Schwere Krankheiten oder Behinderungen werfen Sinnfragen auf - bei den Betroffenen ebenso wie bei ihren Angehörigen. Ärzte schweigen darüber. Hat meine Stiftung AUSWEGE Antworten? Wie helfen wir Patienten, die am Wozu ihres Leidens verzweifeln?
„Um Himmels willen, geben Sie mir einen Therapieplatz!“, fleht die Anruferin, nachdem ich ihr klargemacht habe, dass unser nächstes „Auswege“-Camp restlos ausgebucht ist. Warum so dringend? Die junge Frau, Ende Zwanzig, hat Brustkrebs – im Endstadium. Überall wuchern Metastasen. Hoffnungslos, befanden ihre Ärzte. „Was soll bloß aus meinen Kindern werden, wenn ich nicht mehr da bin?“, schluchzt sie. „Meine Tochter ist Fünf, mein Junge noch nicht mal Zwei. Und ich bin alleinerziehend.“
Betroffen sage ich ihr zu.
Aber sie kommt nicht. Acht Tage vor Campbeginn stirbt sie.
Hätte sie teilgenommen, dann bestimmt aus mehr als einem Grund. Natürlich hoffte sie bis zuletzt auf einen therapeutischen Ausweg – dass sich das bösartige Zellwachstum mit unserer Hilfe irgendwie zum Stillstand bringen, zumindest verlangsamen lässt, damit sie Zeit gewinnt. Aber ebenso dringlich dürfte sie auf Antworten aus gewesen sein: Wozu diese schreckliche Erkrankung, in so jungen Jahren, unter solchen Umständen, mit derartigen Folgen? „Angst vor dem Tod habe ich nicht“, sagte sie – „aber entsetzliche Angst um meine beiden Kleinen. Was soll bloß aus ihnen werden, ohne mich?“
Mit ähnlich tragischen Schicksalen werden wir im Beratungsalltag der Stiftungsarbeit unentwegt konfrontiert; keines lässt uns kalt, fassungslos fühlen wir mit. Je gravierender, je lebensbedrohlicher die Erkrankung, desto häufiger geht es Hilfesuchenden um mehr als Symptomlinderung. Sie sind zutiefst erschüttert, sie geraten in eine existentielle Krise. Denn schwere Krankheit durchkreuzt Lebenspläne, wirft aus der Bahn, rückt Ziele in unerreichbare Ferne, beeinträchtigt Beziehungen, macht arbeitsunfähig, erzwingt den Abschied von eingefleischten Gewohnheiten, stellt bisherige Perspektiven radikal in Frage. Sie kann einsam machen, mit ständigen Schmerzen verbunden sein, mit quälenden Ängsten, mit tiefer Verzweiflung. Sie zerstört nicht nur Lebensqualität, sondern auch Lebenssinn.
Lebenssinn? Ende 2013 gaben in einer Umfrage nur 37 Prozent der Bundesbürger an, sich schon „oft“ danach gefragt zu haben. (Vier Jahre zuvor waren es noch acht Prozent mehr gewesen.) Besonders wenig kümmert sie Jugendliche und junge Erwachsene: 74 Prozent haben sich nach eigenen Angaben noch nie damit beschäftigt. Mit zunehmendem Alter steigt das Gewicht der Sinnsuche: Von den über 70jährigen hat sich fast jeder Zweite schon häufig damit befasst. (1) Bei chronischer Krankheit allerdings wächst dieser Anteil sprunghaft – erst recht, wenn sie das eigene Leben einschneidend verändert und bedroht.
Wie uns die „Wozu“-Frage herausfordert
Von derart Betroffenen melden sich die wenigsten zu einem „Auswege“-Camp an; manche sind nicht mehr reisefähig, andere scheuen die Großgruppe. Häufiger lassen sie sich von uns einen Therapeuten in der Nähe ihres Wohnorts empfehlen. Oder sie bitten uns, in unserem Newsletter einen Hilferuf zu veröffentlichen, in der Hoffnung, unter den Lesern fände sich irgendein Heilkundiger, der noch weiterweiß. So war es bei Davido* (Pseudonym), einem 61jährigen Psychotherapeuten, der noch so vielen Patienten helfen will – von einer Parkinson-Erkrankung jedoch zunehmend daran gehindert wird. „Es fällt mir immer schwerer, mich klar und deutlich auszudrücken, oft fehlen mir die Worte, ich spreche leiser und undeutlicher“, schrieb er uns im Sommer 2014. „Stressige Situationen machen mir Angst und verstärken das Zittern. Ich merke, dass ich geistige Präsenz und Empathiefähigkeit verliere.“ Die Wozu-Frage beschäftigt ihn ebenso wie eine verzweifelte Ehefrau, die sich im Herbst desselben Jahres an uns wandte: „Gibt es noch einen Ausweg für meinen Mann“ – trotz eines besonders bösartigen, rasch wachsenden Hirntumors, einem Glioblastom, das sich im MRT in mehreren Bereichen seiner linken Hirnhälfte zeigte und bereits in die Hirnhäute aussäte? „Er ist doch erst 55.“ Eine erste Geschwulst war in seinem Kopf bereits 1995 entdeckt und operiert worden, eine zweite 2002. Warum musste er das durchmachen? Weshalb verlor seine Familie am Ende – im November 2014 - einen hingebungsvollen Vater und Ehemann?
Hätten diese beiden den Weg in unsere Camps gefunden und uns mit Sinnfragen konfrontiert: Wie wären wir damit umgegangen? Wie tun wir es bei jenen, die zu uns kommen? Was sagen wir ihren Angehörigen? Wie erklären wir jemandem, warum sein Kind, sein Lebensgefährte aufs Schwerste erkrankt oder behindert ist?
Unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hat sich mir, unter so vielen anderen bestürzenden Fällen, beispielsweise die dreijährige Laura aus unserem allerersten Camp im Sommer 2007 nahe der Nordsee: Warum muss das Frühchen, in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen, mit einer spastischen Tetraparese leben, mit Lähmungen in allen vier Gliedmaßen, die ruckartig zucken, weil die Muskelspannung krankhaft erhöht ist?
Mir fällt die achtjährige Lisa ein, die zwischen heftigen Hustenanfällen quicklebendig und ausgelassen im Juli 2012 um unser Camphaus im Schwarzwald tollte – nichtsahnend, dass die Mukoviszidose, die sie vor unseren Augen immer wieder zähen Schleim abhusten ließ, sie bald umbringen könnte.
Mich berühren die Schicksale Dutzender von Kindern, die kerngesunde, putzmuntere Babies waren und sich in den ersten Lebenswochen prächtig entwickelten – bis sie mit einer Mehrfachimpfung zu geistig schwerstbehinderten Epileptikern gespritzt wurden.
Ich erinnere mich an die fünfjährige Mira, die im Sommer 2008 erstmals an einem „Auswege“-Camp teilnahm, damals als schwere Epileptikerin mit bis zu 20 Anfällen pro Tag: Eben noch hatte sie mit mir im Garten des Camphauses vergnügt Ball gespielt – wenige Minuten später, neben mir beim Mittagessen, zuckte sie plötzlich, sackte in sich zusammen, war eine Dreiviertelstunde lang apathisch und nicht mehr ansprechbar.
Ich denke an Oliver, den seine Mama im Sommer 2011 zum dritten Mal zu uns brachte: Von Geburt an litt der aufgeweckte Junge, inzwischen Zehn, an einer Tetraspastik, die alle Gliedmaßen betraf, seine Muskeln ständig unwillkürlich kontrahieren ließ und koordinierte Bewegungsabläufe unmöglich machte. Seinen defekten Körper akzeptierte er mit einer unfassbar heiteren Selbstverständlichkeit. Stolz führte er mir vor, welche Fortschritte er nach Behandlungen gemacht hatte: dass er einen Fußball treffsicher ins Tor schießen, zum ersten Mal mit der spastisch beeinträchtigten Zunge ein Eis schlotzen, mit zittrigen Fingern ein Dutzend Teile eines Schweizer Taschenmessers herausziehen und wieder zurückklappen konnte.
Die kleine Paula fällt mir ein, ebenso alt wie Mira und der leuchtende Sonnenschein unseres 13. Camps im November 2013, den jeder im Team „unser blondes Engelchen“ nannte. Von Geburt an war das Mädchen von einer Cerebralparese betroffen (von lat. cerebrum: „Gehirn“, griech. parese: „Lähmung“): Bewegungsstörungen, die von einer frühkindlichen Hirnschädigung herrühren. (In Paulas Fall lag eine „periventrikuläre Leukomalazie/PVL“ vor: eine durch erheblichen Sauerstoffmangel verursachte Schädigung der weißen Hirnsubstanz.) Mit der dadurch hervorgerufenen Behinderung gehen Störungen des Nervensystems und der Muskulatur im Bereich der willkürlichen Motorik einher. Bei Paula lag eine beinbetonte Spastik vor. Geistig hellwach, waren ihr diese massiven körperlichen Einschränkung vollauf bewusst. Trotzdem lächelte sie umwerfend offen, zutraulich, glücklich mit jedem von uns um die Wette, plapperte, trieb Schabernack. Wie tapfer, geradezu selbstverständlich sie mit ihrem schweren Handicap umging, war Vorbild für so manche erwachsenen Teilnehmer, die über unentwegtes Hadern mit schwerem, unverdientem Los ihre Lebensfreude verloren haben.
Mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit, ihrer Lebendigkeit, ihrer Herzlichkeit wurde die Kleine gewissermaßen Teil unseres Therapeutenteams. Nie vergessen werde ich jenen „Morgenkreis“, in dem sie strahlend auf mich zutorkelte – bis einen Meter entfernt von mir plötzlich ihre wackligen Beinchen nachgaben; sie fiel vornüber, schlug mit dem Gesicht auf den harten Boden, eine Lippe platzte auf, mit blutüberströmtem Gesicht lag sie schreiend vor mir.
Ebenso unvergesslich bleibt mir eine Szene aus einem Gesprächskreis ein halbes Jahr später, im Mai 2014: Der Sitzreihe der Anwesenden entlang tastete sich der siebenjährige Peter – auf beiden Augen blind, aufgrund einer ausgeprägten Opticushypoplasie („DeMorsier-Syndrom“), einer Fehlentwicklung des Sehnervs - langsam zu mir vor, kletterte auf meinen Schoß, schlang seine Arme um mich, schmiegte sich an mich und verharrte minutenlang still in dieser Position. Jedes dieser Kinder, darüber war ich mir immer im klaren, hätte meines sein können. Und jedes hätte mich als Vater womöglich an der Frage verzweifeln lassen: Wozu müssen sie derart leiden?
Ähnlich war mir angesichts vieler erwachsener Teilnehmer zumute. Ich denke an Kristin, die im Oktober 2014 zum zweiten Mal zu uns kam, begleitet von ihren Eltern; erst Dreißig geworden, hat eine rasch fortschreitende Multiple Sklerose sie längst an den Rollstuhl gefesselt – in einem Alter, in dem andere junge Frauen gerade im Berufsleben Fuß gefasst haben, ihren ersten eigenen Haushalt führen, dem Mann fürs Leben begegnen, die Kinderplanung angehen, eine Familie gründen. Wie können wir nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter aufrichten, die an schweren Depressionen, Angstzuständen und Schlafstörungen, ständiger Müdigkeit und Antriebslosigkeit leidet, weil sie dem körperlichen Verfall ihres geliebten Kinds hilflos zusehen muss? Ich erinnere mich an Joachim*, einen knapp 50jährigen Versicherungskaufmann, dem 2011 eine Motoneuronenerkrankung diagnostiziert worden war: ein unerbittlich fortschreitender Abbau von Nervenzellen, der zu immer stärkeren Muskellähmungen führt – Anfang 2012 erlag er ihr, als sie auf sein Herz übergriff. Was können wir seiner Witwe Hilfreiches mitgeben, die bereits in sieben „Auswege“-Camps Trost suchte, seit Joachim in ihren Armen starb, und bei uns zwar zeitweilige Ablenkung, bisher aber keine Erlösung aus ihrem tiefen Tal der Tränen fand?
Von beteiligten Ärzten hörte keiner von ihnen Hilfreiches – aus Prinzip, jedenfalls seit anderthalb Jahrhunderten. Von den vorchristlichen Priesterärzten bis zur mittelalterlichen Klostermedizin: Jahrtausendelang waren Heilkunde und Seelsorge eins gewesen. Doch als sich die westliche Medizin ab dem 19. Jahrhundert naturwissenschaftlichen Leitbildern unterwarf, zerbrach diese Verbindung, und Humanismus wurde obsolet: Ihr „aufgeklärtes“ Menschenbild, in dem nur objektiv Messbares Platz finden sollte, zeichnete Patienten als biochemisch-physikalische Mechanismen; deren Psyche wurde auf Hirnvorgänge reduziert oder in die Zuständigkeit von Psychologen und Seelsorgern ausgelagert. In ihren Sprechstunden empfangen neuzeitliche Ärzte seither vorzugsweise zweibeinige Biomaschinen, die sich damit zufriedengeben, defekte Körperfunktionen reparieren zu lassen, statt impertinenterweise seelische Regungen oder gar spirituelle Bedürfnisse zu bekunden. Sinnfragen erhielten das Prädikat „unwissenschaftlich“.
Ist die Sinnfrage sinnlos?
Schlimmer noch: Sie gerieten in den Ruf, sinnlos zu sein. Und sind sie das etwa nicht? Wozu etwas geschieht, lässt sich nur innerhalb von Kontexten beantworten, in denen Akteure zweckorientiert Absichten verfolgen. Wozu ich meinen Turm auf das Feld a8 stelle, ergibt sich aus den Regeln des Schachs. Wozu ich einen Ball ins Tor kicke, erklärt sich daraus, dass ich Fußball spiele. Wo Sinn ist, muss Geist am Werk sein. Weht eine Sturmböe den Ball ins Tor, grübeln wir nicht darüber, wozu sie das macht – oder jemand durch sie. Wieso nicht? Weil wir es absurd fänden, Wetterphänomenen Intentionen zu unterstellen. Der Eindruck des Absurden entsteht, sobald Kausalzusammenhänge geklärt sind: Wer Ursachen kennt, hört auf, nach Gründen zu fragen. Ihn beschäftigt nicht mehr, wozu es schneit, wozu Wasser abwärts fließt, wozu der Mond um die Erde kreist, wozu sich Eisenfeilspäne zu einem Magneten hinbewegen; denn er weiß, warum. Liegt nicht eben darin das Verdienst neuzeitlicher Wissenschaft: Warum-Fragen zu beantworten, wobei Glaube durch Wissen ersetzt wird – und dadurch Wozu-Fragen zu erübrigen?
Je stärker eine solche Betrachtungsweise den Zeitgeist prägt, desto schwerer fällt es, sich überhaupt noch öffentlich zur persönlichen Sinnsuche zu bekennen – als ob man sich dabei mit einer Peinlichkeit wie Fußpilz, Hämorrhoiden oder Tripper outen würde, derer man sich schämen muss. Wenn Demoskopen Menschen auf ihren Lebenssinn ansprechen, stellen sie zunehmend fest, dass viele nur ironisch-distanziert und witzelnd darauf eingehen. Einzeln interviewt, reagieren sie hingegen überaus emotional und verheddern sich in gewundenen Erklärungen. Neuerdings fällt es anscheinend leichter, über intimste Details des eigenen Sexuallebens zu sprechen als über den Sinn des eigenen Lebens.
Dazu konnte es kommen, weil Sinnsuche mittlerweile überholt, primitiv und infantil anmutet. Jahrtausendelang waren die Weltbilder der Menschheit teleologisch geprägt: Immer und überall schienen Zwecke am Werk. Wozu gibt es Sterne? Gott hat sie am Himmelszelt befestigt, um die Nacht zu erleuchten. Wozu blitzt es? Zeus schleudert Donnerkeile, um zu warnen und, falls sie einschlagen, olympische Strafurteile zu vollstrecken. Wozu treten Flutwellen auf? Der erzürnte Meeresgott rächt sich. Wieso bebt die Erde? Mutter Gaia ist wütend, der Monsterwels Namazu bewegt sich. Sobald wissenschaftliche Erklärungen vorliegen, scheint Religion auf dem Rückzug. Bis heute halten sich unter Ethnien in entlegenen Gegenden Afrikas, Asiens und Südamerikas Glaubenssysteme, in denen Sinnzusammenhänge allgegenwärtig sind – doch darin vermuten wir eher Bildungslücken als höhere Einsichten. Jeder von uns hat im Laufe seiner geistigen Reifung eine teleologische Phase durchlaufen; „Artifizialismus“ nannte sie der französische Entwicklungspsychologe Jean Piaget. Bei Kleinkindern bis zum sechsten, siebten Lebensjahr beobachtete er, dass sie sich die Welt als Kreation vorstellen: Alles und jegliches ist künstlich geschaffen worden, sei es von Menschenhand – wobei die eigenen Eltern als (all)mächtige Mitgestalter empfunden werden – oder von Gott. Diesen Entwicklungsabschnitt lassen sie allerdings hinter sich, sobald sie zur Schule gehen.
Doch werden solche Argumente den Anliegen sinnsuchender Patienten wirklich gerecht? Was sie wollen und brauchen, ist im allgemeinen kein philosophisch-religiös letztbegründeter „höherer“ Sinn; ihnen geht es um Halt und Orientierung, um übergeordnete Ziele in ihrer ganz individuellen, einmaligen Situation – um einen „partikularen“ Sinn, wie ihn der Vater der Logotherapie, Viktor Frankl nannte. Was ihnen weiterhelfen könnte, sind tröstende, aufmunternde Worte, die ihnen klarmachen, dass ihr Leiden neben Belastungen auch Chancen birgt, und Anregungen, die ihnen helfen, sich persönliche Ziele zu setzen, an denen sie ihr Leben neu ausrichten können. Ein solcher Ansatz gibt keinen Sinn vor; er setzt an bei dem, was die Betroffenen selber für wichtig und erstrebenswert erachten – sei es eine glückliche Partnerschaft, Reichtum, ein schönes Zuhause, Erfolg im Beruf, Selbstentfaltung, Kinder haben, oder bestimmten Interessen und Hobbies nachgehen -, um ihnen aufzuzeigen, wie sie trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ihr Leben auf diese persönlichen Prioritäten ausrichten können, und dafür Mut zu machen. Ob diese Prioritäten es „letztlich“ wert sind, verfolgt zu werden, bleibt unbewertet – Logotherapeuten sind keine Fundamentalethiker.
Wir Normaldenker sind es gewöhnlich erst recht nicht, und den meisten von uns will nicht einleuchten, worum es jenen überhaupt geht. Tag für Tag tun wir nicht nur eine Menge – im allgemeinen wissen wir auch stets, wozu. Wir kaufen ein, weil der Kühlschrank leer ist. Wir machen Urlaub, um uns zu erholen. Wir gehen zum Friseur, um uns einen neuen Haarschnitt verpassen zu lassen. Wir fasten, um abzunehmen. Wir arbeiten, um ein Einkommen zu erzielen, mit dem wir uns und unsere Nächsten ernähren können. Wir treiben Sport, um fit zu bleiben. Wir gehen zu Bett, weil wir müde sind. Wir treffen Freunde oder hören Musik, weil wir Lust dazu haben. Wir lesen ein Buch, weil uns sein Thema oder der Autor interessiert. Wir gehen eine Beziehung ein, um glücklich zu sein. Wir zeugen Kinder, um in ihnen weiterzuleben. Wo ist also das Problem?
Es besteht darin, dass wir innerhalb unseres individuellen Lebens zwar reichlich Begründungen und Rechtfertigungen für unser Handeln finden – aber keine davon erschließt uns dessen Sinn als Ganzes. Für gewöhnlich bewegen wir uns klaglos in unserem persönlichen Käfig, in den uns die besonderen Koordinaten von Raum und Zeit, der Spezies, des Kulturkreises, des Landes, der Organisationen, Gruppen und Beziehungen sperren, die unser Dasein kennzeichnen. Weder scheren wir uns darum, dass wir da drinnen sind, noch beklagen wir es, noch sinnen wir darüber nach, wie wir ihm entfliehen könnten, noch malen wir uns aus, wie es draußen wohl sein mag, noch sehnen wir uns dorthin – normalerweise.
Unter welchen Umständen beginnen wir überhaupt, gewöhnlichen, „partikularen“ Sinn zu hinterfragen? Danach drängt uns, wenn er seine Selbstverständlichkeit verliert. Das geschieht,
- wenn uns sein Inhalt abhanden kommt – etwa wenn wir unsere Arbeit verlieren, unser Kind stirbt, eine Ehe zerbricht, unser bester Freund uns tief enttäuscht;
- wenn er aufhört, uns zu erfüllen – etwa wenn die bisherige Arbeit uns nicht länger befriedigt, eine Liebe in Routinen erstickt;
- wenn uns eine veränderte Situation daran hindert, ihn weiterzuverfolgen – etwa bei schwerer Krankheit oder Behinderung;
- wenn uns der Eindruck beschleicht, keine Kontrolle über unser Leben zu haben, und Opfer eines schicksalhaften, unberechenbaren und zufälligen Weltenlaufs zu sein – dann sehnen wir uns nach etwas, das uns ein Grundgefühl von Vertrauen und Sicherheit wiedergibt. (Religionssoziologen sprechen von „Kontingenzbewältigung“.)
- Manchmal überkommt es uns aber auch „einfach so“, wenn uns danach ist – zu solchen Anwandlungen neigen melancholische, introvertierte, sensible, nachdenkliche Charaktere, Pubertierende und Senioren stärker als andere.
Dann beginnen wir, unser bisheriges Tun, unser gesamtes Leben von außen zu betrachten; wir gehen auf Abstand zu uns selbst, um zu sehen, wie sinnvoll es von dort aus erscheint. Enttäuscht uns, was uns diese objektive Perspektive vermittelt, können wir in Orientierungslosigkeit, Melancholie und Depression verfallen. Schlimmstenfalls denken wir an Selbstmord.
In solchen Lebensphasen leuchtet uns ein, warum vielen Philosophen ein „partikularer“ Daseinszweck besorgniserregend defizitär vorkommt – weshalb sie es für ein schwerwiegendes Manko halten, wenn man sich „bloß“ an einem solchen orientiert. Denn egal welchem persönlichen Lebenssinn jemand folgt: Er wirkt konstruiert, erfunden, irgendwie willkürlich, bodenlos. Und jeder lässt sich erbarmungslos hinterfragen. Wozu am Arbeitsplatz als unersetzlich gelten? Unsere Friedhöfe sind voll von lauter unentbehrlichen Leuten. Wozu irgendetwas besitzen wollen? Nichts davon werden wir am Ende mitnehmen können. Wozu Kinder in die Welt setzen? In spätestens hundert Jahren werden sie tot sein, sofern sie nicht schon vorher einer schlimmen Krankheit, einem schweren Unfall zum Opfer fallen. Wozu Patienten helfen und heilen, wozu gesund werden? Ob man seine Krankheit loswird oder nicht: Irgendwann erliegt man unausweichlich einer anderen oder segnet aus sonstigen Gründen das Zeitliche. Wozu der Nachwelt im Gedächtnis bleiben wollen? Auch diese wird vergehen, und mit ihr jegliche Erinnerung an uns. Wozu sich für Dinge einsetzen, die der Menschheit nützen – für Umweltschutz und Frieden, gegen Hunger, Folter, Unterdrückung, Krieg? Vernichtet wird sie ohnehin früher oder später. In fünf Milliarden Jahren wird sich unsere Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen, auf der Erde Berge wie Butter schmelzen lassen und eine öde, mondähnliche Wüstenlandschaft zurücklassen. Selbst wenn die Menschheit bis dahin zu anderen Sonnensystemen umsiedeln könnte, würde es ihr letztlich nichts nützen: Das Universum wird dereinst im Nichts verschwinden. Demnach ist nichts groß genug, um nicht winzig zu erscheinen. Der Abstand entscheidet.
Die Qual des fortgesetzten Hinterfragens, das nicht enden will, weckt die Sehnsucht nach einem „letzten“, „höchsten“, „absoluten“, zeitlos und für jedermann gültigen Sinn, mit dem sich die Leere des Nihilismus abwenden lässt. An eben dieser Denkaufgabe versuchen sich Philosophen seit Jahrtausenden, ohne eines unstrittig „Letzten“, außerhalb der menschlichen Existenz zeitlos Vorgegebenem jemals habhaft geworden zu sein. Wie bei Aladin, als er die Wunderlampe entpfropfte, so wird ein Geist freigesetzt, der nie mehr zu zähmen ist, sobald wir ins Philosophieren geraten und darangehen, die Antworten, die wir innerhalb unseres Lebens auf Sinnfragen finden, mit „höheren“ Zwecken letztbegründen wollen. Wir unterwerfen uns dabei Erkenntnisansprüchen, die nicht befriedigt werden können – nicht aus einem Mangel an Wissen, sondern aus logischer Notwendigkeit. Denn unser Leben als Ganzes könnte etwas „Höheres“ nur dann sinnvoll machen, wenn dieses einen Sinn hätte – und eben das lässt sich ebenfalls stets in Zweifel ziehen. Wozu ist das „Höhere“ da? Entweder gibt es eine Antwort darauf – dann stellt sich die Frage erneut. Oder es gibt sie nicht – dann sind wir bei unserer Sinnsuche am Ende bei etwas angelangt, das keinen Sinn mehr hat. Wenn wir bereit sind, dieses Manko bei jenem „Höheren“ zu akzeptieren – warum sollten wir an die gewöhnlichen, „partikularen“ Zwecke unseres Lebens strengere Maßstäbe anlegen?
Transzendente Sinngebung hat einer säkularen insofern nichts voraus, sie führt nicht entscheidend weiter. Wenn Theologen mir versichern, zumindest mit Gott als letztbegründender Instanz, als endgültigem Erklärungsgrund verhalte es sich ganz anders, so bin ich wenig zuversichtlich, ob ich je verstehen werde, was sie damit eigentlich meinen – und ob sie selbst es wirklich verstanden haben. Erhält mein Leben seinen „letzten“ Zweck, indem es Gott wohlgefällig ist und seinen Plan erfüllt, in einer Weise, die keinen weiteren, übergeordneten Zweck mehr erfordert oder erlaubt? Kann es etwas geben, das einerseits allem anderen dadurch Sinn gibt, dass es dieses umfasst, seinerseits aber einen Zweck weder haben kann noch muss? Etwas, dessen Zweck nicht von außen erfragt werden kann, weil es hier kein Außen mehr gibt? Ein Innen ohne Außen macht nicht mehr Sinn als ein Unten ohne Oben, ein Links ohne ein Rechts, ein Vorne ohne ein Hinten, ein Unten ohne ein Oben. Sollten wir von grundlegenden, tiefsten Einsichten nicht erwarten dürfen, dass sie sich auf eine Weise darstellen lassen, die grundlegende Sprachlogik nicht zutiefst verletzt? Ein Lebenssinn, den ich nicht begreifen kann, bereitet mir schwachen Trost: Er ersetzt das Unbehagen an einer hinterfragbaren Antwort durch das Unbehagen an einer, bei der jedes Hinterfragen daran scheitert, dass fraglich ist, ob es sich überhaupt um eine sinnvolle Aussage handelt. Wenn Gottesglaube die Überzeugung einschließt, mein Dasein sei verstehbar, bloß nicht für mich, dann tausche ich offenbar ein Vakuum gegen ein anderes. Macht das denn Sinn?
Ein „letzter“, „höchster“, „absoluter“ Sinn ist daher nicht zu haben. Ein weiterer Grund dafür wurde oben schon erwähnt: Außerhalb von Kontexten, deren Beteiligte vorab festgelegten Zwecken und Normen folgen, macht Sinnsuche so viel Sinn wie die Frage, ob es jenseits des Fußballs, unabhängig von seinem Regelwerk, ein Erkenntnisziel gibt, aus dem letztinstanzlich folgt, wozu Eckbälle, Freistöße und Elfmeter „eigentlich“ ausgeführt werden. Die philosophische Sinnfrage lässt sich nicht lösen, nur auflösen – mit einem Dasein, das so befriedigt und erfüllt, dass man es leid ist, sie weiterzuverfolgen. Dann verflüchtigt sie sich, wie eine schlechte Laune. Falls mir alles, was ich in meinem Leben wichtig, wertvoll und erstrebenswert finde, aus einer höheren Warte unscheinbar und nichtig vorkommt – was will ich überhaupt da oben? Nichts und niemand zwingt mich dazu. Wenn mein Dasein von dort aus unbedeutend erscheint – muss das für mich bedeutend sein? Wer Ja zum Leben sagt, darf sich die Freiheit herausnehmen, intellektuelle Aufforderungen zum Tiefstschürfen zu ignorieren, die Lebensqualität ohne Not und Ausweg beeinträchtigen.
Folgt daraus, dass wir uns abgewöhnen sollten, die Außenperspektive einzunehmen? Müssen wir sie einfach abschaffen? Das können wir nicht. Denn die Möglichkeit, uns selbst, unser ganzes Leben wie von oben zu betrachten, ergibt sich daraus, dass wir selbstbewusste Wesen sind. Die Einsicht in die Absurdität unseres Daseins aus höherer Warte ist der Preis, den wir für die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung zahlen müssen. Auch wenn wir die Sinnfrage nicht unentwegt, sondern im allgemeinen nur unter besonderen Umständen stellen, werden wir sie nicht los, sie umlauert uns unentwegt. Und insofern versagt die Aladin-Analogie: Der Geist, den wir weder bändigen noch bannen können, ist keiner, den wir je hätten einsperren und in dauerhafter Gefangenschaft halten können. Er führt ein aufsässiges Eigenleben, er umschwebt uns unablässig, er gehört zu uns wie ein zweites Selbst, und jederzeit kann unser waches Ich beschließen, zu ihm überzuwechseln. Sich von dieser Möglichkeit nicht irritieren zu lassen, zählt zu den wichtigsten Voraussetzungen für ein Leben, das als erfüllt empfunden wird.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Säkularisierungsthese notwendig scheitert: Auch wenn in modernen Gesellschaften die Bedeutung traditioneller Kirchen und Religionen schwindet, endet damit nicht das Bedürfnis nach Spiritualität. Es ergibt sich zwangsläufig aus der Fähigkeit zur Re-Flexion, die zugleich sicherstellt, dass es ungestillt bleiben muss – es sei denn, wir brechen an irgendeinem Punkt das Weiterreflektieren ab, weil uns befriedigt, was wir bis dahin gefunden haben.
Sinnsuchende Patienten in der Medizin
Was einen Großteil der Ärzteschaft daran hindert, das Bedürfnis nach Sinn ernstzunehmen und darauf einzugehen, ist im übrigen weniger philosophischer Tiefgang als schlicht ein Mangel an Zeit, kommunikativer Kompetenz und Empathie. Ausbildung und Praxisalltag begünstigen einen Typus von Arzt, dem einerlei ist, ob er Hilfesuchenden unsensibel, kaltherzig und emotional verkrüppelt vorkommt – er versteht sich als Experte für das, was nach Subtraktion alles Psychischen vom ganzen Menschen übrigbleibt, und beschränkt sich darauf.
Immer stärkerer Gegenwind kommt längst nicht mehr bloß aus „alternativen“ Ecken, sondern sogar aus den eigenen Reihen: vornehmlich aus der Psychosomatik, die sich in den dreißiger Jahren als eigenständiges Fachgebiet etablierte, sowie aus der Medizinethik. Eine „zunehmende Entfremdung zwischen Medizin und krankem Menschen“ beklagt Giovanni Maio, Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg im Breisgau. „Denn während der Kranke selbst dazu neigt, die Krankheit zu deuten, ihr einen Sinn zuzuschreiben, sie einzubauen in einen größeren Sinnhorizont, tritt die moderne Medizin mit ihren verabsolutierten naturwissenschaftlichen Erklärungen auf und vermittelt dem Patienten, dass seine Bedeutungszuschreibungen irrational seien, weil diese oder jene Krankheit Resultat eines Ursache-Wirkungs-Mechanismus sei. (…) Der Arzt reagiert nicht mit Antworten, sondern mit Verordnungen, mit Schemata, mit evidenzbasierter Medizin – und lässt den Patienten letztlich mit seiner Not alleine. (…) Genau das empfindet der moderne Mensch als Ausgeliefertsein, als Entmachtung, als Alleinsein in der modernen Medizin. (…) Wenn diese „nicht sprach- und hilflos sein möchte, wird sie sich unweigerlich der Sinnfrage stellen müssen.“ (2)
Eben darum bemühen sich etliche Ärzte, die dem Therapeuten-Netzwerk der Stiftung Auswege angehören: Sie verbinden symptombezogene Behandlung mit ganzheitlicher Wegbegleitung, was nicht nur den Patienten zugutekommt, sondern letztlich auch ihre eigene Berufszufriedenheit deutlich erhöht. Dr. Dorothea Fuckert etwa, Fachärztin für Psychotherapie und spirituelle Heilerin, liegt vor allem an einer „kontinuierlichen Balancierung und Harmonisierung in Körper, Geist und Seele“ – sie „sind der Maßstab für die langfristige Heilwirkung einer Methode“, weshalb sie ineins „grundlegende körperliche Gesundung, befreiende emotionale Heilung und erhellende spirituelle Erfahrungen“ vermitteln will, auf der „Basis des Bewusstseins einer höheren intelligenten Ordnung, einer sinnvollen Einheit allen Seins, einer alles verbindenden göttlichen Quelle von Schöpferkraft, Weisheit und Liebe.“ Der Radiologe und Ganzheitsmediziner Dr. Horst Schöll, ärztlicher Leiter zahlreicher „Auswege“-Camps seit 2010, will Patienten näherbringen, was er aus einem eigenen existentiellen Drama lernte: „dass alles, was mir begegnet, nicht Glück, Pech oder Zufall ist, sondern dass dahinter eine große Weisheit, eine tiefe Information, eine wichtige Aufforderung steckt, die es zu entdecken gilt. Da dies auch für jedes andere Leben gilt, machte ich es zu meiner Lebensaufgabe, Hilfesuchende dabei zu unterstützen, diese verlorenen Botschaften sehen zu lernen, zu entschlüsseln und zur Bewältigung von Krankheiten, Lebenskrisen oder sogenannten Schicksalsschlägen zu nutzen. Ohne dieses tiefe Verstehen der Zusammenhänge von seelisch-energetischer Ursache und dem aktuellen emotionalen Leid werden sich die Probleme nicht auflösen lassen.“
Derart vorzugehen, ist mitnichten eine schöngeistige, therapeutisch unerhebliche Luxusveranstaltung, die Ärzte getrost abwälzen können. Denn ein Grundgefühl von Verbitterung, Verzweiflung, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit, ein unentwegtes Hadern und Grübeln lähmen die Fähigkeit und Bereitschaft, ein Leiden positiv zu bewältigen (3), was wiederum fatal rückwirkt nicht nur auf das subjektive Krankheitserleben, sondern auch – mit Apparatemedizin mühelos verifizierbar – auf die Symptomatik selbst. Niemand, der die immer zahlreicheren Forschungsergebnisse über enge Zusammenhänge zwischen Psyche, Gehirn, Nerven-, Hormon- und Immunsystem zur Kenntnis nimmt, kann weiterhin ernstlich in Abrede stellen, dass tiefempfundene Sinnleere drastische, medizinisch hochrelevante körperliche Auswirkungen haben kann.
„Spirituelle Wende“ in der Psychotherapie
Und was haben Patienten in existentiellen Krisen von der Psychotherapie zu erwarten? Solange sie von Freuds Psychoanalyse dominiert wurde, standen die Chancen für Sinnfrager miserabel, ernstgenommen zu werden. „Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt“, so hatte Sigmund Freud befunden, „ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat.“ (4) Noch radikaler wischte die Verhaltenstherapie sie beiseite: Ihr Begründer John B. Watson (1878–1958) bevorzugte entgegen tiefenpsychologischer Verfahren ein „Black-Box-Modell“, demzufolge innere Vorgänge für Außenstehende undurchschaubar bleiben und daher nicht analysiert werden sollten; philosophische Behavioristen gingen so weit, die Box für leer zu erklären: Beschreibungen innerpsychischer Vorgänge, so leiteten sie aus Sprachanalysen ab, meinen nichts weiter als Dispositionen zu bestimmten Verhaltensweisen. (5)
Eine zunehmend einflussreichere Gegenbewegung entstand in den sechziger Jahren mit der Humanistischen Psychologie, angeregt von Abraham Maslow, in dessen „Hierarchie menschlicher Grundbedürfnisse“ Glück, Erfüllung und Persönlichkeitsentfaltung ganz oben stehen. (6) Auch die Gestalttherapie des Ehepaars Perls, Ken Wilbers Transpersonale Psychologie und buddhistische Achtsamkeitstherapien trugen zur Neuorientierung bei. Ganz in den Mittelpunkt rückten Sinnfragen bei Viktor Frankls Logotherapie. All dies hat in der Psychotherapie seit Ende der sechziger Jahre zu einer regelrechten „spirituelle Wende“ geführt. (7) Inzwischen erklären zwei von drei deutschen Psychotherapeuten, Spiritualität und Religiosität habe für sie eine „mittlere“ (27 %), „ziemliche“ (22 %) oder „sehr hohe“ Bedeutsamkeit (16 %). Und über die Hälfte bestätigt, dies wirke sich auf ihre therapeutische Arbeit aus. (8)
An solche Ansätze knüpfen wir in den „Auswege“-Camps an. Medizinische Ursachen schwerer Erkrankungen lassen wir dabei nie außer acht – darüber hinaus tragen wir aber dem Bedürfnis von Betroffenen Rechnung, Gründe zu kennen. Denn einer wie der andere fragt uns: Wozu? Warum ich? Warum dieser wunderbare Mensch, den ich über alles liebe? Weshalb gerade diese Erkrankung? Wieso ausgerechnet jetzt?
Haben wir tatsächlich befriedigende Antworten darauf? Welche denn?
Sinnfindung in „Auswege“-Camps
Fänden unsere Therapiecamps hundert Jahre früher statt, so verbände Hilfesuchende wie Helfer noch jener Deutungskonsens, den das Christentum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im Abendland sicherstellte. Krankheit und Leid galten teils als Gottes Strafe für sündiges Handeln; teils als „Prüfung“ auf Glaubensfestigkeit unter erschwerten Umständen, wie sie der ans Kreuz genagelte Jesus vorbildlich bestanden hatte; teils als „dunkle Nacht der Seele“, ein läuterndes Durchgangsstadium zur Begegnung mit Gott, wie in der christlichen Mystik. Campteilnehmer, deren Denken derart religiös durchdrungen ist, martert keine Sinnfrage – sie wäre schon beantwortet, und wo Zweifel aufkeimten, wäre ein Geistlicher im Team der alleinzuständige, allseits geachtete Ansprechpartner.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Die wenigsten Patienten, die in unsere Camps kommen, haben sich das andächtige, inbrünstige Christsein ihrer Kindertage bewahrt. Durch ihr Leiden sind manche darin mittlerweile eher erschüttert als bestärkt worden; „Ich verachte und hasse Gott für das, was er mir angetan hat“, bekennt die 49jährige Pamela*, der ihr über alles geliebter Joachim „genommen“ wurde. In den Äußerungen der meisten Teilnehmer spiegelt sich der rapide Autoritätsverfall der Amtskirchen, der die westliche Welt inzwischen in einen neuheidnischen Kulturraum mit christlichen Restbeständen verwandelt hat. Es überwiegen drei Gruppen: Die einen glauben, mehr oder minder unsicher, noch einiges Wenige von dem, was ihnen ein christliches Elternhaus, der Gemeindepfarrer, der Religionslehrer mitzugeben versucht hatten; andere erweisen sich als bekennende Atheisten; wieder andere hängen einem individuell zusammengestellten Weltanschauungsmix an, in dem christliche Glaubenssätze, fernöstliche und esoterische Weisheitslehren eigenwillige Verbindungen eingehen.
Was haben wir diesen Menschen anzubieten? Worin finden sie Trost und neue Hoffnung – endlich wieder Sinn? Verfügen wir über ein seelsorgerisches Patentrezept? In unseren Camps treffen Hilfesuchende auf 15 bis 25 Helfer, die von einem gemeinsamen weltanschaulichen Nenner nicht minder weit entfernt sind wie sie (ohne dass dieses Manko dem Teamgeist abträglich wäre). Wann immer es um Sinnfragen geht – bei Heilsitzungen, in Lebensberatungen, bei Vorträgen, Seminaren und Diskussionsrunden -, treten allerdings Teammitglieder in den Vordergrund, die Hilfesuchenden aus eigener tiefer Überzeugung erbauliche, tröstende Weltanschauungen anzubieten haben.
Ausgebildete Psychotherapeuten sind selten darunter; es überwiegen lebenserfahrene, weise Laienpsychologen – mit einem Durchschnittsalter deutlich über Sechzig -, von denen sich die allermeisten Campteilnehmer aufmerksamer, liebevoller, einfühlsamer angenommen und begleitet fühlen als von Profis, denen sie sich zuvor jahrelang anvertraut hatten. Manche deuten den Schmerz als „Signal“, das Symptom als Äußerungsform einer „Organsprache“, die Krankheit als „Lehrmeister“ (Nietzsche), als „Botschaft“ und „Lektion“, entsandt von einem „Höheren Selbst“, das besser weiß, wozu dieses Leid gut ist: als schicksalhafte Chance zu Selbstbesinnung und innerem Wachstum; sie erläutern „geistige Gesetzmäßigkeiten“, die den Weltenlauf und jedes Einzelschicksal ihres Erachtens nicht minder bestimmen wie physikalische – und dafür sorgen, dass nichts umsonst und rein zufällig geschieht. Eher selten bringen sie den himmlischen Herrgott ins Spiel, dafür aber mitunter Geistführer, Engel und andere jenseitige Wesenheiten. Soweit sie Wiedergeburtslehren anhängen, führen sie aktuelles Elend auf „karmische“ Zusammenhänge zurück, die bis in „frühere Leben“ zurückreichen können; sie lassen spiritualistische Bekenntnisse einfließen, die auf gesicherten quantenmechanischen und parapsychologischen Erkenntnissen beruhen, wie sie versichern. Sie (wieder)erwecken in Teilnehmern ein Grundgefühl der Dankbarkeit für das Leben als „Geschenk“. Sie helfen bei der Selbsterkenntnis. Sie ermutigen, alten Ballast abzuwerfen und neue Wege zu beschreiten.
Aus wissenschaftstheoretischer Sicht werden da „Leerformeln“ angeboten, in der Tat. Denn unter keinen Umständen können sie an der Erfahrung scheitern, und eben diese grundsätzliche Nichtfalsifizierbarkeit zählt zu den Hauptmerkmalen von Aussagen ohne empirischen Gehalt. (9) Mit „geistigen Prinzipien“, „Gottes Wille“, „Karma“ und dergleichen lassen sich alle und jegliche Ereignisse, Vorgänge, Zustände begründen - ebenso wie ihr Gegenteil. Weil jeder Irrtumsnachweis ausgeschlossen ist, bleiben sie immunisiert gegen jegliche Kritik.
Unter diesem Manko leiden freilich weder wir selbst noch jene, die sich uns anvertrauen. Unsere Camps sind weder naturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen noch erkenntnisphilosophische Symposien, sondern karitative Veranstaltungen, deren Wert sich daran bemisst, ob sie erreichen, wozu sie stattfinden: zu helfen, wie auch immer. Und das gelingt ihnen.
Dass wir bewusst darauf verzichten, die vielfältigen Deutungsmuster der verschiedenen Camptherapeuten vorweg aufeinander abzustimmen und ein kohärentes Ganzes daraus zu machen, ist kein Nachteil, sondern für Ratsuchende eher hilfreich. So lassen wir ihnen die Freiheit der Entscheidung, welchen Ansatz sie sich zu eigen machen wollen; ihre Wahl wird beeinflusst von mitgebrachten Überzeugungen und Einstellungen, aber auch von Sympathie, Wertschätzung und Vertrauen, die sie einzelnen Teammitgliedern entgegenbringen. Und falls sie nichts davon eher überzeugt als das, was sie an Sinn bereits für sich gefunden haben: Auch das ist für uns völlig okay.
Aber stiftet diese Deutungsvielfalt nicht eher Verwirrung als Klarheit? Erwächst das Sinnvakuum, in dem Frankl das spirituelle Hauptübel unserer Zeit sah, nicht gerade aus einem Überfluss an konkurrierenden Sinnkonzepten, dem der Einzelne ratlos und verwirrt gegenübersteht? (10) Spiegelt sich diese „Neue Unübersichtlichkeit“ nicht fatal in unseren Campangeboten?
Was, bitteschön, wäre denn die Alternative? Ein Indoktrinationslager zu Ehren einer Einheitsideologie, die ein paar Patienten verlockend, die übrigen eher abstoßend fänden? Dass unser heterogenes Angebot so gut wie alle sinnsuchenden Campteilnehmer zufriedenstellt, legen ihre Tagebücher, ihre Angaben in abschließenden Fragebögen einhellig nahe. Über 90 Prozent erklären bei Campende, ihre psychische Verfassung, ihr Allgemeinbefinden habe sich wesentlich verbessert; sie sähen endlich „Licht am Ende des Tunnels“, hätten einen Ausweg gefunden, schöpften neuen Lebensmut. Ihre abschließenden Stellungnahmen, die wir nach jedem Camp detailliert auf unseren Internetseiten wiedergeben, lassen keinen Zweifel daran. Sie bestätigen eine eigenartige Dialektik: Krankheiten können einen tiefen Sinnverlust hervorrufen - aber auch entscheidend zur Sinnfindung beitragen. Wie ist solcher Überschwang möglich? Wie kann es sein, dass Schwerkranke mit quälendsten Sinnfragen zu uns kommen – und uns neun Tage später erleichtert, geradezu erlöst verlassen?
Wir überreden nicht, und wir können nicht überzeugen – aber anregen und nahelegen. Wir bieten Deutungen an, die Krankheit und Leid in einen Kontext stellen, in dem sie aufhören, rätselhaft zu sein. Mit anderen Worten: Wir erschaffen Mythen, und deren Wert beruht auf ihrem Nutzen, keineswegs auf einlösbaren Wahrheitsansprüchen. Solcher Pragmatismus bewahrt davor, mit missionarischem Sendungseifer aufzutreten. Kein Patient, kein Angehöriger bekommt von uns zu hören: „Das musst du glauben, sofern dir unsere zwingenden Argumente einleuchten.“ Die Botschaft lautet vielmehr: „Falls du das glauben kannst, wird es dich erleichtern, zu innerer Ruhe finden lassen und glücklicher machen.“ Und eben dies geschieht offenkundig.
Anmerkungen
1 Nach einer Repräsentativumfrage des Marktforschungsinstituts GfK Nürnberg unter 1952 Männern und Frauen ab 14 Jahren.
2 G. Maio: „Ökonomisierte Spiritualität? Über das Ersticken der Sinnfrage in der modernen Medizin“, in: Erwin Möde (Hrsg.): Christliche Spiritualität und Psychotherapie. Regensburg 2013, S. 28-35.
3 Vehement vertritt diese Auffassung der Arzt Lawrence LeShan: Diagnose Krebs – Wendepunkt und Neubeginn, Stuttgart 1993.
4 zit. bei Viktor Frankl: Die Sinnfrage in der Psychotherapie, München 1981, S. 27.
5 Vgl. dazu das Manifest des philosophischen Behaviorismus, Gilbert Ryles The Concept of Mind, Chicago 1949; dt. Der Begriff des Geistes.
6 “A Theory of Human Motivation”, Psychological Review 50 (4) 1943, S. 370–396; ders.: Motivation und Persönlichkeit, 12. Aufl. Reinbek 1981.
7 D. Houtman/S. Aupers, “The spiritual turn and the decline of tradition: The spread of post-Christian spirituality in 14 western countries, 1981-2000”, Journal of the Scientific Study of Religion 46/2007, S. 305-320.
8 L. Hofmann/H. Walach, “Spirituality and religiosity in psychotherapy – A representative survey among German psychotherapists”, Psychotherapy Research 21 (2) 2011, S. 179-192. Befragt wurden dabei über 900 Psychotherapeuten.
9 Karl R. Popper: Logik der Forschung, 1934, 11. Aufl. 2005; Ernst Topitsch, „Über Leerformeln“, in ders. (Hrsg.): Probleme der Wissenschaftstheorie, Wien 1960.
10 Heiko Ernst: Psychotrends - Das Ich im 21. Jahrhundert, München/ Zürich 1996, S. 189.
Dieser Betrag enthält Auszüge aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015)
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