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„Überflüssig sind alle“

  • Autorenbild: Dr. Harald Wiesendanger
    Dr. Harald Wiesendanger
  • 31. März
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Apr.

Nahrungsergänzungsmittel für Kinder seien „alle überflüssig“, meint die Stiftung Warentest, nachdem sie 18 Präparate untersuchte. Sie kritisiert Überdosierungen und Geschäftemacherei mit der Angst. Zurecht? Dem pauschalen Verriss mangelt es gehörig an Sachkenntnis.





Die Stiftung Warentest, als übermächtige “Gefahrenschürer GmbH” berüchtigt, hat sich erneut der bunten Welt der Kinder-Nahrungsergänzungsmittel gewidmet und dabei festgestellt: Von 18 getesteten Präparaten weisen 17 Mängel auf, 15 sind überdosiert. Empfehlenswert ist kein einziges. Besonders pikant: Vier Produkte überschreiten die empfohlene Höchstmenge an Vitamin A, was bei Kindern zu Kopfschmerzen, Haut- und Leberproblemen führen kann. Ein weiteres Präparat enthält Kupfer, das in Kinderprodukten nichts zu suchen hat und bei übermäßiger Aufnahme Übelkeit oder gar Leberschäden verursachen kann. Die Tester resümieren: Ein gesundes Kind, das halbwegs abwechslungsreich isst, braucht keine zusätzlichen Nährstoffe aus der Dose. Eltern sollten also lieber in frisches Obst und Gemüse investieren statt in überteuerte Pillen und Säfte.


Liegen die Tester goldrichtig mit diesem Pauschalurteil?


„Nahrungsergänzungsmittel sind bei einer perfekten Ernährung überflüssig“, räumt sogar ein Ratgeber aus dem alternativen Gesundheitslager ein. Der Haken an der Sache: Welches Kind hat schon eine perfekte Ernährung? Brokkoli-Battles am Esstisch, Pommes statt Apfel, Cornflakes statt Frischkornbrei – der Alltag sieht anders aus. Und so hat sich eine ganze Industrie etabliert, die Eltern mit „gesunden Bonbons“ und Pulverchen beruhigt.


Der globale Markt für Nährstoffpräparate boomt. Der Umsatz mit ihnen erreicht in Deutschland inzwischen zwei Milliarden Euro pro Jahr, bis 2033 könnte er auf über neun Milliarden anwachsen. Der globale Markt für Nahrungsergänzungsmittel hatte 2022 einen Wert von etwa 361 Milliarden US-Dollar; bis 2031 wird voraussichtlich auf atemberaubende 613 Milliarden Dollar anwachsen.


Doch längst nicht nur Hersteller und Verkäufer von Supplementen, auch etliche Ernährungsexperten meinen: Manches Mittel kann auch schon für Minderjährige durchaus sinnvoll sein.


Ein Kinderzimmer voller Pillendosen


Mama legt ihrem Sohn morgens ein quietschbuntes Vitamingummibärchen auf den Teller. „Für die Abwehrkräfte“, sagt sie augenzwinkernd. Der Nachwuchs mümmelt die Süßigkeit zufrieden, als wäre sie Teil des täglichen Müsli. Gleichzeitig verkünden Experten im Morgenmagazin mal wieder, Nahrungsergänzungsmittel für Kinder seien vollkommen unnötig – ja geradezu eine Mode-Marotte besorgter Helikopter-Eltern. Wer hat nun Recht? Die Eltern, die auf Nummer sicher gehen wollen? Oder die Fachleute, die entnervt warnen, da werde bloß teurer Urin erzeugt?


Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte – verborgen zwischen Marketing, Ideologie und tatsächlich belegten Mangelzuständen.


Während Ernährungswissenschaftler in der Apotheken Umschau dozieren, warum Multivitamin für die Kleinsten eher Marketing als Medizin sei, braut sich im Internet ein völlig anderes Süppchen zusammen. Auf einschlägigen Webseiten – von Zentrum der Gesundheit über GreenMedInfo bis Mercola.com – wimmelt es von Erfolgsstorys und Studien, die angeblich beweisen: Ohne Extra-Vitamine geht heute nichts mehr. Der US-Mediziner Dr. Joseph Mercola, Doyen der Wellness-Onlinewelt, warnt unermüdlich,  im letzten Jahrzehnt sei die Zahl der Kinder mit Vitamin-D-Mangel um über 200 % gestiegen. Viele Ärzte und Eltern wüssten gar nicht, wie wichtig Vitamin D für Kinder sei – dabei empfehle selbst die britische Gesundheitsbehörde allen unter Fünfjährigen täglich Vitamin D als Supplement. Dass kaum jemand davon gehört hat, empfindet Mercola als Skandal. Er geißelt die „besorgniserregende Unwissenheit“ und nennt Beispiele: Vier von fünf Eltern wussten in einer Umfrage nicht, dass Wintersonne in England kein Vitamin D liefert. Und tatsächlich: Die britischen Behörden geben eine entsprechende Empfehlung – nur vernommen hat sie kaum jemand. Ergebnis laut Mercola: Rachitis ist wieder auf dem Vormarsch, und Kinderärzte behandeln Vitaminmangelkrankheiten, die man eigentlich im letzten Jahrhundert verortet hätte.


Auch GreenMedInfo, ein populäres Portal für natürliche Medizin, listet eifrig Studien, die Vitamine als Wundermittel erscheinen lassen. Beispielsweise sollen Kinder, die schon vor ihrem vierten Geburtstag Multivitamine nahmen, seltener Nahrungsmittelallergien und Heuschnupfen entwickeln. Andere Forschungen deuten laut GreenMedInfo an, dass Lebertran plus Multivitamin die Zahl der Arztbesuche wegen Atemwegsinfekten reduziert – sprich, Schnupfenkinder bleiben eher gesund. Sogar die notorische Mittelohrentzündung, Geißel vieler Kindergartenkinder, trat in einer Studie seltener auf, wenn die Kleinen Vitaminpräparate und Omega-3-Öl bekamen.


Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Kein Wunder, dass viele Eltern ins Grübeln kommen: Kann es wirklich schaden, ein bisschen nachzuhelfen, wenn es doch potentiell nützt?


Kampf der Ideologien: Big Pharma, “Health Freedom” und die Wahrheit dazwischen


Die Debatte um Nährstoffsupplemente für Kinder ist längst kein rein wissenschaftlicher Diskurs mehr – sie gleicht einem erbitterten Stellvertreterkrieg. Auf der einen Seite stehen die Vertreter der klassischen Lehre: „Esst Euer Gemüse, dann braucht Ihr keine Pillen!“ – flankiert von Warnungen vor Hypervitaminose. HuffPost zitiert dazu einen Bericht der Environmental Working Group, einer gemeinnützigen Organisation für Gesundheits- und Umweltschutz: Viele Kinder seien überversorgt mit bestimmten Mikronährstoffen, weil Nahrungsmittelhersteller Frühstücksflocken & Co. bis an die Obergrenze anreichern und Eltern obendrein Supplemente verabreichen. Zu viel Vitamin A kann jedoch der Leber schaden und Haarausfall verursachen, zu viel Zink das Immunsystem schwächen. Die Botschaft: Weniger ist mehr. Im Zweifel lieber keine Extrapillen, um Überdosierung zu vermeiden. Diese mahnende Haltung dominierte jahrzehntelang – Nahrungsergänzungen galten als unnötig, im schlimmsten Fall sogar gefährlich.


Auf der anderen Seite hat sich eine bunte Koalition formiert, die sich „Gesundheitsfreiheit“ auf ihre Fahnen geschrieben hat. Ihr einigendes Band ist Misstrauen gegenüber Arzneimittelkonzernen. In einschlägigen Facebook-Gruppen mit Namen wie AntiPharma wird Big Pharma zum Feindbild stilisiert: Die da wollen uns ihre überteuerten Medikamente aufzwingen, dafür reden sie alles Natürliche schlecht. Vitamine gelten in diesen Kreisen als sicher, „natürlich“ und von der bösen Pharmaindustrie unterdrückt. Die Dr. Rath Foundation beispielsweise, gegründet vom deutschen Vitamin-Apostel Matthias Rath, spricht offen von einem „Krieg“ der Pharma-Lobby gegen Vitamine. Auf internationaler Ebene, etwa im Codex-Alimentarius-Gremium der Vereinten Nationen und der WHO, versuche man, Vitamine als Gefahr darzustellen und ihre Dosierung streng zu reglementieren. Dr. Rath fordert stattdessen „Vitamin-Freiheit“. 2003 feierte er einen Teilerfolg, als ein geplantes Verbot von Gesundheitswerbung für Vitamine aufgeschoben wurde. Seine Botschaft: Hier sollen ganz bewusst natürliche Präventionsmittel kleingehalten werden, um das Geschäft mit Krankheiten nicht zu gefährden. Das klingt nach Verschwörung – findet aber durchaus Resonanz bei vielen, die sich von chulmedizinern bevormundet fühlen.


Ähnliche Töne schlagen Robert F. Kennedy Jr. und seine Children’s Health Defense an. Deren Tenor: Statt immer nur auf Impfungen und Pharmaprodukte zu setzen, sollte man die natürlichen Abwehrkräfte von Kindern stärken. CHD verweist z.B. darauf, dass kaum ein Kind täglich alle nötigen Nährstoffe in idealer Menge zu sich nimmt. Theoretisch sei das zwar möglich, praktisch jedoch bräuchte es eine strikt durchgeplante Diät, die im Familienalltag utopisch ist. Je nach Kind könnte eine Supplementierung also durchaus sinnvoll sein, resümiert CHD – etwa Vitamin D für Kinder, die kaum Sonnenlicht abbekommen, oder Vitamin C und A für notorische Obst-und-Gemüse-Verweigerer.


Selbst die Amerikanische Akademie für Pädiatrie – normalerweise kein Freund von Supplementen – empfiehlt für gestillte Babys Vitamin D-Tropfen sowie bei bestimmten genetischen Aufnahmestörungen individuelle Mikronährstoffgaben.


Es sind Einzelfälle, gewiss. Solche Zugeständnisse belegen jedoch: Selbst die Schulmedizin muss zugeben, dass ohne jegliche Ergänzungen Mängel drohen – warum also der Generalverdacht gegen alle Vitaminpräparate?


Faktencheck: Liegt bei Kindern überhaupt Mangel vor?


Schwenken wir vom Meinungskampf zur harten Realität: Wie häufig kommen Nährstoffmängel bei Kindern tatsächlich vor?


Vitamin D ist ein Dauerbrenner in dieser Diskussion. Der menschliche Körper stellt Vitamin D mit Hilfe von UV-Strahlung selbst her. Was aber, wenn Kinder kaum noch draußen spielen? In Pandemiezeiten wurden die Kleinen teils monatelang in Innenräume verbannt. Ärzte für Aufklärung, eine kritisch-alternative Medizinergruppe, wiesen warnend darauf hin, dass vielen Kindern durch Lockdowns buchstäblich die Sonne ausgetrieben wurde: Es mangele ihnen an Vitamin D, was die allgemeine Krankheitsanfälligkeit erhöhe und sogar das Risiko schwerer Covid-Verläufe steigerte.


Tatsächlich beobachteten Intensivmediziner während der Coronajahre, dass jüngere Patienten öfter Vitamin-D-Defizite mitbrachten. Ursache und Wirkung sind hier zwar nicht eindeutig – aber der Einwand hat Substanz: Unsere Breitengrade begünstigen ohnehin Winterdefizite an Vitamin D, und wer dann noch ständig drinnen hockt, dem fehlen am Ende womöglich Kalzium in den Knochen und Abwehrkraft in den Adern. Eine US-Studie fand bei schwerkranken Kindern auf Intensivstationen einen massiven Vitamin-D-Mangel bei 40 % der Fälle. Der Zusammenhang von niedrigen Spiegeln und bedrohlicher Erkrankung war so auffällig, dass die Autoren von einem „alarmierenden Risikofaktor“ sprachen.


Hier zeigt sich klar: In bestimmten Situationen ist ein Vitaminmangel keine theoretische Gespensterdiskussion, sondern Realität. Viele Kinderärzte empfehlen daher mittlerweile zumindest im ersten Lebensjahr Vitamin D – in Deutschland bekommen Babys standardmäßig Vigantoletten. Und es gibt Überlegungen, angesichts veränderter Lebensgewohnheiten auch größeren Kindern im Winter Vitamin-D-Präparate zu geben, falls Bluttests einen Mangel anzeigen. Aus „völlig überflüssig“ wird in solchen Fällen sehr schnell „medizinisch sinnvoll“.


Ein anderes Beispiel ist Vitamin A. In unseren Breiten erleiden Kinder selten einen schweren Vitamin-A-Mangel – in Entwicklungsländern hingegen ist er einer der Hauptgründe, warum Masern dort so oft tödlich enden. Haupt-Risikofaktor für schwere Masernfolgen ist Unterernährung, insbesondere Vitamin-A-Mangel, betont sogar eine Quelle, die ansonsten impfkritisch eingestellt ist. Die WHO empfiehlt bei Masern daher eine hochdosierte Vitamin-A-Gabe, die die Sterblichkeit um bis zu 80 % senken kann. Das ist eine dramatische Zahl: Vier von fünf Kindern könnten gerettet werden – durch ein einfaches Vitamin! Nun treten Masern-Komplikationen hierzulande weit seltener auf. Doch diese Zahl führt vor Augen, was in Ausnahmesituationen möglich ist. Kein Wunder, dass alternative Medien darauf verweisen: Anstatt allein auf die Masern-Impfung zu pochen, sollte man auch die Ernährungssituation im Blick haben. Der molekulare Immunschutz zum Löffeln sozusagen.


Finger weg von künstlichen Supplementen


Viele Nahrungsergänzungsmittel bestehen aus synthetisch hergestellten Vitaminen und isolierten Mineralstoffen. Doch unser Körper unterscheidet sehr genau zwischen natürlichen und künstlichen Substanzen. Obwohl synthetische Stoffe chemisch ähnlich erscheinen, weichen sie oft in kleinen Details ab, etwa in ihrer räumlichen Struktur. Dieses Phänomen gleicht einem Gipsabdruck: Obwohl rechte und linke Hand strukturell gleich wirken, passt doch nur diejenige hinein, für die der Abdruck geschaffen wurde – analog erkennt unser Körper natürliche Vitamine als "passend", während synthetische Formen oft abgelehnt oder schlecht verarbeitet werden.


Wissenschaftliche Studien, die Gesundheitsrisiken durch Vitaminpräparate zu belegen scheinen, verwenden häufig synthetische Vitamine. Beispielsweise hat künstliches Vitamin E nicht dieselbe Wirkung wie natürliches Vitamin E, da unser Körper kleinste strukturelle Unterschiede bemerkt. Zudem fehlen synthetischen Präparaten oft wichtige Begleitstoffe wie Vitamin C oder Spurenelemente, was ihre Effektivität zusätzlich mindert.


Herkömmliche Vitaminpräparate enthalten zudem oft fragwürdige Zusätze: giftige Farbstoffe wie Azofarben (Gelborange S), potenziell gesundheitsschädliche Süßstoffe (Aspartam, Cyclamat) und sogar Aluminiumverbindungen, die mit Alzheimer in Verbindung gebracht werden. Weitere problematische Stoffe sind synthetische Antioxidantien (Butylhydroxytoluol), Parabene und künstliche Geschmacksverstärker wie Mononatriumglutamat, welche Allergien auslösen oder Krebsrisiken erhöhen könnten.


Empfohlen wird daher, beim Kauf stets natürliche Präparate zu wählen – erst recht für Kinder. Vitamin-Komplexe aus Pflanzenpulvern oder Fruchtextrakten enthalten Vitamine und Mineralien in optimaler natürlicher Zusammensetzung und verzichten auf gefährliche Chemikalien. Insbesondere natürlich vorkommende Mineralstoffkombinationen, beispielsweise in Korallenpulver, gewährleisten eine optimale Bioverfügbarkeit ohne Nebenwirkungen. Wer gesundheitliche Risiken vermeiden möchte, sollte Verpackungen genau prüfen und Präparate auf Basis natürlicher Zutaten bevorzugen.


Die Dosis macht das Gift


Allerdings lauern auch bei „natürlichen“ Präparaten Fallstricke. Als jüngst im Süden der USA eine Masernwelle ausbrach (siehe KLARTEXT „Masern-Horror – wieder einmal“), propagierte Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., Amerikas prominentester Impfskeptiker, medienwirksam den Einsatz von Vitamin A – mit dem Verweis auf die zitierte WHO-Richtlinie. Eltern ungeimpfter Kinder griffen beherzt zum Lebertran, reich an Vitamin A und D. Das Ergebnis war, gelinde gesagt, suboptimal. Ein texanisches Kinderkrankenhaus meldete mehrere kleine Masernpatienten mit Vitamin-A-Vergiftung. Aus lauter heimischem Aktionismus hatten die Kinder solche Übermengen erhalten, dass ihre Leberwerte entgleisten.


Hier zeigt sich die Kehrseite: Die Dosis macht das Gift. Was unter ärztlicher Aufsicht als kurzer Therapieschub Leben retten kann, kann ein neues Problem schaffen, wenn man in Eigenregie übertreibt. Die Wahrheit liegt also wie so oft zwischen den Extremen. Ja, Vitamin A rettet Masernkinder – aber nur die, die tatsächlich einen Mangel hatten, und nur in der richtigen Dosierung.


Kurze Beine, lange Zähne: Wachstum, Ernährung und moderne Lebensstile

Dabei stellt sich die Frage: Haben unsere heutigen Lebensumstände dazu geführt, dass Kindern generell etwas fehlt? Man denke an Omega-3-Fettsäuren, die für Gehirn und Augen wichtig sind. Fisch landet bei vielen Familien höchstens als frittierte Stäbchen von Käpt´n Iglo auf dem Teller. Zentrum der Gesundheit berichtet von einer mexikanischen Studie, die zeigte: Kinder mit täglicher Omega-3-Supplementation schnitten in Konzentration und Merkfähigkeit deutlich besser ab als Kinder ohne. Omega-3 „macht Kinder klug“, so der plakative Titel. Auch bei ADHS werden diese Fettsäuren immer wieder ins Spiel gebracht – quasi Hirnöl für hyperaktive Zappelphilippe. Solche Befunde sind zwar nicht unumstritten, aber sie nähren den Verdacht, dass die Durchschnittskost - viel Zucker, viel Weißmehl, wenig Grünzeug, Nüsse und Fisch - möglicherweise kognitive Entwicklungschancen verschenkt. Kritische Geister kontern: Man könnte das Kind ja auch einfach häufiger an Lachs und Walnüsse heranführen statt an Pillen. Doch welcher Teenager greift freiwillig zu Walnuss-Spinat-Salat, solange die Alternative „Chicken Nuggets“ heißt?


Tatsache ist: Manche essentiellen Nährstoffe stehen bei Kindern alles andere als hoch im Kurs. Vitaminreiche Gemüse werden verschmäht, dafür begeistern sich die Kleinen für Nudeln mit Ketchup – kalorisch üppig, mikronährstofflich mager. Hier verkaufen Supplement-Hersteller ihre Produkte als Versicherungspolice: Damit trotz Mäkel-Phase keine Lücke entsteht. Streng genommen müsste man dem Kind zwar eher Möhren als Multivitamine schmackhaft machen. Aber mal ehrlich – in der Theorie sind Eltern immer geduldig, in der Praxis landen dann doch wieder Vitaminbärchen im Einkaufswagen, einfach weil es nervenschonender ist.


Ein weiterer Aspekt ist die individuelle Veranlagung. Manche Kinder haben einen erhöhten Bedarf oder eine erschwerte Aufnahme. Genetische Polymorphismen können bewirken, dass z.B. Folat aus der Nahrung schlechter verwertet wird – das betont auch Children’s Health Defense und plädiert dafür, jeden Kinderorganismus individuell zu betrachten.


Außerdem gibt es Kids, die bestimmten Diäten folgen, z.B. einer veganen Ernährung von klein auf. Solche Kinder brauchen unbedingt Vitamin B12 als Supplement, da es in pflanzlicher Kost fehlt – das wird auch von Ernährungswissenschaftlern anerkannt. Hier ist es nicht nur „sinnvoll“, sondern absolut notwendig, um Entwicklungsstörungen vorzubeugen.


Ähnliches gilt für Kinder, die sich aufgrund von Allergien oder Krankheiten sehr einseitig ernähren. Ein Zöliakie-Kind, das kein Gluten verträgt, hat oft mit Nährstoffmängeln zu kämpfen, bis die Diagnose gestellt wird. In solchen Fällen bauen Nahrungsergänzungsmittel Brücken.


Man sieht: Pauschal zu behaupten, „Vitaminpillen für Kinder sind alle überflüssig“, greift zu kurz.


Genauso verkürzt wäre es allerdings, nun jedes Kind pauschal mit Präparaten vollzustopfen. Ein Blick auf die Blutwerte hilft, die Kirche im Dorf zu lassen. Viele Kinder kommen tatsächlich wunderbar ohne Zusatzpräparate aus. Aber eben nicht alle Kinder zu jeder Zeit. Das Leben ist kein Labor mit ideal austariertem Speiseplan, sondern manchmal eine Abfolge von Convenience-Mahlzeiten, Schnupfenzeiten und Wachstumsschüben.


Ironie des Schicksals: Wer verdient an der Pillenschachtel?

Gegen Scheinheiligkeit ist etwas Ironie erlaubt: Ausgerechnet einige lautstarke Kritiker der „Pharma-Gewinnsucht“ machen selbst ein glänzendes Geschäft mit Vitaminen. Dr. Mercola verkauft in seinem Online-Shop munter Kinder-Multivitamine - natürlich ohne „toxische Füllstoffe“ und mit dem besonderen Etwas, dafür zum besonderen Preis). Dr. Rath bietet „VitaKids“ als Kaudragees an, sorgfältig abgestimmt auf das kindliche Immunsystem - versteht sich. Das vielbeachtete "Zentrum der Gesundheit" finanziert sich unter anderem durch Werbung für ausgewählte Produkte auf seiner Website. Mit Angst vor Mangel lässt sich halt ebenso Umsatz generieren wie mit Angst vor Krankheit. Der Markt mit den Pillen für unsere Kleinen ist umkämpft: Während die Redaktion der Apotheken-Umschau versichert, kein normal ernährtes Kind brauche sowas, verdienen auch Apotheken gerne mit am Boom. Und im Supermarkt prangt an jeder Ecke ein „Immun-Booster Kids“-Saft mit Extraportion Zink und Vitamin C. Weil Eltern nun mal das Beste für ihre Kleinen wollen, greifen viele lieber einmal zu oft ins Regal als einmal zu wenig. Das Ergebnis? Bunt schillernder Urin – und das vage Gefühl, auf der sicheren Seite zu sein.


Aber Sicherheit ist relativ. So mancher Glaubenskrieg um Vitamine verdeckt, worum es eigentlich gehen sollte: um die Gesundheit der Kinder, nicht um Ideologie. Anstatt pauschal Pillen zu empfehlen oder zu verdammen, könnte man z.B. dafür sorgen, dass Schulkinder in der Mensa wirklich nährstoffreiches Essen bekommen. Wie paradox, dass gleichzeitig diskutiert wird, Schulkantinen fleischfrei zu machen – in Freiburg soll grünes Einheitsmenü ohne Fleisch und Fisch auf den Tisch - oder gar Insekten als Eiweißlieferanten in Kinder-Comics schönzureden, während Vitamintabletten als Teufelszeug gelten. Auf Klima- und Zeitgeist-Themen fixiert, vergessen manche anscheinend, dass am Ende die Nährstoffversorgung stimmen muss. Ob diese nun über natürliche Lebensmittel oder – wo nötig – über Ergänzungen erfolgt, sollten Eltern pragmatisch entscheiden, nicht dogmatisch.


Fazit: Weder Teufelszeug noch Wundermittel

Der Leser ahnt es längst: Die Wahrheit ist komplex. Nahrungsergänzungsmittel für Kinder sind nicht grundsätzlich schädlich – aber eben auch nicht grundsätzlich nötig. Wer behauptet, alle seien überflüssig, ignoriert die echten Mangelkonstellationen, die durchaus vorkommen. Wer umgekehrt so tut, als bräuchte jedes Kind zwingend täglich ein Präparat, übersieht, dass Mutter Natur den meisten kleinen Menschlein über eine halbwegs vernünftige Kost alles Nötige bereitstellt. Die Kunst liegt im differenzierten Blick: Hat ein Kind nachweislich einen Mangel - oder ein nachweisliches Risiko, einen zu bekommen -, können Supplemente ein Segen sein – man würde fahrlässig handeln, auf sie zu verzichten. Ansonsten gilt: Essen vor Pillen. Ein Apfel liefert nun mal mehr als nur Vitamin C, obendrein Ballaststoffe, sekundäre Pflanzenstoffe – einen ganzen Cocktail an Gesundem. Vitamintabletten sind kein Ersatz für ausgewogene Ernährung, höchstens eine Versicherung, wenn die Ernährungsbalance wackelt.


Allmählich zeichnet sich ein vorsichtiges Umdenken ab. Selbst Behörden, die früher kategorisch abwinkten, gestehen mittlerweile Ausnahmen zu. So betont das Bundesinstitut für Risikobewertung zwar weiterhin, für gesunde Kinder seien Supplemente in der Regel unnötig – fügt aber hinzu: mit wenigen Ausnahmen. Diese Ausnahmen betreffen genau die oben angesprochenen Fälle: Vitamin D im ersten Lebensjahr, Vitamin B12 bei veganer Ernährung, gegebenenfalls Eisen bei ärztlich festgestellter Blutarmut, Jod und Folat bei Teenager-Mädchen mit Mangelerscheinungen etc. Kein Aktionismus auf Verdacht – aber gezielte Ergänzung, wenn nötig.


Augenzwinkernd umformuliert: Vitaminpillen für Kinder sind so überflüssig wie Regenschirme – an einem sonnigen Tag. Bei strahlender Gesundheit und Top-Ernährung kann man sich das Geld getrost sparen. Doch wehe, es ziehen Mangelwolken auf – dann ist man froh, einen Schirm zur Hand zu haben. Die Kunst besteht darin, zu erkennen, wann es tröpfelt. Und bis dahin gilt: Lasst die Kinder ruhig draußen spielen - macht Vitamin D; kocht ab und zu frisch - liefert fast alles; und bleibt gelassen. Der multivitamingefütterte Überflieger ist genauso ein Mythos wie das rachitische Kind, das ohne Pillen zwangsläufig scheitert. „Es kommt drauf an“, wie immer. Eine Prise Ironie, zwei Tropfen Vernunft und ja, gelegentlich ein Vitamindrops können nicht schaden. Hauptsache, wir behalten den Durchblick im Pillen-Dickicht – zum Wohl unserer Kinder.


Klar sollte sein: Statt seinen Kids in bester Absicht voreilig ein Supplement einzuflößen, das sie womöglich gar nicht brauchen, sollten Eltern zuallererst den Rat eines Facharztes für Ernährungsmedizin, eines erfahrenen Heilpraktikers oder eines Ernährungsberaters suchen, der einen Abschluss als Diplom-Ökotrophologe vorweisen kann. Sicher ist sicher.

Quellen

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