Unfassbar glücklich – mit schwerstbehindertem Kind
- Dr. Harald Wiesendanger
- 12. Apr.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Apr.
Ein behindertes Kind zur Welt bringen? Damit verbundene Belastungen, Sorgen und Ängste aushalten? Soziale Ausgrenzung ertragen? 94 Prozent aller schwangeren Frauen, bei deren Ungeborenem eine Trisomie 21, das Down-Syndrom festgestellt wird, entscheiden sich für eine Abtreibung. Dabei entgeht ihnen offenbar nicht nur eine schicksalhafte Chance zur Selbsterfahrung und innerem Wachstum, sondern auch ein besonderes Lebensglück. Darauf deutet eine bemerkenswerte kanadische Studie hin – wie auch bewegende Erfahrungen in den Therapiecamps meiner Stiftung AUSWEGE.

Jedes zehnte Kind weltweit lebt mit irgendeiner Form von Behinderung - , rund 240 Millionen, schätzt UNICEF. Knapp 100 Millionen sind körperlich beeinträchtigt, 34 Millionen taub, 1,4 Millionen blind. Mehrere Zehntausend sind vom Down-Syndrom betroffen. Das Spektrum möglicher Behinderungen reicht von Cerebralparese über Muskeldystrophie, offenem Rücken und fehlgebildeten Gliedmaßen bis zu Stoffwechselerkrankungen mit Auswirkungen auf das Gehirn, z. B. Phenylketonurie.
Und wenn ein solches Kind deines wäre?
Was bedeutet es für Eltern, ein Kind zur Welt zu bringen und großzuziehen, das womöglich noch erheblicher beeinträchtigt ist – ohne jegliche Aussicht auf Heilung?
Ein Forscherteam der Universität Montreal, Kanada, um die Neonatologin Annie Janvier befragte 332 Eltern von 272 Kindern, bei denen noch schwerwiegendere Behinderungen vorlagen als beim Down-Syndrom – Trisomie 13 – das Pätau-Syndrom - oder Trisomie 18, das Edwards-Syndrom (3) –, nach ihrer Lebenszufriedenheit. Müssten sie nicht bedrückt und verzweifelt sein, unentwegt mit ihrem Schicksal hadern?
Die Ergebnisse der Studie sind verblüffend.
Bei einer Trisomie kommen in jeder Körperzelle von einem bestimmten Chromosom – mit der Nummer 13, 18 oder 21 – drei statt der üblichen zwei Exemplare vor. Diese Anomalie führt zu zahlreichen Besonderheiten: Down-Kinder sind geistig behindert, überaus anfällig für Infekte, fallen durch asiatisch anmutende Augen auf – daher die verbreitete Bezeichnung „Mongolismus“ -, in jedem zweiten Fall liegt ein Herzfehler vor. Noch gravierender wirken sich die Trisomien 13 und 18 aus: Häufig sind innere Organe aufs Schwerste missgebildet. Wegen deformierter Kiefer- und Gesichtsknochen können die Kinder nicht selbstständig durch die Nase atmen, kaum oder gar nicht schlucken. Die meisten weisen Herzfehler auf. Augen und Nieren, Harn- und Magen-Darm-Trakt sind fehlgebildet, oft auch das Gesicht. Oft ist das Kleinhirn verkümmert, das unter anderem Gleichgewicht, Wahrnehmung, Schmerz und Hunger steuert. Die Betroffenen sind blind oder gehörlos. Manche haben kein Zwerchfell, andere einen „offen Rücken“, und alle sind kleinwüchsig. Oftmals müssen sie künstlich ernährt und beatmet werden, weshalb sie ihre wenigen Lebenswochen, an Sonden und Kabeln hängend, auf der Intensivstation verbringen. Irgendwann glucksen und lachen manche zwar spontan, reagieren aber nicht, wenn man sie anlächelt oder anspricht, können den Kopf nicht heben, ihr Gesicht bleibt regungslos. Einige lernen, sich aufzusetzen, aber nur die allerwenigsten können jemals laufen oder sprechen.
Viele kommen tot zur Welt oder sterben innerhalb der ersten zwölf Monate. (Zum Zeitpunkt von Janviers Datenerhebung lebten nur noch 79 der 272 Kinder, ihr Durchschnittsalter lag bei vier Jahren.)
Im statistischen Durchschnitt überleben Kinder mit einer Trisomie 13 oder 18 gerade einmal 2,5 bis 14,5 Tage, bloß eines von zwölf lebend geborenen Kindern übersteht das erste Lebensjahr. Nur in seltenen Einzelfällen werden sie 12, 13, gar 18 Jahre alt.
Gegen ärztlichen Rat
Die meisten Ärzte raten werdenden Müttern bei einem derart fatalen pränatalen Befund dringend zum Abort, versuchen ihnen auszureden, um ihr Kind zu kämpfen, und sträuben sich kategorisch gegen lebensrettende Maßnahmen, falls es doch zur Welt kommt – nicht unbedingt aus Hartherzigkeit, sondern im Bewusstsein persönlicher Risiken: Ein Arzt, der einem solchen Kind überleben hilft, läuft Gefahr, dass die Krankenkasse ihm einen „Behandlungsfehler“ vorwirft – er habe die Eltern offenkundig nicht ausreichend über die Folgen eines solchen Gendefekts aufgeklärt, andernfalls hätten sie selbstverständlich abgetrieben – und sich die Kosten lebensverlängernder Maßnahmen von seiner Haftpflichtversicherung zurückholt. Und auch die Eltern könnten ihn, falls sie ihr Ja zum Kind später bereuen, nachträglich haftbar machen, gestützt auf ein neues Patientenrechtegesetz: Weil er sie nicht eindringlich und vollumfänglich gewarnt habe, müsse er die Unterhaltskosten mitfinanzieren.
Dennoch können solche Kinder für ihre Eltern offenbar Glück bedeuten: Nicht weniger als 97 Prozent der befragten Mütter und Väter gaben an, nicht nur selber ein erfülltes Leben zu führen; sie meinten auch, dass ihr Kind glücklich sei – und dass seine Existenz das Familienleben und ihre Partnerschaft bereichere.
„Unsere Studie zeigt“, so Annie Janvier in der Fachzeitschrift Pediatrics, „dass Eltern, die einen Weg finden, ihr behindertes Kind zu akzeptieren und zu lieben, Glück und Bereicherung erfahren.“
Wie gut betroffene Eltern eine solche Ausnahmesituation bewältigen, hängt entscheidend davon ab, wieviel Verständnis und Unterstützung sie von Lebensgefährten, Verwandten und Freunden erfahren. Ja, viele von ihnen fühlen sich ausgegrenzt, alleingelassen, manchmal sogar regelrecht angefeindet. Der hohe Betreuungsaufwand erfordert enorme Kraft, er erschöpft und überlastet. Trotzdem überwiegen anscheinend positive Aspekte und Glücksmomente, die zutiefst erfüllen.
In krassem Gegensatz dazu steht das düstere Bild, das Ärzte häufig malen: 87 Prozent der befragten Eltern gaben an, ihnen sei während der Schwangerschaft gesagt worden, ein solches Kind sei „nicht mit ihrem Leben vereinbar“. Und jedes zweite Paar musste sich anhören, das Kind werde bloß „dahinvegetieren“ und „ein Dasein in Leid fristen“, jedem vierten wurde prophezeit, ein solches Kind werde „unser Familienleben und unsere Partnerschaft zerstören“.
Und wenn ein schwerstbehindertes Kind früh stirbt? Nach seinem Tod sagen fast alle Eltern, die es begleiteten: „Wir sind froh, dass wir dieses Kind gehabt haben.“
Schier unglaublich, diese Ergebnisse – aber inzwischen bestätigt sie eine weitere, noch größere Studie der Queen-Mary-Universität von London. Sie bezog Eltern von 326 Kindern mit Trisomie 18 und 142 mit Trisomie 13 ein. (2)
KI wundert sich nicht
Auch wenn es Künstlicher Intelligenz angeblich an Empathie mangelt: Bisweilen findet sie Antworten, wie wir sie ansonsten nur von besonders einfühlsamen Menschen bekommen. „Können schwerstbehinderte Kinder ihre Eltern glücklich machen?”, frage ich ChatGPT. Zumindest für diese Antwortmaschine steht das außer Frage. “Ja, absolut - vielleicht nicht immer auf die Art, wie es gesellschaftlich oft erwartet wird, aber auf tiefgreifende, bedeutsame Weise“, erklärt die KI. „Viele Eltern berichten, dass ihr behindertes Kind ihnen eine völlig neue Perspektive aufs Leben gibt – was wirklich zählt, wie bedingungslose Liebe aussieht, wie viel Kraft in kleinen Momenten liegen kann. Es entsteht oft eine ganz besondere Form der Verbindung, geprägt von Intensität, Vertrauen und tiefem emotionalem Austausch – selbst wenn das Kind nicht sprechen oder sich nicht bewegen kann. Natürlich gibt es Herausforderungen, manchmal auch große. Es kann Phasen von Trauer, Erschöpfung oder Überforderung geben – das ist real und wichtig anzuerkennen. Aber das schließt Glück nicht aus. Es kann sogar intensiver empfunden werden, gerade weil es nicht selbstverständlich ist.“ (3)
Die Reise nach Island – Ein Gleichnis
Was es bedeutet, mit einem behinderten Kind zu leben, veranschaulicht die US-Schriftstellerin Emily Kingsley - ab 1970 schrieb sie jahrzehntelang für die Fernsehserie „Sesamstraße“ – in einem bewegenden Gleichnis. 1974 hatte sie ihren Sohn Jason zur Welt gebracht – mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom. Dieses Erlebnis arbeitete sie seither in zahlreichen Büchern und Artikeln auf. Ihren Text „Die Reise nach Holland“ habe ich leicht umgewandelt, in „Die Reise nach Island“.
Wenn du ein Kind erwartest, so ist das, als würdest du eine langersehnte Reise nach Spanien planen. Voll freudiger Erwartung deckst du dich mit Prospekten und Büchern über dieses mediterrane Urlaubsparadies ein. Du lässt dich im Reisebüro beraten, blätterst in Bildbänden, liest im Internet begeisterte Erfahrungsberichte von Urlaubern, die schon dort waren ...
Du freust dich auf Flamenco und Paella, aufs Schwimmen und Sonnenbaden an den Stränden der Costa Brava. Du siehst dich bereits die atemberaubenden Landschaften der Pyrenäen und der Sierra Nevada erkunden. Du malst dir aus, wie du durch die malerischen Altstädte von Toledo, Cordoba und Sevilla bummelst. Du siehst dich schon in der prächtigen Sagrada Familia von Barcelona stehen, im Palacio Real in Madrid, in der Alhambra in Granada, in der Stierkampfarena und dem Alcazar in Valencia. Vielleicht belegst du sogar einen Sprachkurs, um ein paar Brocken Spanisch zu lernen.
Nach Monaten gespannter Vorfreude kommt endlich der lang ersehnte Tag. Du packst die Koffer, fährst zum Airport, checkst ein, das Flugzeug hebt ab.
Ein paar Stunden später landet die Maschine. Über Bordlautsprecher hörst du die freundliche Stimme des Piloten: „Willkommen in Island!“
Du bist wie vom Donner gerührt. Aufgebracht springst du auf und beschwerst dich bei den Flugbegleitern: „Island? Wie bitte? Ich habe doch eine Reise nach Spanien gebucht! Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, nach Spanien zu reisen!“
Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist jetzt in Island gelandet, hier musst du aussteigen und bleiben. Einen Rückflug gibt es nicht.

Wie groß ist diese Katastrophe wirklich? Du bist keineswegs in ein dreckiges, von Krieg, Seuchen und Hungersnot geplagtes Land gebracht worden. Es ist nur anders als Spanien – nicht so spektakulär, nicht so beliebt.
Was du jetzt brauchst, sind neue Bücher und Reiseprospekte. Du musst eine neue Sprache lernen. Und du triffst andere Menschen, welche dir in Spanien nie begegnet wären.
Aber nachdem du eine gewisse Zeit an diesem Ort verbracht und dich vom ersten Schrecken erholt hast, beginnst du dich umzuschauen. Und du erfährst und erlebst, dass Island grandiose, weitgehend unberührte Landschaften zu bieten hat. Du genießt atemberaubende Wasserfälle und Bootsfahrten entlang malerischer Fjorde, bestaunst die Mitternachtssonne im Juni. Im Schneemobil erkundest du Europas größten und eindrucksvollsten Gletscher. Dich inspiriert die Kunst- und Kulturszene von Rejkjavik; bald entdeckst du dein neues Lieblingsrestaurant, in dem du die leckersten Meeresfrüchte schlemmst. Du schließt Freundschaft mit Mitreisenden, die es ebenfalls nach Island verschlagen hat. Und allmählich klingt dein anfängliches Entsetzen ab, deine Verbitterung beginnt nachzulassen.
Unterdessen sind alle, die du noch aus deinem früheren Leben kennst, weiterhin damit beschäftigt, von Spanien zu kommen oder dorthin zu fahren. Du hörst sie schwärmen, und nie wirst du ganz aufhören, sie zu beneiden. Für den Rest deines Lebens sagst du dir: „Oh ja, Spanien! Dorthin hatte auch ich meine Reise geplant! Aber es kam ganz anders!“ Dein Schmerz darüber wird nie mehr ganz vergehen, denn der Verlust eines Lebenstraums wiegt schwer.
„Doch wenn du den Rest deines Lebens damit zubringst, dem zerronnenen Traum der Reise nach Spanien nachzutrauern“, so endet Emily Kingsleys Gleichnis, „wirst du nie innerlich frei sein, die besonderen und wundervollen Seiten Islands genießen zu können.“
Anmerkung
(1) Annie Janvier, Barbara Farlow, and Benjamin S. Wilfond: “The Experience of Families With Children With Trisomy 13 and 18 in Social Networks”. Pediatrics, 23. Juli 2012.
(2) Jianhua Wu/Anna Springett/Joan K. Morris, „Survival of trisomy 18 (Edwards syndrome) and trisomy 13 (Patau Syndrome) in England and Wales 2004–2011“, American Journal of Medical Genetics 161 (10) 2013, S. 2512–2518.
(3) ChatGPT am 12. April 2025.
Eine frühere Version dieses Betrags findet sich in meinem Buch Auswege – Kranken anders helfen (2015).

Ein sehr schöner Artikel mit einer sehr schönen Geschichte, die das tatsächlich gut verdeutlicht. Vor allem als Nichtbetroffener kann man mit dieser Geschichte vielleicht das auch anderen erklären, was sein könnte.