"Mirror Life": Bedrohen künstliche Bakterien die Menschheit?
- Dr. Harald Wiesendanger
- 16. Juni
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Juni
Namhafte Wissenschaftler schlagen Alarm: Künstliches „Mirror Life“, spiegelverkehrt zu natürlichen Vorbildern konstruiert, stelle eine „beispiellose Bedrohung“ allen Lebens dar. Wie begründet ist die schrille Warnung vor dem jüngsten Biotech-Irrsinn? Lenkt sie von einer akuten, viel größeren Gefahr ab?

„Die Bedrohung, von der wir hier sprechen, ist beispiellos“, warnt Prof. Vaughn Cooper, Evolutionsbiologe an der Universität von Pittsburgh. Er zählt zu einer Gruppe von 38 namhaften Wissenschaftlern – darunter Nobelpreisträger –, die eindringlich fordern, jegliche weitere Forschung an sogenannten Mirror-Life-Mikroben unverzüglich einzustellen. Synthetische Bakterien, die aus Spiegelbildern von in der Natur vorkommenden Molekülstrukturen bestehen, könnten sich in der Umwelt unkontrolliert ausbreiten - und die Immunabwehr natürlicher Organismen überwinden, wodurch Menschen, Tiere und Pflanzen der Gefahr tödlicher Infektionen ausgesetzt wären. Eine „globale Katastrophe“, ja „das Ende der Welt“ drohe.
Zu der besorgten Expertengruppe gehören Dr. Craig Venter – der US-Wissenschaftler, der in den 1990er Jahren die Sequenzierung des menschlichen Genoms vorantrieb – sowie die Nobelpreisträger Prof. Greg Winter von der Universität Cambridge und Prof. Jack Szostak von der Universität Chicago.
Was liegt ihnen so brennend am Herzen?
Mirror-Life-Mikroben sind synthetische Mikroorganismen, welche die Biochemie bekannter Lebensformen spiegeln. Diesem Konzept zugrunde liegt das Phänomen der Chiralität. Die meisten Moleküle des Lebens – insbesondere Aminosäuren und Zucker – besitzen diese Eigenschaft: Sie existieren in zwei spiegelbildlichen Versionen, ähnlich wie die linke und rechte Hand. Irdische Aminosäuren sind fast ausschließlich linksdrehend (L-Form), während Zucker in der DNA und RNA rechtsdrehend (D-Form) sind. Das ist erstaunlich, weil in der Chemie normalerweise beide Formen entstehen könnten. Doch das Leben nutzt nur eine Seite – ein Phänomen, das man Homochiralität nennt.
Mirror-Life-Mikroben wären Organismen, bei denen sich diese Chiralität umkehrt. Sie würden D-Aminosäuren statt L-Aminosäuren verwenden und L-Zucker statt D-Zucker. Ihre gesamte Biochemie wäre demnach wie ein Spiegelbild des Lebens, wie wir es kennen.
Wozu alternative Biologie?
Biologen fasziniert dieses Konzept aus mehreren Gründen. Zum einen stellen solche Mikroben eine Form alternativer Biologie dar, die womöglich völlig anders funktioniert als alles bekannte Leben. Sie wären enzymresistent: L-DNA wird von normalen Enzymen nicht abgebaut. Und sie wären „erkennungsgeschützt“: Ihre Spiegel-DNA ist für das Immunsystem unsichtbar.
In der Astrobiologie wirft „Mirror Life“ die spannende Frage auf, ob es im Universum Leben geben könnte, das „andersherum“ aufgebaut ist.
Auch in der Biotechnologie spielt die Idee eine Rolle: Es wird bereits daran geforscht, künstliche Spiegel-Proteine oder Spiegel-DNA herzustellen, etwa für Arzneimittel gegen vielerlei chronische, schwer zu behandelnde oder gar therapieresistente Krankheiten - oder für hochstabile Nanomaschinen, die Tumorzellen erkennen und zerstören, Gewebe und Zellen reparieren, Blut reinigen, im Körper „Patrouille“ laufen, winzige Operationen durchführen, Infektionen bekämpfen, Medikamente gezielt an den vorgesehenen Ort im Körper transportieren.
Bis heute hat jedoch noch niemand echte Mirror-Life-Mikroben in die Welt gesetzt – es handelt sich bislang um ein theoretisches Konzept. Allerdings haben Forscher bereits Teile dieser gespiegelten Biochemie im Labor synthetisiert, wie zum Beispiel Spiegel-DNA (L-DNA) und D-Proteine.
Hundertprozentig „biosicher“? Unwägbare Risiken
Spiegel-Bakterien scheinen eine ganz und gar sichere Erfindung. Denn sie gelten als biologisch inkompatibel: Sie könnten sich nicht in normale Organismen einschleusen, uns infizieren und Nährstoffe daraus verwerten. Denn sie leben in einer „anderen Biochemie-Welt“, so beruhigen Forscher.
Auch sei ein horizontaler Gentransfer, der das Erbgut verändert, völlig ausgeschlossen. Denn Spiegel-DNA könne nicht mit normaler DNA rekombinieren.
Andererseits gilt Murphys Gesetz: Was schiefgehen kann, geht schief. In einem 299-seitigen Bericht und einem Kommentar in der Fachzeitschrift Science legen die 38 Wissenschaftler ihre Bedenken gegenüber dieser Technologie dar.
1. Da Mirror-Life-Mikroben aus spiegelbildlichen Molekülen bestehen, könnte das menschliche Immunsystem sie nicht erkennen. Dies würde es ihnen ermöglichen, unbemerkt Infektionen zu verursachen, die schwer oder gar nicht behandelbar sind.
2. Natürliche Fressfeinde fehlen. Bakteriophagen oder andere Mikroorganismen könnten Mirror-Life-Mikroben nicht angreifen, weil deren Enzyme und Mechanismen auf die natürliche Molekülstruktur ausgerichtet sind. Dies könnte zu einer unkontrollierten Ausbreitung führen.
3. Sollten solche Mikroben in die Umwelt gelangen, könnten sie sich in neuen ökologischen Nischen einnisten und dort heimische Arten verdrängen. Dies führt womöglich zu einem massiven Ungleichgewicht in Ökosystemen. Sangram Bagh, synthetischer Biologe beim Saha Institute of Nuclear Physics in Kalkutta, verweist auf ein Bodenbakterium, das sich so entwickelte, dass es die starken Desinfektionsmittel in NASA-Räumen überlebte, indem es genau die Reinigungsmittel fraß, die es beseitigen sollten. „Das zeigt, dass die Macht der Evolution nicht unterschätzt werden darf. In ähnlicher Weise könnten sich auch Spiegelbakterien anpassen und gedeihen, wenn sie nach draußen gelangen.“
4. Einmal dem Labor entwichen oder absichtlich freigesetzt, könnten Mirror-Life-Organismen sich weltweit unkontrolliert verbreiten, da sie weder durch das Immunsystem noch durch natürliche Feinde kontrolliert werden können. Dies würde es nahezu unmöglich machen, ihre Ausbreitung zu stoppen. Als Beispiel für dieses Risiko nennt Deepa Agashe, Evolutionsbiologin vom Nationalen Zentrum für Biologische Wissenschaften in Bengaluru, Batrachochytrium dendrobatidis, einen hochinfektiösen, invasiven Pilz: Er verursacht Chytridiomykose, eine Krankheit, welche die Hautfunktion bei Amphibien stört – lebenswichtig für deren Atmung und Wasserhaushalt. der „seinen Weg durch die ganze Welt genommen hat“ - nach Indien und Australien ebenso wie nach Amerika und Afrika – „und zum Aussterben von 90 Amphibienarten geführt hat, wobei 500 weitere Arten in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen sind.“
5. Da die Struktur von Mirror-Life-Bakterien fundamental anders ist, könnten gängige Antibiotika unwirksam sein. Spezifische Gegenmittel zu entwickeln, wäre zeitaufwändig und könnte zu spät kommen, um eine Pandemie zu verhindern.

Auch mit Missbrauch wäre zu rechnen. Theoretisch könnte jemand Mirror-Life-Techniken nutzen, um molekulare Maschinen zu bauen, die normalen Organismen schaden, ohne selbst erkannt zu werden. Ein Beispiel dafür wären gespiegelte Nanomaschinen, die normale Zellmembranen durchdringen oder stören. Spiegel-Bakterien könnten als perfekte Pathogene wirken, außerhalb natürlicher Immunerkennung und Resistenzen. Von einer solchen Biowaffe träumen Terroristen und aggressive Regimes. Zur Zeit ist das noch Science-Fiction, in 20 bis 30 Jahren jedoch durchaus denkbar.
Fazit: Im Vergleich zu herkömmlichen gentechnisch veränderten Mikroben wären Spiegel-Bakterien relativ sicher, falls sie in einer kontrollierten Umgebung bleiben. Aber wie bei jeder neuen Technologie gilt: Was man absichern muss, ist unsicher. „Solange es keine zwingenden Beweise dafür gibt, dass das Spiegelleben keine außergewöhnlichen Gefahren birgt, sollten unserer Meinung nach keine Spiegelbakterien und andere Spiegelorganismen geschaffen werden, auch nicht solche mit technischen Biocontainment-Maßnahmen“, schreiben die Autoren in Science. „Wir empfehlen daher, Forschung mit dem Ziel, Spiegelbakterien zu schaffen, nicht zuzulassen und den Geldgebern deutlich zu machen, dass sie solche Arbeiten nicht unterstützen werden.“
„Wir wollen eine globale Diskussion anstoßen“
Dr. Kate Adamala, eine synthetische Biologin an der Universität von Minnesota und Mitverfasserin des Berichts, arbeitete an einer Spiegelzelle, änderte aber im vergangenen Jahr ihre Einstellung zur eigenen Forschungsarbeit, nachdem sie sich der Risiken vollauf bewusst geworden war. „Wir sollten kein Spiegelleben erschaffen“, sagt sie. „Wir haben Zeit für das Gespräch. Und das ist es, was wir mit diesem Manifest erreichen wollten, nämlich eine globale Diskussion anzustoßen. (…) Die Fähigkeit, spiegelbildliches Leben zu erschaffen, liegt wahrscheinlich noch mindestens ein Jahrzehnt in der Zukunft und würde große Investitionen und bedeutende technische Fortschritte erfordern. Wir haben also die Möglichkeit, Risiken zu berücksichtigen und ihnen vorzubeugen, bevor sie sich verwirklichen.“
Bloß der neueste Angstporno?
Nichts weiter als der neueste Angstporno? Davon ging zunächst auch Kelsey Piper aus, Autorin beim US-Online-Magazin Vox: „Wir sind alle an sensationelle Schlagzeilen über die eine oder andere Katastrophe gewöhnt, die sich am Horizont abzeichnet. Daher kann ich niemanden verurteilen, der erschöpft abwinkt, wenn er liest, dass Dutzende von Wissenschaftlern vor Spiegelbakterien warnen, die einen katastrophalen Zusammenbruch des Ökosystems und sogar ein Massensterben verursachen könnten. Schließlich haben wir bereits drohende Gefahren wie H5N1, über die wir uns Sorgen machen müssen, und ganz allgemein leben wir in einer Zeit, die, wie Adam Kirsch kürzlich in The Atlantic schrieb, sich wie ‚eine ständige Apokalypse‘ anfühlt. Die Nachricht über die Spiegelbakterien kam in derselben Woche, in der wir erfuhren, dass eine viel beachtete Studie darüber, wie unsere schwarzen Pfannenwender uns umbringen, in Wirklichkeit nur das Ergebnis eines Rechenfehlers war. Es fällt schwer zu unterscheiden, welche Probleme wirklich lebensbedrohlich sind und welche nur aus Schlagzeilen bestehen, die einen Monat später schon wieder vergessen sind. Aber nachdem ich mich eingehender mit dem Thema Spiegelbakterien beschäftigte, habe ich schlechte Nachrichten: Es ist real und es ist wirklich ernst.“ Wir haben es hier tatsächlich mit „einer völlig neuen Entwicklung“ zu tun, „die das Ende der Welt bedeuten könnte.“
Plumpes Ablenkungsmanöver?
Ein „ausgezeichnetes Beispiel für verantwortungsvolle Forschung und Innovation“ sei der Science-Appell der 38 Wissenschaftler, so lobt Prof. Paul Freemont vom Imperial College London. Der Arzt Dr. Dave Atkinson sieht in ihm eine „Tugendhaftigkeit, die unterstreicht, dass ihnen die biologische Sicherheit am Herzen liegt“.
Hinter der lautstarken Warnung könnten aber noch andere Motive stecken, so vermutet die Verbraucherschutzorganisation GMWatch. „Die Konzentration auf mögliche zukünftige Risiken von ‚Mirror-Life‘ ist eine gefährliche Ablenkung vom unmittelbaren Problem der laufenden Gain-of-Function-Forschung, die schon jetzt eine weitere Pandemie auslösen könnte“.
Auch Richard Ebright, Professor für Chemie und Chemische Biologie an der Rutgers University und Experte für biologische Sicherheit, sieht in dem Science-Artikel „und der damit einhergehenden Medienpräsenz einen absichtlichen, verzweifelten Versuch, von der realen und vordringlichen Bedrohung abzulenken, die von der aktuellen Virologie ausgeht - welche die Corona-Pandemie verursacht hat und wahrscheinlich auch die nächste verursachen wird“.
„Heiklen Fragen ausgewichen“
Louis R. Nemzer, Professor für Biophysik an der Nova Southeastern University, bezeichnet den Vorstoß der Wissenschaftler als „eine kostengünstige Möglichkeit, in Sachen Biosicherheit hart aufzutreten“, und fügt hinzu: „Indem sie energisch Alarm schlagen wegen etwas, das hypothetisch ist und Jahrzehnte in der Zukunft liegt, können sie sowohl den heiklen Fragen nach der Ursache von SARS-CoV-2 in der Vergangenheit ausweichen als auch der Frage, wie die Gain-of-Function-Forschung in der Zukunft geregelt werden soll“.
Wäre schriller Alarm außerdem nicht bei jeglicher Art von synthetischer Biologie angebracht, längst nicht nur bei „Mirror“-Basteleien? Extreme Gentechnik, die völlig neue Lebensformen mit unabsehbaren Folgen schaffen kann, schreitet rasant voran. Sie kreiert künstliche Zellen, neue DNA, komplette Genome von neuartigen Bakterien und Viren. So stellte das J. Craig Venter Institute schon im März 2016 JCVI-syn3.0 vor: die erste synthetische Bakterienzelle, auf Mycoplasma mycoides beruhend, mit nur 531.560 Basenpaaren und 493 Genen, ein Drittel davon mit unbekannten Funktionen – das kleinste Genom eines selbst replizierenden Organismus, das bisher gebaut wurde. Dieses Machwerk enthält 19 zusätzliche Gene, unter anderem um seine Form zu stabilisieren und es teilungsfähiger zu machen.
Wo verläuft die Grenze zwischen „tragbaren“ und „inakzeptablen“ Risiken? Bislang können sich Regierungen und Wissenschaftler nicht darauf einigen, wie Mirror Life-Forschung reguliert und potenzieller Schaden eingedämmt werden soll. Wie immer gilt im Zweifelsfall: Es lebe der Fortschritt – vorausgesetzt, er verspricht, neue hochlukrative Geschäftsfelder zu eröffnen.
Comments