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Deprimiert? Beweg dich.

  • Autorenbild: Dr. Harald Wiesendanger
    Dr. Harald Wiesendanger
  • 21. Feb.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. März




Bedarf es teurer, nebenwirkungsreicher Pillen und langwieriger Psychotherapien, um der Volkskrankheit Depression beizukommen? Neuere Studien belegen: Körperliche Bewegung ist zumeist das bessere Antidepressivum – wirksam, gut verträglich, sicher, unschlagbar billig.




Mehr als 300.000 Jahre lang galt: Wenn Homo sapiens nicht gerade schläft oder isst, ist er nahezu ständig in Bewegung. Er läuft und geht, er jagt, er kämpft, er klettert, er bückt sich, er gräbt und trägt, er wirft, er hackt und pflügt, er baut und formt mit bloßen Händen.


Erst seit dem 20. Jahrhundert verbringt der Mensch den wachen Teil seiner Lebenszeit überwiegend im Sitzen – und benutzt eher Verkehrsmittel als die eigenen Füße, um sich fortzubewegen.


Und erst seit dem 20. Jahrhundert sind Depressionen zu einer massenhaften psychischen Störung geworden. Weltweit, so schätzt die WHO, sind inzwischen 5 % aller Erwachsenen davon betroffen - davon 9,5 Millionen allein in Deutschland.

Ist dieser zeitliche Zusammenhang reiner Zufall?

Keineswegs, wie spätestens seit der Jahrtausendwende selbst jenen Zeitgenossen klargeworden sein müsste, die nichts glauben, was es nicht in einer peer-geprüften Fachzeitschrift nachzulesen gibt.  Im Jahr 2000 berichteten US-Mediziner im Journal Psychosomatic Medicine über eine viermonatige Studie mit 156 depressiven Patienten. Per Zufall drei Gruppen zugeteilt, erhielten die einen Sertralin, ein SSRI. (1) Andere folgten Anleitungen zu körperlicher Bewegung. Das restliche Drittel kombinierte beides. Nach 17 Wochen waren die Pillen- und die Bewegungsgruppe in ähnlicher psychischer Verfassung. Doch sechs Monate später waren nur noch 30 % der Patienten in der Bewegungsgruppe depressiv – gegenüber 52 % in der Sertralingruppe. (2)

Im Jahr 2012 ergab eine Auswertung von neun hochwertigen Studien: Bei depressiven Senioren wirkt körperliche Bewegung nicht schlechter als SSRIs und Psychotherapien. (3) Diesen Befund bestätigte im darauffolgenden Jahr ein Cochrane-Review für Betroffene aller Altersgruppen. (4)

Das beste Antidepressivum: keine Pille, sondern Bewegung

Damit nicht genug. Im Jahr 2024 ergab die bislang größte Studie zum Thema: Körperliche Aktivitäten sind Antidepressiva nicht bloß gleichwertig – sondern überlegen, und zwar deutlich. Sie können doppelt so wirksam sein. Dies belegt eine Auswertung von 218 Studien mit insgesamt 14.170 Teilnehmern. Am ausgeprägtesten war der Effekt bei Gehen, Joggen, Yoga und Krafttraining in Gruppen statt einzeln – am besten zwei- bis dreimal pro Woche. Aber auch Schwimmen und Radfahren helfen.


Warum ist das so? Körperliche Bewegung hilft gegen Depressionen auf mehreren Ebenen (5):

Sie wirkt neurochemisch: Im Gehirn werden Endorphine, Serotonin, Dopamin und Noradrenalin freigesetzt - natürliche Stimmungsaufheller, die depressive Symptome lindern können: Sie sorgen für gute Laune und Wohlbefinden.

Sie aktiviert: Wer sich regelmäßig bewegt, ist weniger müde und antriebslos. Körperlich aktiv zu sein, macht depressive Menschen vitaler, wacher und aktiver. Dadurch fällt es ihnen leichter, alltägliche Aufgaben zu bewältigen.

Sie verbessert die Neuroplastizität: Sport fördert das Wachstum neuer Nervenzellen im Hippocampus, einer Hirnregion, die bei Depressionen oft verkleinert ist. Dies geht mit einer Minderung klinischer Symptome einher.

Sie macht innerlich stärker: Insbesondere Krafttraining führt zu schnellen Erfolgen, die das Selbstkonzept positiv beeinflussen und das Selbstwertgefühl steigern.

Sie verbindet: Sportliche Aktivitäten bieten Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen - ein wichtiger Aspekt bei der Bewältigung von Depressionen.

Sie verbessert den Schlaf – auch dies wirkt sich positiv auf die Stimmung aus.

Sie lenkt ab von negativen Gedanken, durchbricht Grübeltendenzen.

Sie baut Stress ab: Bewegung senkt den Cortisolspiegel, wodurch sie die körperliche Stressreaktion verringert.

Dies gilt keineswegs nur für leichte Depressionen; auch bei mittelschweren erweist sich Sport, etlichen Studien zufolge, als mindestens ebenso wirksam wie eine Psychotherapie oder Antidepressiva. Und in schweren Fällen? Selbst dann hilft es erheblich, körperlich aktiv zu sein – meistens.

Kein Allheilmittel – aber wirksam genug, um Big Pharma nervös zu machen

Dass Bewegung kein Allheilmittel darstellt, führen die depressiven Krisen prominenter Sportlern vor Augen: von Japans Tennisstar Naomi Osaka, Schwimm-As Michel Phelps – dem erfolgreichsten Olympionike aller Zeiten – und dem Formel-1-König Lewis Hamilton über die Topfußballer Andres Iniesta und Gianluigi Buffon bis hin zu dem gefeierten US-Basketballer Dennis Rodman. Manche sahen im Freitod den einzigen Ausweg, wie Fußballtorwart Robert Enke 2009. Der enorme Druck, unter dem Spitzensportler in der Hochleistungsgesellschaft stehen, ständig im medialen Rampenlicht, wog bei ihnen offenkundig schwerer als der neurochemische Profit intensiven körperlichen Aktivseins.

Solche Ausnahmen ändern freilich nichts daran: Das beste Antidepressivum ist zumeist keine Pille, sondern Bewegung. Für die Pharmaindustrie und ihre Aktionäre sind das höchst deprimierende Nachrichten – sie können nur hoffen, dass sich der geschäftsschädigende Forschungsstand nicht unter allzu vielen Ärzten und Patienten herumspricht, ehe ihn gekaufte Gegenstudien entkräften. Der weltweite Jahresumsatz von Antidepressiva liegt aktuell bei 18 Milliarden US-Dollar, bis Ende dieses Jahrzehnts soll er auf mehr als 37 Milliarden US-Dollar anwachsen. (6) Wo kämen wir hin, wenn Depressive plötzlich massenhaft damit begännen, kostenlos und nebenwirkungsfrei ihren Hintern hochzukriegen, statt sich weiterhin von synthetischen Drogen abhängig machen zu lassen – und deshalb womöglich vorzeitig sterben? (7)

 

Anmerkungen

(1)   Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI, sind eine Klasse von Antidepressiva. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Serotonin-Transportproteine im Zentralen Nervensystem blockieren; dadurch erhöht sich die Konzentration von Serotonin in der Gewebsflüssigkeit des Gehirns.

(2)   M. Babyak u.a.: „Exercise treatment for major depression: maintenance of therapeutic benefit at 10 months“, Psychosomatic Medicine 62/2000, S. 633-638, https://doi.org/10.1097/00006842-200009000-00006 , https://journals.lww.com/bsam/abstract/2000/09000/exercise_treatment_for_major_depression_.6.aspx

(3)   C. Bridle u.a.: „Effect of exercise on depression severity in older people: systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials“, British Journal of Psychiatry 201/2012, S. 180-185, https://doi.org/10.1192/bjp.bp.111.095174 , https://www.cambridge.org/core/journals/the-british-journal-of-psychiatry/article/effect-of-exercise-on-depression-severity-in-older-people-systematic-review-and-metaanalysis-of-randomised-controlled-trials/C74183D9390FFC542E611A3698B8E39B

(4)   G. M. Cooney u.a.: „Exercise for depression“, Cochrane Database Systematic Review 9/2013, CD004366, doi:10.1002/14651858.CD004366.pub6, https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD004366.pub6/full

(7)   12,6 Millionen Todesfälle in der westlichen Welt seit der Jahrtausendwende gehen auf  psychiatrische Drogen zurück; unter den über 65-Jährigen sind es 500.000 pro Jahr. https://www.bmj.com/content/350/bmj.h2435, https://www.techtimes.com/articles/52727/20150513/expert-warns-antidepressants-and-other-psychiatric-drugs-doing-more-harm-long-term.htm

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