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  • Dr. Harald Wiesendanger

Kompass verrutscht

Aktualisiert: 28. Jan.

Es mehren sich Stimmen, die Ukraine im Krieg gegen Russland nicht länger zu unterstützen. Nichts für ungut, liebe Friedensbewegte, aber euer moralischer Kompass ist gewaltig verrutscht.




Auch Nichtstun ist Handeln. Verantwortung werden wir nicht los, indem wir schweigen, wegsehen, die Hände in den Schoß legen. Das gilt auch für Publizisten. Und so drängt es mich, zum Ukrainekrieg Stellung zu nehmen, auch wenn er außerhalb des üblichen Themenspektrums meines Blogs stattfindet. Ich tue es mit einem Gedankenspiel.


Falls dir das zustieße


24. Februar, vier Uhr morgens. Du und deine Familie liegen nichtsahnend im Tiefschlaf. Da erschüttert eine gewaltige Explosion euer Haus: Ein Geschoss hat gerade euer Dach durchschlagen. Ihr hört, dass jemand eure Eingangstür aufbricht.


In heller Aufregung eilst du dorthin. Da erkennst du P., einen Nachbarn, der dir schon seit längerem nicht wohlgesonnen ist. Schwerbewaffnete Männer begleiten ihn.


Vor deinen Augen erschießen sie deinen Ehepartner.


Sie vergewaltigen deine Schwester.


Sie verschleppen eines deiner Kinder.


Ein anderes zerren sie in den Keller und foltern es. Du hörst seine gellenden Schreie.


Die Eindringlinge beschlagnahmen in deinem Haus mehrere Zimmer. In den übrigen richten sie größtmöglichen Schaden an. Sie zerschlagen Fensterscheiben, durchtrennen Stromkabel, kappen die Wasserzufuhr, sprengen euren Heizofen. Eure Wertsachen schaffen sie fort.


Auch deinen Garten besetzen sie teilweise, nachdem sie deinen Zaun niedergerissen haben. Sie heben dort Gräben aus. Auf Schritt und Tritt verlegen sie Minen. Obst und Gemüse, das ihr angebaut habt, stehlen sie.


Verzweifelt reißt du ein Fenster auf und rufst nach Hilfe, so laut du kannst. Wie du feststellst, hat der Lärm inzwischen sämtliche Nachbarn aufgeweckt. Neugierig verfolgen sie aus sicherem Abstand, was dir und deiner Familie gerade widerfährt. Manche schütteln den Kopf, falten die Hände zu einer Fürbitte oder ballen aufgebracht die Fäuste, rufen eurem Angreifer ein empörtes „Aufhören!“ zu.


Jeder erklärt euch, er bedaure euer Schicksal zutiefst und nehme Anteil. Ihr Mitgefühl versichern euch manche auf eurem Anrufbeantworter, andere werfen eine Beileidskarte in euren Briefkasten.


Alle hören, wie in eurem Haus Schüsse fallen. Alle hören euch weinen. Alle hören, wie ihr vor Schmerzen schreit. Alle sehen, wie  P. und seine Leute zerstören, was euch gehört. Allen ist klar: Ihr seid die Schwächeren.


Aber niemand eilt euch zu Hilfe. Kein einziger.


Verzweifelt rufst du ihnen zu: „Bitte helft uns wenigstens, uns selber zu schützen!“


Unverzüglich geschieht daraufhin: nichts. Es vergehen Tage, Wochen, Monate, bis wenigstens ein paar Nachbarn deinem Aufruf folgen. Nach und nach spendieren sie euch einen Verbandskasten, damit ihr eure Wunden versorgen könnt. Einen neuen Heizofen. Einen Stromgenerator. Schusssichere Westen. Neue Fenster. Stahltüren, damit ihr es dem Angreifer schwerer machen könnt, in eure übrigen Zimmer einzudringen. Taschentücher, um eure Tränen zu trocknen. Ein paar Schwerter, Steinschleudern und Schrotflinten.


„So kann ich P. aus meinem Haus, von meinem Grundstück aber nicht vertreiben“, lässt du deine Nachbarn wissen. „Dazu benötigen wir dringend bessere Waffen und mehr Munition. Ihr habt sie, und ihr benötigt sie zur Zeit nicht. Ich flehe euch an: Gebt sie uns.“


Schließlich ringen sich vereinzelte Nachbarn dazu durch, dir geeigneteres Material auszuhändigen – aber viel zu langsam, viel zu wenig, als dass du dein Zuhause damit befreien könntest.


„Warum bekomme ich von euch nicht, was ich benötige?“, fragst du.


„Weil du damit prinzipiell die Möglichkeit bekämst, P.´s Haus zu beschießen“, so hörst du. „So etwas könnte ihn stinksauer auf uns machen, und das möchten wir nicht riskieren.“


Manche Nachbarn haben sich von vornherein geweigert, dich beim Verteidigen zu unterstützen. Weshalb? Sie konfrontieren dich mit Unterstellungen: In Wahrheit seist du ein Nazi. Obendrein eine Marionette eines gewissen U. Angeblich hast du U. deinen Keller vermietet, um darin ein Labor einzurichten. Und dieser U. habe sich schon öfters ähnlich verhalten wie jetzt P. Eigentlich seist du ein Schauspieler, der bloß so tut, als könne er Oberhaupt seiner Familie sein. Es sei dir nicht recht, dass ein Mitbewohner deines Hauses weiterhin seinen Dialekt spricht. Außerdem gelte es zu bedenken, dass Ahnen des Angreifers einst den Grund und Boden bewohnten, dessen Eigentümer du jetzt bist.


„Da plappert ihr doch bloß nach, was P. euch einflüstert“, gibst du zu bedenken. „Muss ein Verbrechensopfer in höchster Not denn erst alle kursierende Gerüchte entkräften und Unbedenklichkeitsprüfungen bestehen, ehe er Beistand verdient? Lautet eure Devise: ‚Jeden in Not retten wir selbstverständlich – es sei denn, er hat keine Rettung verdient, weil es uns so vorkommt, als sei er irgendwie mitschuldig‘?“


„Wozu dir noch beistehen? Du kannst sowieso nicht gewinnen!“, bekommst du zu hören.


„Es verhält sich genau andersherum“, widersprichst du: „Ich kann unmöglich gewinnen, falls ihr mir nicht beisteht.“


„Das wird uns allmählich zu teuer“, so jammern deine Nachbarn.


„Falls ihr P. jetzt gewähren lasst, könnte es für euch bald noch viel teurer werden“, erwiderst du. „Denn ihr könntet die nächsten sein, die er überfällt. Gedroht hat er manchen von euch ja schon.“


„Verhandle endlich!“, so wird dir zugerufen.


Worüber denn?


Um des lieben Friedens willen müssest du „Zugeständnisse machen“, heißt es.


„Das bedeutet? Sollten wir demnach eures Erachtens Teile unseres Gartens abtreten?“,  so empörst du dich. „Empfehlt ihr uns, künftig auf unser Wohnzimmer zu verzichten? Seid ihr dafür, dass wir P. unsere Küche überlassen? Unser Bad räumen? Oder ein Kinderzimmer, da es ja leer steht, seit P. unsere Jüngste entführt hat? Was fällt euch ein, euch darüber unseren Kopf zu zerbrechen? Wozu wärt ihr denn bereit, wenn es um euer Zuhause ginge?“


„Und wozu verzichten? Um den Konflikt mit P. vertraglich beizulegen? Mit einem, der jeden Vertrag zu brechen pflegt, wenn es ihm passt? Hatte er nicht schon längst schriftlich zugesichert, die Grenzen unseres Grundstücks zu respektieren?“


Betreten schweigt die Nachbarschaft.


 Und so bleibt dir nichts anderes übrig, als dich weiterhin alleine zu wehren, mit ungenügenden Mitteln.


„Aber ich kämpfe doch letztlich auch für euch“, gibst du deinen Nachbarn zu bedenken.

„Falls ich verliere, wird P. als nächstes über einen von euch herfallen.“


„Quatsch, das würde er sich niemals trauen.“


Vergeblich widerspricht du: „Habt ihr vergessen, was Adolf sich vor ungefähr achtzig Jahren alles traute, nachdem Leute wie ihr ihn gewähren ließen?“


Immerhin darfst du gewiss sein: Falls du und deine Liebsten den Überfall nicht überleben, werden eure Nachbarn euch feierlich zu Grabe tragen, üppige Kränze niederlegen, fromme Lieder singen und eurer salbungsvoll gedenken. Sind solche Aussichten nicht tröstlich?


Und die Moral von der Geschichte?


Nochmals: Auch Nichtstun ist Handeln. Nichts, aber auch wirklich gar nichts gibt dir das Recht, einen Mitmenschen anzugreifen, zu quälen oder gar umzubringen, der dich nicht im geringsten bedroht hat. Und nichts entlastet dich von der moralischen Pflicht, jemandem beizustehen, wenn er vor deinen Augen zum Opfer eines Angriffs wird, den er aus eigener Kraft nicht abwehren kann.


Kurzum: Wer die überfallene Ukraine im Stich lässt, macht sich unterlassener Hilfeleistung schuldig – mit fadenscheinigen Ausflüchten, aus einem Mangel an Empathie und Geschichtsbewusstsein.


Solch unverblümten KLARTEXT erlaube ich mir – an die Adresse aller Mitmenschen, die seit nunmehr fast zwei Jahren beharrlich meiner Frage ausweichen: Wie wäre es, wenn P. am 24. Februar über dich hergefallen wäre? Was würdest du von mir dann zurecht erwarten, wenn ich dein Nachbar wäre? Vor all den lautstarken Pazifisten hierzulande, welche die Ukraine lieber heute als morgen im Stich lassen würden, zöge ich erst dann den Hut, wenn sie heroisch prinzipientreu bereit wären, sich selbst und ihre Liebsten von bewaffneten Angreifern abschlachten zu lassen, ohne Gegenwehr, mit weißer Fahne in der einen Hand und einer weißen Taube auf der anderen. Andernfalls käme mir ihre inbrünstige Friedensliebe, zelebriert aus einer sicheren Entfernung von zweitausend Kilometern zum grässlichen Geschehen, reichlich verlogen vor.




Illustration: Collage aus Bildern von Kellepics und MarandaP (beide Pixabay)

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