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Dr. Harald Wiesendanger

Der Mann ohne Gliedmaßen – Wenn ein Leben zur Botschaft wird

Nicholas Vujicic kam ohne Beine und Arme zur Welt. Mit acht Jahren wollte er sich deshalb das Leben nehmen. Die Wende kam, als er an Gott zu glauben begann. Heute sagt er: „Wenn ich alles tun kann, ohne Gliedmaßen zu haben, dann kannst Du es auch!“ Auf Motivationstouren rund um den Globus verkündet er seine Botschaft: Jeder von uns, egal mit welchen Einschränkungen er zurechtkommen muss, hat die Chance auf ein glückliches, erfülltes Leben.


Wenn im Wirtschaftswun­der­land ein verwöhnter Nachwuchs das Familien­mahl wieder mal mit Genörgel daran sabotiert, was da an Ungenießbarem bis Ekligem auf den Tisch gekommen ist, ziehen genervte Eltern mitunter die rhetorische Trumpfkarte „Dritte Welt“: „Ist dir klar, dass anderswo Kinder verhungern, während du jam­merst? Die wären froh, wenn sie auch nur eine Handvoll Reis auf dem Teller hätten. Du weißt ja gar nicht, wie gut es dir geht!“


Hilft chronisch Kranken ein ähnliches Argument? Nun ja, Tinnitus, Neu­ro­dermitis oder Multiple Skle­rose sind schlimmer als Kutteln, Griesbrei und Spinat. Aber wie schwer wiegen solche gesundheitlichen Belastungen, verglichen mit einem Leben ohne Arme und Beine?


Der Verlust einzelner Gliedmaßen – durch Unfälle, im Krieg, als Krank­heitsfolge – hat Betroffene schon aus lauter Verzweiflung in den Selbst­mord getrieben. Die meisten werdenden Eltern würden sich ohne Zögern für eine Abtreibung entscheiden, falls sich im Ultraschall zeigt, dass ihrem ungeborenen Kind Arme und Beine fehlen. Wie könnten sie ein solches Kind jemals lieben: einen Krüp­pel, wie sie ihn sich in ihren grässlichsten Alpträumen nicht hätten aus­malen können? Und was für ein elendes Leben wäre das für das Kind selbst? Eine extremere Abhängigkeit von der Fürsorge Anderer scheint kaum vorstellbar. Was soll aus einem Menschen mit einer derartigen Ein­schränkung werden, was könnte er überhaupt tun, wie fände er jemals Freude, Glück und Erfüllung?


Es geht. Überzeugend beweist dies ein Mann, dessen Körper tatsächlich nur aus Kopf und Rumpf besteht: der Australier Nicho­las James („Nick“) Vujicic. Am 4. Dezember 1982 kam er in Melbourne zur Welt – ohne Arme und Beine; am Ansatz des linken Oberschenkels ist nur ein verkümmerter Fuß mit zwei Zehen vorhanden. Ursache ist ein seltener Gendefekt: Tetraamelie. Der Vater, ein Büroangestellter, muss sich auf der Entbindungsstation übergeben, als er seinen Sohn zum ersten Mal sieht; seine Mutter, eine Krankenschwester, ist derart schockiert, dass es vier Monate dauert, bis sie sich dazu überwinden kann, ihr Kind in den Arm zu nehmen. „Meine Mutter hat während der Schwanger­schaft alles richtig gemacht“, sagt Nick inzwischen. „Trotzdem gibt sie sich noch immer die Schuld.“


Allmählich finden sich die Eltern mit ihrem missgebildeten, geistig aber völlig normalen Kind ab, kümmern sich rührend um es und tun ihr Mög­lichstes, ihm den Alltag bewältigen zu helfen. Im Rollstuhl besucht Nick zunächst eine Behindertenschu­le, dann wechselt er auf eine integrative Regelschule. Er lernt zu schreiben, mit dem Mund oder seinem Fuß. Doch immer ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Er leidet entsetzlich darunter, anders zu sein: „Ich hasste Gott dafür, dass er mir das an­ge­tan hatte“, sagt er. Und „ich hatte Angst davor, was kommt, wenn meine Eltern mich nicht mehr unterstützen könnten.“ Mitschüler hänseln und mobben ihn grausam.


Im Alter von acht Jahren denkt der verzweifelte Junge zum ersten Mal daran, sich umzubringen. Mit zehn Jahren versucht er es: Er stürzt sich aus einem Waschbecken, in dem er liegt. „So wollte ich mir das Genick brechen.“


Doch sein Plan scheitert, und dieses Misslingen wird für ihn zum Schlüsselerlebnis: Von da an habe er sein Leben nicht mehr als Strafe, sondern als Heraus­forderung begriffen, sagt Nick. Er fasst Mut und beschließt, „dankbar zu sein für das, was ich kann, statt wütend darüber zu sein, was ich nicht kann“. Er hört auf, mit Gott zu hadern, und findet Kraft in tiefem Glauben. Seine Lebensauf­gabe sieht er fortan darin, „anderen Menschen Hoffnung zu geben“ – dazu fühlt er sich auserwählt.


Nach erfolgreichem High-School-Abschluss erwirbt er zwei Uni­versitätsabschlüsse: „Bachelors“ in Buchhaltung und Finanzplanung. Als gefragter Motivationstrainer und Prediger lebt er inzwischen in Los Angeles, Kalifornien, von wo aus er die Welt bereist und Vorträge hält, überwiegend in Schulen, in Mana­gerseminaren, in Kirchen, bei Kon­gressen - vor bis zu 100'000 Men­schen. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit öffentlichen Auftritten, dem Verkauf zahlreicher eigener Bücher und DVDs. Er ist Präsident der gemeinnützigen Organisation Live without Limbs („Leben ohne Glied­maßen“) und Geschäftsführer des Unternehmens Attitude is altitude („Alles ist eine Frage der inneren Einstellung“).


Trotz seiner extremen körperlichen Ein­schränkung bemüht sich Nick, seinen Alltag möglichst selbstständig zu bewältigen. Mit dem Zeh seines kleinen linken Fußes schreibt er 43 Wörter pro Minute auf dem Com­puter. Auch Zähneputzen gelingt ihm alleine: Seine Zahnbürste ist fest an der Wand befestigt, zum Putzen bewegt Nick seinen Kopf. Er betreibt mehrere Sportarten. Schon als er 18 Monate alt war, brachte ihm sein Vater das Schwimmen bei; dabei be­wegt er seinen Fuß wie einen Pro­peller. Er surft und fährt Skateboard: „Ich habe einen niedrigen Körper­schwerpunkt, deshalb kann ich gut die Balance halten.“ Zum Golf­spielen klemmt er den Schläger zwischen Kopf und Schulter; weit schlagen kann er damit nicht, immerhin aber einlochen.


Inzwischen gelingt es Nick, mit seiner Behinderung humorvoll und selbstironisch umzugehen. Einer seiner Lieblingswitze lautet: „Give me a hug, I don´t do handshakes“ – umarme mich, ich schüttle keine Hände. Fragen ihn Kinder, was mit ihm passiert sei, flüstert er ihnen zu: „Zigaretten!“ Sein Publikum verblüfft er gerne mit einer Akrobatik­einlage, bei der er sich mit einer Art Sprung einmal um die eigene Achse dreht. Damit treibt er im Straßen­verkehr mitunter üble Scherze: „Ein­mal saß ich auf dem Beifahrersitz eines Autos, das gerade vor einer Ampel hielt. Neben mir wartete ein anderes Auto, mit einer Frau am Steuer, die mich anstarrte. Da führte ich ihr eine 360-Grad-Drehung im Sitz vor. Der Frau fiel die Kinnlade herunter, sie machte sich schnell aus dem Staub.“

Zu seinem Lebensglück trägt neuerdings eine eigene Familie bei: Am 12. Februar 2012 heiratete er seine Verlobte Kanae Miya­hara; fast genau ein Jahr später, am 13. Februar 2013, kam ihr gemeinsamer Sohn Kiyoshi James Vujicic zur Welt - kerngesund.



Wozu lebt Nick? Was gibt seinem Leben Sinn? „Gott hat mich gelehrt, dass mei­ne Geschichte eine Inspiration für alle ist, mit den Herausforderun­gen des Lebens fertig zu werden“, sagt er. Mit seiner positiven Lebens­einstel­lung will er Vorbild sein. Sein Leit­motiv lautet: „Wenn ich das kann, so könnt ihr das erst recht.“ Und „wenn kein Wunder passiert, sei selbst eines!“



Dieser Betrag enthält Auszüge aus dem Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015)

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