Wenn einer jungen Frau eine „Depression höchsten Schweregrades“ diagnostiziert wird, ist das ein glasklarer Fall für die moderne Psychiatrie, nicht wahr? Ihr eigener Vater erlebte fassungslos mit, was dabei herauskam.
Anfang Januar 2015 wandte sich der 60jährige Martin* an mich, in heller Aufregung: Soeben sei bei seiner 18jährigen Tochter Nora*, nach einem missglückten Selbstmordversuch kurz vor Silvester, in einer psychiatrischen Klinik eine „Depression höchsten Schweregrades“ diagnostiziert worden. Eine ambulante Behandlung wurde ihr strikt verweigert, das sei viel zu riskant. Stattdessen wurde ihr dringend geraten, sich mindestens einen Monat lang stationär therapieren zu lassen.
„Ich bezweifle sowohl die Diagnose als auch die Notwendigkeit, sie in die Psychiatrie einzuweisen“, sagte der Vater. „Viel lieber hätte ich sie für ein ‘Auswege’-Camp angemeldet. Aber Nora besteht darauf: Nur in der Klinik könne ihr geholfen werden, meint sie. Was soll ich tun? Könnten Sie nicht mal mit ihr reden?“
Weil der Mann nicht allzu weit von mir entfernt wohnte, bot ich ihm ein sofortiges Treffen an. Am darauffolgenden Tag schilderte er mir weitgehend gefasst und doch zwischendurch sichtlich bewegt, mit Tränen in den Augen, bebender Stimme und leicht zitternden Händen, ein bezeichnendes Geschehen, an dem sich wie unter einer Lupe studieren lässt, wie die Psychiatrie eine akute Lebenskrise, die offenkundig bedrückende äußere Umstände auslösten, in eine behandlungsbedürftige „Krankheit“ umdeutet und entsprechend mit ihr verfährt, mit gutgläubigem Einverständnis der Betroffenen.
„Was haben Sie denn gegen die moderne Psychiatrie?“, wollte ich zunächst von Martin wissen.
„Weil ich ihre Segnungen aus Erfahrung kenne“, erklärte er. Schon im Sommer 2010 hatte seine Tochter zwei Monate in der geschlossenen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie einer Universitätsklinik zugebracht. Ihre Einweisung betrieben hatte die Mutter, eine Grundschullehrerin, die seit Ende der neunziger Jahre an schweren Depressionen litt, mit heftigen Panikattacken und massiven körperlichen Begleiterscheinungen, die sie immer wieder arbeitsunfähig machten - was sie Nora verheimlichte.
Bei Nora liege eine ausgeprägte „Anpassungsstörung“ vor, wie Klinikärzte im Nu herausfanden, mittels mehrerer psychodiagnostischer Testverfahren, bei denen Noras Werte „im klinisch hoch auffälligen Bereich“ lagen. Woran vermochte sich das Mädchen nicht „anzupassen“? Vor kurzem war, wie aus heiterem Himmel, die Scheidung der Eltern über sie hereingebrochen. Noch weitaus schlimmer als der Umstand, dass die geliebte Mama nach zwanzig Beziehungsjahren den geliebten Papa verließ, war für sie, dass Mama sie und ihre zwei Jahre ältere Schwester Sandra* fortan unablässig gegen Papa aufwiegelte. Dazu griff sie zu abstrusen Lügen: ‘Immer hat er mich furchtbar unterdrückt, manipuliert und kontrolliert’, ‚‘Kinder gehören gesetzlich zur Mutter’, ‚‘Er hat dich, als du noch klein warst, in der Badewanne ganz oft sexuell missbraucht, in deinen Zeichnungen haben Ärzte und Psychologen eindeutige Hinweise darauf entdeckt’, ‚‘Er ist ein Betrüger und hat Millionen Schwarzgeld in der Schweiz’, ‚‘Er hatte heimlich Geliebte, mit denen er mich betrogen hat’. Permanent setzte sie die Kinder unter Erwartungsdruck, sich mit ihr gegen den bösen Papa zu verbünden und ausschließlich bei ihr zu wohnen. Sandra ging der mütterlichen Propaganda auf den Leim; für diesen Papa, mit dem sie zuvor 14 Jahre lang ein ebenso inniges, liebevolles Verhältnis verband wie Nora, hatte sie fortan nur noch Verachtung und Hass übrig. Nora hingegen hing weiterhin an mir. Tapfer setzte sie sich gegen die Entfremdungsbemühungen zur Wehr. Dafür nahm sie in Kauf, von ihrer Mama unentwegt mit Vorwürfen und Liebesentzug bestraft zu werden. Deren düstere Prophezeiung, in meiner Obhut werde sie ‘zugrundegehen’, ignorierte Nora.“
Dieses verhängnisvolle Spannungsfeld fiel den Klinikpsychiatern durchaus auf. Ihr Befundbericht erwähnt ein „angespanntes, disharmonisches Familiensystem. Die Patientin erscheint durch die schwierige Trennung der Eltern sehr belastet. Sie beginnt zu weinen, wenn das Gespräch darauf kommt.“ Immer wieder „thematisiert sie das angespannte Verhältnis zwischen und zu ihren Eltern, worunter sie stark leidet“. Doch anstatt dieses Verhältnis anzugehen, um die äußeren Ursachen von Noras desolatem Zustand zu beseitigen – was erfordert hätte, die zerstrittenen Eltern „systemisch“ in die Therapie einzubeziehen -, ging es während der gesamten Klinikzeit vorrangig um Noras Unvermögen, damit klarzukommen. Kein Wunder, dass dieses Manko trotz siebenwöchiger Internierung fortbestand, nicht bloß unvermindert, sondern eher noch verschärft.
Dazu trugen geradezu surreale Schreckenserlebnisse bei, die sich tief in Noras Gedächtnis einbrannten: etwa demütigende Bloßstellungen wegen einer angeblichen „Sexualisierung“. Einziger diagnostischer Anhaltspunkt hierfür: Das Mädchen, eine ebenso leidenschaftliche wie hochbegabte Zeichnerin, bildete am liebsten nackte menschliche Körper ab, deren Anatomie sie faszinierte - Körper, die nicht etwa obszön posierten oder gar sexuell aktiv waren, sondern schlicht unbekleidet. (Fünf Jahre später begann das Mädchen eine Ausbildung zur Designerin.) Schon mit Zwölf hatte Nora, dank einer Sondererlaubnis der Schulleitung, einen VHS-Kurs im Aktzeichnen besuchen dürfen, an dem ansonsten nur ältere Erwachsene teilnahmen. Um sich die quälend lange Wartezeit zwischen den spärlichen Klinikterminen zu vertreiben, malte sie auch auf ihrem Zimmer in beinahe jeder freien Minute. Als das auffiel, veranstaltete der Chefarzt bei der nächsten Visite, umgeben von Assistenzärzten, Psychologen und Pflegern, ein regelrechtes Tribunal: Noras „unanständige“ Bilder wurden an die Wand gepinnt und minutiös auf pathologische Sexualmotive hin analysiert - wieviele nackte Hintern, wieviele entblößte Brüste? -, während das Mädchen vor Scham schier im Erdboden versank. („Ich kam mir vor wie eine Schweinkram produzierende Triebtäterin.“) Im Anschluss daran erhielt sie ein striktes Malverbot; Zeichnungen, Block und Stifte wurden ihr weggenommen.
Viele weitere traumatische Erinnerungen sind ihr bis heute ebenso lebhaft präsent. Einem netten Pfleger – dem „einzigen Menschen auf der ganzen Station, der wirklich auf mich einging“ – hatte sie beiläufig anvertraut, dass sie gerne singt. Ein paar Tage später tauchte eine Frau in ihrem Zimmer auf, führte sie in den Keller, wies ihr einen fensterlosen Raum zu und meinte dann: „Ich hab‘ gehört, dass du gerne singst. Das kannst du jetzt gerne eine halbe Stunde lang machen.“ Dann ließ sie Nora stehen, sperrte die Tür zu und hielt davor auf einem Hocker genau dreißig Minuten lang Wache. Drinnen wimmerte unterdessen das verängstigte Kind.
Im Nebenzimmer war ein zwölfjähriges Mädchen untergebracht, das mehrmals täglich von „hypochondrischen Asthmaanfällen“ gepeinigt wurde. „Als ich sie wieder einmal grauenvoll husten hörte, lief ich vor ihr Zimmer, und durch die halb geöffnete Tür sah ich sie zusammengekauert auf ihrem Bett liegen, die Hände auf ihren Brustkorb gepresst. In Todesangst rang sie keuchend nach Luft. Irgendwann tauchte kurz ein Pfleger auf, baute sich im Türrahmen auf, die Hände in den Hüften, und brüllte sie an: „Nun hab´ dich mal nicht so, Lisa! Man kann´s auch übertreiben!“ Dann verzog er sich wieder.
Kurz darauf erlebte Nora mit, wie eine Mitgefangene auszubüchsen versuchte: ein dort seit Monaten interniertes Mädchen, das sich nicht bloß oberflächlich „ritzte“ - ihre Arme und Beine richtete sie mit Messern und Scheren derart zu, dass sie mit tiefen, blutroten Schnittwunden übersät waren, „manche zentimetertief bis auf die Knochen; an manchen Stellen fehlte die Haut großflächig“. Therapieerfolg: null - die Selbstverstümmelungen hatten eher noch zugenommen. Der verzweifelte Fluchtversuch scheiterte nach wenigen Metern: „Zwei Pfleger packten sie brutal, schrien sie an, zerrten sie zurück in ihr Zimmer, fesselten sie ans Bett, ließen sie dort einfach liegen.“ Niemand beruhigte, niemand tröstete, niemand kümmerte sich um das Kind.
Hatten die Kinder auf der Station Hunger, weil die Mahlzeiten spärlich portioniert waren, so mussten sie sich mit lauwarmem Tee begnügen.
Kurzum: moderne Psychiatrie vom Feinsten, „leitlinienorientiert und evidenzbasiert“, wie die Klinik auf ihrer Homepage versichert.
Am Ende verließ Nora die Psychiatrie eher noch belasteter, als sie eingeliefert worden war, weshalb der Klinikbericht abschließend dringend eine „mindestens teilstationäre“ Weiterbehandlung empfahl, „um eine weitere Chronifizierung der Symptomatik zu verhindern“. Die umgehende Verlegung in eine weitere Klinik, diesmal für mindestens ein Jahr, versuchte die Mutter, unterstützt vom Jugendamt, daraufhin juristisch durchzusetzen, denn Martin stellte sich quer, während die demoralisierte Nora zunächst hin- und hergerissen war. Weil eine weise Familienrichterin dafür war, erst noch eine Weile abzuwarten, holte er Nora zu sich, suchte eine neue Schule für sie, brachte sie jede Woche zu einer Bekannten, die in langen, einfühlsamen Gesprächen ihr erschüttertes Selbstbewusstsein stärkte. Ein halbes Jahr später war das Kind klinisch völlig symptomfrei. „Nora zog zu mir, der Kontakt zu Mutter und Schwester riss weitgehend ab, in einer neuen Schule war sie rasch integriert, sie fand Freunde und Bekannte, ihr Verhältnis zu mir war zutiefst vertrauensvoll. So blühte sie von Woche zu Woche auf. Ab Anfang 2011 hatte sie sich restlos gefangen, sie war psychisch vollauf stabil.“
„Bis Mitte 2014“, so berichtete mir Martin weiter, „war aus Nora eine fröhliche, selbstbewusste, unbeschwerte junge Frau geworden, mit einem großen Bekanntenkreis, mehreren leidenschaftlich gepflegten Talenten – sie kann phantastisch zeichnen und fotografieren – und voller Stolz auf ihre erste eigene Wohnung in einer aufregenden Großstadt, die ich ein Jahr zuvor für sie angemietet hatte. Von dort aus erreichte sie eine Akademie für Modedesign, in der sie ihre Lieblingshobbies zum Traumberuf machen wollte. Zuvor bestand sie eine Aufnahmeprüfung ebenso mühelos, wie sie zuvor die Realschule abgeschlossen hatte. In der Akademie begegnete sie nach wenigen Wochen ihrer ‘großen Liebe’, einem Klassenkameraden. Mit ihm verbrachte sie fortan, auf Wolke Sieben schwebend, beinahe jede freie Minute. Ihre gelegentlichen Stimmungstiefs waren nicht tiefer und länger als bei mir oder sonstwem, der als psychisch vollauf gesund gilt.“
Was änderte sich denn daran vom Sommer 2014 an? „Bei unseren regelmäßigen Treffen“, so erzählte mir der Vater, „wirkte Nora auf mich immer öfter niedergeschlagen, grüblerisch, antriebslos, gereizt. Sie klagte mir, dass sie sich an manchen Tagen ‘über nichts mehr richtig freuen’ und oft erst weit nach Mitternacht einschlafen könne. Ab Herbst hatte sie dreimal einen ‘Zusammenbruch’, wie sie es nannte: Ihr wurde schwindlig, dann verlor sie kurzzeitig das Bewusstsein. Seit Ende 2014 berichtete sie von ‘Essstörungen’ – ‚‘ich habe fünf Kilo zugenommen’ – und einem Gefühl, ‚‘nichts wert’ und ‚schuld’ zu sein.“ Was steckte dahinter?
„Da kamen kurz hintereinander mehrere Belastungsfaktoren zusammen“, erläuterte mir der Vater. „Zum einen ernüchterte sie ihre Ausbildung. Davon versprochen hatte sie sich, vor allem noch besser zeichnen und fotografieren zu lernen. ‘Dem Lehrplan nach’, klagte sie mir, ‚‘ist Medientechnik nur ein Fach neben vielen anderen. In Wahrheit aber ist beim Modedesign alles Medientechnik! Selbst das sogenannte „Freie Zeichnen“ bedeutet nicht mehr Gestalten von Hand auf Papier, sondern elektronisches ‘Malen’ mit einem Eingabestift am Grafiktablet oder mit der Maus am Computer, und dazu muss man komplizierte Software perfekt beherrschen’.“ Das hatte sich Nora ganz anders vorgestellt. Und so verlor sie jegliche Lernmotivation, schwänzte, erledigte Hausaufgaben nicht mehr, bereitete sich nicht auf Tests vor. Entsprechend mies waren ihre Noten, das jüngste Halbjahreszeugnis fiel katastrophal aus. „Im Herbst“, so erinnerte sich ihr Vater, „äußerte sie mir gegenüber erstmals, dass sie die Ausbildung abbrechen möchte. Doch ich bedrängte sie, weiterzumachen, weil ich fand, so schnell dürfe man nicht die Flinte ins Korn werfen, wenn etwas unangenehm und mühsam wird. Erst gestern gab ich ihr grünes Licht, nach einer Alternative zu suchen.“ Ab August 2014 – jenem Monat, von dem an dem Vater eine deutliche Veränderung in Noras psychischer Verfassung auffiel - rückte das neue Akademie-Schuljahr näher, und damit wuchs das Grauen vor täglichen neuen Erfahrungen der eigenen Unzulänglichkeit. („All meine Mitschüler kommen mit Computern klar – bloß ich nicht.“) Damit einher ging die Angst, ihren Dad zu enttäuschen, gerade vor ihm, ihrem großzügigen Sponsor, als Versagerin dazustehen. Das nährte Schuldgefühle.
Beides zusammengenommen vermittelte Nora das Gefühl, ausweglos in der Falle zu setzen: Setzt sie die Ausbildung fort, dann trotz allergrößten Widerwillens und ohne Zukunftsperspektive. Bricht sie ab, steht sie vor ihrem Vater und sich selbst da als jemand, der lustlos aufgibt, etwas nicht zu Ende bringt. Das weckte Existenzängste: Was sollte ohne Ausbildung, ohne Job bloß aus ihr werden, falls ihr Vater enttäuscht seine Unterstützung einstellt, wenn sie die Schule verlässt? Wovon sollte sie leben? Würde sie ihre Wohnung verlieren?
Hinzu kam, dass Nora die Trennung von ihrer „großen Liebe“ verkraften musste. Ihr angehimmelter Märchenprinz hatte die Beziehung brutalstmöglich beendet, wobei er Nora zu verstehen gab, sie sei zu blöd für ihn. Nachträglich kam heraus, dass er sie schon seit Monaten mit einer Klassenkameradin betrog. Über diese Demütigung kam sie nicht hinweg, weiterhin war sie zutiefst verletzt und voller Hass. In ihrer Klasse fühlte sich Nora außerdem mehr und mehr ausgegrenzt – prompt lebten traumatische Erinnerungen an frühere Schulmobbings wieder auf. „Damit nicht genug“, fuhr ihr Vater fort: „Just in jenem August, in dem Nora zunehmend aus dem Gleichgewicht geriet, war es zu einer Aussprache und Versöhnung mit ihrer Mutter und Schwester gekommen.
Die Wiederannäherung an beide befriedigte einerseits ihre Sehnsucht nach deren Liebe – andererseits geriet sie wieder in den Bannkreis zweier Personen, von denen sie sich nicht respektiert fühlte und die ihrem Selbstwertgefühl nicht gut taten. Denn weiterhin ließ die Mutter kaum ein gutes Haar an ihr. Weiterhin hielt sie ihr vor, zu ‘diesem Schwein zu halten, den du Vater nennst’. Weiterhin wartete Nora vergeblich auf eine Entschuldigung. Weiterhin, wie schon früher, gab die große Schwester ihr bei jeder Gelegenheit zu verstehen, wieviel intelligenter, grandioser, erfolgreicher sie doch ist“.
Hinzu kamen wiederholte Misserfolgserlebnisse auch außerhalb der Akademie, bei der vergeblichen Suche nach einem Nebenjob, der Nora auch deshalb so wichtig war, weil sie ihren Vater finanziell entlasten wollte. Nur zweimal war sie angenommen worden: Als Bedienung in einem Bistro musste sie gehen, nachdem dieser im Frühjahr dichtmachte; als Aushilfskraft in einer Imbissbude nahm sie nach zwei Tagen reißaus, weil der Inhaber sie sexuell belästigte. Mindestens ein Dutzend weiterer Vorstellungs- gespräche, oft mit stundenlangem unbezahlten ‘Probearbeiten’, endeten in Absagen, zumeist mit fadenscheinigen Begründungen.“ All dies zusammengenommen hatte offenbar ausgereicht, um Noras Selbstbewusstsein schwer zu erschüttern. Sie fühlte sich minderwertig.
Drei Tage vor Silvester 2014 spitzte sich Noras Krise dramatisch zu: „Überwältigt von ihrem multiplen Elend, versuchte sie sich umzubringen - mit ‚‘Nikotintee’. Dazu löste sie den Tabak aus zwei Zigarettenschachteln heraus, kochte ihn in Wasser auf und trank den Sud. Als heftige Vergiftungssymptome einsetzten und sie sich unentwegt übergeben musste, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie rief einen Notarzt, der sie für eine Nacht ins Krankenhaus brachte. Daraufhin beschloss sie, professionelle Hilfe zu suchen. Bei der Ambulanz einer psychiatrischen Klinik besorgte sie sich einen Termin. Innerhalb von knapp zwei Stunden wurde dort von einer klinischen Psychologin mittels Standardinterview eine ‚‘schwerste depressive Episode’ festgestellt – und von einer hinzugezogenen Psychiaterin nach nur zehnminütigem Gespräch bestätigt. Das könne unmöglich bloß ambulant behandelt werden, ‘weil du dann vorsichtshalber sehr starke Psychopharmaka nehmen müsstest’, wie meine Tochter zu hören bekam. ‘Dringendst’ wurde ihr zu einer‚‘mindestens einmonatigen’ stationären Unterbringung geraten. Eingeschüchtert und verängstigt willigte Nora sofort ein.“
Demnach war die Entscheidung bereits gefallen. Welchen Sinn machte es da noch, dass ich Martins Wunsch nachkam und mit seiner Tochter sprach? Nach drei Stunden verabschiedete ich mich von ihm, bat ihn aber, mich auf dem laufenden zu halten.
Eine Woche später saßen wir erneut zusammen. Was, so fragte ich Martin, hatte er denn dagegen einzuwenden, dass sich seine geliebte Tochter in ihrer offensichtlich desolaten Verfassung psychiatrisch versorgen lässt? Nahm er ihren alarmierenden Suizidversuch etwa nicht ernst genug? Wollte er riskieren, sein Kind zu verlieren?
„Um Himmels willen!“, fuhr er mich aufgebracht an. „Wie können Sie so etwas fragen? Allerdings bezweifle ich, dass sie sich ernsthaft umbringen wollte, so planlos, aus einem Augenblicksaffekt heraus und wider besseres Wissen. Denn schon vorher, so gestand sie mir nachträglich, sei ihr klargewesen, dass dazu der Tabakinhalt von zwei Zigarettenschachteln unmöglich ausreichen konnte; mindestens vier wären nötig gewesen. Mir das eher wie ein verzweifelter Hilfeschrei vor: ‚‘Schaut her, wie furchtbar schlecht es mir geht!’ Nehmt ihr meine Not jetzt endlich ernst?’“ Auf all das, was sie monatelang belastete, reagierte sie keineswegs krankhaft, sondern absolut angemessen, nachvollziehbar und rational. Was ist denn neurotisch daran, sich von objektiv bestehendem Druck bedrücken zu lassen?“
Andererseits: Tot ist tot, egal ob sorgfältig und mit Bedacht vorbereitet oder im Affekt herbeigeführt. Kennt der Vater denn nicht Statistiken, denen zufolge zwei Drittel aller Selbstmörder depressiv sind?
„Selbstverständlich ist mir das bewusst“, erwiderte Martin. „Und natürlich ist mir klar, dass meine Tochter dringendst Hilfe benötigt – aber nicht, weil sie ‘psychisch krank’ ist. Denn ich bezweifle sowohl die gestellte Diagnose als auch die Notwendigkeit, sie stationär zu versorgen.“
Was maßt sich dieser Laie an? Wie kommt er dazu?
„Natürlich interessierte mich brennend, wie der Befund einer ‘schwersten Depression’ zustande kam.“ Den Ausschlag gab der „QIDS-C 16“-Test - QIDS steht für „Quick Inventory of Depressive Symptomatology“ -, ein 2003 entwickelter Fragebogen, dessen 16 Items die Hauptsymptome einer Depression abdecken sollen: von Traurigkeit über vermindertes Selbstwertgefühl, Konzentrations- und Entscheidungsschwäche, Energie- und Interesselosigkeit bis hin zu Schlaf- und Essstörungen, innerer Unruhe und Selbstmordgedanken – „innerhalb der letzten sieben Tage“. Dabei hat sich der Patient jeweils für eine von vier Antwortmöglichkeiten zu entscheiden. Erreicht er auf einer Werteskala von 0 bis 27 einen Score von 21 oder höher, muss er als „sehr schwer“ depressiv gelten.
Wie könnte ein noch so ausgeprägtes seelisches Tief innerhalb der zurückliegenden Woche auf eine psychische Erkrankung „schwersten“ Ausprägungsgrads hindeuten? Noras Vater berichtete: „Interessehalber habe ich diesen QIDS-16 für mich selbst ausgefüllt. Mein Punktwert lag bei 20, also nur knapp unterhalb der Schwelle zur allerdringendsten Behandlungsbedürftigkeit. Demnach hätte ich mich am besten gleich gemeinsam mit meiner Tochter in die Psychiatrie einweisen lassen sollen. Ich halte mich allerdings für seelisch überaus stabil, und derselben Ansicht sind meine neue Lebensgefährtin, meine Verwandten, Freunde und Kollegen. Was mein Befinden in jüngster Zeit massiv beeinträchtigt hat, ist schlicht die tiefe Sorge um ein Kind, das ich über alles liebe. Sobald ich sehe, dass es sich wieder fängt und seinen Weg findet, punkte ich im QIDS prompt deutlich unter 5, jede Wette.“
Worauf Martin stieß, verdeutlicht ein Grundproblem jeglicher psy-chologischer Diagnostik. Bei der Untersuchung einer Gesteinsprobe, eines Fossils, einer Flüssigkeit ist gleichgültig, wer sie wann unter welchen Umständen vornimmt. Wer hingegen die Psyche einer Person erkundet, widmet sich Eigenschaften, die hochgradig situationsabhängig sind. Vier Tage vor dem Kliniktest war Nora ihr Handy gestohlen worden. Nachdem der Dieb darin mehrere Nacktfotos von ihr entdeckt hatte, postete er sie, mit geknacktem Passwort, auf ihrer Facebook-Seite und verschickte sie, mit obszönen Kommentaren versehen, an alle ihre Verwandten, Freunde, Klassenkameraden und Lehrer, deren Adressen er im Handy gespeichert fand. Diese Bloßstellung in ihrem engsten sozialen Umfeld hatte Nora zutiefst erschüttert, voller Scham dachte sie abermals an Selbstmord. Psychisch belastet war sie schon vorher gewesen; doch dieser Vorfall vergrößerte ihr Elend dramatisch. Dass eine Neurosenmessung, die inmitten einer derartigen Krise stattfindet, Spitzenwerte ergibt, liegt auf der Hand.
Übersieht oder verharmlost der Vater, dass bei Nora tatsächlich etliche klinische Merkmale einer Depression vorliegen? Wie kann er die Schlüsse bezweifeln, die Psychiater daraus ziehen? „Gegenfrage“, erwiderte mir Martin: „Wie kann ein noch so erfahrener Experte meine Tochter besser kennen als ihr Vater, der sie all ihre bisherigen achtzehn Lebensjahre lang nicht nur fürsorglich begleitet, sondern auch aufmerksam beobachtet hat? Seit Noras Elternhaus kaputtging, führe ich Tagebuch über ihre weitere Entwick- lung. Würden Sie es lesen, so fänden Sie zu beinahe jedem der über 2000 Tage, die seither vergangen sind, einen Eintrag über sie. Dieses Kind kenne ich besser als irgendwer sonst, keiner kann mir das ausreden. Und die klinischen Kriterien einer Depression“, fährt Martin fort, „sehe ich bei ihr definitiv nicht erfüllt. Keineswegs ist sie durchgängig niedergeschlagen und traurig gestimmt, unabhängig von Umständen und Situationen. Jegliche Freude und Interesse hat sie nicht im entferntesten verloren. Sie ist durchaus nicht ohne jeglichen Antrieb. Weiterhin sucht und genießt sie ausgiebig Kontakte zu Freunden, Verwandten und Bekannten, liebt Pubs und Parties, Shoppen und fein essen gehen. Sie verabredet sich gerne, empfängt gerne Besucher. Sie ist stolz auf ihr neues, riesiges Rücken-Tattoo und darauf, dass es in Kürze bei einer großen Fachmesse auf der Bühne präsentieren darf, wobei sie für ein Magazin fotografiert wird. Daheim hält sie eher viel besser Ordnung als noch vor einem halben Jahr. Sie streicht ihre Wohnung neu und freut sich über das Ergebnis. Weiterhin zeichnet und fotografiert sie mit Leidenschaft, und gelegentliche bezahlte Aufträge aus ihrem Bekanntenkreis, die sie zügig und gewissenhaft erledigt, machen sie stolz. Vor zwei Wochen genoss sie, fröhlich und aus-geglichen, einen dreitägigen Ausflug mit mir nach Düsseldorf und Köln. Sie sucht und genießt Sexkontakte. Sie sehnt sich nach einem Freund, hält Ausschau und ‚‘testet’ etliche Kandidaten. Zwischendurch ist sie immer wieder mal verliebt, zuletzt in ihren charmanten Tätowierer. Sie bastelt, gemeinsam mit einem Bekannten, an einer eigenen Homepage, auf der sie ihre Werke präsentieren kann. Sie freut sich auf einen bezahlten Hairstyling-Termin, bei dem ihr ein Topcoiffeur eine neue Frisur verpassen will, für einen Werbekatalog. Sie nimmt interessiert Anteil daran, was ihre Freunde und Verwandten tun, denken und fühlen. Arbeiten, die ihr Spaß machen, erledigt sie stundenlang hochkonzentriert. Undsoweiter.“
„Kurzum“, schlussfolgert Martin: „Die psychiatrischen Hauptkriterien einer ‘depressiven Episode’ sind in keiner Weise erfüllt. Allenfalls, das gebe ich zu, bestehen ein paar Begleitsymptome. Innere Unruhe. Mangelndes Selbstwertbewusstsein. Schuldgefühle, vor allem gegenüber ihrem Vater. Pessimistische Zukunftsperspektiven. Schlafstörungen - monatelang konnte sie nachts nicht einschlafen, wohingegen sie neuerdings ständig müde ist. Zeitweilige Gefühllosigkeit (‘Kann nichts mehr richtig empfinden’). Mal zu großer Appetit, mal gar keiner. All das rechtfertigt die Diagnose aber nicht im entferntesten. Dazu verführen ließen sich Ärzte, weil sich Nora in der Anamnese-Situation offenbar weitaus kranker und hilfsbedürftiger darstellte, als ich sie tatsächlich erlebe.“
Aber warum liegt Nora so viel daran, als dringendst behandlungsbedürftig dazustehen? „Womöglich, weil sie sich dadurch entlastet“, vermutet ihr Vater. „Ihr subjektiver Krankheitsgewinn könnte darin bestehen, ihre Schuld- und Versagensgefühle zu mildern: ‚‘Je schwerer ich krank bin, desto weniger kann mich mein Dad – und ich mich selbst – dafür verantwortlich machen, was ich in den vergangenen anderthalb Jahren aus meinem Leben gemacht habe: Ich war stinkfaul, habe nie richtig gelernt, habe unentwegt die Schule geschwänzt. Mein erstes Schulhalbjahr habe ich dadurch verbockt, dass ich in jeder freien Minute meine ‚‘große Liebe’ genossen habe; das zweite Halbjahr, weil ich dieser Liebe un- entwegt hinterherschmachtete, nachdem sie in die Brüche gegangen war; und das soeben zu Ende gegangene dritte, weil ich null Bock hatte, mich in Computerprogramme einzuarbeiten. Ich habe auf ganzer Linie versagt. Aber als Fall für die Psychiatrie kann ich daran nicht schuld sein, ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, und Dad kann mir keine Vorwürfe machen.’ Der kläglich gescheiterte Nikotinsuizid passt dazu: ‘Wenn die Welt sieht, dass ich sogar zu so etwas fähig bin, muss sie mir endlich glauben, wie furchtbar schlecht es mir geht.’ Könnte der gewaltige Leidensdruck, den vermeintliche Experten wahrzunehmen meinen, nicht Teil eines Rollenspiels mit dem Titel ‘Ich, das Opfer’ sein, in das Nora sich hineinsteigert, wenn sie interviewt und getestet wird?“
Andererseits räumt der Vater durchaus ein, dass sein Kind schleunigst Hilfe braucht. Wenn nicht aufgrund einer „höchstgradigen depressiven Episode“ – weshalb dann?
Auf diese Frage hin imponiert mir Nichtpsychiater Martin aufs Neue mit einer mustergültig differenzierten Einschätzung. „Zum einen belasten Nora weiterhin Erinnerungen daran, wie oft und grausam sie im Kindergarten und drei Schulen gemobbt wurde. Wann immer sie sich irgendwo unverstanden, abgewertet, unbeachtet, abgelehnt fühlt, leben diese Erinnerungen wieder auf.“ Zudem sei sie „hypersensibel, deshalb besonders leicht zu verletzen. Es mangelt ihr Selbstbewusstsein, mitbedingt durch eine nörgelnde, herrische, verbitterte, rachsüchtige Mutter, eine überhebliche Schwester, schikanöse Klassenkameraden. Ihre Frustrationstoleranz ist gering: Kritik nimmt sie grundsätzlich persönlich und empfindet sie als beleidigend. Sie neigt dazu, vor Herausforderun-gen davonzulaufen, statt sich ihnen zu stellen. (‘Das ist zu schwer für mich’, ‘Das schaffe ich ja doch nicht’.) Obendrein macht ihr zu schaffen, was Psychologen ‘Desorganisation’ und ‘Selbstregulationsschwäche’ nennen würden, nahe am sogenannten ‘Messie-Syndrom’ – „und dies“, räumt Martin zerknirscht ein, „ruht zu einem Großteil von Erziehungsfehlern her. Meine Frau und ich hatten ihr ein extrem unstrukturiertes Elternhaus geboten. Es brachte Nora leider nicht bei, Dinge selber auf die Reihe zu bringen, planmäßig und zügig, statt der Aufschieberitis zu fröhnen. Auch mangelt es ihr an Ehrgeiz; für sie geht nichts über Genießen, und was nicht unmittelbar angenehm ist, wird eher gemieden, ‚‘darauf habe ich keinen Bock’.“
„All dies“, so glaubt der Vater felsenfest, „wäre mit einer einfühlsamen Wegbegleitung durch echte Freunde, auch durch mich selbst durchaus in den Griff zu bekommen. Eine Internierung in Form eines stationären Klinikaufenthalts ist da doch eher kontraproduktiv. Denn sie verstärkt Noras fatales Grundgefühl, sie selbst sei zu schwach, mit dem Leben klarzukommen, weshalb sie sich von Fachleuten, die sie vorgeblich besser kennen als sie selbst, an die Hand nehmen lassen muss.“
Zur Stressreduktion hat Martin inzwischen schon seinen Teil beigetragen: „Seit ein paar Tagen weiß Nora von mir: Mit meinem Einverständnis kann sie die Akademie verlassen, in ihre belastende Klasse braucht sie nicht mehr zurückzukehren. Sie darf sich eine andere Berufsausbildung suchen, die ihr eher zusagt. Auch künftig unterstütze ich sie finanziell. Ihre Wohnung darf sie behalten. Und vor allem habe ich ihr überdeutlich klargemacht: Weiterhin liebe ich sie über alles. Ich bin ihr keineswegs böse und maßlos enttäuscht. Vielmehr verstehe ich jetzt, warum sie die Lust aufs Lernen verlor und verzweifelt war.“ Somit sind nach Martins plausib- ler Einschätzung „mittlerweile mehrere der schwerwiegendsten Belastungsfaktoren entfallen. Nora hat ab sofort viele gute Gründe, aufzuatmen. Das wird sie in nächster Zeit realisieren - und sich bestimmt wie erlöst fühlen. Falls eine Diagnostik erst in ein, zwei Monaten stattfände, würde sie mit Sicherheit zu ganz anderen Ergebnissen, einerlei ob mit professioneller Psychotherapie oder ohne sie.“
Trotzdem zog es Nora in die Klinik, von der zweiten Februarwoche 2015 an war sie stationär untergebracht. Ging es ihr dort etwa nicht gut? „Doch, durchaus“, räumt Martin ein. „Wann immer ich sie besuchte, wirkte sie ausgeglichen, zufrieden, zuversichtlich, zumeist vergnügt und zu jedem Späßchen aufgelegt. Ihre Stimmungstiefs wurden seltener, Schlaf- und Essverhalten begannen sich zu normalisieren. Die spannende Frage lautet für mich aber, weshalb. Ich meine, aus zwei Gründen: Erstens profitiert Nora schlicht von der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, ausschließlich hier fände sie Hilfe. Zweitens atmet sie auf, weil sie meinen Erwartungsdruck und die Angst, meine Liebe und Unterstützung zu verlieren, losgeworden ist. Bietet eine psychiatrische Klinik meiner Tochter denn über synthetische Drogen hinaus irgendetwas, was sie nicht auch von einem ‘Auswege’-Camp haben könnte? So gut wie alles, was dort mit ihr stattfindet, kenne ich vom Konzept Ihrer Therapiecamps her: Tapetenwechsel. Ständig greifbare, zugewandte Ansprechpartner. Enger Kontakt mit Leidensgenossen. Ein klar strukturierter Tagesablauf. Ab und zu ein sinnvoller Zeitvertreib. Kein Internetzugang. All das“, lobt der Vater, „ist prima und sinnvoll, meiner Tochter tut es bestimmt gut. Aber hätten ihr das nicht ebensogut Ihre Camps bieten können?“
„Haben Sie diese Frage Ihrer Tochter gestellt?“, erkundige ich mich.
„Natürlich. Die Camps Ihrer Stiftung kennt sie inzwischen aus dem Internet. Doch sie bevorzugt ‘Fachleute’, sagt sie. In den Camps hingegen trifft man keine Psychiater und Psychologen an, wie sie herausgefunden hat. Und ‘du als Vater stehst mir zu nahe, du hängst zu arg an mir. Ich traue dir nicht zu, dass du mich objektiv beurteilen kannst’, so erklärte sie mir“. Da dürfte sie sich täuschen.
Nicht bieten würden wir Nora hingegen eine medikamentöse Versorgung: Wir hätten ihr kein Neuroleptikum wie Quetiapin verabreicht, von dem sie gleich nach ihrer Einweisung täglich 50 mg schlucken musste. „Mir helfen diese Pillen enorm“, schwärmte Nora anfangs – „sie schieben negative Gedanken nach hinten, wenn sie in mir hochkommen“. Von einer indikationsspezifischen Therapie kann hierbei allerdings keine Rede sein: Quetiapin zählt zu jenen chemischen Breitband-Ruhigstellern, die in den Gehirnen vieler, die aus unterschiedlichsten Gründen psychisch down sind, entspannende und angstlösende Wirkungen entfalten.
Nach unseren zwei langen Begegnungen stand für mich fest, dass Noras Vater mitnichten übertrieb: Niemand kennt sein Kind besser als er. Niemand sieht klarer, was ihm fehlt und woran das liegt. Niemand weiß besser, wie ihm zu helfen wäre. „Hat denn irgendein Arzt oder Psychologe, der in der Klinik mit ihrer Tochter befasst war, Sie zu einem Gespräch eingeladen?“, erkundigte ich mich. Daraufhin lächelte er gequält: „Kein einziges Mal - obwohl ich das mehrfach anbot.“
Keine zwei Wochen befand sich Nora in der Klinik, als mir ihr Vater erstaunliche Neuigkeiten zu berichten hatte. Sie unterstrichen, wie treffend er sein Kind eingeschätzt hatte: „Schon nach fünf Tagen wurde ihr eine ‘weiße Karte’ ausgehändigt, mit der sie die Station jederzeit ohne Begleitung verlassen durfte. Drei Tage später bekam sie die Erlaubnis, wieder in ihrer Wohnung zu übernachten.“ So viel Freiheit für eine angeblich Schwerstdepressive, die akut selbstmordgefährdet sein soll? „Nora berichtete mir von einem weiteren Diagnosetest. Der habe bessere Werte ergeben. Außerdem habe der Oberarzt eingesehen, dass ‘die Therapien hier offenbar nicht ganz das Richtige für dich sind’. Daraufhin gab sie schlagfertig zurück: ‘Welche Therapien denn? Es haben doch gar keine stattgefunden. Ich bekam bloß Tabletten. Ganze drei Mal sprach ein Psychologe kurz mit mir, nie länger als 45 Minuten. Und Sie haben zweimal pro Woche bei mir zur ‘Visite’ vorbeigeschaut, nach ein paar Minuten waren Sie schon wieder weg. Die sogenannte Ergotherapie bestand darin, dass ich Tag für Tag eine Stunde lang mit den übrigen Stationsinsassen in einem größeren Raum zusammensitzen und auf Kommando irgendetwas zeichnen sollte. Das Essen war ein Fraß. Und schlafen konnte ich schlechter als vorher, nachdem man mir eine nach ranzigem Küchenfett stinkende Türkin um die Sechzig ins Zimmer gelegt hat, die unentwegt schnarchte, bei eingeschaltetem Licht und lautem Radio.’“
Noras Vertrauen in die Psychiatrie blieb allerdings intakt: „Ich lasse mich jetzt ambulant weiterbehandeln“, mit Gesprächs- und Verhaltenstherapie. Was brachten ihr die zweieinhalb Klinikwochen? „Eine neue Freundin. Mehr Selbstdisziplin beim Essen und meinen Schlafenszeiten. Und mehrere Kilos zusätzlich, wegen dieser blöden Tabletten. Die setze ich sofort ab.“ Ist sie vorab denn nicht über die Nebenwirkungen von Quetiapin aufgeklärt worden? „Mit keinem Wort.“
Was brachte die ambulante Weiterbetreuung? Sie bestand aus einer einzigen Sitzung - danach brach Nora eigenmächtig ab. „Das brauche ich jetzt nicht mehr“, entschied sie. Denn unverhofft taten sich zwei Lichtblicke auf: eine neue, schönere Wohnung, dank welcher sie ihr bisheriges Zuhause voller schlechter Erinnerungen hinter sich lassen konnte. Obendrein ein Job in einem Eiscafé, in dem sie eine perfekte Umgebung vorfand, mit netten Kollegen und einer Chefin, die sie sofort ins Herz schloss und beinahe wie eine eigene Tochter behandelte. Dort verdiente sie prächtig, so viel, dass sie davon zum ersten Mal in ihrem jungen Leben ihren gesamten Unterhalt ganz alleine bestreiten könnte, unabhängig von elterlichen Zuschüssen. Darauf war sie mächtig stolz.
Seit sich Nora eigenmächtig von der modernen Psychiatrie verabschiedete, sind bis Redaktionsschluss dieses Buches zwei Jahre vergangen. Weiterhin geht es der jungen Frau prächtig - ohne eine einzige weitere Therapiesitzung, ohne irgendein Psychopharmakon. „Wenn ich sie gelegentlich auf ihre Krisenzeit anspreche“, so der Vater, „dann lächelt sie nur: ‘Ach Dad, wie kann denn irgendwer ernsthaft glauben, dass ich jemals ‘psychisch gestört’ war?’“
Dieser Beitrag stammt aus der 10-bändigen Schriftenreihe Psycholügen von Harald Wiesendanger, Bd. 10: Der Psychofalle entkommen (2018)
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