittlerweile weltweit orientieren: Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird seit 1952 von der American Psychiatric Association herausgegeben, einem 50'000 Mitglieder starken Berufsverband, und ist vor allem im angelsächsischen Raum maßgebend. 2013 erlebte es die fünfte Auflage; anfangs ein schlankes Heft von 130 Seiten, kommt es inzwischen als zwei Kilo schwerer Wälzer mit 1298 Seiten daher. In Deutschland gebräuchlicher ist die ICD (International Classification of Diseases), die „Psychische und Verhaltensstörungen“ einschließt. Für Deutschlands Vertragsärzte ist die ICD-Verwendung seit dem Jahr 2000 Pflicht, nur dann können sie mit ihren Kassen abrechnen. Die Ursprünge der ICD reichen bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück; von der Weltgesundheitsorganisation übernommen und stetig weiterentwickelt, liegt sie seit 2012 in der zehnten Version vor. Psychodiagnostik legt fest, wem diese darin befindlichen Etiketten angeklebt werden dürfen – wer sie zurecht trägt.
Herauszufinden versucht sie das, indem sie mit Verdächtigen standardisierte schriftliche und mündliche Interviews führt, sie diversen Tests unterzieht, Einschätzungen von anderen „Experten“ - beispielsweise Ärzten - und nahestehenden Personen einholt. Verdient diese Vorgehensweise das Prädikat „wissenschaftlich“? Erfüllt es die allgemeingültigen Gütekriterien für wissenschaftliche Erkenntnismethoden, insbesondere die drei wichtigsten?:
Ist Psychodiagnostik objektiv?
Das heißt, sind ihre Ergebnisse unabhängig von Einflüssen und subjektiven Eindrücken der Untersucher oder der Untersuchungssituation, sei es bei der Durchführung, der Auswertung oder Interpretation?
Es begann 2004 als Feierabendspielerei: Zwei russische Physiker an der Universität Manchester, Konstantin Novoselov und Andre Geim, lösten von einem Block gewöhnlichen Graphits, wie es in Bleistiften verwendet wird, mit Hilfe von Klebestreifen hauchdünne Schichten ab. Als sie diese Proben untersuchten, stießen sie auf Graphen: nur eine Atomlage dicke, somit gleichsam zweidimensionale, wabenförmig strukturierte Kohlenstoffschichten mit faszinierenden mechanischen und elektrischen Eigenschaften, was den beiden Forschern sechs Jahre später einen Nobelpreis einbrachte. Seither gilt Graphen als wahres „Wundermaterial“, das einen regelrechten „wissenschaftlichen Goldrausch“ (Wall Street Journal) ausgelöst hat: Einerseits ultradünn, leicht und flexibel, ist es andererseits härter als ein Diamant und bis zu 300mal zugfester als Stahl; es lässt positiv geladene Wasserstoffatome (Protonen) durch, während es alle anderen Atome und Moleküle am Durchtritt hindert; es ist transparent und temperaturstabil, leitet Wärme und Strom ausgesprochen gut und lässt sich zu winzigen Halbleitern formen. Von Graphen versprechen sich Experten flexible Displays, schnellere Sensoren und bessere Batterien, leichtere Fahrzeug- und Flugzeugteile, leistungsfähigere elektronische Bauelemente und bessere Datenspeicher.
Aber gibt es dieses Graphen wirklich? Weist es tatsächlich die ihm zugeschriebenen Eigenschaften auf? Wer auch immer die behaupteten Erkenntnisse bezweifelt, kann sie überprüfen, jederzeit und überall: Sofern er genauso verfährt wie Novoselov und Geim, kommt er zu denselben Ergebnissen. Nun weiß er: Da wurden tatsächlich objektive Tatsachen verbreitet, nicht bloß Hirngespinste zweier professoraler Wodkatrinker. So funktioniert Wissenschaft.
Die Psyche eines Menschen ist aber kein materielles Objekt. Beobachten lässt sich bloß ihr äußeres Verhalten, einschließlich seiner sprachlichen Äußerungen; jegliche Schlüsse daraus sind fragwürdige Deutungen. Wer ihn befragt, löst bei ihm zwangsläufig Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken aus, die er andernfalls nicht hätte. Jede Diagnostik erzeugt und betritt ein komplexes Faktorenfeld, in dem sich Menschen anders benehmen, als sie es außerhalb tun würden.
Ist Psychodiagnostik zuverlässig („reliabel“)? Das heißt, kommen verschiedene Diagnostiker hinsichtlich desselben Patienten zur selben Meinung? Keine zwei Untersucher beeinflussen einen Menschen in exakt derselben Weise; selbst wenn sie perfekte Klone wären und ihm gegenüber in absolut identischer Weise aufträten – mit den gleichen Äußerungen, dem gleichen nonverbalen Verhalten, derselben äußeren Erscheinung -, würde die veränderte Situation einen mentalen Unterschied machen. Standardisierte Tests, die für alle Untersuchten dieselben sind, nach denselben Regeln ausgewertet und interpretiert werden, beseitigen nicht eine grundsätzliche Schwierigkeit: Sie bleiben Momentaufnahmen, von denen unklar ist, ob der festgestellte Zustand nur kurzzeitig oder fortwährend besteht, denn die menschliche Psyche befindet sich in unentwegtem Fluss. Weil sie kein hermetisch abgeschottetes, gänzlich autonomes Eigenleben führt, sondern von ihrer Umgebung und ihrem sozialen Umfeld beeinflusst wird, bleibt darüber hinaus offen, inwieweit sich die gemessenen Merkmale aus ihren inneren Besonderheiten ergeben oder aus den jeweiligen Lebensumständen und momentanen Einflüssen; ob eine festgestellte Merkwürdigkeit einer individuellen Pathologie entspringt – oder durch die Umwelt konditioniert wird. Wie die englische Psychotherapeutin Lucy Johnstone, Mitautorin einer kritischen Stellungnahme des Britischen Psychologenverbands zum DSM, nachdrücklich betont, „liegen nun überwältigende Hinweise dafür vor, dass Menschen infolge einer komplexen Mischung aus sozialen und psychischen Umständen zusammenbrechen: Trauer und Verlust, Armut und Diskriminierung, Trauma und Missbrauch“30 – und eben nicht allein aufgrund inwendiger Prozesse, die unabhängig davon ablaufen, was um sie herum geschieht.
Immerhin ermögliche DSM und ICD „exaktes“ Diagnostizieren, heißt es: „Durch aufmerksames Zuhören, Wahrnehmen und zielgerichtetes Fragen“ könne genauestens festgelegt werden, welcher Störungstyp vorliegt. (31) Eine solche „Exaktheit“ stelle ich hiermit beim NBGN-Syndrom sicher („Null-Bock-auf-gar-nix“), mittels folgender zehnteiliger Liste von Symptomen, deren gemeinsames Vorliegen vermutlich statistisch signifikant ist und eine erhebliche Prävalenz aufweisen dürfte: Innerhalb der zurückliegenden 14 Tage sind Betroffene mindestens einmal mindestens eine halbe Stunde zu spät zu einer Verabredung erschienen; waren mehr als zweimal um die Mittagszeit noch unrasiert; boten in öffentlichen Verkehrsmitteln Senioren nicht den eigenen Sitzplatz an; spuckten einen Kaugummi auf den Gehweg; beseitigten Fuß- und Achselschweiß nicht binnen 48 Stunden körperhygienisch; popelten pro Tag durchschnittlich dreimal oder öfter genussvoll in der Nase; wechselten im Anamnesezeitraum höchstens einmal die Unterwäsche; empfanden am Arbeitsplatz mehr als zweimal pro Tag Unbehagen, Lustlosigkeit und Müdigkeit; übernahmen nur einmalig, begleitet von ausgeprägten Unwilligkeitsemotionen, den Abwasch, das Staubsaugen oder das Entleeren voller Mülleimer; nahmen an mindestens sieben der vergangenen 14 Tage zwischen Frühstück und Abendessen stundenlang bevorzugt eine horizontale Körperposition auf weicher Unterlage ein. Liegen mindestens drei dieser Merkmale vor, ist von NBGN auszugehen, bei sieben und mehr von einer „schweren“ Störung. Jedes wäre durch „aufmerksames Zuhören, Wahrnehmen und zielgerichtetes Fragen“ zu verifizieren. Brächte ich dieses „Syndrom“ in einem der beiden Diagnostikmanuale unter, so wäre sichergestellt, dass Fachleute es fortan genauso definieren und attribuieren wie ich.
Einigermaßen „reliabel“ haben RSM und ICD die Psychiatrie lediglich in einem Sinne gemacht: Ihnen gemäß benutzen Kliniker inzwischen weltweit dieselben Begriffe in weitgehend derselben Weise. Aber sind diese Begriffe mehr als bloße Konstrukte, verkappte Erfindungen, willkürliche Unterstellungen? Entsprechen ihnen reale Phänomene? Dazu müsste die dritte Frage bejaht werden können:
Ist Psychodiagnostik valide („gültig“)? Das heißt, misst sie tatsächlich, was sie messen soll? Stehen Bezeichnungen „psychischer Krankheiten“, die Menschen aufgrund solcher Messungen zugeschrieben werden, für reale Entitäten? Validität ist ein Maß dafür, ob und inwieweit „da draußen in der Wirklichkeit“ dem diagnostischen Urteil etwas Handfestes, unabhängig Feststellbares entspricht. Ist das so?
Auch in der somatischen Medizin sind pathologische Zustände selten direkt beobachtbar. Der Arzt erschließt sie aus bestimmten Merkmalen, deren Vorliegen sie eindeutig anzeigen. Dasjenige Merkmal, das sich am besten dafür eignet, eine Erkrankung nachzuweisen oder auszuschließen, wird als „Goldstandard“ bezeichnet. Die Medizin verfügt über viele derartige Entscheidungshilfen: Bei Darmerkrankungen sind es koloskopische Bilder, bei Asthma bronchiale spirometrische Prüfungen, bei Osteoporose bestimmte Biomarker und Knochendichtemessungen, bei Diabetes der orale Glukose-Toleranztest, bei arterieller Hypertonie Blutdruckmessungen, bei Skoliose und anderen Skeletterkrankungen ein jeweils typisches Röntgenbild.
An solchen objektiv messbaren Parametern mangelt es der Psychiatrie ganz und gar. Ihre Diagnosen basieren auf Berichten von Patienten, auf Beobachtungen und Deutungen von Dritten; selbst wenn diese vollständig übereinstimmen würden – was sie selten tun -, kumulieren dabei womöglich bloß einmütige Vorurteile. Subjektive Einschätzungen werden nicht dadurch wahrer, dass sie sich stattlich häufen.
Zumindest, so wenden Psychiater ein, sei ihre Diagnostik „inhaltsvalide“: Sie messe die relevanten Merkmale des jeweiligen „Krankheitsbilds“. Aber stellt dieses „Bild“ etwas Reales dar oder ein Fantasieprodukt? „Krankheitsbilder“ sind Beschreibungen, auf die sich Fachgremien geeinigt haben – keineswegs wirklichkeitsgetreue Abbilder, denn ihre mutmaßliche Wirklichkeit, die Psyche, entzieht sich der unmittelbaren Beobachtung.
Als „valide“, so heißt es ferner, dürfe ein Diagnoseverfahren gelten, wenn seine einzelnen Maße hochgradig zusammenhängen. Wenn eine bestimmte „psychische Krankheit“ sehr oft die Merkmale x, y und z aufweist, dann erkennt ein guter Test sie auch häufig als gemeinsam vorliegend; und wenn ein Merkmal theoretisch zwei verwandte „Krankheitsbilder“ voneinander abgrenzt, dann spiegelt ein guter Test dies auch im Befund wieder.
Doch hier wird multiple Augenwischerei betrieben (32):
- Menschen entsprechen so gut wie niemals idealtypisch dem vorgefertigten „Krankheitsbild“ auch nur annähernd.
- Häufig trifft kein „Krankheitsbild“ vollständig zu, mehrere hingegen bloß zum Teil. Viele vermeintliche „Patienten“ weisen Symptome diverser „Störungen“ auf, gehören aber keinem eindeutig zu. (33) Solche „Komorbidität“ steht aber im Widerspruch zu der grundlegenden Behauptung, psychische „Syndrome“ seien diskrete „Krankheitsbilder“.
- Manchen „Patienten“ muss lehrbuchkonform ein und dieselben Diagnose gestellt werden, obwohl sie keinerlei „Symptome“ gemeinsam haben. Die DSM-Kriterien für eine „Major Depressive Order“ etwa erfüllt ein Anton, der niedergeschlagen ist, zuwenig und unruhig schläft, stark abnimmt, sich schlecht konzentrieren kann und ständig aufgewühlt („agitiert“) ist, aber auch eine Adelheid, die unentwegt schläft, stark zunimmt, sich nicht mehr freuen und Lust empfinden kann („Anhedonie“), sich wertlos und schuldig fühlt, an Selbstmord denkt. (34) Gänzlich schleierhaft ist, wieso die beiden ein und dasselbe „Krankheitsbild“ teilen sollten.
- Weil häufig nur ein mehr oder minder kleiner Teil der Diagnosekriterien erfüllt sein muss, wird ein Krankheitsbild häufig Personengruppen zugeschrieben, die wenig gemeinsam haben. Beispielsweise genügen DSM-gemäß drei von 15 Kriterien, um einem Kind eine „Conduct Disorder“ zu bescheinigen; nach Adam Riese ergeben sich daraus 455 unterschiedliche Kombinationen von Merkmalen. Das Einheitsetikett kaschiert eine gewaltige Heterogenität.
- Häufig kranken die Diagnosekriterien an Mehrdeutigkeit. Dem DSM zufolge soll von einer „Generalisierten Angststörung“ betroffen sein, wen exzessive Ängste plagen, die er schwer kontrollieren kann. Was heißt da „exzessiv“, was genau ist mit „schwer“ gemeint?
- Die Schwellenwerte der Diagnosetests sind willkürlich, häufig stufen sie fälschlich positiv ein. Ein Großteil von ihnen erfordert nicht, dass sämtliche Kriterien eines „Krankheitsbilds“ erfüllt sind, sondern bloß ein paar; wieviele, wurde willkürlich festgelegt. Und je weniger Merkmale erhoben werden, desto wahrscheinlicher werden Menschen seinetwegen irrtümlich für „krank“ erklärt.
- Ebenso willkürlich sind die diagnostischen Trennlinien zwischen „Normalem“ und „Krankhaftem“. Mit jeder neuen Auflage von DSM und ICD hat sich der Radius des „Pathologischen“ stetig erweitert, Millionen ahnungsloser Zeitgenossen wurden dabei buchstäblich über Nacht zu „Patienten“ erklärt - nicht etwa, weil auf psychonautischer Tauchstation in den Untiefen der menschlichen Seele neue „Störungen“ zum Vorschein gekommen sind, sondern weil in Fachgremien beschlossen wurde, eine bestimmte Kombination von Eigenschaften von nun an „Störung“ zu nennen, womit „Gestörte“ neuer Art zu Zielobjekten für Therapien und Medikamente werden. Die Abschaffung des Normalen wird zum Megatrend.
So verwandelte 2013 das DMS-5 gewöhnliche Trauer, falls sie nicht zügig wieder vergeht, in eine Krankheit: Wem der Tod eines geliebten Menschen den Appetit verschlägt, wer wenig Antrieb verspürt, unruhig schläft und sich mit gedrückter Stimmung durch den Alltag quält, dem muss seither schon nach zwei Wochen eine therapiebedürftige „Depression“ diagnostiziert werden. Aus dem leidenschaftlichen Sammeln von Dingen, die Anderen weder besonders knapp noch besonders kostbar vorkommen, ist die „obsessiv-kompulsive“ (zwanghaft besessene) Hoarding-Störung (vom englischen Wort für „Horten“) geworden; aus häufigem Berühren, Quetschen und Kratzen bestimmter Hautstellen eine „abnorme Impulskontrollstörung“ namens „Skin-Picking Disorder“. Gelegentlicher Heißhunger wurde zur „Binge Eating Disorder“ (von engl. binge: Gelage), schlechte Laune zur „Dysthymie“ - mit angeblich drei Millionen betroffener „Patienten“ -, ausgeprägte Schüchternheit zur „Sozialphobie“, Eigenbrötelei zur „schizoiden Persönlichkeit“. Wer ungewöhnlich lange mit etwas Unerfreulichem hadert, der gehört zu jenen zwei Prozent der Bevölkerung, die eine „posttraumatische Verbitterungsstörung“ (PTED) ereilt haben soll. (35) Und allen Ernstes werden in Fachkreisen diskutiert: das „Dorian-Gray-Syndrom“ bei Menschen, die mehr als Andere auf ihr Körpergewicht und Erscheinungsbild achten (36); sowie das „Käfig-Tiger-Syndrom“, weitverbreitet unter Männern, die mürrisch, unausgeglichen und leicht ausfallend sind, weil sie sich wie ein Tiger im Käfig eingesperrt fühlen (37). Unentwegte Lügner sind bedauernswerte, therapiebedürftige Opfer einer „antisozialen Persönlichkeitsstörung“ namens Pseudologia phantastica. Die „Paradies-Depression“ befällt vornehmlich vornehmlich Pensionäre, die ihren Lebensabend an traumhaften Ferienorten in südlichen Gefilden verbringen, wo sie inneren Tatendrang verlieren, abstumpfen, sich langweilen und leer fühlen – Nichtstun wird für sie zur Qual38. Die ersten chronisch Depressiven in der Geschichte der Menschheit dürften demnach Adam und Eva gewesen sein. Man kommt schwerlich umhin, diesem karnevalesken Treiben eine hochgradige IAS zu diagnostizieren (von lat. inutilis: überflüssig; abundantia: Überschuss, Überangebot), die fraglos Eingang ins näherrückende DSM-6 finden sollte: eine obsessiv-kompulsive Störung mit einer Prävalenz von 99,9 Prozent unter Psychiatern, die entweder in DSM-Gremien berufen werden oder noch keine neue Krankheit erfunden haben oder beides – gekennzeichnet durch einen inneren Zwang, Überflüssiges im Übermaß zu produzieren.
Welche „Erkrankung“ hat momentan die besten DSM-Aufnahmechancen? Meinen persönlichen Favoriten würde ich „RDS“ taufen („Resilienzdefizitsyndrom“). Reißenden Absatz finden neuerdings nämlich Lebenshelfer, die sich der sogenannten „Resilienz“ widmen: einer inneren Widerstandskraft, die Rückschläge wegstecken, Krisen durchstehen, sich Zumutungen widersetzen, Anfeindungen und Kritik unbeirrt abprallen, den Blick zuversichtlich nach vorne richten lässt – die Strategie des Stehaufmännchens.39 Ihrer weitgehenden Abwesenheit endlich Krankheitsstatus zuzuweisen, brächte multiplen Nutzwert: Betroffenen fiele es dann leichter, hypochondrisch eine Charakterschwäche zu bejammern und faule Ausreden zu bemänteln. Beglückt würden alle Eltern, die auf Karriere- und Selbstverwirklichungstrips ihren Nachwuchs lieber der Krabbelgruppe, der Tagesmutti, dem Fernseher, dem Internet und der Playstation überlassen, statt ihn aufmerksam, konsequent und beharrlich, jedenfalls zeitaufwendig, mit dem nötigen Rüstzeug auszustatten, das Heranwachsende brauchen, um innerlich gefestigt durchs Leben zu gehen. Unterbeschäftigten Psychoprofis erschlösse sich ein weiteres Betätigungsfeld, Neuropsychologen ein neues Fahndungsziel, Arneimittelherstellern eine zusätzliche Zielgruppe – und einem eitlen „Entdecker“ würde geschmeichelt, denn zu den ultimativen Daseinszwecken eines forschenden Psychiaters gehört es, auf eine neue Krankheit zu stoßen, mit der sein Name verbunden ist.
Da gerät Medizin zur Realsatire, und als solche wird sie von den raren Psychiatern, die sich die Fähigkeit zur Selbstironie bewahrt haben, mitunter zwerchfellerschütternd auf die Schippe genommen. Der unbedarfte Nichtexperte, der bei einer psychischen Störung zumindest einen gewissen Leidensdruck voraussetzt, ahnt offenkundig nichts von der „generalisierten Heiterkeitsstörung“ (GHKS), von der etliche Mitglieder des „Auswege“-Campteams längst infiziert sind: Bei Anlässen, die für gewöhnlich „depressive Verstimmung, Verzweiflung, große Angst, Selbstanklagen oder gegen Andere gerichtete Aggressionen“ auslösen, bleiben sie sonderbar ausgeglichen, gelassen und heiter. (40) Nicht einzudämmen ist bei unserem Nachwuchs bislang das „Kindheits-Unselbständigkeits-Sprachreduktions-Syndrom“ (KUSS), für das typisch sind: ein hartnäckiges Beharren auf der Durchsetzung eigener Wünsche; ein deutlich retardiertes Vermögen, sich in die Sichtweise Anderer hineinzudenken; sowie die Dominanz dysgrammatischer Äußerungen („Man muss nur die gratuliren, die man mag, und die Ferwanten“; „Böhse Onkelz gingten weg“). (41) Eine erschütternde Prävalenz von hundert Prozent innerhalb der Referenzpopulation weist das „Kindheitssyndrom“ auf, bei dem Kleinwuchs, Unreife, Labilität und Wissenslücken mit einer Essstörung einhergehen, die zu Vermeidungsreaktionen gegenüber Gemüse und Salat führt. (42)
Bierernst folgen Krankheitserfinder immer demselben simplen Strickmuster:
Schritt 1: Man nehme ein beliebiges Merkmal, das der Bevölkerungsmehrheit merkwürdig vorkommt: irgendeine Macke, ein Unwohlsein, ein Befindlichkeitstief.
Schritt 2: Man lasse sich weitere Merkmale einfallen, die dazu intuitiv passen. Schritt 3: Man nenne deren gemeinsames Auftreten „Syndrom“ und kreiere eine eindruckschindende Bezeichnung dafür, im Rückgriff auf Latein oder Altgriechisch. Schritt 4: Man mache plausibel, dass dieses „Syndrom“ weit verbreitet ist, die Lebensqualität von Betroffenen beeinträchtigt und die soziale Umwelt belastet.
Schritt 5: Man schildere analoge Defizite in der Tierwelt, zitiere irgendwelche antiken oder mittelalterlichen Heilkundigen, die historische Präzedenzfälle dokumentierten, spekuliere über möglicherweise mitbeteiligte Hirnregionen und Gensequenzen.
Schritt 6: Man verbreite Zuversicht, dass das Problem psychopharmakologisch in den Griff zu kriegen ist.
Schritt 7: Man bombardiere Fachgremien und Medienredaktionen so lange mit Eingaben, bis bei ihnen der Groschen fällt.
Spaß beiseite: Wie hanebüchen persönliche Vorurteile und subjektive Wertungen dabei als pseudomedizinische „Fakten“ verschleiert werden, zeigt sich am Fall von Homo-, Bi- und Transsexualität. Im ICD-8 bzw. 10 tauchen sie noch als „psychische Krankheiten“ auf (43), was Frankreichs Regierung veranlasste, diese Einstufung per Dekret als stigmatisierend und diskriminierend zu verbieten.
Dass sich die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ immer weiter an normales Verhalten heranschiebt und immer mehr davon einschließt (44), erfreut unterbeschäftigte Therapeuten über alle Maßen, hat mit seriöser Wissenschaft aber kaum mehr zu tun als Astrologie mit Astronomie. Eine „imperialistische Ausweitung des Reiches der Psychiatrie um irgendwelche mehr oder weniger banale Befindlichkeitsstörungen“ prangert der Psychiater und Theologe Manfred Lütz an. (45) „Mir fehlt da eine Beschränkung“, beklagt Andreas Heinz, Direktor der Berliner Charité. Gewöhnliche „Leidenszustände werden pathologisiert“. Es sei „falsch, alle möglichen Befindlichkeitsstörungen mit einem Krankheitsbegriff zu belegen.“ (46) Selbst dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Wolfgang Maier, ist bei diesem Trend mittlerweile mulmig zumute; ihn bestürzen „Kollegen, die sich nicht scheuen, einen großen Anteil von Gesunden zu Kranken zu machen.“ (47) Immer neue Diagnosen einzuführen und „die Grenzen psychischer Störungen auszuweiten“, mahnte kürzlich ihr Präsident Wolfgang Maier, „kann zu einer Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft und aller psychischer Leidenszustände führen.“ (48) Selbst der US-Psychiater Allen Frances von der Duke-Universität im US-Bundesstaat North Carolina, unter dessen Kommissionsvorsitz die Vorgängerversion DSM-4 komponiert worden war, reiht sich inzwischen in das Lager der Kritiker ein: Schierer „Zufall, allmähliche Verwurzelung, Präzedenz und Trägheit“ bestimme, ob eine psychische Störung Eingang ins DSM findet; kein Wunder, dass dabei „ein ziemliches Sammelsurium ohne innere Logik“ entstehe, in dem „die Störungen sich teilweise gegenseitig ausschließen“. Die stetige Erweiterung der psychiatrischen Grenzen, so warnt er, befeure eine Inflation an psychiatrischen Diagnosen, die zu einer Übertherapie der „eingebildeten Kranken“ führe. Als heißester Nachfolgekandidat für Modekrankheiten, sobald ADHS, „Asperger-Syndrom“ und „bipolare Störung“ out sind, erscheint ihm DMDD (Disruptive Mood Dysregulation Disorder); seit diese „schwere Stimmungsregulationsstörung“ Aufnahme ins DSM-5 fand, werden Kinder zu „Patienten“, wenn sie gelegentlich zu Wutausbrüchen neigen, dann aber auch wieder traurig und zurückgezogen wirken. (49)
- DSM und ICD stufen Menschen kategorial ein: Entweder liegt die „Krankheit“ bei ihnen vor, oder sie tut es nicht. Damit wird Psychiatrie zu hochspekulativer Ontologie: Es werden diskrete Entitäten mit natürlichen Grenzen unterstellt. Ausnahmslos alle Merkmale der menschlichen Psyche sind aber dimensional ausgeprägt, mehr oder minder stark.
Unverbindlicher, windiger, schwammiger geht es kaum. Jeder Hausarzt, der mit seinen Diagnosen derart im Ungefähren herumtappt und über den Daumen peilt, könnte sich vor Patientenklagen kaum noch retten, seine Zulassung wäre er zügig los.
Vielen Psychiatern ist diese missliche Lage vollauf bewusst und hochpeinlich; auch sie sehen ihr Fach in einer tiefen Legitimitätskrise.
Im südlichsten Zipfel des US-Bundesstaats Maryland, keine elf Kilometer nordwestlich von Washington, liegt eine der wohlhabendsten und gebildetsten Gemeinden des Landes: die 60’000-Einwohner-Stadt Bethesda, ein bevorzugter Wohnvorort der Bundeshauptstadt, die man auf der Interstate 495 staufrei in zwanzig Autominuten erreicht. Hier hat das weltweit größte psychiatrische Forschungszentrum seinen Sitz: das National Institute of Mental Health (NIMH), vom US-Gesundheitsministerium, dem es direkt untersteht, mit einem Jahresetat von über anderthalb Milliarden Dollar ausgestattet. Sein Direktor, der Psychiater und Neurowissenschaftler Thomas Insel, zündete im Jahre 2013 eine Bombe, deren Explosionswellen die Fachwelt bis heute erschüttern: Das DSM, führendes Diagnosehandbuch der Psychiatrie, kranke an einem „Mangel an Validität“ – es diagnostiziere nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt, nämlich „psychische Krankheiten“. Denn „anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von Aids“, so stellte Insel klar, „beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient.“ (50) Kurz darauf appellierte Insel in einem Interview an seine Fachkollegen: „Wir müssen damit aufhören, Begriffe wie Depression und Schizophrenie zu verwenden, weil sie uns im Weg stehen.“ Im Einklang damit plädierte die altehrwürdige, 1901 gegründete British Psychological Society (BPS), die über 50'000 Psychologen vertritt, kürzlich dafür, sich vom DSM und dem psychiatrischen Teil der ICD schleunigst zu verabschieden. In einem Grundsatzpapier (51) vom Mai 2013 plädiert die BPS-“Abteilung für Klinische Psychologie” nachdrücklich dafür, endlich “öffentlich klarzustellen, dass die im DSM und ICD umrissenen psychiatrischen Diagnosesysteme begrifflich und empirisch signifikant begrenzt sind”, und benannte ein Dutzend Problemfelder, auf denen diese grundsätzlichen Schwächen besonders krass zutage treten. Kurzum: Die psychiatrische Diagnostik ist nicht valide. (52)
Umso sehnsüchtiger hoffen Psychiater auf Erkenntnisfortschritte in „handfesten“ naturwissenschaftlichen Disziplinen, die ihnen die schmerzlichst vermissten „Goldstandards“ endlich an die Hand geben könnten: unabhängig feststellbare biologische Sachverhalte, die den mutmaßlichen „psychischen Erkrankungen“ zugrunde liegen und für deren Symptome und jeweiligen „Syndrome“ kausal verantwortlich sind – typische Sachverhalte, die eine bestimmte „Erkrankung“ eindeutig von anderen unterscheiden. „Das Innere eines Menschen offenbart sich in seinem Äußeren“, versicherte Goethe; doch leider tut es das kaum je in diagnostisch verwertbarer Weise. Körpersäfte, Schädelformen, Gesten und Gesichtsausdrücke zieht dafür kein Psychiater mehr ernsthaft in Erwägung; Anwendungen von Humoralmedizin, Phrenologie oder Psychophysiognomik, um mentale Störungen zu identifizieren, belächeln sie längst als historische Kuriositäten. In den vergangenen Jahrzehnten richteten sich ihre Hoffnungen vielmehr vor allem auf zwei Forschungsgebiete: Psychogenetik und Psychoneurologie. Doch beide haben ihre Erwartungen enttäuscht:
- Sind psychische Krankheiten erblich, lassen sie sich aus unserem Genom ablesen? Bislang konnte für keine einzige dieser „Störungen“ eine genetische Grundlage einwandfrei nachgewiesen werden, geschweige denn eine eineindeutige Korrelation. (53) Klar scheint lediglich, dass bestimmte DNA-Abschnitte an manchen „psychischen Störungen“ irgendwie mehr oder minder mitbeteiligt sind, doch niemals determinierend.
- Werden „psychische Krankheiten“ vom Gehirn erzeugt? Dass alle mentalen Vorgänge, „normale“ wie absonderliche, mit elektrochemischen Prozessen im Geflecht unserer Hirnnerven einhergehen, bestreitet ernstlich niemand mehr. Aber eignen sie sich dazu, bestimmte „psychische Störungen“ zuverlässig zu identifizieren? Psychiatrieforscher der Universitäten Basel und London zogen kürzlich ein ernüchterndes Fazit: „Mehr als drei Jahrzehnte nach Johnstones erster computergestützter axialer Tomographie der Gehirne von Personen mit Schizophrenie konnten keine konsistenten anatomischen oder funktionellen Veränderungen eindeutig mit irgendeiner psychischen Krankheit assoziiert werden, keine neurobiologischen Veränderungen konnten durch psychiatrisches ‚Neuroimaging’ endgültig bestätigt werden.“ (54) Die spärlichen Befunde sind hochgradig widersprüchlich. (55) Ähnlich ernüchternd bilanziert den Forschungsstand der dänische Mediziner Peter Goetzsche, Mitbegründer der angesehenen Cochrane Foundation, eine der weltweit größten gemeinnützigen Einrichtungen zur Qualitätssicherung in der Medizin: Bisher, so Goetzsche, sei es noch für keine einzige „psychische Krankheit“ gelungen, sie auf irgendeinen biochemischen Defekt zurückzuführen; es existiere kein einziger biologischer Test, dem wir entnehmen könnten, ob jemand eine solche „Krankheit“ aufweist oder nicht. (56)
Aus alledem folgt: Die psychiatrische Diagnostik, handlungsleitend für Psychotherapien und Psychopharma-Verordnungen aller Art, steht definitiv nicht auf einem soliden naturwissenschaftlichen Fundament – auf keinen nachprüfbaren Tatsachen; sie ergibt sich ausschließlich aus der subjektiven Einschätzung des jeweiligen Diagnostikers. „Psychische Krankheit“ ist ein Mythos – und Psychiatrie eine Pseudo-Wissenschaft, die durch akademisches Imponiergehabe wettzumachen versucht, was ihr an empirischer Fundierung abgeht. Soweit Medizin wissenschaftlich betrieben werden soll, hat sie darin nichts zu suchen. Dass allein die Komplexität eines Lehrgebäudes, das Verwenden eines imposanten Fachjargons, das Vorhandensein von Ausbildungseinrichtungen, Berufsverbänden und eigenen Fachjournalen, der Einsatz komplizierter Verfahren mit reichlich Mathematik - wie bei der spitzfindigen „Validierung“ von Psychotests - nicht im entferntesten für Wissenschaftlichkeit bürgen, führen uns Astrologie und Graphologie, Numerologie und Charttechnik vor Augen.
Die hochtourige Etikettenmanufaktur namens Psychiatrie beglückt Arzneimittelhersteller dermaßen, dass Verschwörungstheoretiker leichtes Spiel haben. Denn mit jeder neu „entdeckten“ Störung, mit jeder weiteren Ausdehnung der Anwendungskriterien von Diagnosen wird der Kreis derer vergrößert, die psychopharmakologisch versorgt gehören, weil sie krank sind. Wie glaubhaft ist daher ein Pharma-Manager, der kürzlich in einer psychiatrischen Fachzeitschrift erklärte: Seine Branche nehme von der Psychopharmakaforschung zunehmend Abstand, weil Diagnose-Manuale wie das DSM mangels Validität keinerlei Anhaltspunkte dafür liefern, zulassungsfähige Arzneimittel mit eigenständigem, auf bestimmte psychische Krankheiten zugeschnittenen Wirkmechanismus zu entwickeln? (57) Das Erscheinungsdatum der Zeitschrift fiel vermutlich auf einen 1. April: Wozu Hochpräzisionswaffen entwickeln, solange Schrotflinten reißenden Absatz finden? Kein einziges Psychoparmakon ist „indikationsspezifisch“, wie etwa Insulin bei Diabetes; sie alle wirken bei den unterschiedlichsten Krankheitsbildern stimmungsaufhellend und antriebssteigernd (Antidepressiva), angst- und spannungslösend (Tranquillanzien), schlaffördernd (Hypnotika), dämpfend auf Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkprozesse (Neuroleptika), zumeist übrigens kaum bis gar nicht effektiver als Placebos. (58) Trotzdem werden sie massenhaft verordnet, weil sie dem Behandlungsfaktor Zuwendung zweierlei voraushaben: minimalsten Zeit- und Personalaufwand sowie die weitaus leichtere Quantifizierbarkeit in kontrollierten Tests. Mit Pillen gegen alles, einfach und schnell, lassen sich therapeutische Defizite bequem kompensieren. Ärztliche Verschreibungswilligkeit sowie den Nachfragedruck von Patientenseite fördern aggressive Werbestrategien: In medizinischen Fachzeitschriften werden Inserate mit vollmundigen, auf überwiegend fragwürdige Studien gestützten Wirkungsversprechen geschaltet, Ärzten geldwerte Vorteile angeboten, Journalisten mit professionell aufbereiteten „Sachinformationen“ versorgt, renommierte Wissenschaftler (opinion leaders) auf die Gehaltsliste gesetzt, „Kompetenznetzwerke“ (Anti-Stigma- und „Aufklärung“skampagnen) als Werbeträger aufgebaut, Internet-PR als private Selbsterfahrungsforen getarnt.
Der Aufwand rechnet sich: Gleich hinter Krebsmedikamenten bilden Psychopharmaka, geschluckt von 3,3 Millionen Bürgern, in Deutschland mittlerweile die verordnungsstärkste Arzneimittelgruppe; knapp zwei Milliarden Euro pro Jahr werden damit hierzulande umgesetzt. (59) „Diese Mittel werden mit ungeheurer Macht beworben“, konstatiert der Berliner Arzt und Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghausen, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin und selbst langjähriges Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. „Die Ärzte glauben das und verschreiben die Mittel.“ (60) Das Propagandaprinzip, dem sie dabei auf den Leim gehen, bringt ein hochrangiger Öffentlichkeitsarbeiter in Diensten von US-Pharmakonzernen auf den Punkt: „Problem ist gleich psychische Störung ist gleich Diagnose ist gleich Medikament“, erklärte er. „Die PR-Aufgabe besteht darin, das zu verschleiern und das Ganze in einen wissenschaftlich klingenden Kontext zu stellen. Dazu streut man alles Mögliche über ‚die Forschung’ mit ein – und schon hat man eine Industrie geschaffen.“ (61)
Zu den grundsätzlichen Problemen jeglicher Psychodiagnostik gesellen sich jene, die sich aus der hinlänglich valide gesicherten Hypothese ergeben, dass auch Psychiaterhirne menschlicher Natur sind. Als solche sind sie, wie alle, anfällig für vielerlei kognitive und affektive Verzerrungen, Denkfehler und Kurzschlüsse, gegen die niemand gefeit ist, selbst wenn er sie kennt und durchschaut. (Siehe hierzu S. 133 ff.: „Auch nur Menschen“.)
Was bringt einen Menschen überhaupt dazu, eine psychiatrische Diagnose zu akzeptieren?
- Unkenntnis. Wer weiß schon von den heftigen Grundsatzdebatten über die Grenzen der Psychodiagnostik, die in Fachkreisen hinter den Kulissen toben? Wer kennt und versteht die Argumente der Kritiker vollauf?
- Täuschung. Wer vorgibt, etwas leisten zu können, von dem er wissen muss, dass er dazu gar nicht imstande ist – und das ist jedem psychiatrisch Tätigen klar, der während seines Studiums nicht Dauerschlaf gehalten hat -, und dafür üppige Honorare nimmt, führt Hilfesuchende an der Nase herum. Ein Thermometer, das keine Temperaturen anzeigen kann, bringen wir zum Händler zurück; ein Rückgaberecht für psychodiagnostische Dienstleistungen hingegen ist leider nicht vorgesehen.
- Kulturelle Einflüsse. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an griff in westlichen Industriegesellschaften ein Trend zur Medikalisierung um sich, der nach und nach immer größere Bereiche des menschlichen Erlebens und Verhaltens pathologisiert und zu behandlungsbedürftigen Krankheiten erklärt hat. (Neumodische Diagnosen wie Spiel- und Internetsucht, Anpassungsstörung, Messie-, Münchhausen- oder ADHS-Syndrom waren bis vor kurzem unbekannt.) Von Kindesbeinen an sind wir mit der Vorstellung vertraut gemacht worden, dass „psychische Störungen“ existieren und jeden treffen können.
- Medieneinflüsse. Die vermeintlichen Krankheitsbilder sind dem „psychisch Kranken“ aus Presse, Funk und Fernsehen bekannt, unzählige Internetseiten befassen sich damit.
- Druck von Mitmenschen. Angehörige, Freunde, Bekannte, Kollegen drängen ihn dazu, weil mit ihm „etwas nicht stimmt“. Steht die Diagnose, nützt sie der sozialen Umgebung: Die fachmännische Feststellung, er sei „krank“, entlastet sie vom Gefühl, für seinen Zustand mitverantwortlich zu sein.
- Expertengläubigkeit. Die Diagnose stammt von jemandem, der doch von Berufs wegen und aus Erfahrung wissen muss, was ihm fehlt – geradeso wie ein Kfz-Mechaniker bestimmt viel besser weiß als der Werkstattkunde, welcher Defekt bei dessen Auto vorliegt und wie dieser zu beheben ist.
- Ärztliches Ansehen. Seit eh und je belegen Ärzte in der Rangliste des Berufsprestiges unangefochten den Spitzenplatz, keiner anderen Profession wird stärker vertraut. Das verschafft ihnen Definitionsmacht; was immer sie feststellen, bekommt für Hilfesuchende gewaltiges Gewicht. Auf andere Berufsgruppen, mit denen sie formell zusammenarbeiten – Psychotherapeuten eingeschlossen -, strahlt dieses Renommee aus.
- Neutralitätsglaube. Im Psychiater oder Psychotherapeuten wird eine neutrale Instanz gesehen, der eine unabhängige Beurteilung zugetraut wird, frei von vorgefassten Meinungen und Absichten – im Gegensatz zu Personen aus dem eigenen Umfeld.
- Erklärungsnot. „Was ist los mit mir?“ Wem ein Phänomen Rätsel aufgibt, der sucht nach Erklärungen, erst recht, wenn er sich selbst zum Rätsel wird. Und er neigt dazu, solche zu akzeptieren, die ihm einleuchten – ohne dass er sie überprüft und unabhängig davon, ob sie bewiesen sind. Davon geht er gutgläubig aus, weil jemand, in dem er einen Experten sieht, nachdrücklich versichert, sie seien es.
- Stress. Psychisch Belastete stehen gewöhnlich unter einem enormen inneren Druck – und der kann ihre Kritikfähigkeit einschränken, wenn nicht ausschalten. Dann neigen sie dazu, eine „Diagnose“ hinzunehmen und sich zu eigen zu machen, ohne rational zu hinterfragen, ob sie berechtigt ist.
- Ich-Schwäche. Akute Lebenskrisen, erst recht langanhaltende Lebensprobleme beeinträchtigen das Selbstwertgefühl. Sie verleiten dazu, sich selber wenig zuzutrauen, vermitteln ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Umso dankbarer begibt man sich in die Obhut von Ärzten und Therapeuten, die Verantwortung für einen übernehmen, und ordnet sich ihrer Autorität unter.
- Persönlicher Nutzen. In einer Lebenskrise kann es, subjektiv wie objektiv, von Vorteil sein, in die Rolle des „psychisch Kranken“ zu schlüpfen. Wer leidet, gilt als „entschuldigt“; er kann sich unangenehmer Verpflichtungen entledigen, Zumutungen entgehen, lästige Aufgaben liegenlassen. Und er erfährt Zuwendung: Wem leuchtet nicht ein, dass mit einem „Kranken“ besonders behutsam und rücksichtsvoll umgegangen werden muss, dass ihm Unerfreuliches und Belastendes, Vorhaltungen und Forderungen möglichst erspart werden sollten?
Dieser Betrag enthält Auszüge aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015), Kapitel „Seelenqual – ein Fall für Profis?“, S. 114-177. Dem Kulturphänomen des Psycho-Professionalismus widme ich die zehnbändige Schriftenreihe Psycholügen.
Anmerkungen
* Pseudonyme
1 Der Bundes-Gesundheitssurvey von 2004 beziffert die Jahresprävalenz psychischer Erkrankungen auf 31 Prozent, die Nachfolgestudie „DEGS“ auf 28 Prozent. Siehe F. Jacobi, F./M. Kose/H.-U. Wittchen: „Psychische Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung: Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Ausfalltage“, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 47/2004, 47, S. 736-744; H.-U. Wittchen u.a.: „Was sind die häufigsten psychischen Störungen in Deutschland? Erste Ergebnisse der ‚Zusatzuntersuchung psychische Gesundheit’ (DEGS-MHS)“, Bundesgesundheitsblatt 55/2012, S. 988-989.
2 Nach Ärzte Zeitung online, 6. September 2011: „Jeder dritte Europäaer hat ernste psychische Probleme“, und den dort erwähnten Studien. Etwas zurückhaltender schließen Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden aus einer Metaanalyse von 27 Studien mit mehr als 150'000 Teilnehmern, erleide mindestens jeder vierte EU-Bürger innerhalb eines Jahres eine „psychische Erkrankung“: European Neuropsychopharmacology 15/2005, S. 357-376.
3 Nach der Dresdner Studie, s. Anm. 2.
4 William Copeland u.a.: „Cumulative Prevalence of Psychiatric Disorders by Young Adulthood: a prospective Cohort Analysis from the Great Smoky Mountain Study“, Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 50 (3) 2011, S. 252-261.)
5 Thomas Graf: „20 Jahre Krankenhausstatistik“, Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, Februar 2012, S. 112-139, ib. S. 118.
6 Ärzteblatt PP 5, April 2006, S. 169: „Psychische und Verhaltensstörungen: Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?“
7 Nach jameda.de: „Wie verbreitet sind psychische Erkrankungen in Deutschland?“, 19.6.2014
8 Nach dem Tabellenanhang zum Bericht Psychiatrie in Deutschland – Strukturen, Leistungen, Perspektiven der Arbeitsgemeinschaft Psychiatrie der Obersten Bundesbehörden an die Gesundheitsministerkonferenz 2012, Stand: 2010/2011; Sabine Herpertz u.a.: Studie zur Versorgungsforschung: Spezifische Rolle der Ärztlichen Psychotherapie. Vorläufiger Abschlussbericht, September 2011; Statistisches Bundesamt: Gesundheit – Personal, Destatis Fachserie 12, Reihe 7.3.1, Wiesbaden 2013.
9 Nach einer Antwort der Bundesregierung vom 30. April 2012 auf eine Anfrage mehrerer Abgeordneter der Fraktion Die Linke, veröffentlicht als Drucksache 17/9478 des Deutschen Bundestags.
10 Nach IMS Health, Midas, www.imshealth.com.
11 Nach Der Spiegel 20/2011, S. 118.
12 Siehe hierzu die Übersichtsarbeiten von J. S. Berman/N. C. Norton, N. C.: „Does Professional Training Make a Therapist More Effective?“, Psychological Bulletin 98/1985, S. 401-407, sowie von J. A. Hattie u.a.: „Comparative effectiveness of professional and paraprofessional helpers“, Psychological Bulletin 95/1984, S. 534-541; T. Gunzelmann/G. Schiepek/H. Reinecker: „Laienhelfer in der psychosozialen Versorgung: Meta-Analyse zur differentiellen Effektivität von Laien und professionellen Helfern“, Gruppendynamik 18/1987, S. 361-384; die vielzitierten „Vanderbilt-Studien“ des deutsch-amerikanischen Psychotherapieforschers Hans Hermann Strupp (1921-2006) und seiner Mitarbeiter, s. H. Strupp/J. Binder: Psychotherapy in a New Key, A Guide to Time-Limited Dynamic Psychotherapy, New York 1984; ferner die Studien von H. H. Strupp/S. W. Hadley: „Specific Versus Nonspecific Factors in Psychotherapy“, Archives of General Psychiatry 36/1979, S. 1125-1136; J. A. Durlak: „Comparative effectiveness of paraprofessional and professional helpers“, Psychological Bulletin 86/1979, S. 80-92; D. M. Stein/M. J. Lambert: „On the Relationship Between Therapist Experience and Psychotherapy Outcome“, Clinical Psychology Review 4/1984, S. 127-142; H. N. Garb: „Clinical judgment, clinical training, and professional experience“, Psychological Bulletin 105/ 1989, S. 387–396; B. Smith/L. Sechrest: „The Treatment of Aptitude X Treatment Interactions“, Journal of Consulting and Clinical Psychology 59/1991, S. 233-244; A. Christensen/N. Jacobson: „Who (or what) can do psychotherapy: The status and challenge of nonprofessional therapies“, Psychological Science 5/1994, S. 8-14; H. K. Wexler: „The success of Therapeutic Communities for substance abusers in American prisons“, Journal of Psychoactive Drugs 27 (3) 1995, S. 57-66.
13 s. Durlak, a.a.O. (Anm. 12) sowie Manfred Zielke: „Ausbildungsziel: Training und Supervision von Laientherapeuten“, in V. Birtsch/D. Tscheulin (Hrsg.): Ausbildung in klinischer Psychologie und Psychotherapie, Weinheim 1980, S. 165-181.
14 Prof. Peter Tyrer u.a., „Clinical and cost-effectiveness of cognitive behaviour therapy for health anxiety in medical patients: a multicentre randomised controlled trial“, The Lancet 383/ Januar 2014, No. 9913, S. 219–225.
15 R. Tausch/A.-M. Tausch: Gesprächspsychotherapie, Göttingen 1979.
16 Diese Zahlen nennt die Internetplattform www.selbsthilfe-wirkt.de.
17 M. Peböck/S. Doblhammer/J. Holzner: „Einblicke und Ausblicke – Selbsthilfe als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung“, in O. Meggeneder (Hrsg.): Selbsthilfe im Wandel der Zeit. Neue Herausforderungen für die Selbsthilfe im Gesundheitswesen, Frankfurt/Main 2011, S. 227-255; B. Borgetto: Selbsthilfe und Gesundheit. Analysen, Forschungsergebnisse und Perspektiven, Bern 2004.
18 S. Schiersmann/H.-U. Thiel: „Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen - eine Theorie jenseits von „Schulen“ und „Formaten“, in dies. (Hrsg.): Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen, Göttingen 2012, S. 14-78.
23 R. Ningel: Methoden der Klinischen Sozialarbeit, Stuttgart 2011, S. 211.
24 Gesammelte Zitate aus F. Engel/F. Nestmann/U. Sickendiek: „’Beratung’ – ein Selbstverständnis in Bewegung“, in dies. (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung, Band 1: Disziplinen und Zugänge, Tübingen 2004, S. 37; R. Schwing/A. Fryszer: Systemisches Handwerk – Werkzeug für die Praxis, Göttingen 2009, S. 12; H. Gutsche: „Abgrenzung und Gemeinsamkeiten von Psychologischer Beratung vs. Psychotherapie“, Paracelsus Magazin 1/1999.
21 Jürgen Beushausen: „Sind Laienhelfer, Berater und Therapeuten gleich wirksam?“, online bei www.socialnet.de/materialien/205.php, 12. Dezember 2014, 52 S., dort S. 9-11.
22 Entsprechende Untersuchungen fasst die Erziehungswissenschaftlerin Hildegard Müller-Kohlenberg zusammen in ihrem Buch Laienkompetenz im psychosozialen Bereich. Beratung – Erziehung – Therapie, Opladen 1996; dies.: „… hilfreich und gut!’ Die Kompetenz der Laien im psychosozialen Bereich“, in: Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (Hrsg.): Laienkompetenz. Wirksame Arbeit von Ehrenamtlichen in psychosozialen Handlungsfeldern, Köln 2000, S. 19-35.
23 M. L. Smith/G. V. Glass: „Meta-analysis of Psychotherapy Outcome Studies“, American Psychologist 32/1977, S. 752 – 760, nach methodisch strengeren Kriterien bestätigt durch J. T. Landman/R. M. Dawes: „Psychotherapy Outcome: Smith and Glass’ Conclusions Stand Up to Scrutinity“, American Psychologist 37/1982: 504-516.
24 So regelt § 5 des Psychotherapeutengesetzes die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten in Deutschland.
25 Man greife beispielsweise zu so voluminösen Wälzern wie dem zweibändigen Handbuch der Psychotherapie (1994) von Raymond Corsini oder dem dreibändigen Großen Lehrbuch der Psychotherapie (2004 ff.) von Hiller, Leibing u.a.
26 Mary Lee Smith/Gene V. Glass: „Meta-Analysis of Psychotherapy Outcome Studies“, American Psychologist Sept. 1977, S. 752-760.
27 Den Forschungsstand hierzu fassen zusammen: B. E. Wampold: The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings, Mahwah/London 2001; R. Dawes: House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth, New York 1996; L. J. Groß: Ressourcenaktivierung als Wirkfaktor in der stationären und teilstationären psychosomatischen Behandlung, Dissertation, Nürnberg 2013.
28 Lester Luborsky/Barton Singer/Lisa Luborsky: „Comparative studies of psychotherapies: Is it true that ‚everyone has won and all must have prizes’?“, Archives of General Psychiatry 32 (8) 1975, S. 995-1008; siehe auch J. Siev u.a.: (2009): “The Dodo Bird, Treatment Technique, and Disseminating Empirically Supported Treatments”, The Behavior Therapist 32 (4) 2009. Zur seit Jahrzehnten andauernden Kontroverse über das „Dodo Bird-Verdikt“ s. Bruce E. Wampold/Gregory W. Mondin u.a.: “A meta-analysis of outcome studies comparing bona fide psychotherapies: Empiricially, ‘all must have prizes’", Psychological Bulletin 122 (3) 1997, S. 203-215; Larry E. Beutler: “The dodo bird is extinct”, Clinical Psychology: Science & Practice 9 (1) 2002, S. 30-34.) Im Gegensatz dazu scheinen ein paar wenige Studien darauf hinzudeuten, dass kognitive Verhaltenstherapie bei einzelnen Diagnosen tiefenpsychologischen Ansätzen überlegen sind; diese vermeintlichen Unterschiede verschwinden aber fast gänzlich, wenn die theoretische Ausrichtung der Forscher („allegiance“) berücksichtigt wird. - Auch wurde bislang nur ein kleiner Teil der vielen hundert verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren miteinander empirisch verglichen; es gibt aber keinen Grund zum Zweifel daran, dass deren Ergebnisse auf andere Methoden übertragbar sind.
29 K. Grawe/F. Caspar/H. Ambühl: „Die Berner Therapievergleichsstudie: Wirkungsvergleich und differentielle Indikation“, Zeitschrift für Klinische Psychologie 19/1990, S. 338-361; K. Grawe: „“Psychotherapieforschung zu Beginn der neunziger Jahre“, Psychologische Rundschau 43/1992, S. 132-162, dort ib. S. 148-150.
30 Lucy Johnstone in einem Zeitungsinterview, s. J. Doward: „Psychiatrists under fire in mental health battle“, The Guardian, 11. Mai 2013.
31 So der österreichische Mediziner Klaus Paulitsch in seinem Lehrbuch Grundlagen der ICD-10-Diagnostik, Wien 2009, Backcover-Text.
32 Die wichtigsten Aspekte haben drei amerikanische Professoren, Stuart Kirk, Tomi Gomory und David Cohen zusammengetragen in S. Kirk u.a.: Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs, Piscataway, N. J. 2013.
33 J. Strauss: ”Do psychiatric patients fit their diagnosis?”, Journal of Nervous and Mental Disease 167/1979, S. 105-113.
34 I. A. Cook: „Biomarkers in Psychiatry: Potentials, Pitfalls, and Pragmatics“, Primary Psychiatry 15 (3) 2008, S. 54-59.
35 Ihr Erfinder, der US-Psychiater Michael Linden, beschreibt die PTED in “Die posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED)“, Der Nervenarzt 75/ 2004, S. 51-57.
36 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde: „Das Dorian-Gray-Syndrom“, Presse-Info Psychiatrie und Psychotherapie, März 2002.
37 Klaus Wahle (Hrsg.): Deutschlands neue Männerkrankheit: „Käfig-Tiger-Syndrom“, Münster 2003.
38 Nachzuschlagen bei Elmar Brähler/Hans-Wolfgang Hoefert (Hrsg.): Lexikon der modernen Krankheiten, Berlin 2015.
39 Siehe z. B. Monika Gruhl: Resilienz – Die Strategie der Stehaufmännchen. Krisen meistern mit innerer Widerstandskraft, Freiburg i. Br. 2008. Der Spiegel-Bestseller von Christina Berndt: Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft, München 2013, ging nach zwei Jahren bereits in die 13. Auflage.
40 Ulrich Streeck: „Die generalisierte Heiterkeitsstörung“, Forum der Psychoanalyse 16/2000, S. 116-122.
41 Hans Brügelmann: „’KUSS’ – fast jedes Kind ist betroffen!“, Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 1/2004, S. 56.
42 Jordan Smoller: „The Etiology and Treatment of Childhood“, Journal of Polymorphous Perversity, undatiert. Weitere satirische Köstlichkeiten aus seiner fiktiven „Zeitschrift für Polymorphe Perversität“ hat Smoller, US-Psychiater an der Harvard-Universität, zusammengestellt in Oral Sadism and the Vegetarian Personality: Reading from the Journal of Polymorphous Perversity (1987) sowie The Primal Whimper: More Readings from the Journal of Polymorphous Perversity (1989).
43 Für die Transsexualität nachzuschlagen unter F64.0 der ICD-10.
44 Jörg Blech: Die Krankheitserfinder – Wie wir zu Patienten gemacht werden, Frankfurt a. M. 2003.
45 In seinem Buch Irre! – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen, Gütersloh 2011.
46 Zit. nach Der Spiegel 4/2013: „Wahnsinn wird normal“.
47 Zit. in Zeit Online, 7. Mai 2013: „Heute noch normal, morgen schon verrückt.“
48 In einer Presseinformation der DGPPN vom 15. April 2013: „Psychische Erkrankungen: sorgsame Diagnostik notwendig“.
49 X A. Frances/B. Schaden: Normal - Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, Köln 2013.
50 Thomas Insel: „Director’s Blog: Transforming Diagnosis“, 29. April 2013, online abrufbar bei www.nimh. nih.gov/about/director/2013/transforming-diagnosis.shtml
51 “Position Statement on the Classification of Behaviour and Experience in Relation to Functional Psychiatric Diagnoses - Time for a Paradigm Shift”, online abzurufen bei https://www. madinamerica.com/wp-content/uploads/2013/05/DCP-Position-Statement-on-Classification.pdf
52 Siehe hierzu zusammenfassend J. Davies: Cracked. Why Psychiatry Is Doing More Harm Than Good, London 2013; S. A. Kirk u.a.: Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs, Piscataway, N. J. 2013.
53 Jay Joseph: „The ‚Missing Heritability’ of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes?”, Applied Developmental Science 16/2012, S. 65-83; ders.: "’Schizophrenia’ and heredity. Why the emperor still has no genes”, in: J. Read/J. Dillon, J. (Hrsg.): Models of Madness: Psychological, Social, and Biological Approaches to Madness, London 2013.
54 S. Borgwardt u.a.: „Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers”, Behavioral and Brain Functions 8/2012, S. 46.
55 W. R. Uttal: Mind and Brain. A Critical Appraisal of Cognitive Neuroscience, Cambridge 2011.
56 P. Goetzsche: Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare, Kapitel “The chemical imbalance hoax", London 2013.
57 H. C. Fibiger: “Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics”, Schizophrenia Bulletin 38 (4) 2012, S. 649–650.
58 Dass die sechs meistverkauften Antidepressiva eine Depression nicht signifikant stärker bessern als Placebos, zeigt eine Metaanalyse von 38 Studien mit zusammengerechnet rund 7000 Patienten. Kirsch u.a.: „The Emperors´ New Drugs“, Prevention & Treatment 5/2002.
59 Nach Gerd Laux/Otto Dietmaier: Psychopharmaka, 8. Aufl. Heidelberg 2009, S. 5 f.; Techniker Krankenkasse, unikosmos.de.
60 Zit. in Yahoo Nachrichten, 20. März 2013: „Milliardengeschäft Antidepressiva: Glückspillen mit tödlichen Nebenwirkungen“.
61 Zitiert von dem investigativen Journalisten Jon Rappoport, dem der PR-Profi unter dem Decknamen „Ellis Medavoy“ 2006 ein Interview gab; http://nomorefakenews.com.
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