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  • Dr. Harald Wiesendanger

Netzwerken mit Gschmäckle

Anfang April 2020 ging die Meldung um den Globus: Mittels „phylogenetischer Netzwerkanalyse“ sei es gelungen, Ursprung und Verbreitung des neuartigen Coronavirus nachzuvollziehen. Dabei habe sich zweifelsfrei ergeben, dass SARS-CoV-2 keinesfalls aus Wuhan stammen kann – insbesondere nicht aus dem dortigen Institut für Virologie. Also ist die Laborhypothese vom Tisch? Von wegen.


Nicht nur im Krieg, auch bei Erdbeben, Tsunamis und Epidemien kann es zu einer „zweiten Welle“ kommen. Manchmal fällt sie schlimmer aus als die erste.


Im Nachrichtenmeer gibt es dieses Phänomen ebenfalls. Da hat irgendwann ein Ereignis für mächtig Wirbel gesorgt. Dann hört und liest man längere Zeit nichts mehr davon. Und plötzlich macht es abermals Schlagzeilen.


Besonders merkwürdig ist dieses Phänomen, wenn sich seit der ersten Welle keinerlei neue Aspekte ergeben haben. Und wenn sie gleichzeitig mehrere Redaktionen erfasst, scheinbar unabhängig voneinander.


Für solche sonderbaren Synchronizitäten fallen mir nur zwei mögliche Erklärungen ein. Entweder sind die beteiligten Redakteure, oder ihre zuliefernden Agenturen und freien Mitarbeiter, irgendwie paranormal miteinander verbunden. Gab ihnen eine göttliche Eingebung, eine telepathische Kettenreaktion, ein Simultantraum womöglich den entscheidenden Impuls? Oder im Hintergrund hat jemand ihre Aktivitäten choreografiert. Dieser „Jemand“ kann eine PR-Agentur sein, die im Kundenauftrag ein und denselben Stoff, höchst professionell aufbereitet, in alle Himmelsrichtungen streut – und dafür treuherzige Abnehmer findet.


In der Coronakrise machte dieses Medienphänomen ein Bruderpaar gleich zweimal berühmt: Michael Forster, Molekularbiologe am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, und Peter Forster, Archäologe an der Universität Cambridge.


Anfang April 2020 ging die Meldung um den Globus: Den beiden sei es per „phylogenetischer Netzwerkanalyse“ gelungen, Ursprung und Verbreitung des neuartigen Coronavirus nachzuvollziehen. (1) Dabei habe sich zweifelsfrei ergeben, dass SARS-CoV-2 unmöglich aus Wuhan stammt. Sein Ausgangspunkt liege zwar in China, aber woanders, in der Provinz Guangdong tausend Kilometer südöstlich, einer Region mit reichlich Fledermaushöhlen.


Genau denselben angeblichen Durchbruch meldeten mehrere Medien fünf Monate später, am 15. und 16. September, erneut (2) – kurz nachdem eine aus China geflohene Whistleblowerin, die Virologin Li-Meng Yan, den Anstoß gegeben hatte, die fast schon eingeschlafene Debatte über eine Laborherkunft von SARS-CoV-2 wiederzubeleben.

Nun mag ein Erkenntnisgewinn ja so grandios sein, dass man ihn gar nicht oft genug in Erinnerung rufen und über den grünen Klee loben kann.


Verdankt die Menschheit den Forster-Brüdern also eine solche Errungenschaft? Was genau wollen sie herausgefunden haben? Wie gingen sie dazu vor?


Der Viren-Stammbaum der Forsters erfreut China und die WHO ungemein


“Phylogenetische Netzwerkanalyse“: allein schon das fachchinesische Wortungetüm lässt die meisten Laien ehrfurchtsvoll erschaudern. Dabei handelt es sich um nichts weiter als digitalisierte Ahnenforschung: Aus festgestellten Ähnlichkeiten schließt man auf Verwandtschaften und Abstammungslinien, daraus erstellt man Stammbäume. Dabei hilft der Computer – vorausgesetzt, man füttert ihn vorher mit Daten, die so aufbereitet sind, dass er sie verarbeiten kann. Dann liefert er Analysen und grafische Darstellungen von einer Präzision und Komplexität, die früher monatelange Sisyphosarbeit von Hand erfordert hätte. Hunderte möglicher Stammbäume erstellt und vergleicht er in Sekundenbruchteilen. Mehrere Dutzend Programme stehen dafür zur Wahl (3), die eingesetzte Software trägt Namen wie „PhyloNet“, „SplitsTree“, „TCS“ und „Dendroscope“. Die Forsters bevorzugten das „Network 5011CS Package“.


Entwickelt wurde die pylogenetische Netzwerkanalyse Ende der siebziger Jahre ursprünglich von Archäologen, um die menschliche Stammesgeschichte zu rekonstruieren. Biologen und Ökologen nutzen sie, um Evolutionspfade der unterschiedlichsten Organismen zu ermitteln. Seit 2003 wenden Linguisten sie außerdem zur Erforschung der Sprachgeschichte an. „Es ist jetzt an der Zeit“, so fanden die Gebrüder Forster, „diese Herangehensweise auf virologische Daten anzuwenden, um zu erforschen, wie diese Methode zum Verständnis der Evolution des Coronavirus beitragen kann.“


Genome eignen sich dazu von vornherein hervorragend. Die Abfolge von Nukleinbasen, aus denen DNA- bzw. RNA-Stränge bestehen, lassen sich inzwischen automatisiert ermitteln und sehr leicht miteinander vergleichen. Es sind immer die gleichen vier, bloß unterschiedlich kombiniert: Adenin A, Guanin G, Thymin T, Uracil U und Cytosin C. Jeder Infektionszyklus modifiziert die Abfolge, teils weil spontane Mutationen auftreten, teils dadurch, dass Viren untereinander Erbmaterial tauschen, „rekombinieren“.


Ermittelte Sequenzdaten von Virengenomen laden Forscher in internationale Datenbanken hoch, um sie weltweit miteinander zu teilen.


In „GISAID“, einem der umfangreichsten derartigen Wissensspeicher, lagern inzwischen über 107.000 Genomsequenzen des Covid-19-Erregers aus aller Welt. (Stand: 24.9.2020.) Von dort beschafften sich die Forsters die Daten der ersten 160 vollständigen Genome von SARS-CoV-2-Viren, die seit Ende 2019 bis Anfang März 2020 in menschlichen Wirten entdeckt worden waren.


Damit gefüttert, spuckte die eingesetzte Software schließlich einen „Stammbaum“ aus, demzufolge SARS-CoV-2 sich während der ersten Pandemiemonate zu drei verschiedenen Typen entwickelte. Die Wissenschaftler nennen sie A, B und C. Was sie über deren Evolutionspfade herausgefunden haben wollen, veröffentlichten sie am 8. April 2020, (4) begleitet von erleichtertem Aufatmen in Peking und Genf.


Typ A soll mit einem Fledermaus-Coronavirus, in dem die Forsters den wahrscheinlichsten Ausgangspunkt der Pandemie sehen, zu 96,2 % übereinstimmen. Somit dürfte es sich dabei um den Urahn aller menschlichen SARS-CoV-2-Viren handeln, so meinen sie. Alle Infizierten, bei denen Typ A nachgewiesen wurde, stammten entweder aus Wuhan oder hielten sich dort auf, als sie sich ansteckten.


Überraschenderweise herrschte in Wuhan allerdings Typ B vor. Er soll älteren Datums und vom Südosten Chinas ausgegangen sein. Rasch setzte er sich in Ostasien durch. Bald darauf tauchte er in Australien auf, in den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko, in Frankreich, Deutschland und Italien.


Aus ihm entwickelte sich Typ C. In Europa war er im Frühjahr bereits der wichtigste Typ, mit Vertretern in Frankreich, Italien, Schweden und England. Auf dem chinesischen Festland war er bis dahin nicht aufgetaucht, wohl aber in Singapur und Hongkong, Taiwan und Südkorea, schließlich auch in Kalifornien und Brasilien.


Immens wertvoll sei dieser Stammbaum, so versichern und die Forsters. „Getreu nachgezeichnet“ hätten sie „die Infektionswege für dokumentierte Covid-19-Fälle“, so klopfen sie sich selbst auf die Schulter. Und nicht nur helfe ihre Analyse das Rätsel zu lösen, wie SARS-CoV-2 in die Welt kam. Auch könne er dazu beitragen, die künftigen Reisewege des Virus besser vorauszusagen; darauf gestützt lassen sich unerkannte Sars-CoV-2-Infizierte aufspüren, welche dann in Quarantäne gestellt werden können. Somit leiste die phylogenetische Netzwerkanalyse einen entscheidenden Beitrag dazu, die Seuche einzudämmen.


Zuviel versprochen


Zu überschätzen, was man selber zustande gebracht hat, ist eine allzu menschliche Schwäche, gegen die Wissenschaftler nicht eher gefeit sind als Sportler, Schriftsteller und Schauspieler. Faktenchecker, welche die Forster-Studie einhellig hochleben lassen, unterschlagen reichlich Expertenkritik, die ihnen anscheinend nicht in den Kram passt: Derartige „Ahnenforschung“ kann mehr oder minder ausgeprägte strukturelle Ähnlichkeiten aufdecken, aber keine tatsächlichen Abstammungslinien belegen. Ihre Grafiken sind ebenso hübsch wie irreführend. (5)


Schon mit der Verwurzelung des phylogenetischen Baums ist einiges faul. Die Forsters verankern ihn ausgerechnet in jenem angeblich nächsten natürlichen Verwandten von SARS-CoV-2, der in immer begründeterem Verdacht steht, von der Topvirologin des Wuhan-Instituts dreist gefälscht worden zu sein: im „Fledermaus-Coronavirus“ RaTG13.


Aber selbst wenn RaTG13 echt wäre, kommt dieses Virus als Urahn schwerlich in Frage, wie Carla Mavian einwendet, eine Pathologin und Immunologin von der University of Florida in Gainesville: „Die Sequenzidentität zwischen SARS-CoV-2 und dem Fledermausvirus von 96,2% bedeutet, dass sich diese viralen Genome - die fast 30.000 Nukleotide lang sind - durch mehr als 1.000 Mutationen unterscheiden. Es ist unwahrscheinlich, dass eine so weit entfernte Außengruppe eine zuverlässige Wurzel für das Netzwerk bildet.“


Auch weist Mavian darauf hin, dass die Verwurzelung zeitliche Abläufe ignoriert. Unter anderem „wird ein Virus aus Wuhan aus Woche 0, vom 24. Dezember 2019, als Abkömmling einer Gruppe von Viren dargestellt, die in den Wochen 1 bis 9 gesammelt wurden - vermutlich von vielen Orten außerhalb Chinas -, was weder evolutionär noch epidemiologisch Sinn macht“.


Die Genome von A, B und C weichen laut Mavian viel zu gering voneinander ab, um daraus drei gravierend unterschiedliche „Typen“ abzuleiten. Wie die Forster-Gruppe selbst einräumt, „unterscheidet eine einzige synonyme Mutation - Nukleotidveränderung in einem Gen, die nicht zu einem veränderten Protein führt - den Typ A vom Typ B, während eine nichtsynonyme Mutation - die zu einem Protein mit einer einzigen Aminosäurenveränderung führt - die Typen A und C und eine weitere die Typen B und C trennt. Angesichts der schnellen Evolutionsrate von SARS-CoV-2 ist das zufällige Auftreten neuer Mutationen durchaus zu erwarten, selbst in einem relativ kurzen Zeitrahmen. Wenn ein Virusstamm eingeführt wird und sich in einer neuen Population ausbreitet, können sich solche zufälligen Mutationen vermehren“, ohne biologisch einen Unterschied zu machen.


Die Datenbasis, aus der die Forsters ihr Netzwerk spinnen, ist dürftig. In der ersten Märzwoche 2020 verzeichnete die Johns-Hopkins-University weltweit erst über 4.000 Infizierte; von diesen geht in die Forster-Analyse nicht einmal jeder Zwanzigste ein. Völlig offen bleibt, wie repäsentativ der spärliche Datensatz von 160 Genomen überhaupt ist. Pro Land enthält er meist weniger als eine Handvoll sequenzierte Stämme, vereinzelt sogar bloß ein bis zwei. Dabei gilt in der Fachliteratur über phylogenetische Netzwerkanalysen eine repräsentative Stichprobenziehung, wie der Forster-Gruppe klar sein müsste, als wesentliche Bedingung für seriöse Befunde. (6)


Die Behauptung der Forsters, dass ihre Vorgehensweise „zu einem Verständnis der Coronavirus-Evolution beitragen kann", beruht im übrigen auf einem „Missverständnis sowohl der Methode als auch ihrer Interpretation“, so gibt ein fünfköpfiges Forscherteam um Santiago Sanchéz-Pacheco vom kanadischen Zentrum für Biodiversitätr in Toronto zu bedenken. (7) „In Wirklichkeit stellt sie nur Verwandtschaften dar, nicht aber eine Phylogenie im engeren Sinne. Aufgrund der fehlenden Richtung liefern sie keine Informationen über die Evolutionsgeschichte der Sequenzen.“

Auch berücksichtige die Netzwerkanalyse nicht, dass bei Viren, wie bei allen bekannten Lebewesen, ein Gentransfer nicht bloß „vertikal“ stattfindet; genetisches Material wird nicht nur entlang der Abstammungslinie übertragen, von Vorfahren zu Nachkommen, von einer Generation zur darauffolgenden. Oft wird Erbgut auch „horizontal“ transferiert, zwischen Individuen derselben Art oder auch verschiedener Arten. Dieser Gentransfer ist nicht an einen Fortpflanzungsvorgang gebunden. Also bleibt er in Stammbäumen außen vor.


Aus all diesen Gründen, so lautet Sanchez-Pachecos vernichtendes Fazit, „führt die Forster-Studie leider mehr in die Irre, als dass sie die Evolutionsgeschichte von SARS-CoV-2 beim Menschen erhellt“; sie „begünstigt Missverständnisse, Ungenauigkeiten und Fehldarstellungen grundlegender phylogenetischer Prinzipien“.


Dieser niederschmetternden Einschätzung schließt sich Thanat Chookajorn von der Mahidol-Universität in Bangkok, Thailand an. „Als Evolutionsbiologe, der in einem Entwicklungsland arbeitet, habe ich aus erster Hand erfahren, wie sensationelle Erkenntnisse Entscheidungsprozesse beeinflussen können, indem Zeit und Ressourcen zur Kontrolle von Virusstämmen umgelenkt werden, die als ‚aggressiv‘ gelten. Im Nebel des Krieges werden knappe Ressourcen überstürzt zugeteilt, und die Entwicklungsländer verfügen nicht bei jeder wichtigen Sitzung über gut informierte wissenschaftliche Berater, die zu ausgewogenen wissenschaftlichen Standpunkten beitragen könnten. Die wissenschaftliche Gemeinschaft als Ganzes muss bei der Interpretation neuer Erkenntnisse im Zusammenhang mit Covid-19 besonders vorsichtig sein und jeder potenziellen Fehlinformation umgehend begegnen.“ (8)


Hinzu kommt, dass Virenstämme kommen und gehen. Von SARS-CoV-1, dem pandemischen Coronavirus von 2003, dürften mittlerweile mehrere zehntausend Stämme entstanden sein, von denen die allermeisten gar nicht mehr existieren. Auch vom ursprünglichen SARS-CoV-2, dem Wuhan-Virus, fehlte bereits im Sommer 2020 jede Spur. Nach „genetischen Abständen“ zu suchen, ist aber ein sinnloses Unterfangen, wenn man die inzwischen verschwundenen Virenstämme nicht allesamt kennt. (9)


Es wirft ein bezeichnendes Licht auf den Qualitätsverfall des Wissenschaftsjournalismus, dass all diese Expertenkritik in den medialen Jubelarien auf das Forster-Papier vollständig unter den Tisch gefallen ist. Selbstverständlich hätte dabei auch Erwähnung finden müssen, dass die Forsters sich beeilten, die Einwände zu entkräften. Doch wäre es für die interessierte Öffentlichkeit nicht enorm aufschlussreich gewesen zu erfahren, dass die Fachwelt überhaupt solche Einwände erhob? Hätten politische Entscheider und ihre Beratergremien nicht darauf hingewiesen werden müssen, ehe sie die Forster-Befunde ahnungslos für bare Münze nehmen?

Anmerkungen

(4) Peter Forster/Lucy Forster/Colin Renfrew/Michael Forster: „Phylogenetic network analysis of SARS-CoV-2 genomes“, Proceedings of the National Academy of Sciences 2020, DOI: 10.1073/pnas.2004999117

(6) S. D. Frost u.a.: „Eight challenges in phylodynamic inference“, Epidemics 10/2015, S. 88–92, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1755436514000437

(9) Johannes Kreis: „SARS-CoV2 – in 6 Monaten über 100 verschiedene Virenstämme“, https://www.wodarg.com/fremde-federn/

Titelbild: Gerd Altmann / Pixabay.

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