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Dr. Harald Wiesendanger

Auf der Suche nach Sinn

Schwere Krankheiten oder Behinderungen werfen Sinnfragen auf - bei den Betroffenen ebenso wie bei ihren Angehörigen. Ärzte schweigen darüber. Hat meine Stiftung AUSWEGE Antworten? Wie helfen wir Patienten, die am Wozu ihres Leidens verzweifeln?


„Um Himmels wil­len, geben Sie mir einen Therapie­platz!“, fleht die Anruferin, nachdem ich ihr klargemacht habe, dass unser nächstes „Auswege“-Camp restlos ausgebucht ist. Warum so dringend? Die junge Frau, Ende Zwanzig, hat Brustkrebs – im End­stadium. Überall wuchern Metasta­sen. Hoffnungslos, befanden ihre Ärzte. „Was soll bloß aus meinen Kindern werden, wenn ich nicht mehr da bin?“, schluchzt sie. „Meine Tochter ist Fünf, mein Junge noch nicht mal Zwei. Und ich bin alleinerziehend.“


Betroffen sage ich ihr zu.


Aber sie kommt nicht. Acht Tage vor Campbeginn stirbt sie.


Hätte sie teilgenommen, dann be­stimmt aus mehr als einem Grund. Natürlich hoffte sie bis zuletzt auf einen therapeutischen Ausweg – dass sich das bösartige Zellwachstum mit unserer Hilfe irgendwie zum Still­stand bringen, zumindest verlangsamen lässt, damit sie Zeit gewinnt. Aber ebenso dringlich dürfte sie auf Antworten aus gewesen sein: Wozu diese schreckliche Erkran­kung, in so jungen Jahren, unter solchen Um­stän­den, mit derartigen Folgen? „Angst vor dem Tod habe ich nicht“, sagte sie – „aber entsetzliche Angst um meine beiden Kleinen. Was soll bloß aus ihnen werden, ohne mich?“


Mit ähnlich tragischen Schicksalen werden wir im Beratungsalltag der Stiftungsarbeit unentwegt konfrontiert; keines lässt uns kalt, fassungslos fühlen wir mit. Je gravierender, je lebensbedrohlicher die Er­kran­kung, desto häufiger geht es Hilfe­suchenden um mehr als Sym­ptomlinderung. Sie sind zu­tiefst erschüttert, sie geraten in eine existentielle Krise. Denn schwere Krankheit durchkreuzt Lebenspläne, wirft aus der Bahn, rückt Ziele in unerreichbare Ferne, beeinträchtigt Be­zie­hungen, macht arbeitsunfähig, erzwingt den Abschied von eingefleischten Gewohn­hei­­ten, stellt bisherige Perspek­tiven radikal in Frage. Sie kann einsam machen, mit ständigen Schmerzen verbunden sein, mit quälenden Ängsten, mit tiefer Verzweiflung. Sie zerstört nicht nur Lebensqualität, sondern auch Lebenssinn.


Lebenssinn? Ende 2013 gaben in einer Umfrage nur 37 Pro­zent der Bundesbürger an, sich schon „oft“ danach gefragt zu haben. (Vier Jahre zuvor waren es noch acht Prozent mehr ge­we­sen.) Besonders wenig kümmert sie Jugendliche und junge Erwachsene: 74 Pro­zent haben sich nach eigenen Angaben noch nie damit be­schäftigt. Mit zunehmendem Alter steigt das Gewicht der Sinnsuche: Von den über 70jährigen hat sich fast jeder Zweite schon häufig damit befasst. (1) Bei chronischer Krankheit allerdings wächst dieser Anteil sprunghaft – erst recht, wenn sie das eigene Leben einschneidend verändert und bedroht.


Wie uns die „Wozu“-Frage herausfordert


Von derart Betroffenen melden sich die wenigsten zu einem „Aus­wege“-Camp an; manche sind nicht mehr reisefähig, an­dere scheuen die Groß­gruppe. Häufiger lassen sie sich von uns einen Thera­peu­ten in der Nähe ihres Wohnorts empfehlen. Oder sie bitten uns, in un­se­rem Newsletter einen Hilfe­ruf zu veröffentlichen, in der Hoffnung, unter den Lesern fände sich irgendein Heilkun­di­ger, der noch weiterweiß. So war es bei Davido* (Pseudo­nym), einem 61jährigen Psy­chotherapeuten, der noch so vielen Patienten helfen will – von einer Parkinson-Erkran­kung jedoch zunehmend da­ran gehindert wird. „Es fällt mir immer schwerer, mich klar und deutlich auszudrücken, oft fehlen mir die Worte, ich spreche leiser und undeutlicher“, schrieb er uns im Som­mer 2014. „Stressige Situatio­nen machen mir Angst und ver­stärken das Zittern. Ich merke, dass ich geistige Prä­senz und Empathiefähig­keit verliere.“ Die Wozu-Frage be­schäftigt ihn ebenso wie eine verzweifelte Ehefrau, die sich im Herbst desselben Jahres an uns wandte: „Gibt es noch einen Ausweg für meinen Mann“ – trotz eines besonders bösartigen, rasch wachsenden Hirntumors, einem Gliobla­stom, das sich im MRT in mehreren Bereichen seiner linken Hirnhälfte zeigte und bereits in die Hirnhäute aussäte? „Er ist doch erst 55.“ Eine erste Ge­schwulst war in seinem Kopf bereits 1995 entdeckt und operiert worden, eine zweite 2002. Warum musste er das durchmachen? Weshalb verlor seine Familie am Ende – im Novem­ber 2014 - einen hingebungsvollen Vater und Ehemann?


Hätten diese beiden den Weg in unsere Camps gefunden und uns mit Sinnfragen konfrontiert: Wie wären wir damit um­gegangen? Wie tun wir es bei jenen, die zu uns kommen? Was sagen wir ihren Angehörigen? Wie erklären wir jemandem, warum sein Kind, sein Lebens­ge­fährte aufs Schwerste er­krankt oder behindert ist?


Un­aus­löschlich ins Gedächtnis ein­gebrannt hat sich mir, unter so vielen anderen bestürzenden Fällen, beispielsweise die dreijährige Laura aus unserem aller­ersten Camp im Sommer 2007 nahe der Nordsee: Warum muss das Frühchen, in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen, mit einer spastischen Tetraparese leben, mit Lähmungen in allen vier Glied­maßen, die ruckartig zucken, weil die Muskelspannung krank­haft erhöht ist?


Mir fällt die achtjährige Lisa ein, die zwischen heftigen Hustenan­fällen quicklebendig und ausgelassen im Juli 2012 um unser Camphaus im Schwarzwald tollte – nichtsahnend, dass die Mukoviszidose, die sie vor unseren Augen immer wieder zähen Schleim abhusten ließ, sie bald umbringen könnte.


Mich berühren die Schicksale Dutzender von Kindern, die kerngesunde, putzmuntere Ba­bies waren und sich in den ersten Lebenswochen prächtig entwickelten – bis sie mit einer Mehrfachimpfung zu geistig schwerstbehinderten Epilepti­kern gespritzt wurden.


Ich erinnere mich an die fünfjährige Mira, die im Sommer 2008 erstmals an einem „Auswege“-Camp teilnahm, damals als schwere Epileptikerin mit bis zu 20 Anfällen pro Tag: Eben noch hatte sie mit mir im Garten des Camphauses vergnügt Ball gespielt – wenige Minuten später, neben mir beim Mittagessen, zuckte sie plötzlich, sackte in sich zusammen, war eine Dreiviertelstun­de lang apathisch und nicht mehr ansprechbar.


Ich denke an Oliver, den seine Mama im Sommer 2011 zum dritten Mal zu uns brachte: Von Geburt an litt der aufgeweckte Junge, inzwischen Zehn, an einer Tetraspastik, die alle Glied­maßen betraf, seine Muskeln ständig unwillkürlich kontrahieren ließ und koordinierte Bewegungsabläufe unmöglich machte. Seinen defekten Kör­per akzeptierte er mit einer unfassbar heiteren Selbstver­ständ­lichkeit. Stolz führte er mir vor, welche Fortschritte er nach Behandlungen gemacht hatte: dass er einen Fußball treffsicher ins Tor schießen, zum ersten Mal mit der spastisch beeinträchtigten Zunge ein Eis schlotzen, mit zittrigen Fingern ein Dutzend Teile eines Schweizer Taschenmessers herausziehen und wieder zurück­klappen konnte.


Die kleine Paula fällt mir ein, ebenso alt wie Mira und der leuchtende Sonnenschein unseres 13. Camps im November 2013, den jeder im Team „unser blondes Engelchen“ nannte. Von Geburt an war das Mäd­chen von einer Cerebralparese betroffen (von lat. cerebrum: „Ge­hirn“, griech. parese: „Läh­mung“): Bewegungsstörungen, die von einer frühkindlichen Hirnschädigung herrühren. (In Paulas Fall lag eine „periventrikuläre Leukomalazie/PVL“ vor: eine durch erheblichen Sauerstoffmangel verursachte Schädigung der weißen Hirn­substanz.) Mit der dadurch hervorgerufenen Behinderung ge­hen Störungen des Nerven­systems und der Muskulatur im Bereich der willkürlichen Motorik einher. Bei Paula lag eine beinbetonte Spastik vor. Geistig hellwach, waren ihr diese massiven körperlichen Ein­schränkung vollauf be­wusst. Trotzdem lächelte sie umwerfend offen, zutraulich, glücklich mit jedem von uns um die Wette, plapperte, trieb Schabernack. Wie tapfer, geradezu selbstverständlich sie mit ihrem schweren Handicap um­ging, war Vorbild für so manche erwachsenen Teilneh­mer, die über unentwegtes Hadern mit schwerem, unverdientem Los ihre Lebensfreude verloren haben.


Mit ihrer ansteckenden Fröh­lichkeit, ihrer Lebendigkeit, ihrer Herzlichkeit wurde die Kleine gewissermaßen Teil unseres Therapeutenteams. Nie vergessen werde ich jenen „Mor­genkreis“, in dem sie strahlend auf mich zutorkelte – bis einen Meter entfernt von mir plötzlich ihre wackligen Beinchen nachgaben; sie fiel vornüber, schlug mit dem Ge­sicht auf den harten Boden, eine Lippe platzte auf, mit blutüberströmtem Gesicht lag sie schreiend vor mir.


Ebenso un­vergesslich bleibt mir eine Szene aus einem Gesprächs­kreis ein halbes Jahr später, im Mai 2014: Der Sitzreihe der Anwesenden entlang tastete sich der siebenjährige Peter – auf beiden Augen blind, aufgrund einer ausgeprägten Op­ti­cushypoplasie („DeMorsier-Syndrom“), einer Fehlent­wicklung des Sehnervs - langsam zu mir vor, kletterte auf meinen Schoß, schlang seine Arme um mich, schmiegte sich an mich und verharrte minutenlang still in dieser Position. Jedes dieser Kinder, darüber war ich mir immer im klaren, hätte meines sein können. Und jedes hätte mich als Vater womöglich an der Frage verzweifeln lassen: Wozu müssen sie derart leiden?


Ähnlich war mir angesichts vieler erwachsener Teilnehmer zumute. Ich denke an Kristin, die im Oktober 2014 zum zweiten Mal zu uns kam, begleitet von ihren Eltern; erst Dreißig geworden, hat eine rasch fortschreitende Multiple Sklerose sie längst an den Rollstuhl gefesselt – in einem Alter, in dem andere junge Frauen gerade im Berufsleben Fuß gefasst haben, ihren ersten eigenen Haushalt führen, dem Mann fürs Leben begegnen, die Kin­derplanung angehen, eine Fa­milie gründen. Wie können wir nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter aufrichten, die an schweren Depressionen, Angst­­zu­ständen und Schlaf­stö­run­gen, ständiger Müdig­keit und Antriebslosigkeit leidet, weil sie dem körperlichen Verfall ihres geliebten Kinds hilflos zusehen muss? Ich erinnere mich an Joachim*, einen knapp 50jährigen Versiche­rungs­kauf­mann, dem 2011 eine Motoneu­ronenerkrankung diagnostiziert worden war: ein un­erbitt­lich fortschreitender Ab­bau von Nervenzellen, der zu immer stärkeren Muskel­läh­mungen führt – Anfang 2012 erlag er ihr, als sie auf sein Herz übergriff. Was können wir seiner Witwe Hilfreiches mitgeben, die be­reits in sieben „Auswege“-Camps Trost suchte, seit Joa­chim in ihren Armen starb, und bei uns zwar zeitweilige Ablen­kung, bisher aber keine Erlö­sung aus ihrem tiefen Tal der Tränen fand?


Von beteiligten Ärzten hörte keiner von ihnen Hilfreiches – aus Prinzip, jedenfalls seit anderthalb Jahrhunderten. Von den vorchristlichen Priester­ärzten bis zur mittelalterlichen Klostermedizin: Jahrtausende­lang waren Heilkunde und Seelsorge eins gewesen. Doch als sich die westliche Medizin ab dem 19. Jahrhundert naturwissenschaftlichen Leitbildern unterwarf, zerbrach diese Ver­bindung, und Humanismus wurde obsolet: Ihr „aufgeklärtes“ Menschenbild, in dem nur objektiv Messbares Platz finden sollte, zeichnete Patienten als biochemisch-physikalische Me­cha­nis­men; deren Psyche wur­de auf Hirnvorgänge reduziert oder in die Zuständigkeit von Psychologen und Seelsor­gern ausgelagert. In ihren Sprech­stun­den empfangen neu­zeit­liche Ärzte seither vorzugsweise zweibeinige Bioma­schi­nen, die sich damit zufriedengeben, defekte Körperfunk­tio­nen reparieren zu lassen, statt impertinenterweise seelische Regungen oder gar spirituelle Be­dürfnisse zu bekunden. Sinn­fragen erhielten das Prädikat „unwissenschaftlich“.


Ist die Sinnfrage sinnlos?


Schlimmer noch: Sie gerieten in den Ruf, sinnlos zu sein. Und sind sie das etwa nicht? Wozu etwas geschieht, lässt sich nur innerhalb von Kontexten beantworten, in denen Akteure zweck­orientiert Absichten verfolgen. Wozu ich meinen Turm auf das Feld a8 stelle, ergibt sich aus den Regeln des Schachs. Wozu ich einen Ball ins Tor kicke, erklärt sich daraus, dass ich Fußball spiele. Wo Sinn ist, muss Geist am Werk sein. Weht eine Sturmböe den Ball ins Tor, grübeln wir nicht dar­über, wozu sie das macht – oder jemand durch sie. Wieso nicht? Weil wir es absurd fänden, Wetterphänomenen Intentio­nen zu unterstellen. Der Ein­druck des Absurden entsteht, sobald Kausalzu­sam­menhänge geklärt sind: Wer Ursachen kennt, hört auf, nach Gründen zu fragen. Ihn be­schäftigt nicht mehr, wozu es schneit, wozu Wasser abwärts fließt, wozu der Mond um die Erde kreist, wozu sich Eisenfeil­späne zu einem Magneten hinbewegen; denn er weiß, warum. Liegt nicht eben darin das Verdienst neuzeitlicher Wis­senschaft: Warum-Fragen zu beantworten, wobei Glaube durch Wissen ersetzt wird – und dadurch Wozu-Fragen zu erübrigen?


Je stärker eine solche Be­trachtungsweise den Zeitgeist prägt, desto schwerer fällt es, sich überhaupt noch öffentlich zur persönlichen Sinnsuche zu bekennen – als ob man sich dabei mit einer Peinlichkeit wie Fußpilz, Hämorrhoiden oder Tripper outen würde, derer man sich schämen muss. Wenn Demoskopen Menschen auf ihren Lebenssinn ansprechen, stellen sie zunehmend fest, dass viele nur ironisch-distanziert und witzelnd darauf eingehen. Einzeln interviewt, reagieren sie hingegen überaus emotional und verheddern sich in gewundenen Erklärungen. Neuerdings fällt es anscheinend leichter, über intimste Details des eigenen Se­xuallebens zu sprechen als über den Sinn des eigenen Lebens.


Dazu konnte es kommen, weil Sinnsuche mittlerweile überholt, primitiv und infantil an­mutet. Jahrtausendelang wa­ren die Weltbilder der Mensch­heit teleologisch geprägt: Im­mer und überall schienen Zwecke am Werk. Wozu gibt es Sterne? Gott hat sie am Him­melszelt befestigt, um die Nacht zu erleuchten. Wozu blitzt es? Zeus schleudert Don­nerkeile, um zu warnen und, falls sie einschlagen, olym­pische Strafurteile zu vollstrecken. Wozu treten Flut­wellen auf? Der erzürnte Mee­resgott rächt sich. Wieso bebt die Erde? Mutter Gaia ist wü­tend, der Monsterwels Namazu bewegt sich. Sobald wissenschaftliche Erklärungen vorliegen, scheint Religion auf dem Rückzug. Bis heute halten sich unter Ethnien in entlegenen Gegenden Afri­kas, Asiens und Südamerikas Glaubenssyste­me, in denen Sinnzusam­menhänge allgegenwärtig sind – doch darin vermuten wir eher Bildungslücken als höhere Ein­sichten. Jeder von uns hat im Laufe seiner geistigen Reifung eine teleologische Phase durchlaufen; „Artifizia­lis­mus“ nannte sie der französische Ent­wicklungspsychologe Jean Pia­get. Bei Kleinkindern bis zum sechsten, siebten Le­bensjahr beobachtete er, dass sie sich die Welt als Kreation vorstellen: Alles und jegliches ist künstlich geschaffen worden, sei es von Menschenhand – wobei die eigenen Eltern als (all)mächtige Mitgestalter emp­fun­­den werden – oder von Gott. Diesen Entwicklungsab­schnitt lassen sie allerdings hinter sich, sobald sie zur Schule gehen.


Doch werden solche Argumen­te den Anliegen sinnsuchender Patienten wirklich gerecht? Was sie wollen und brauchen, ist im allgemeinen kein philosophisch-religiös letztbegründeter „höherer“ Sinn; ihnen geht es um Halt und Orientie­rung, um übergeordnete Ziele in ihrer ganz individuellen, einmaligen Situation – um einen „partikularen“ Sinn, wie ihn der Vater der Lo­go­therapie, Viktor Frankl nannte. Was ihnen weiterhelfen könnte, sind tröstende, auf­mun­ternde Worte, die ihnen klarmachen, dass ihr Leiden ne­ben Belastungen auch Chan­cen birgt, und Anregun­gen, die ihnen helfen, sich persönliche Ziele zu setzen, an denen sie ihr Leben neu ausrichten können. Ein solcher Ansatz gibt keinen Sinn vor; er setzt an bei dem, was die Betroffenen selber für wichtig und erstrebenswert erachten – sei es eine glückliche Part­nerschaft, Reichtum, ein schönes Zuhause, Erfolg im Beruf, Selbstentfaltung, Kinder ha­ben, oder bestimmten Inter­essen und Hobbies nachgehen -, um ihnen aufzuzeigen, wie sie trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ihr Leben auf diese persönlichen Priori­täten ausrichten können, und dafür Mut zu machen. Ob die­se Prioritäten es „letztlich“ wert sind, verfolgt zu werden, bleibt unbewertet – Logothera­peuten sind keine Fundamen­tal­ethiker.


Wir Normaldenker sind es gewöhnlich erst recht nicht, und den meisten von uns will nicht einleuchten, worum es jenen überhaupt geht. Tag für Tag tun wir nicht nur eine Men­ge – im allgemeinen wissen wir auch stets, wozu. Wir kaufen ein, weil der Kühl­schrank leer ist. Wir machen Urlaub, um uns zu erholen. Wir gehen zum Friseur, um uns einen neuen Haarschnitt ver­passen zu lassen. Wir fa­sten, um abzunehmen. Wir ar­beiten, um ein Einkommen zu erzielen, mit dem wir uns und unsere Nächsten ernähren kön­nen. Wir treiben Sport, um fit zu bleiben. Wir gehen zu Bett, weil wir müde sind. Wir treffen Freunde oder hören Mu­sik, weil wir Lust dazu haben. Wir lesen ein Buch, weil uns sein Thema oder der Autor interessiert. Wir gehen eine Beziehung ein, um glücklich zu sein. Wir zeugen Kinder, um in ihnen weiterzuleben. Wo ist also das Problem?

Es besteht darin, dass wir innerhalb unseres individuellen Le­bens zwar reichlich Begrün­dungen und Rechtfertigungen für unser Handeln finden – aber keine davon er­schließt uns dessen Sinn als Ganzes. Für ge­wöhnlich bewegen wir uns klag­los in unserem persönli­chen Käfig, in den uns die be­son­deren Koordinaten von Raum und Zeit, der Spezies, des Kulturkrei­ses, des Landes, der Or­ganisationen, Gruppen und Bezie­hun­gen sper­ren, die unser Dasein kennzeichnen. Weder scheren wir uns darum, dass wir da drinnen sind, noch beklagen wir es, noch sinnen wir darüber nach, wie wir ihm entfliehen könnten, noch malen wir uns aus, wie es draußen wohl sein mag, noch sehnen wir uns dorthin – normalerweise.


Unter welchen Umständen be­ginnen wir überhaupt, ge­wöhn­­lichen, „partikularen“ Sinn zu hinterfragen? Danach drängt uns, wenn er seine Selbstverständlichkeit verliert. Das geschieht,


- wenn uns sein Inhalt abhanden kommt – etwa wenn wir unsere Arbeit verlieren, unser Kind stirbt, eine Ehe zerbricht, unser bester Freund uns tief ent­täuscht;


- wenn er aufhört, uns zu erfüllen – etwa wenn die bisherige Arbeit uns nicht länger befriedigt, eine Liebe in Routinen erstickt;


- wenn uns eine veränderte Situation daran hindert, ihn weiterzuverfolgen – etwa bei schwerer Krankheit oder Behinderung;


- wenn uns der Eindruck beschleicht, keine Kontrolle über unser Leben zu haben, und Opfer eines schicksalhaften, unberechenbaren und zu­fälligen Weltenlaufs zu sein – dann sehnen wir uns nach etwas, das uns ein Grundgefühl von Vertrauen und Sicherheit wiedergibt. (Religionssoziolo­gen sprechen von „Kontingenz­bewältigung“.)


- Manchmal überkommt es uns aber auch „einfach so“, wenn uns danach ist – zu solchen An­wandlungen neigen melancholische, introvertierte, sensible, nachdenkliche Charaktere, Pu­ber­tierende und Senioren stärker als andere.


Dann beginnen wir, unser bisheriges Tun, unser gesamtes Leben von außen zu betrachten; wir gehen auf Abstand zu uns selbst, um zu sehen, wie sinnvoll es von dort aus er­scheint. Enttäuscht uns, was uns diese objektive Perspektive vermittelt, können wir in Ori­en­tierungslosigkeit, Melan­cho­lie und Depression verfallen. Schlimmstenfalls den­ken wir an Selbstmord.


In solchen Lebensphasen leuchtet uns ein, warum vielen Philosophen ein „partikularer“ Daseinszweck besorgniserregend defizitär vorkommt – weshalb sie es für ein schwerwiegendes Manko halten, wenn man sich „bloß“ an einem solchen orientiert. Denn egal welchem persönlichen Lebenssinn je­mand folgt: Er wirkt konstruiert, erfunden, irgendwie willkürlich, bodenlos. Und jeder lässt sich erbarmungslos hinterfragen. Wozu am Arbeitsplatz als unersetzlich gelten? Unsere Friedhöfe sind voll von lauter unentbehrlichen Leuten. Wozu irgendetwas besitzen wollen? Nichts davon werden wir am Ende mit­nehmen können. Wozu Kinder in die Welt setzen? In spätestens hundert Jahren werden sie tot sein, sofern sie nicht schon vorher einer schlimmen Krankheit, einem schweren Unfall zum Opfer fallen. Wozu Patienten helfen und heilen, wozu gesund werden? Ob man seine Krankheit loswird oder nicht: Irgendwann erliegt man unausweichlich einer anderen oder segnet aus sonstigen Gründen das Zeitliche. Wozu der Nachwelt im Gedächtnis bleiben wollen? Auch diese wird vergehen, und mit ihr jegliche Erinnerung an uns. Wozu sich für Dinge einsetzen, die der Menschheit nützen – für Um­weltschutz und Frieden, gegen Hunger, Folter, Unter­drückung, Krieg? Vernichtet wird sie ohnehin früher oder später. In fünf Milliarden Jah­ren wird sich unsere Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen, auf der Erde Berge wie Butter schmelzen lassen und eine öde, mondähnliche Wüstenland­schaft zurücklassen. Selbst wenn die Mensch­heit bis dahin zu anderen Sonnen­systemen umsiedeln könnte, würde es ihr letztlich nichts nützen: Das Universum wird dereinst im Nichts verschwinden. Dem­nach ist nichts groß genug, um nicht winzig zu erscheinen. Der Abstand ent­scheidet.


Die Qual des fortgesetzten Hinterfragens, das nicht enden will, weckt die Sehnsucht nach einem „letzten“, „höchsten“, „ab­soluten“, zeitlos und für jedermann gültigen Sinn, mit dem sich die Leere des Nihi­lismus ab­wen­den lässt. An eben dieser Denk­auf­gabe versuchen sich Phi­losophen seit Jahrtausen­den, ohne eines un­strittig „Letz­ten“, außerhalb der menschlichen Existenz zeitlos Vorgegebenem jemals habhaft geworden zu sein. Wie bei Aladin, als er die Wunder­lampe entpfropfte, so wird ein Geist freigesetzt, der nie mehr zu zähmen ist, sobald wir ins Philosophieren geraten und darangehen, die Antwor­ten, die wir innerhalb unseres Lebens auf Sinnfragen finden, mit „höheren“ Zwecken letztbegründen wollen. Wir unterwerfen uns dabei Erkenntnis­ansprüchen, die nicht befriedigt werden können – nicht aus einem Mangel an Wissen, sondern aus logischer Notwen­digkeit. Denn unser Leben als Ganzes könnte etwas „Höhe­res“ nur dann sinnvoll ma­chen, wenn dieses einen Sinn hätte – und eben das lässt sich ebenfalls stets in Zweifel ziehen. Wozu ist das „Höhere“ da? Entweder gibt es eine Ant­wort darauf – dann stellt sich die Frage erneut. Oder es gibt sie nicht – dann sind wir bei unserer Sinnsuche am Ende bei etwas angelangt, das keinen Sinn mehr hat. Wenn wir bereit sind, dieses Manko bei jenem „Höheren“ zu akzeptieren – wa­rum sollten wir an die gewöhnlichen, „partikularen“ Zwecke unseres Lebens strengere Maßstäbe anlegen?


Transzendente Sinngebung hat einer säkularen insofern nichts voraus, sie führt nicht entscheidend weiter. Wenn Theo­lo­gen mir versichern, zumindest mit Gott als letztbegründender In­stanz, als endgültigem Erklä­rungsgrund verhalte es sich ganz anders, so bin ich wenig zuversichtlich, ob ich je verstehen werde, was sie damit eigentlich meinen – und ob sie selbst es wirklich verstanden haben. Erhält mein Leben seinen „letzten“ Zweck, indem es Gott wohlgefällig ist und seinen Plan erfüllt, in einer Weise, die keinen weiteren, übergeordneten Zweck mehr erfordert oder erlaubt? Kann es etwas geben, das einerseits allem anderen dadurch Sinn gibt, dass es dieses umfasst, seinerseits aber einen Zweck weder haben kann noch muss? Etwas, dessen Zweck nicht von außen erfragt werden kann, weil es hier kein Außen mehr gibt? Ein Innen ohne Außen macht nicht mehr Sinn als ein Unten ohne Oben, ein Links ohne ein Rechts, ein Vorne ohne ein Hin­ten, ein Unten ohne ein Oben. Sollten wir von grundlegenden, tiefsten Einsichten nicht erwarten dürfen, dass sie sich auf eine Weise darstellen lassen, die grundlegende Sprachlogik nicht zutiefst verletzt? Ein Le­benssinn, den ich nicht begreifen kann, bereitet mir schwachen Trost: Er ersetzt das Unbe­ha­gen an einer hinterfragbaren Antwort durch das Un­behagen an einer, bei der jedes Hinter­fragen daran scheitert, dass fraglich ist, ob es sich überhaupt um eine sinnvolle Aus­sage handelt. Wenn Gottes­glaube die Überzeugung einschließt, mein Dasein sei verstehbar, bloß nicht für mich, dann tausche ich offenbar ein Vakuum gegen ein anderes. Macht das denn Sinn?


Ein „letzter“, „höchster“, „ab­soluter“ Sinn ist daher nicht zu haben. Ein weiterer Grund da­für wurde oben schon erwähnt: Außerhalb von Kontexten, de­ren Beteiligte vorab festgelegten Zwecken und Normen folgen, macht Sinnsuche so viel Sinn wie die Frage, ob es jenseits des Fußballs, unabhängig von seinem Regelwerk, ein Erkenntnisziel gibt, aus dem letztinstanzlich folgt, wozu Eck­bälle, Freistöße und Elf­meter „eigentlich“ ausgeführt werden. Die philosophische Sinnfrage lässt sich nicht lösen, nur auflösen – mit einem Dasein, das so be­friedigt und erfüllt, dass man es leid ist, sie weiterzuverfolgen. Dann verflüchtigt sie sich, wie eine schlechte Laune. Falls mir alles, was ich in meinem Leben wichtig, wertvoll und erstrebenswert finde, aus einer höheren Warte unscheinbar und nichtig vorkommt – was will ich überhaupt da oben? Nichts und niemand zwingt mich dazu. Wenn mein Dasein von dort aus unbedeutend er­scheint – muss das für mich be­deutend sein? Wer Ja zum Leben sagt, darf sich die Frei­heit herausnehmen, intellektuelle Aufforderungen zum Tiefstschürfen zu ignorieren, die Lebensqualität ohne Not und Ausweg beeinträchtigen.


Folgt daraus, dass wir uns ab­gewöhnen sollten, die Außen­perspektive einzunehmen? Mü­s­­sen wir sie einfach ab­schaffen? Das können wir nicht. Denn die Möglichkeit, uns selbst, unser ganzes Leben wie von oben zu betrachten, ergibt sich daraus, dass wir selbstbewusste Wesen sind. Die Einsicht in die Absurdität unseres Daseins aus höherer Warte ist der Preis, den wir für die Fähigkeit zur Selbstdistan­zie­rung zahlen müssen. Auch wenn wir die Sinnfrage nicht unentwegt, sondern im allgemeinen nur unter be­sonderen Umständen stellen, werden wir sie nicht los, sie umlauert uns unentwegt. Und insofern versagt die Aladin-Analogie: Der Geist, den wir weder bändigen noch bannen können, ist keiner, den wir je hätten einsperren und in dauerhafter Gefan­gen­schaft halten können. Er führt ein aufsässiges Eigenleben, er um­schwebt uns unablässig, er gehört zu uns wie ein zweites Selbst, und jederzeit kann unser waches Ich beschließen, zu ihm überzuwechseln. Sich von dieser Möglichkeit nicht irritieren zu lassen, zählt zu den wichtigsten Vorausset­zungen für ein Leben, das als erfüllt empfunden wird.

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Säkularisierungsthese notwendig scheitert: Auch wenn in modernen Gesellschaften die Be­deutung traditioneller Kirchen und Reli­gionen schwindet, endet damit nicht das Bedürfnis nach Spiritua­lität. Es ergibt sich zwangsläufig aus der Fähigkeit zur Re-Flexion, die zu­gleich sicherstellt, dass es ungestillt bleiben muss – es sei denn, wir brechen an irgendeinem Punkt das Weiterreflektieren ab, weil uns be­friedigt, was wir bis dahin gefunden haben.


Sinnsuchende Patienten in der Medizin


Was einen Großteil der Ärzteschaft daran hindert, das Bedürfnis nach Sinn ernstzunehmen und darauf einzugehen, ist im übrigen weniger philosophischer Tiefgang als schlicht ein Mangel an Zeit, kommunikativer Kompetenz und Empathie. Ausbil­dung und Praxisalltag begünstigen einen Typus von Arzt, dem einerlei ist, ob er Hilfesuchenden unsensibel, kaltherzig und emotional verkrüppelt vorkommt – er versteht sich als Experte für das, was nach Subtrak­tion alles Psychischen vom ganzen Menschen übrigbleibt, und be­schränkt sich darauf.


Immer stärkerer Gegenwind kommt längst nicht mehr bloß aus „alternativen“ Ecken, sondern sogar aus den eigenen Reihen: vornehmlich aus der Psychosomatik, die sich in den dreißiger Jahren als eigenständiges Fachgebiet etablierte, sowie aus der Medizinethik. Eine „zunehmende Entfremdung zwischen Medizin und krankem Menschen“ beklagt Gio­van­ni Maio, Professor für Medizin­ethik an der Universität Freiburg im Breisgau. „Denn während der Kran­ke selbst dazu neigt, die Krankheit zu deuten, ihr einen Sinn zuzuschreiben, sie einzubauen in einen größeren Sinnhorizont, tritt die moderne Medizin mit ihren verabsolutierten naturwissenschaftlichen Erklärun­gen auf und vermittelt dem Pati­en­ten, dass seine Bedeutungszuschrei­bun­gen irrational seien, weil diese oder jene Krankheit Resultat eines Ursache-Wirkungs-Mechanismus sei. (…) Der Arzt reagiert nicht mit Antworten, sondern mit Verordnun­gen, mit Schemata, mit evidenzbasierter Medizin – und lässt den Pati­enten letztlich mit seiner Not alleine. (…) Genau das empfindet der mo­der­ne Mensch als Ausgeliefertsein, als Entmachtung, als Alleinsein in der modernen Medizin. (…) Wenn diese „nicht sprach- und hilflos sein möchte, wird sie sich unweigerlich der Sinnfrage stellen müssen.“ (2)


Eben darum bemühen sich etliche Ärzte, die dem Therapeuten-Netzwerk der Stiftung Auswege angehören: Sie verbinden symptombezogene Be­handlung mit ganzheitlicher Wegbe­gleitung, was nicht nur den Pati­enten zugutekommt, sondern letztlich auch ihre eigene Berufszu­friedenheit deutlich erhöht. Dr. Dorothea Fuckert etwa, Fachärztin für Psychotherapie und spirituelle Heilerin, liegt vor allem an einer „kontinuierlichen Balancierung und Harmonisierung in Körper, Geist und Seele“ – sie „sind der Maßstab für die langfristige Heilwirkung einer Methode“, weshalb sie ineins „grundlegende körperliche Gesun­dung, befreiende emotionale Hei­lung und erhellende spirituelle Er­fahrungen“ vermitteln will, auf der „Basis des Bewusstseins einer höheren intelligenten Ordnung, einer sinnvollen Einheit allen Seins, einer alles verbindenden göttlichen Quelle von Schöpferkraft, Weisheit und Liebe.“ Der Radiologe und Ganz­heits­mediziner Dr. Horst Schöll, ärztlicher Leiter zahlreicher „Auswege“-Camps seit 2010, will Patienten näherbringen, was er aus einem eigenen existentiellen Drama lernte: „dass alles, was mir begegnet, nicht Glück, Pech oder Zufall ist, sondern dass dahinter eine große Weisheit, eine tiefe Information, eine wichtige Aufforde­rung steckt, die es zu entdecken gilt. Da dies auch für jedes andere Leben gilt, machte ich es zu meiner Lebens­aufgabe, Hilfesuchende dabei zu unterstützen, diese verlorenen Bot­schaf­ten sehen zu lernen, zu ent­schlüs­seln und zur Bewältigung von Krankheiten, Lebenskrisen oder so­genannten Schicksalsschlägen zu nutzen. Ohne dieses tiefe Verstehen der Zusammen­hän­ge von seelisch-energetischer Ursache und dem aktuellen emotionalen Leid werden sich die Probleme nicht auflösen lassen.“


Derart vorzugehen, ist mitnichten eine schöngeistige, therapeutisch unerhebliche Luxus­veranstaltung, die Ärzte getrost abwälzen können. Denn ein Grundgefühl von Verbit­terung, Verzweiflung, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit, ein unentwegtes Hadern und Grübeln lähmen die Fähigkeit und Bereitschaft, ein Leiden positiv zu bewältigen (3), was wiederum fatal rückwirkt nicht nur auf das subjektive Krankheitserle­ben, sondern auch – mit Appa­ra­te­medi­zin mühelos verifizierbar – auf die Symptomatik selbst. Nie­mand, der die immer zahlreicheren Forschungser­geb­­nisse über enge Zusammen­hänge zwischen Psyche, Ge­hirn, Ner­ven-, Hormon- und Immunsy­stem zur Kenntnis nimmt, kann weiterhin ernstlich in Abrede stellen, dass tiefempfundene Sinnleere drastische, medizinisch hochrelevante körperliche Auswirkungen haben kann.


„Spirituelle Wende“ in der Psychotherapie


Und was haben Patienten in existentiellen Krisen von der Psychotherapie zu erwarten? Solange sie von Freuds Psy­choanalyse dominiert wurde, standen die Chancen für Sinn­frager miserabel, ernstgenommen zu werden. „Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt“, so hatte Sig­mund Freud befunden, „ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat.“ (4) Noch radikaler wischte die Verhaltens­the­rapie sie beiseite: Ihr Be­gründer John B. Watson (1878–1958) bevorzugte entgegen tiefenpsychologischer Verfahren ein „Black-Box-Modell“, demzufolge innere Vorgänge für Außenstehende undurchschaubar bleiben und daher nicht ana­lysiert werden sollten; phi­losophische Behavioristen gingen so weit, die Box für leer zu erklären: Beschreibungen in­ner­psychischer Vorgänge, so leiteten sie aus Sprachanalysen ab, meinen nichts weiter als Dispositionen zu bestimmten Verhaltensweisen. (5)

Eine zunehmend einflussreichere Gegenbewegung entstand in den sechziger Jahren mit der Humanistischen Psy­chologie, angeregt von Abra­ham Maslow, in dessen „Hie­rarchie menschlicher Grund­bedürfnisse“ Glück, Erfüllung und Persönlichkeitsentfaltung ganz oben stehen. (6) Auch die Gestalttherapie des Ehepaars Perls, Ken Wilbers Transperso­nale Psychologie und buddhistische Achtsamkeitstherapien trugen zur Neuorientierung bei. Ganz in den Mittelpunkt rückten Sinnfragen bei Viktor Frankls Logotherapie. All dies hat in der Psychotherapie seit Ende der sechziger Jahre zu einer regelrechten „spirituelle Wende“ geführt. (7) Inzwischen erklären zwei von drei deutschen Psychotherapeuten, Spi­ri­tualität und Religiosität habe für sie eine „mittlere“ (27 %), „ziemliche“ (22 %) oder „sehr hohe“ Bedeutsamkeit (16 %). Und über die Hälfte bestätigt, dies wirke sich auf ihre therapeutische Arbeit aus. (8)

An solche Ansätze knüpfen wir in den „Auswege“-Camps an. Medizinische Ursachen schwerer Erkrankungen lassen wir dabei nie außer acht – darüber hinaus tragen wir aber dem Bedürfnis von Betroffenen Rechnung, Gründe zu kennen. Denn einer wie der andere fragt uns: Wozu? Warum ich? Wa­rum dieser wunderbare Mensch, den ich über alles lie­be? Weshalb gerade diese Er­krankung? Wieso ausgerechnet jetzt?

Haben wir tatsächlich befriedigende Antworten darauf? Wel­che denn?


Sinnfindung in „Auswege“-Camps


Fänden unsere Therapiecamps hundert Jahre früher statt, so verbände Hilfesuchende wie Helfer noch jener Deutungs­kon­sens, den das Christentum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im Abendland sicherstellte. Krankheit und Leid galten teils als Gottes Strafe für sündiges Handeln; teils als „Prüfung“ auf Glaubensfestig­keit unter erschwerten Um­ständen, wie sie der ans Kreuz genagelte Jesus vorbildlich be­standen hatte; teils als „dunkle Nacht der Seele“, ein läuterndes Durchgangsstadium zur Begegnung mit Gott, wie in der christlichen Mystik. Camp­teil­nehmer, deren Denken derart religiös durchdrungen ist, martert keine Sinnfrage – sie wäre schon beantwortet, und wo Zweifel aufkeimten, wäre ein Geistlicher im Team der alleinzuständige, allseits ge­ach­tete Ansprechpartner.


Doch diese Zeiten sind vorbei. Die wenigsten Patienten, die in unsere Camps kommen, haben sich das andächtige, inbrünstige Christsein ihrer Kindertage bewahrt. Durch ihr Leiden sind manche darin mittlerweile eher erschüttert als bestärkt worden; „Ich verachte und hasse Gott für das, was er mir angetan hat“, bekennt die 49jährige Pa­mela*, der ihr über alles geliebter Joachim „genommen“ wur­de. In den Äußerungen der mei­sten Teilnehmer spiegelt sich der rapide Auto­ritätsver­fall der Amts­kirchen, der die westliche Welt inzwischen in einen neuheidnischen Kultur­raum mit christlichen Restbe­ständen verwandelt hat. Es über­wiegen drei Gruppen: Die einen glauben, mehr oder minder unsicher, noch einiges Weni­­ge von dem, was ihnen ein christliches Elternhaus, der Ge­meindepfarrer, der Religions­leh­rer mitzugeben versucht hat­ten; andere erweisen sich als be­kennende Atheisten; wieder andere hängen einem individuell zusammengestellten Welt­­­anschauungsmix an, in dem christliche Glaubenssätze, fernöstliche und esoterische Weis­heitslehren eigenwillige Ver­bindungen eingehen.


Was haben wir diesen Men­schen anzubieten? Worin finden sie Trost und neue Hoff­nung – endlich wieder Sinn? Verfügen wir über ein seelsorgerisches Patentrezept? In un­se­ren Camps treffen Hilfesu­chende auf 15 bis 25 Helfer, die von einem gemeinsamen weltanschaulichen Nenner nicht min­der weit entfernt sind wie sie (ohne dass dieses Manko dem Teamgeist abträglich wä­re). Wann immer es um Sinn­fragen geht – bei Heilsit­zun­gen, in Lebensberatungen, bei Vor­trägen, Seminaren und Dis­kus­sionsrunden -, treten allerdings Teammitglieder in den Vor­dergrund, die Hilfe­suchenden aus eigener tiefer Überzeugung erbauliche, tröstende Weltan­schauungen an­zubieten haben.


Ausgebilde­te Psychotherapeu­ten sind selten darunter; es überwiegen le­bens­erfahrene, weise Laien­psy­chologen – mit einem Durch­schnittsalter deutlich über Sechzig -, von denen sich die allermeisten Camp­teilneh­mer aufmerksamer, liebevoller, einfühlsamer angenommen und begleitet fühlen als von Profis, denen sie sich zuvor jahrelang anvertraut hatten. Man­che deuten den Schmerz als „Signal“, das Sym­ptom als Äußerungsform einer „Organ­spra­che“, die Krankheit als „Lehr­meister“ (Nietzsche), als „Botschaft“ und „Lektion“, entsandt von einem „Höheren Selbst“, das besser weiß, wozu dieses Leid gut ist: als schick­salhafte Chan­ce zu Selbstbesin­nung und innerem Wachstum; sie erläutern „geistige Ge­setzmäßig­keiten“, die den Wel­ten­lauf und jedes Einzel­schicksal ihres Erachtens nicht minder bestimmen wie physikalische – und dafür sorgen, dass nichts um­sonst und rein zufällig ge­schieht. Eher selten bringen sie den himmlischen Herrgott ins Spiel, dafür aber mitunter Geistführer, Engel und andere jenseitige Wesen­heiten. Soweit sie Wiederge­burtslehren an­hängen, führen sie aktuelles Elend auf „karmische“ Zusam­menhänge zurück, die bis in „frühere Leben“ zurückreichen können; sie lassen spiritualistische Bekennt­nisse einfließen, die auf gesicherten quantenmechanischen und pa­ra­psycholo­gischen Er­kenntnis­sen beruhen, wie sie ver­sichern. Sie (wieder)erwe­cken in Teilneh­mern ein Grund­­gefühl der Dankbarkeit für das Leben als „Geschenk“. Sie helfen bei der Selbst­erkenntnis. Sie ermutigen, alten Ballast abzuwerfen und neue Wege zu beschreiten.


Aus wissenschaftstheoretischer Sicht werden da „Leer­formeln“ angeboten, in der Tat. Denn unter keinen Umständen können sie an der Erfahrung scheitern, und eben diese grund­­­sätzliche Nichtfalsifi­zier­­barkeit zählt zu den Haupt­merk­malen von Aussa­gen ohne empirischen Gehalt. (9) Mit „geistigen Prinzipien“, „Gottes Wille“, „Karma“ und dergleichen lassen sich alle und jegliche Ereignisse, Vor­gänge, Zustände begründen - ebenso wie ihr Gegenteil. Weil jeder Irrtumsnachweis ausgeschlossen ist, bleiben sie im­mu­­nisiert gegen jegliche Kri­tik.


Unter diesem Manko leiden freilich weder wir selbst noch jene, die sich uns anvertrauen. Unsere Camps sind weder naturwissenschaftliche Forschungsein­richtungen noch erkenntnisphilosophische Symposien, sondern karitative Veran­stal­tungen, deren Wert sich daran bemisst, ob sie erreichen, wozu sie stattfinden: zu helfen, wie auch immer. Und das gelingt ihnen.


Dass wir bewusst darauf verzichten, die vielfältigen Deu­tungsmuster der verschiedenen Camptherapeuten vorweg aufeinander abzustimmen und ein kohärentes Ganzes daraus zu machen, ist kein Nachteil, sondern für Ratsuchende eher hilfreich. So lassen wir ih­nen die Freiheit der Entschei­dung, welchen Ansatz sie sich zu eigen machen wollen; ihre Wahl wird beeinflusst von mitgebrachten Überzeugungen und Einstel­lun­gen, aber auch von Sympa­thie, Wertschätzung und Ver­trauen, die sie einzelnen Team­mitgliedern entgegenbringen. Und falls sie nichts davon eher überzeugt als das, was sie an Sinn bereits für sich gefunden haben: Auch das ist für uns völlig okay.


Aber stiftet diese Deu­tungs­vielf­alt nicht eher Verwirrung als Klarheit? Erwächst das Sinnvakuum, in dem Frankl das spirituelle Hauptübel unserer Zeit sah, nicht gerade aus einem Überfluss an konkurrierenden Sinnkonzepten, dem der Einzelne ratlos und ver­wirrt gegenübersteht? (10) Spie­gelt sich diese „Neue Un­übersichtlichkeit“ nicht fatal in unseren Campangeboten?


Was, bitteschön, wäre denn die Alternative? Ein Indoktrina­tions­lager zu Ehren einer Ein­heitsideologie, die ein paar Patienten verlockend, die übrigen eher abstoßend fänden? Dass unser heterogenes Ange­bot so gut wie alle sinnsuchenden Campteilnehmer zufriedenstellt, legen ihre Tagebü­cher, ihre Angaben in abschließenden Fragebögen einhellig nahe. Über 90 Prozent erklären bei Campende, ihre psychische Verfassung, ihr Allgemeinbe­fin­den habe sich wesentlich verbessert; sie sähen endlich „Licht am Ende des Tunnels“, hätten einen Ausweg gefunden, schöpften neuen Lebens­mut. Ihre abschließenden Stellung­nahmen, die wir nach jedem Camp detailliert auf unseren Internetseiten wiedergeben, las­sen keinen Zweifel da­ran. Sie be­stätigen eine eigenartige Dia­lektik: Krankheiten können einen tiefen Sinnverlust hervorrufen - aber auch entscheidend zur Sinnfindung beitragen. Wie ist solcher Überschwang möglich? Wie kann es sein, dass Schwerkranke mit quälendsten Sinnfragen zu uns kommen – und uns neun Tage später erleichtert, geradezu erlöst verlassen?


Wir überreden nicht, und wir können nicht überzeugen – aber anregen und nahelegen. Wir bieten Deutungen an, die Krankheit und Leid in einen Kontext stellen, in dem sie aufhören, rätselhaft zu sein. Mit anderen Worten: Wir erschaffen Mythen, und deren Wert beruht auf ihrem Nutzen, keineswegs auf einlösbaren Wahr­heitsan­sprüchen. Solcher Prag­matis­mus bewahrt davor, mit mis­sionarischem Sen­dungs­eifer aufzutreten. Kein Patient, kein An­gehöriger be­kommt von uns zu hören: „Das musst du glauben, sofern dir unsere zwingenden Argumen­te einleuchten.“ Die Botschaft lautet vielmehr: „Falls du das glauben kannst, wird es dich erleichtern, zu innerer Ru­he finden las­sen und glückli­cher ma­chen.“ Und eben dies ge­schieht offenkundig.

Anmerkungen

1 Nach einer Repräsentativ­um­frage des Marktforschungsinstituts GfK Nürnberg unter 1952 Männern und Frauen ab 14 Jahren.

2 G. Maio: „Ökonomisierte Spiri­tualität? Über das Ersticken der Sinnfrage in der modernen Medi­zin“, in: Erwin Möde (Hrsg.): Christ­liche Spiritualität und Psycho­therapie. Regensburg 2013, S. 28-35.

3 Vehement vertritt diese Auf­fas­sung der Arzt Lawrence LeShan: Diagnose Krebs – Wendepunkt und Neu­­beginn, Stuttgart 1993.

4 zit. bei Viktor Frankl: Die Sinn­frage in der Psychotherapie, München 1981, S. 27.

5 Vgl. dazu das Manifest des philosophischen Behaviorismus, Gilbert Ryles The Concept of Mind, Chicago 1949; dt. Der Begriff des Geistes.

6 “A Theory of Human Motiva­ti­on”, Psychological Review 50 (4) 1943, S. 370–396; ders.: Motivation und Persönlichkeit, 12. Aufl. Reinbek 1981.

7 D. Houtman/S. Aupers, “The spiritual turn and the decline of tra­dition: The spread of post-Chri­stian spirituality in 14 western countries, 1981-2000”, Journal of the Scientific Study of Religion 46/2007, S. 305-320.

8 L. Hofmann/H. Walach, “Spiri­tuality and religiosity in psychotherapy – A representative survey among German psychotherapists”, Psychotherapy Research 21 (2) 2011, S. 179-192. Befragt wurden dabei über 900 Psychotherapeuten.

9 Karl R. Popper: Logik der For­schung, 1934, 11. Aufl. 2005; Ernst Topitsch, „Über Leerformeln“, in ders. (Hrsg.): Probleme der Wissen­schafts­theorie, Wien 1960.

10 Heiko Ernst: Psychotrends - Das Ich im 21. Jahrhundert, München/ Zürich 1996, S. 189.


Dieser Betrag enthält Auszüge aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015)

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