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  • Dr. Harald Wiesendanger

Ein Wiedergeborener auf Spurensuche

Im Jahre 2000 versuchte mich ein Familienvater davon zu überzeugen, woran er selbst felsenfest glaubte: Er sei ein wiedergeborener Bahnarbeiter aus Nebraska, der um 1910 tödlich verunglückte. Seine vermeintlichen Reinkarnationserinnerungen waren verblüffend detailreich, viele fand er bei aufwändigen Nachforschungen „bestätigt“. Trotzdem blieb ich skeptisch. Wie bei allen „früheren Leben“, die mir Erwachsene in den vergangenen Jahrzehnten offenbarten, so vermisste ich auch in seinem Fall zwingende Beweise.


Es geschah an einem späten Samstagnachmittag im Jahre 1961, als Hans Fandel* im Garten arbeitete. Plötzlich setzte Regen ein. In Gummistiefeln, an denen reichlich feuchte Erde klebte, rutschte er auf den nassen Steinplatten aus. Dabei verdrehte er sich das Knie.


Ein herbeigerufener Arzt setzte ihm eine schmerzstillende Spritze und drückte ihm Butazolidin in die Hand, einen Schmerzstiller und Entzündungshemmer. Bis zum nächsten Morgen, nach einer unruhigen Nacht mit höllischen Knieschmerzen, hatte Fandel ein paar Tabletten davon geschluckt.


Kurz darauf brach er am Eingang zum Badezimmer bewusstlos zusammen - und durchlebte eine jener “außerkörperlichen Erfahrungen”, wie sie von Menschen in Todesnähe häufig berichtet werden: “Plötzlich fühlte ich mich ohne Gewicht, ohne Schmerzen, in einem unbeschreiblich leichten Zustand - ein wahrhaft himmlisches Gefühl. Wie später die Astronauten, so schwebte ich frei im Raum. Unter mir konnte ich die Erde mit ihrer blauweißen Aura sehen”. Unvermittelt wähnte er sich in ein “außergewöhnlich helles, warmes Licht” getaucht, zu dem er sich unwiderstehlich hingezogen fühlte. Aus ihm vernahm er “Stimmen wie von Menschen”, “dann wieder Gesang, wunderbar ruhig, glasklar, erhebend wie Partien aus Händels ‘Messias’.” Von dieser “unbeschreiblich tröstlichen Harmonie” fühlte er sich “regelrecht eingehüllt und unsäglich glücklich”.


Aus dieser Glückseligkeit riss Fandel eine Dusche kalten Wassers, das seine Frau geistesgegenwärtig über seinen reglos am Boden liegenden Körper goss, um ihn zu reanimieren. Von jenem Moment an, so bekennt der Vater dreier Kinder, habe er jahrelang seinen Tod herbeigewünscht, getrieben von einer “dauernden inneren Sehnsucht nach diesem paradiesischen Zustand, den ich erlebt hatte”.


Je präziser, desto echter? Fandels „Erinnerungen“


Just zu jener Zeit setzte eine Serie von sonderbaren, äußerst lebhaften Träumen ein: “Nacht für Nacht träumte ich erstaunliche Erlebnisse.” Allem Anschein nach bezogen sie sich auf Ereignisse vor seinem jetzigen Leben; dabei waren sie “sehr präzise”, so dass sie Hans Fandel “eine zeitliche und räumliche Zuordnung ermöglichten”. Er "sah" sich als norddeutschen Bauern, der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner Frau und drei Kindern in die Vereinigten Staaten auswandert; in Bremen besteigen die Emigranten ein Schiff namens "Garton", das sie nach New York bringt. In seiner zweiten Heimat stirbt der Familienvater bei einem Unfall in einem Eisenbahndepot in Omaha, Nebraska.


Für Hans Fandel, Jahrgang 1932, einen Konstrukteur von Medizintechnik aus einem Vorort von Winterthur, steht Wiedergeburt inzwischen "völlig außer Zweifel". An Orte und Daten herausragender Ereignisse seines Vorlebens hat er verblüffend genaue "Erinnerungen". Und "weil ich als technisch ausgebildeter Mensch immer nach Beweisstücken suche", stellt der Schweizer Konstrukteur und Erfinder seit Jahren akribische Nachforschungen in deutschen und amerikanischen Quellen an. Unter anderem beschaffte er sich Geburts-, Heirats- und Einwanderungsdokumente, forschte in Kirchenarchiven und Akten von US-Eisenbahngesellschaften, bereiste mehrere mutmaßliche Aufenthaltsorte seiner Vorinkarnation, an der Ostsee, in Thüringen, in Oberbayern.


Und tatsächlich: Schwarz auf weiß weist eine Passagierliste des New Yorker Hafens aus, dass am 1. Juni 1854 in Bremen an Bord eines Schiffes namens "Garton" ein damals 38-jähriger deutscher Bauer ging, dessen Familienname verblüffenderweise sogar mit dem von Hans Fandel identisch war: Johannes Gottlieb Fandel junior**, zusammen mit seiner sechs Jahre jüngeren Frau Dorothee sowie den Kindern Christiana (9), Daniel (7) und Adolph (4).


Auch die Todesumstände seines "früheren Selbst" konnte Fandel derart präzise beschreiben und zeichnen, daß bei der US-Eisenbahngesellschaft Union Pacific recht schnell Dokumente aufzufinden waren, die bestätigen: In einem Lok-Depot in Omaha, Nebraska, war es seinerzeit tatsächlich zu einem Unfall jener Art gekommen, wie ihn Fandel "erinnert".


Unsere Begegnung im Jahr 2000


So jedenfalls lautete Hans Fandels Geschichte, wie sie sich mir anfänglich darbot - aufgrund eines Briefs mit ein paar Aktenkopien, die ich von Fandel, nachdem er durch Presseberichte auf meine Veröffentlichungen zum Thema Reinkarnation aufmerksam geworden war, im Februar 2000 erhalten hatte. Ein erstes längeres Telefonat mit ihm kurz darauf deutete darauf hin, dass hier ein seltener, besonders spektakulärer Fall von “bestätigten” Reinkarnationserinnerungen vorlag. Die Esoterikszene würde ihn unbesehen als “Beweis für Wiedergeburt” feiern, sobald sie davon Wind bekäme.


Im selben Telefonat kündigte mir Fandel die Zusendung eines dicken Stapels von “Beweismaterial” an, das er mittlerweile zusammengetragen hatte: akribische Aufzeichnungen seiner Reinkarnationsträume und ihrer Verifizierung, zusammen mit zahlreichen aufschlussreichen Dokumenten über sein “früheres Selbst”.


Neugierig arbeitete ich mich durch die rund hundert Seiten, korrespondierte und telefonierte daraufhin mehrfach mit Hans Fandel; schließlich suchte ich ihn am 16. Oktober 2000 an seinem Wohnort auf.


Je hartnäckiger ich nachfragte, desto illusionsloser wurde mein Bild von diesem Fall. Heute halte ich ihn für ein eindrückliches Lehrstück zur Entwicklungspsychologie „wiedergeborener Ichs“: An ihm zeigt sich, wie seelische Ausnahmezustände, soziale Verstärkung, Wunschdenken, selektive Wahrnehmung, rekonstruktive Erinnerung und Kurzschlüsse auf raffinierte, nur mühsam nachvollziehbare Weise zusammenwirken können, um vermeintliche Evidenzen für Wiedergeburt zu erzeugen und Betroffene, während sie “Nachforschungen” anstellen, schließlich von ihrer Triftigkeit zu überzeugen. Daher lohnt es sich, Fandels Fall unter die Lupe zu nehmen.


Stutzig machte mich zunächst, dass der erste vermeintliche Reinkarnationstraum, den Fandel einer ausführlichen schriftlichen Aufzeichnung für wert befand, nicht weniger als 21 Jahre nach seinem Nahtodeserlebnis auftrat, nämlich 1982. Jenes Erlebnis selbst, so stellte sich bald heraus, hatte in Wahrheit keinerlei Rückblicke auf Vorleben enthalten; ebensowenig waren ihm derartige Rückblicke unmittelbar nachgefolgt. Was sollte es dann überhaupt mit seinen viel späteren Reinkarnationsträumen zu tun haben? Vielleicht löste es, in seiner nachhaltigen Eindrücklichkeit, eine radikale Veränderung von Fandels Blickwinkel auf “letzte Dinge” aus - und machte ihn geneigt, künftigen Erlebnissen, um sich herum wie in sich selbst, eine esoterische Deutung zu geben. Einschneidend genug war es dazu jedenfalls gewesen.


Fandels mysteriöse Schiffsfahrt


In jenem Traum von 1982 reiste Fandel auf stürmischer See auf einem “zur Vorderseite hin flachen Schiff, ähnlich einem Rhein-Transportschiff”, das aus Amsterdam kam. “Es mochte so gegen 22 Uhr gewesen sein.” Ein Uniformierter erklärte ihm, infolge des Sturms könne man nicht in Hamburg landen, weshalb man nach Lübeck weiterfahre, und steckte ihm einen Zettel mit der Adresse einer Unterkunft in Lübeck zu, in der man “auch nach Mitternacht noch ein Zimmer finden kann”.


Ansonsten blieb Fandel von der unruhigen Schiffspassage nur noch im Gedächtnis, dass er sich über viele “große, lange, viereckige Gegenstände” wunderte, die “auf dem flachen Schiffsdeck festgezurrt waren”. Sie sahen wie Baumstämme aus - aber “wären sie nicht geschützter, wenn sie ungehobelt transportiert würden?”, so fragte er sich.


Nach der Ankunft im Hafen “machte ich mich auf die Suche nach der auf dem Zettel notierten Unterkunft. Es war sehr dunkel. Um die Straßennamen an den Hausfassaden besser lesen zu können, musste ich immer wieder stehenbleiben und warten, bis das Mondlicht zwischen den Wolken durchbrach und die Straßenschilder erhellte”. Nach einem längeren, beschwerlichen Fußmarsch auf Kopfsteinpflaster erreichte er schließlich “ein Haus, dessen ungewöhnliche Fassade mit hohem Giebel gegen das Wasser schaute”. Eine ältere Frau öffnete: “Sind sie verheiratet?” Er bejahte.


Erst jetzt realisierte er, dass er in weiblicher Begleitung war - “mit hohen Schnürstiefeln und einem Taftrock, der laut raschelte” -, offenbar seiner Ehefrau. Die Alte führte die beiden, ein Windlicht voraustragend, eine Wendeltreppe hinauf in ein großes Zimmer im obersten Stockwerk.


Am folgenden Tag weckte ihn grelles Sonnenlicht. Er trat an ein großes, dreiflügliges Fenster, von wo aus sich ihm “eine prächtige Aussicht” bot: Vor ihm erstreckte sich der Hafen; er blickte “direkt auf eine gegenüberliegende Halbinsel”, mit “großen Beigen Rundholz vor den dortigen Holzschuppen”. In der Ferne “waren auffällig viele Kirchtürme mit spitzen Dächern” zu sehen. “Der Hausfassade entlang segelten Möwen”, Brotkrumen aufschnappend, die ihnen von Bewohnern der unteren Etagen zugeworfen wurden. Als er sich im Zimmer umsah, erkannte er d eutlich ein besonders großes, hohes Bett, das “an allen vier Ecken Türmchen trug”, welche jeweils “aus drei nach oben kleiner werdenden Kugeln bestanden”. Eine “schön gehäkelte Decke” lag darauf.


Gleich nach dem Aufwachen fertigte Hans Fandel eine Strichzeichnung des Zimmers mit Aussicht an:



Seiner Frau nannte er “die Straßennamen, die ich noch so in Erinnerung hatte”, nämlich drei: “Fischergrube”, “Beckergrube” und “Engelsgrube”. (Dies bestätigte mir Fandels Ehefrau im Gespräch vom 16. Oktober 2000.) Vor allem den Namen “Engelsgrube” empfand Fandel “nach dem Aufwachen als ganz lustig”, wie er sich erinnert: “Hatte man die Straße so genannt, weil Seeleute dort von ‘gefallenen Engeln’, nämlich Prostituierten, abgefangen worden sind?”


Woher nahm Fandel die Gewissheit, dass dieser Traum mehr als ein Phantasieprodukt war, sondern Erlebnisse aus einem “früheren Leben” wiedergab? Ihn beeindruckte


- eine “derartige Intensität”, die ihn “gleichzeitig erschreckte und ratlos machte”.


- die Detailschärfe der Traumbilder, insbesondere hinsichtlich der Straßennamen, die er wiedergeben konnte.


- sonderbare körperliche Empfindungen. Im Traum war Fandel, auf der Suche nach dem Seemannsheim, stundenlang auf kopfsteingepflasterten Gassen gelaufen. “Am Morgen danach war ich sehr müde, wie nach einer Bergwanderung, und spürte auch das gleiche Ziehen in den Waden.”


Aber erleben nicht die meisten von uns Träume jeder erdenklichen Intensität und Detailliertheit, ohne uns je genötigt zu sehen, daraus esoterische Schlüsse zu ziehen? Und weil sich ein träumendes Gehirn nicht von der Physiologie des übrigen Körpers abkoppelt, verwundert es nicht weiter, dass nach dem Aufwachen manchmal Empfindungen nachwirken, die zu Trauminhalten passen. (Aus einem Wüstentraum können wir durchaus mit trockener Kehle aufschrecken.) Was veranlasste Hans Fandel, diesen drei Merkmalen ausgerechnet in seinem “Lübeck-Traum” besondere Bedeutung beizumessen?


Erste „Bestätigungen“ machen Fandel sicher


Mehrere Traumdetails schienen sich im nachhinein zu bestätigen.


a) Zwei Jahre später, bei einem Kuraufenthalt auf Ischia 1984, begegnete er beim Baden am Thermalbecken zwei Damen, die gerade über ihre Heimatstadt Hamburg sprachen. “Da kam mir plötzlich eine Idee. Auf die Rückseite eines leeren Gemüsekartons, der von einem Haufen am Rande des Schwimmbeckens stammte, zeichnete ich meine Erinnerungen“ - an die Aussicht vom Traumzimmer aus – „und fragte sie, ob sie sagen könnten, wo der Ort sei. Beide erkannten sofort die Untertrave in Lübeck. Ein Irrtum sei absolut ausgeschlossen.”

Ein paar Tage später wiederholte Fandel den Test bei einem Büronachbarn und dessen Frau, die in Lübeck aufgewachsen waren. Unabhängig voneinander identifizierten beide den Aussichtspunkt spontan als das Seemannsheim an der Untertrave in Lübeck.


b) Im März 1985 reiste Fandel voller Neugier nach Lübeck, wo er die gut erhaltene, immer noch kopfsteingepflasterte Altstadt durchwanderte. Vieles kam ihm vertraut vor, obwohl er nie zuvor dort gewesen war.


c) Zuallererst suchte er an der Untertrave nach dem Seemannsheim, in dem ihn sein Traum hatte übernachten lassen - und fand es tatsächlich. “Im dritten Stock entsprach der Blick aus dem Fenster in etwa meiner Zeichnung.”


d) Bei einem anschließenden Besuch im Lübecker Rathaus fiel ihm ein Bild einer Kogge auf - des berühmten Handelsschiffs der Hanse, eines 1356 förmlich besiegelten Zusammenschlusses mehrerer Hafenstädte an Nord- und Ostsee. Dieses Schiff, so erläuterte ihm ein Reiseführer, sei zwischen 1680 und 1730 zum Transport von holländischem Sandstein für die Lübecker Sakralbauten eingesetzt worden, vor allem ab Amsterdam. “Endlich wusste ich, was es mit den viereckigen ‘Baumstämmen’ auf sich hatte. Das waren also Sandsteinquader.”

Die Schiffe hätten “hin und wieder auch Passagiere mitgenommen”, so erfuhr er.


d) Auf einem alten Stadtplan fand Fandel die Namen vieler Lübecker Straßen und Gassen wieder, die er im Traum durchschritten hatte. (Viele heißen noch heute so wie im Mittelalter.) Eine “Engelsgrube”, “Fischergrube” und “Beckergrube” gab es tätsächlich - allesamt in unmittelbarer Nähe der Untertrave. Wer vom Hafen aus zum Seemannsheim wollte, musste sie passieren.


Verkannte Ungereimtheiten


Etliche Ungereimtheiten hätten Fandel von vornherein davor bewahren können, den Traum für bare Münze zu nehmen, für ein getreues Abbild historischer Ereignisse.


Wenn ein von Amsterdam kommendes Schiff kurz vor seinem Bestimmungsort Hamburg in einen Sturm gerät: Fährt es irrwitzigerweise dann weiter nach Lübeck?


Der Nord-Ostsee-Kanal, der die Elbbucht mit der Kieler Förde verbindet, besteht erst seit 1919. Der Kapitän hätte also um Dänemark herumfahren müssen, um nach Lübeck zu gelangen. Im Traum hingegen verstrichen von der Mitteilung des Kapitäns, man fahre nach Lübeck weiter (“so gegen 22 Uhr”), bis zur nächtlichen Ankunft in Lübeck nur wenige Stunden. Wer jemals leibhaftig eine Schiffspassage Hamburg-Lübeck mitmachte, kann schwerlich annehmen, beide Städte wären einander unmittelbar benachbart. Eher spiegelt eine solche Annahme die mangelhaften Geographiekenntnisse von jemandem wieder, der die beiden Städte nur aus der Ferne kennt - so ähnlich wie bei einem japanischen Touristen, für den Schloss Neuschwanstein gleich hinter dem Eiffelturm liegt, ehe er dort war.


Wenn Fandel tatsächlich Passagier einer Kogge war - nur so kann er sich die mittransportierten Sandsteinquader erklären, die er zunächst mit gehobelten Baumstämmen verwechselt hatte -, so reiste er jedenfalls nicht auf einem Schiff, das “zur Vorderseite hin flach war, ähnlich einem Rhein-Transportschiff”. Zum charakteristischen Aussehen der Kogge gehörten hohe, runde Bordwände und ein kurzer, gedrungener Zuschnitt.


Sandsteintransporte mit Koggen fanden in der Zeit zwischen 1680 und 1730 statt, wie Fandel erfahren haben will, als er durchs Lübecker Rathaus geführt wurde. Sollte er bei einem solchen Transport wirklich dabeigewesen sein, so jedenfalls nicht in einem Leben, das er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Amerika verbrachte.


Nach anderen Quellen verkehrte die Kogge vornehmlich im 13. bis 15. Jahrhundert; in dieser Zeit entwickelte sie sich zum beherrschenden Handelsschiffstyp Nord- und Westeuropas. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts jedoch wurde sie von der geräumigeren Hulk abgelöst, später durch die Karavelle. Dann aber kann Hans Fandel, wenn er in einem früheren Leben Koggenpassagier gewesen wäre, erst recht nicht in derselben Inkarnation 1854 nach Amerika ausgewandert sein. (1)


Als Fandel nachts beim Seemannsheim anlangte, fiel ihm dessen “ungewöhnliche Fassade mit hohem Giebel” auf. Ein solches Erscheinungsbild wäre für die Lübecker Altstadt gewiss nichts Ungewöhnliches; die Außenfassade des Hauses freilich, die Fandel als seine einstige Unterkunft wiedererkannt haben will, sieht heute ganz anders aus.


Die geträumte Ausstattung von Fandels Lübecker Zimmer, besonders seines Betts, mutet für ein Seemannsheim, zumal im 17. oder 18. Jahrhundert, allzu komfortabel an. Hübsch verzierte Bettpfosten, eine “schön gehäkelte” Decke entsprechen eher der schlichten Gemütlichkeit einer Alpenpension.


Die geträumte Aussicht zweifelsfrei der Lübecker Untertrave zuzuordnen, dürfte nicht jedem so leicht fallen wie anscheinend den drei Ortskundigen, denen Fandel testweise seine Zeichnung vorlegte. In Städten an Nord- und Ostsee dürfte es Hunderte von Ausblicken geben, die nicht schlechter “passen”.


Zu einer traditionsreichen Hansestadt gehört ein Seemannsheim ebenso wie eine Hafenspelunke, eine Kaimauer oder ein Lagerhaus. Entsprechend fündig wird man garantiert, auch ohne wegweisenden Wahrtraum.


Aber wie steht es mit den “erinnerten” Straßennamen, den Déjà-vu-Erlebnissen von Hans Fandel beim Gang durch Lübeck?


Lübeck, mit seiner vom Krieg weitgehend verschont gebliebenen Altstadt, zählt unbestritten zu den schönsten Deutschlands; nicht von ungefähr wird es von der UNESCO als “Weltkulturdenkmal” eingestuft. Unzählige Dokumentarfilme und Reportagen in Reiseteilen von Zeitungen, Bildbände und Zeitschriftenartikel, Postkarten und Plakate sind ihm gewidmet worden. Ist auszuschließen, dass Fandel wenigstens eine dieser Quellen zugänglich war - woraufhin er im Traum daraus schöpfte? Liegt also Kryptomnesie vor: die überraschende Wiederkehr vergessener oder verdrängter Erinnerungen aus diesem Leben? (2)


Die gleichen Fragen hätte sich Hans Fandel, einst ein bodenständiger, nüchterner Klardenker, vor 1961 vermutlich selber gestellt. Aber seit seiner “Nahtodeserfahrung”, einem der einschneidendsten Ereignisse seines Lebens, mochte er nichts Wundersames mehr ausschließen - und darin bestärkten ihn spätere Begegnungen mit zahlreichen Personen, die er als glaubhaft empfand. Ein Arbeitskollege im Konstrukteursbüro überraschte ihn mit einer eigenen “Erinnerung” an ein früheres Leben als Soldat, der vor 150 bis 200 Jahren in einem polnischen Kloster gesundgepflegt wurde. Ein katholischer Pastor, den Fandel im Lübecker Seemannsheim traf, verblüffte ihn mit einem persönlichen Bekenntnis zur Wiedergeburt. 1985 nahm Fandel an einem dreitägigen Seminar über Reinkarnation teil, das der Schweizer Esoterikpapst Hans-Dieter Leuenberger abhielt. Dem Zürcher Lebensberater Alexander Gosztonyi, einem in Schweizer Esoterikkreisen hochgeachteten Reinkarnationsverfechter (3), reichte Fandel einen dicken Aktenordner zur Begutachtung ein; von dort erhielt er die lobende Rückmeldung, die Unterlagen seien “sehr interessant”, sowie die Empfehlung, durch eine “Rückführung” die Erinnerungen weiter zu “klären”; Gosztonyi könne sich vorstellen, “dass ein Buch zu einem großen Erfolg führen könnte”. (4) Auch “viele Fachbücher und Sendungen halfen mir weiter”, wie Fandel bekennt - weiter auf dem Weg zum überzeugten Reinkarnationsgläubigen, bei dem sich die Erfahrung der Überzeugung zu fügen hat.


Gedächtnisspuren eines Vorlebens in Amerika


Aber wie kommt Hans Fandel auf sein “deutsch-amerikanisches” Vorleben? Ob der Lübeck-Traum überhaupt etwas damit zu tun hat, blieb offen.


Das erste “Indiz” hielt Fandel im September 1996 schriftlich fest; es betrifft einen weit zurückliegenden Vorfall aus dem Jahre 1951, dem er anscheinend erst jetzt Bedeutung beimaß. Damals besuchte er in der Gewerbeschule einen Englischkurs. Sein Lehrer war nach einem längeren USA-Aufenthalt gerade wieder in den Schuldienst zurückgekehrt. Er verteilte in der Klasse einen mitgebrachten Stapel Zeitungen. Daraus musste jeder Schüler einen kleinen Abschnitt laut vorlesen. Fandels Versuche sollen den Lehrer völlig verblüfft haben: Er habe “stilreinen Nebraska-Dialekt” gesprochen, “vor allem bei den Wortendungen” - ob er Verwandte dort habe oder dort schon längere Zeit verbracht habe?


“Dieser Vorfall”, erklärt Hans Fandel, “hat in mir die Vermutung geweckt, dass ich einmal in Nebraska gewesen sein müsste.” Fortan hoffte er, “Zusammenhänge zu finden in Bezug auf eine beweisbare Existenz meiner Person mit den Stationen Amsterdam, Lübeck, USA”.


Nebenbei bemerkt: Als ich Hans Fandel besuchte, ließ ich ihn zur Probe einen englischen Zeitungstext vorlesen; weder mir noch meiner Begleiterin fiel auf, dass seine Aussprache von der eines anderen Schweizers nennenswert abwich. Außer einer helvetischen Dialektfärbung hörten wir nichts Auffälliges heraus.


Unter dem Eindruck seines Lübecker Traums maß Fandel nun Träumen allgemein allergrößte Bedeutung bei: Jeder von ihnen stand nunmehr im Verdacht, Spuren von Reinkarnationserinnerungen zu enthalten - erst recht dann, wenn in sie Bezüge zu Amerika, vor allem zu Nebraska, hineinzudeuten waren.


Und solche Träume ließen nicht lange auf sich warten.


In einem ersten "amerikanischen Traum" ist Fandel als Beifahrer in einem alten Auto auf einer steilen Bergstraße unterwegs. Schließlich parkt er auf einem gekiesten Platz. Hundert Meter entfernt stehen, in leichter Hanglage, drei alte Blockhäuser. Gleich neben dem Eingang des vorderen Hauses hängt eine rechteckige Gedenktafel aus Bronze, auf der in Englisch zu lesen steht, die drei Häuser seien der Rest einer ehemaligen Auswanderersiedlung. (“Nach dem Aufwachen”, versichert Fandel, “konnte ich meiner Frau den Text Wort für Wort rezitieren. Hingegen war ich mir bei der unten angebrachten Jahreszahl nicht mehr im Klaren; die ersten beiden Ziffern waren 18, die letzten zwei waren mir nicht mehr präsent”.)


Hinter dem Haus, an dem ein Bach vorbeifließt, ist ein großes, unterschlächtiges Wasserrad angebracht. Zunächst wundert sich Fandel im Traum, wie ein solch kleines Rinnsal imstande sein könne, das große Wasserrad anzutreiben. Doch dann erblickte er weiter hinten im Tal eine Bogenstaumauer.



Für Fandel enthielt dieser Traum zwei entscheidende Hinweise. Bei dem Auto, in dem er saß, “musste” es sich um einen Ford gehandelt haben - “gut erkennbar an der schräggestellten Scheibe vorne, die als Regenabweiser gute Dienste geleistet hat”. - Bogenstaumauern sind in Europa erst ab 1920 gebaut worden. Doch offenbar spielte der Traum in den USA, wie die Häuserarchitektur, der Autotyp und die Gedenktafel vermuten ließen. Und dort entstanden bereits ab 1850 zahlreiche Bogenstaumauern - dreizehn allein in Nebraska, wie Fandel. im Eidgenössischen Amt für Wasserbau in Zürich recherchierte. Und nach dem Staunen seines Gewerbeschullehrers über seinen “Nebraska-Dialekt” konnte der Traum nur von einem früheren Leben in diesem US-Bundesstaat handeln.


In einem zweiten Traum befindet sich Fandel in einem großen Lokomotivdepot. Dort stehen mehrere Dampfloks mit markanten Stoßstangen, aufgereiht auf kurzen Gleisstücken. (Auch hiervon fertigte Fandel eine Zeichnung an:



Mehrere Arbeiter, darunter auch Fandel, sind dort mit Wartungs- und Reparaturarbeiten beschäftigt. Dabei prägt er sich vor allem die Konstruktion von Kurbellagern ein: “Vor einer imposanten Maschine waren Holzböcke aufgestellt. Zwei Arbeiter hoben eine Kurbel von den Achsen, trugen sie auf die Holzböcke und legten sie so darauf, daß die Bohrungen nach oben zeigten. Diese wurden unten verschlossen. Dann traten zwei andere Arbeiter hinzu und ließen aus einer kleinen Gußpfanne flüssiges Material in die Bohrungen laufen.”


Nun besteigt Fandel eine stark verschmutzte Lok, um sie zu säubern. Dabei gleitet seine rechte Hand an einem Klumpen Schmierfett ab, das an der blanken Röhre klebt. Er verliert den Halt und stürzt zu Boden. Im selben Moment, als er unten aufschlägt, endet der Traum abrupt.


Hatte Fandel hier die Todesumstände seines früheren Selbst geträumt? Ihn plagten keine Zweifel daran, zumal er nach diesem Traum an rätselhaften, heftigen Kopfschmerzen litt, die mehrere Tage anhielten. Hatte die “Reinkarnationserinnerung” den Schmerz der tödlichen Verletzung von damals zurückgeholt?


Klar war für Fandel darüber hinaus, dass auch dieser Traum in den USA spielte. Dafür sprachen typische Einzelheiten der Lokomotive: das als “Kuhfänger” bekannte Gitter davor, der konische Kamin, die viereckige Lampe vor dem Kamin.


Wann? Im 19. Jahrhundert. Denn im Traum hatte Fandel einen Arbeitsvorgang beobachtet, bei dem es sich anscheinend um die Konstruktion von Kurbellagern handelte. (Erst um die Jahrhundertwende wurden sie von Kugellagern abgelöst. Vorher mussten die Lagerstellen mit Weißmetall - einer Mischung von Zinn, Blei, Kupfer und Zink - ausgegossen werden.)


Wo? Wiederum suchte Fandel von vornherein nur in Nebraska. Dort wurde er fündig: In Omaha hatte die Union Pacific-Eisenbahngesellschaft am 10. Mai 1869 ein Depot eröffnet, das 1910 wieder abgebrochen wurde. In einem Internet-Bildarchiv stieß er auf mehrere Außenaufnahmen eben dieses Depots - und war sich “sicher, dass verschiedenste Baumerkmale mit meiner Rückerinnerung übereinstimmen”.




Aber könnte jenes Depot nicht überall in den Vereinigten Staaten gestanden haben, wo sich das Schienennetz ausbreitete? Abgesehen von der wiederum vorschnellen Einengung der Suche auf Nebraska machte mich ein weiteres Detail stutzig: Wer eine Erfahrung macht - sei es in wacher Wahrnehmung oder im Traum -, muss nicht zwangsläufig die richtigen Worte dafür haben. (Befände ich mich in einem Lokdepot, wäre ich schwerlich imstande, Arbeiten an Kurbellagern und Kugellagern auseinanderzuhalten.) Die Begriffe jedoch, die Fandel in der Schilderung seines Lokdepot-Traums verwandte, zeugten in dieser Hinsicht von beträchtlichem Expertenwissen. Hatte er sich früher schon einmal eingehender mit dem Eisenbahnwesen befasst? (Zumindest in seiner Generation war für mindestens jedes zweite Kind Lokführer noch der Traumberuf.) “Ich habe zwar Freude an Eisenbahnen, bin aber kein Fan”, erklärte mir Fandel daraufhin. “Als Bub hatte ich eine Aufzieh-Eisenbahn.”


Aus seinem dritten “amerikanischen Traum” erwachte Fandel am Morgen des 16. August 1996: Ein Bauer führt ihn in einen verlassenen Schuppen. Dort zeigt er ihm einen alten, von Spinnweben überzogenen Pferdewagen mit Speichenrädern, einer riesigen Ladebrücke und Kutscherbock. “Auf beiden Seiten der Ladefläche waren Deckel eingelassen. Durch Zug an einem Strick ließ sich jeder Deckel hochklappen, so daß er eine Rückenlehne bildete, und einen eingelassenen Sitz hochziehen. Mitfahrer konnten so Platz nehmen, statt in unbequemer Stellung lange Fahrten machen zu müssen; benötigte der Bauer diese Zusatzsitze nicht, so konnte er die gesamte Laderfläche wieder belegen. Der Mechanismus und die Konstruktion faszinierten mich.” Fandel hielt sie in einer Zeichnung fest:



Dass auch dieser Traum in den USA spielte, schien Fandel klar, als er unter einem Stapel alter Säcke, die auf der Ladefläche des Pferdewagens lagen, eine vergraute Ledertasche fand. Darin fand er zehn Goldmünzen, “mit einem Durchmesser von ungefähr 8 bis 10 Zentimetern und etwa 5 Millimeter dick. Auf der Oberseite konnte ich einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln erkennen. An weitere Aufschriften kann ich mich nicht erinnern.”


Bei einem Münzhändler in Winterthur blätterte Fandel daraufhin neugierig in Bildkatalogen amerikanischer Goldmünzen, sogenannter “Eagles”. Alle waren aber deutlich kleiner als geträumt, nämlich mit etwa 6 Zentimetern Durchmesser. Daraufhin äußerte Fandel, er habe aber schon viel größere gesehen - woraufhin der Numismatiker meinte: Was Fandel offensichtlich in den Händen gehabt habe, sei eine Münze, die in den USA noch vor der offiziellen Münzprägung um 1731 hergestellt worden war; sie werde als “Kolonialgold” bezeichnet. “Meine Erinnerung”, schloß Fandel daraus, “hat mich also auch diesmal nicht getäuscht.”


Sein vierter “amerikanischer” Traum führte ihn 1998 in ein Backsteingebäude, in dem lange Arbeitstische aufgestellt waren. Alle paar Meter war eine senkrecht stehende Achse montiert. Darauf konnten die Naben von Wagenrädern gesteckt werden. Ein Vorarbeiter, der Deutsch sprach und aus der Schweiz stammte - genauer gesagt, aus dem Berner Oberland -, erklärte Fandel, was er zu tun hatte. “Ich musste die Enden der Wagenradspeichen in Heißleim tauchen, der in großen Kübeln kochte und einen unangenehmen Geruch verbreitete. Mit kräftigen Hammerschlägen wurden die Speichenenden dann in die Nabe getrieben. Waren alle Speichen montiert, klopfte man gebogene Radsegmente auf die Speichenenden.” Der Traum endet mit einem Gespräch, in dem Fandel den Vorarbeiter fragt, ob es möglich sei, sich über den Sonntag Fahrräder zu mieten, um die Umgebung zu erkunden.


Obwohl in diesem Traum jeder Amerika-Bezug fehlt, wurde er von Hans Fandel entsprechend gedeutet.


Im August 1999 folgte ein fünfter “amerikanischer” Traum: “In stockdunkler Nacht stand ich auf freiem Feld am Rande eines Bahngeleises. Keine Bahnschranke, kein Feldweg führte über die Geleise. Von weit her hörte ich das Herannahen eines Zuges. (...) Es waren rund 25 Wagen, offenbar leer.” Fandel “erkannte” den Lokomotivtyp sofort: Er schien ihm identisch mit jenem, an dem er im Depot gearbeitet hatte und abgestürzt war. “Dieser Traum”, notiert Fandel, “ist nichts anderes als ein Erinnerungsfetzen aus einem Vorleben. Scheinbar hat diese Erinnerung keinen besonderen Zweck. Für mich ist sie aber ein kleiner Mosaikstein in einem Bild, das seinen Zweck vielleicht erst später offenbart.”


Gehörten all diese Träume denn zu ein und demselben Mosaik? Bezogen sie sich auf ein Leben im 19. Jahrhundert in Nebraska? War dieses Leben sein eigenes? All dies waren von Anfang an die fragwürdigen, von den angestellten Nachforschungen nicht annähernd gedeckten Voraussetzungen Fandels auf seiner Identitätssuche. Zum Beispiel: Falls “er” tatsächlich in jenem Lok-Depot von Omaha, das er auf Fotos “wiedererkannt” haben will, tödlich verunglückte, so muss sich der Unfall vor 1910 zugetragen haben; in jenem Jahr nämlich wurde das Depot abgerissen und seither nicht wieder aufgebaut. In einem Ford andererseits, wie er im “Staumauer-Traum” vorkam, kann Fandel frühestens 1908 gefahren sein - erst dann lief die Massenproduktion des berühmten Modells T an. Dann aber kann das Auto nicht “alt” gewesen sein, wie er im “Staumauer-Traum” erlebte, sondern eher nagelneu.


Sicherlich dürfen wir Hans Fandels Träumen nicht schon deshalb jegliche paranormalen Anteile absprechen, weil uns Inkonsistenzen auffallen. Auch bei Träumen, die offenkundig reale Geschehnisse nachvollziehen, kommen regel­mäßig Verzerrungen und Auslassungen, zeitliche Dehnungen und Verdichtungen vor. Eben dieser Umstand sollte Fandel und andere Wiedergeburtsgläubige davor bewahren, vermeintliche Reinkarnationsträume bis ins kleinste Detail als getreue innere Abbilder realer Geschehnisse anzusehen.


Wer war Fandels „früheres Selbst“?


Welche Vorgeschichte hatte Fandels “früheres Selbst”? Im vierten Traum verstand es Deutsch - also musste es wohl aus dem deutschen Sprachraum eingewandert sein. Aber woher?


Die Suche erleichtert hätte es Hans Fandel, wenn zumindest in einem der Träume “sein” früherer Name gefallen wäre. Daran hatte er aber keinerlei Erinnerung. Trotzdem ist er sich sicher, dass er damals genauso hieß wie heute. Wie kommt er darauf?


Dazu verleitete ihn Ahnenforschung, mit der er Ende 1996 begann - und ein Aha-Erlebnis nach dem anderen provozierte. Mit Hilfe der Mormonen-Gesellschaft in Zürich, die an ihrem Hauptsitz in Utah Milliarden Personendaten gespeichert hat, fand Hans Fandel zunächst heraus, dass die Fandels überwiegend aus Thüringen stammten. Als Herkunftsorte wurden immer wieder Orte wie Gneus, Großbockedra, Kahla genannt. Noch im Dezember 1996 erhielt Fandel von der Stadtverwaltung Stadtroda die Mitteilung, im Jahre 1854 seien 42 Personen aus den genannten Dörfern ausgewandert.


Waren etwa auch Fandels darunter? In der Tat. Das Thüringische Staatsarchiv Altenburg bescheinigte am 30.12.1997: Im Februar 1854 waren “Johann Gottlieb Fandel jun., 38 J., mit Frau Dorothee, 32 J., und Christiane, 8 J., Daniel, 6 J., und Adolph, 3 3/4 Jahre, von Großbockedra” ausgewandert.


Aber wohin waren sie ausgewandert? “Nach Amerika”, stand schwarz auf weiß in einer Amtlichen Bekanntmachung des “Herzoglich-Sachsen-Altenburgischen Amts- und Nachrichtenblatts” No. 18 vom 11.2.1854, S. 185, von der das Thüringische Staatsarchiv Fandel eine Kopie zusandte.


Wie kamen die Fandels nach Amerika? Unermüdlich recherchierte Hans Fandel weiter - und machte 1998 mit Hilfe der Universität Oldenburg tatsächlich eine Passagierliste ausfindig, auf der die Namen des Ehepaars Johann Gottlieb und Dorothee Fandel sowie seiner drei Kinder auftauchen. Sie stammt aus dem Jahre 1854, wurde im Hafen von New York aufgestellt und führt alle 456 Passagiere der “Garton” auf - unter ihnen die fünf Fandels.



Allerdings kann es sich bei diesen Fandels nur um Namensvettern gehandelt haben, keinesfalls um genetische Vorfahren. Hans Fandels eigener Stammbaum führt nämlich ins Allgäu, in die Nähe von Kempten: Dort, in einem Dorf namens Wiggensbach, lebten seine Ahnen über vier Generationen, ehe sein Großvater um 1900 in die Schweiz übersiedelte. Also, folgert Hans Fandel zurecht, “können meine Reinkarnationsträume nicht genetisch bedingt sein”.


In jüngster Zeit konzentriert sich Fandel mehr und mehr darauf, nach Spuren zu fahnden, die Johann Gottlieb Fandel nach seiner Ankunft im New Yorker Hafen hinterließ. Dabei hofft er, in Nebraska fündig zu werden - und herauszufinden, ob Johann Gottlieb Fandel zumindest in ein paar Ereignisse jener Art verwickelt gewesen war, um die seine Träume kreisten - vor allem, ob er unter den geträumten Umständen tödlich verunglückte.


Wie Hans Fandel inzwischen recherchierte, leben heute allein in Omaha, Nebraska, 15 Familien und Einzelpersonen, die den Namen “Fandel” tragen. Könnte es nicht sein, daß einer von ihnen von Johann Gottlieb Fandel abstammt - und weiterhelfen kann?


Selbst wenn Hans Fandel derart fündig würde, ist wenig wahrscheinlich, dass auf Johann Gottlieb Fandel passt, was die “amerikanischen” Träume beinhalten. In jenen Träumen lebte und starb ein Bahnarbeiter. Johann Gottlieb Fandel hingegen war in seiner alten Heimat Bauer gewesen, wie die meisten deutschen Emigranten jener Zeit, “und es war nur natürlich, dass sie nach ihrer Ankunft in Amerika ihren alten Beruf wieder aufnahmen”, zumal dort nach der Indianervertreibung Land im Überfluss vorhanden war - auch und gerade in Nebraska mit seinen 200.000 Quadratkilometern fruchtbaren Bodens. (Noch 1846 hatten auf dem erst acht Jahre später festgelegten Territorium Nebraskas nahezu ausschließlich Omahas, Otoes, Poncas, Pawnees und Sioux gelebt.) (5) Welchen Grund sollte es für Johann Gottlieb Fandel gegeben haben, sich bei der Union Pacific als Bahnarbeiter zu verdingen, anstatt gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern eine Farm zu bewirtschaften?


Überhaupt fällt auf, dass die Familie in sämtlichen “amerikanischen” Träumen keinerlei Rolle spielt; in ihnen agiert einer, der Single sein könnte. Daran lassen sich trefflich die kühnsten Spekulationen anknüpfen: Kam die Familie womöglich kurz nach der Einwanderung bei einem Überfall rachsüchtiger Indianer, oder weißer Banditen, um? Wurde dabei vielleicht die Farm abgefackelt, woraufhin Johann Gottlieb Fandel beschloß, woanders ganz neu anzufangen, statt auf den rauchenden Trümmern einen zweiten Anlauf als landwirtschaftender, einsamer Witwer zu wagen? Oder wurde die Existenzgrundlage der Familie durch jene Heuschreckenplage biblischen Ausmaßes vernichtet, die Nebraska 1874 heimsuchte - woraufhin sie ihren Hof aufgab und das Familienoberhaupt bei der Bahn Zuflucht suchte? Wo nichts gewiss ist, darf alles gemutmaßt und geglaubt werden.


Gesetzt der Fall jedoch, es fände sich zu guter letzt ein Johann Gottlieb Fandel, von dem sich bestätigen würde, dass er einst in all jene Vorfälle involviert war, von denen Hans Fandel so lebhaft träumte: Wäre damit “bewiesen”, dass Hans Fandel und Johann Gottlieb Fandel ein und dasselbe Ich in verschiedenen Körpern sind - dass Johann Gottlieb Fandel in Hans Fandel reinkarnierte?


Auch dann würden andere Erklärungen - etwa durch verschiedene Formen außersinnlicher Wahrnehmung - unwiderlegt bleiben. (6)


Doch die Chancen, dass Hans Fandel auf seiner Suche überhaupt so weit kommt, stehen schlecht. Dass es in seinen “amerikanischen” Träumen ausgerechnet um Episoden aus dem Vorleben eines Namensvetters in Nebraska gehen sollte, ist eine ziemlich aus der Luft gegriffene Hypothese, die sich auf ein einziges Faktum stützt: Irgendein Fandel emigrierte, urkundlich zweifelsfrei belegt, Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika, und bis heute finden sich in Nebraska mindestens ein, zwei Dutzend Personen, die “Fandel” heißen. Aber zog es Johann Gottlieb Fandel mit den Seinen überhaupt nach Nebraska? Mitte Juli 2000 machte Hans Fandel eine frustrierende Entdeckung: In Dokumenten einer Volkszählung von 1856 machte er Johann Gottlieb Fandel, zusammen mit einem Kind, ausfindig - leider nicht in Nebraska, sondern in Dakota.


Und ohne die Voraussetzung der Namensgleichheit verschwindet die Stecknadel vollends in einem interkontinentalen Heuhaufen. Im vorigen Jahrhundert, vor allem nach 1840, wanderten Hunderttausende von männlichen, deutschsprachigen Europäern in die Vereinigten Staaten aus: Schätzungen zufolge 800.000 in jedem der darauffolgenden sechs Dekaden. Im Jahre 1900 registrierte die zwölfte US-Volkszählung 2.663.418 gebürtige Deutsche. Schon 1909 lebten zwölf Millionen Deutschstämmige und deren Nachkommen in den Vereinigten Staaten. (7) Auf welchen passen alle oder wenigstens ein paar von Fandels “Reinkarnationsträumen”? Selbst wenn sich irgendein Hans Müller/John Miller oder Wilhelm Schmidt/William Smith ausfindig machen ließe, könnten Übereinstimmungen zwischen dessen Biographie und Fandels Traumdetails rein zufällig zustandegekommen sein - wobei die Zufallswahrscheinlichkeit wächst, je mehr deutschstämmige Amerikaner als potentielle “frühere Ichs” in Frage kommen.


Aber auch wenn Fandels “amerikanische” Träume reine Phantasieprodukte wären, ist durchaus nachvollziehbar, wie er dazu kommt, sie für mehr zu halten. Wie Umfragen wiederholt zeigten, sind Träume, denen Menschen eine paranormale Deutung geben, fast immer außergewöhnlich lebhaft, intensiv und “hartnäckig” - sie haften besonders lange in der Erinnerung, beschäftigen und “verfolgen” den Betreffenden meist noch tagelang. Insofern unterscheiden sie sich von gewöhnlichen Traumbildern - und erscheinen als etwas ganz Besonderes. (8)


Sind sie dies nicht auch, wenn man bedenkt, wie seltsam oft in Fandels Träumen “amerikanische” Motive auftauchten? Aber “Häufigkeit” ist ein relativer Begriff. Bei durchschnittlich drei bis sechs Träumen, die jeder von uns Nacht für Nacht durchlebt, hat Fandel allein in den vergangenen fünf Jahren rund fünf- bis zehntausendmal geträumt, wovon ihm bestimmt mehrere hundert kurz nach dem Aufwachen noch präsent waren. Obgleich darunter möglicherweise nicht weniger Flug- als US-Träume waren, sah sich Fandel jedoch nie veranlasst, eine Vorinkarnation als Pilot in Erwägung zu ziehen. Offenbar selektierte er Traumerinnerungen von vornherein danach, ob sie zur Nebraska-Vermutung passten oder nicht.


Zu bedenken ist außerdem, dass sich unsere Traumwelten durchaus nicht abgeschottet davon entfalten, was wir erleben und denken, wollen und fühlen, bevor und nachdem wir in sie eintauchen. In unseren Träumen verarbeiten wir häufig “Tagesreste”; wen tagsüber Gedanken an ein mögliches früheres Leben in Amerika umtreiben, der erhöht die Chance, daß daraus in den folgenden Nächten Traumstoff wird.


Zudem fühlte sich Fandel “zu Amerika schon als Kind hingezogen”, wie er einräumt. (9) “Ich kann mich noch erinnern, daß ich in der fünften Klasse einmal eine umfangreiche Liste schrieb, was für Werkzeuge ich mitnehmen müßte, um mir eine erste Unterkunft zu bauen. Diesen Gedanken habe ich aber recht schnell wieder verworfen, denn ich sah ein, dass das Gewicht viel zu groß wäre, und dass ich sowieso nichts mitnehmen müsste, weil alles Werkzeug in den USA vorhanden wäre.” Hat Fandels Affinität zu Amerika, die ebensogut von Büchern und Filmen herrühren könnte, Reinkarnationsphantasien miterzeugt? Oder klingt in dieser Affinität wahrhaftig ein früheres Leben nach, wie Esoteriker mutmaßen würden? Im Zweifelsfall, lehrte schon der Philosoph Occam, sollten wir der ontologisch sparsameren Hypothese stets den Vorzug geben.


Wie moderne Gedächtnisforschung ferner zeigt, ist Erinnern keineswegs ein getreu abbildender Vorgang, sondern in höchstem Maße rekonstruktiv. Was wir erlebt haben, ordnen, benennen und deuten wir fortwährend neu, wann immer wir uns darauf besinnen. Für Geträumtes gilt dies noch mehr als für Wahrgenommenes. Denn typischerweise sind Trauminhalte bruchstückhaft, zusammenhanglos - sie müssen aufeinander bezogen und aneinandergereiht werden, ehe daraus eine Geschichte entsteht, die Sinn macht. Hans Fandel wäre der erste, der dagegen gefeit bliebe.


Die Gefahr, dass Erlebtes rekonstruktiv verzerrt wird, wächst mit der Zeit, die zwischen Erlebnis und Erinnerung verstreicht. Und zwischen Fandels “amerikanischen” Träumen und ihrer Niederschrift liegen teilweise immerhin mehrere Jahre.


Am ehesten erinnern wir uns an Träume, die unmittelbar vor dem Aufwachen auftraten. “Aufwachen” wird dabei oft als abrupt einsetzendes Ereignis missverstanden. Zumindest wenn wir nicht durch äußere Umstände plötzlich aus dem Schlaf gerissen werden, durchlaufen wir dabei einen allmählichen Prozess mit fließenden Übergängen zwischen mehreren Dämmerzuständen, ehe wir ganz wach sind. In dieser Übergangsphase, unmittelbar bevor das volle Tagesbewusstsein zurückkehrt, treten manchmal Halbschlafhalluzinationen auf, die von Schlafforschern als “hypnopompe Bilder” bezeichnet werden. Da sie in größerer Nähe zum Tagesbewusstsein auftreten, werden ihre Inhalte vermutlich noch stärker als Nachtträume von diesem mitkreiert und geprägt. Ein Geist, der tagsüber obsessiv um Wiedergeburt, Amerika und Eisenbahn kreist, will Hypnopompes mitgestalten, das dazu passt.


Am Ende kondensiert eine riesige Wolke Esoterik zu einem Tröpfchen Psychologie.

Anmerkungen

* ein Pseudonym

** entsprechend angepasstes Pseudonym

(1) Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 14, Mannheim 1975, korrigierter Nachdruck 1980, S. 25.

(2) Näheres zum Phänomen der Kryptomnesie in Harald Wiesendanger: Zurück in frühere Leben - Möglichkeiten und Grenzen der Reinkarnationstherapie (München 1991, erw. Neuaufl. 2003).

(3) Alexander Gosztonyi: Die Welt der Reinkarnationslehre, Aitrang 1999.

(4) Zit. aus einem Brief von Hans Fandel, 26.9.2000.

(5) John P. Sutton, “Nebraska”, in: Catholic Encyclopedia, Vol. X, 1911.

(6) Siehe Harald Wiesendanger: Zurück in frühere Leben, Kap. 6, “Wiedergeburt - was sonst?”

(7) Francis M. Schirp, “Germans in the United States”, The Catholic Encyclopedia, Vol. VI, 1909.

(8) Siehe Robert L. Van de Castle, “Sleep and Dreams”, in: Handbook of Parapsychology, hrsg. v. Benjamin B. Wolman, Jefferson, N.C. 1977, S. 473-499, dort ib. S. 481.

(9) Zit. aus einem Brief von Hans Fandel, 26.9.2000.

Titelbild: Gerd Altmann/Pixabay

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