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Dr. Harald Wiesendanger

Dem Ernst der Lage trotzen - Warum Lachen zur „Auswege“-Medizin gehört

Nirgendwo ist das irdische Jammertal tiefer als zwischen Flensburg und Passau. Und geradezu abgrundtief müsste es dort sein, wo die Therapiecamps meiner Stiftung Auswege stattfinden; denn bei jedem kommen bis zu zwei Dutzend schwerkranke Kinder und Erwachsene zusammen, begleitet von weit über fünfzig gravierenden Diagnosen und bis zu dreißig besorgten, belasteten Angehörigen. Da gibt es nichts zu lachen, oder?



Erwachsene lachen im Schnitt 15- bis 20mal pro Tag, Kinder 200- bis 400mal. Und Teilneh­mer eines „Auswege“-Camps? Auf Schritt und Tritt be­geg­net man dort äußerster gesund­­heitlicher Not: körperlich und geistig schwerstbehinderten Kindern, von denen manche nicht einmal den Kopf drehen, ihren Blick fixieren, nach Gegen­ständen greifen, irgendeinen Laut von sich geben können, geschweige denn sitzen, laufen, sprechen. Man trifft Roll­stuhlfahrer, die darauf gefasst sein müssen, dass ihre Lähmun­gen un­erbittlich fort­schrei­ten. Man lernt psychisch Trau­matisier­te kennen, die Erfah­rungen von Gewalt, Miss­brauch oder Verlust ihr ganzes bisheriges Leben lang verfolgt und bedrückt haben. Wie kann es sein, dass an solchen Orten tagtäglich immer wieder fröh­liches Lachen, manchmal so­gar schallendes Gelächter zu hören ist: in den rituellen „Mor­gen­kreisen“, während der gemeinsamen Mahlzei­ten, beim Ab­schlussfest, bei spontanen Plau­der­runden während Be­hand­lungs­­pausen und abends?


Gegen den Ernst der Lage anzulachen, ereignet sich bei unseren Camps keineswegs ungewollt, un­angebrachterweise und nebenbei – es gehört zum Konzept, es ist wich­tiger Bestandteil der „Auswege“-Medizin, wir provozieren es nach Kräften. In unsere „Morgenkreise“ bauen wir immer wieder kuriose Geschichten, deftige Scherze, Car­toons und lustige Zaubertricks ein. Wir veranstalten einen Wettbewerb, zu dem jeder Teilnehmer seinen Lieb­lingswitz beisteuert; am Ende kü­ren wir per Abstimmung den „Camp-Ober­witz­bold“, dem unter don­nerndem Applaus ein Preis über­reicht wird. Auf unserem Wunsch­­zettel für künftige Camps steht, einen „Klinik­clown“ anzuheuern: einen von mittlerweile mehreren hundert professionellen Spaßmachern, die unter exotischen Namen wie Dr. Schnick­schnack oder Dr. Hutzel­butzel neuerdings auch in deutschen Kranken­häusern und Pflege­einrichtungen auftreten, um dort kleine und große Patienten, Alte und Behinderte aufzuheitern. Den nobelpreiswürdigen Anstoß dazu verdankt die Mensch­heit Michael Christensen, dem Mit­be­gründer des New Yorker Stadt­zirkus: Ihm kam 1986 die fabelhafte Idee des "Clown Doctoring", die rasch populär wurde und mittlerweile in vielen Ländern der Erde Schule gemacht hat.


Dabei geht es keineswegs bloß um Entertainment. Mittels Humor lassen sich negative Gedanken vertreiben, Spannungen lösen, Lebens­freu­­de schenken. Mehr noch: Lachen ist gesund. Es ist vielleicht nicht „die beste Medizin“, wie der Volksmund übertreibt, immerhin aber eine äußerst wirkungsvolle.


Wissenschaftliche Belege dafür stam­men von einem jungen medizinpsychologischen Forschungs­zweig, den wir indirekt dem Komö­diantenduo Stan Laurel und Oliver Hardy verdanken - genauer gesagt jenem Film, in dem die beiden als „Dick und Doof“, Stan und Ollie, ein sperriges Piano den Hügel hinaufschieben - sowie dem Um­stand, dass ein amerikanischer Psy­chiater von der Universität Stanford in Palo Alto, William F. Fry, diese Folge gera­dezu „liebte“. (1) Anfang der sech­ziger Jahre, damals um die 40, sah er sich diesen Film („Der zermürbende Klaviertransport“) an, während in seinem Arm eine Kanü­le steckte, mit der er sich in regelmäßigen Abständen Blut abzapfte. Anschließend ließ er die Blutprobe chemisch analysieren. Er wollte herausfinden, was beim Lachen im Körper geschieht. Wieso setzte er dazu nicht einfach Lachgas ein? „Wenn Sie die Monde des Jupiter erforschen wollen, untersuchen Sie ja auch keine Luftballons. Mich interessiert das natürliche Lachen.“


Inzwischen gilt Fry, der im Mai 2014 verstarb, als Begründer der Geloto­logie (von griech. gélos „Lachen“), die sich anfangs schwertat, in Fach­kreisen als seriöse Wissenschaft an­erkannt zu werden. „Es gab Leute“, erinnert sich Fry, „die mich gerade mal so ernst nahmen, dass sie mir vorschlugen, an einem Comic-Wett­bewerb teilzunehmen. Eines Abends genehmigte ich mir ein paar Gläser Sherry und dachte mir: Zum Teufel, warum eigentlich nicht? Die Vorga­be war ein Strip mit zwei Engeln auf einer Wolke, dazu sollte man sich einen Text ausdenken.“ Was ließ sich Fry dazu einfallen? „Der eine Engel sagt zum anderen: ‚Ach, diese Wolken sind herrlich für meine Hämorrhoiden.’ Die Jurymitglieder waren so begeistert - wahrscheinlich litten sie selbst unter Hämor­rhoiden -, dass sie mir den ersten Preis verliehen.“


In dem halben Jahrhundert seit Frys ersten Untersuchungen haben Wis­sen­schaft­ler eindrucksvolle Bestäti­gungen dafür zusammengetragen, dass Humor eine medizinisch ernstzunehmende Angelegenheit ist:


Jedes „Hahaha“ steht für ein physiologisches Großereignis ungeheurer Komplexität: Allein im Gesicht verziehen sich dabei 17 Muskeln, bis zu 80 im ganzen Körper; Schultern, Bauch und Zwerchfell wackeln, Bein- und Blasenmuskeln schlaffen ab. (Kleine Kinder kippen deswegen bei Lachattacken manchmal einfach um oder machen sich in die Hose.) Die Luft zischt mit Sturmstärke durch die Lungen, mit bis zu 100 km/h. Daraufhin wird das Atmen freier, wir nehmen mehr Sauerstoff auf. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck geht hoch, der Körper schüttet vermehrt Hormone aus; bestimmte Gehirnaktivitäten nehmen zu, unter anderem im Hypothalamus und Teilen der frontalen Hirnrinde. Dass wir manchmal weinen, wenn wir besonders herzhaft lachen, hat anatomische Grün­de: Im oberen Teil der Nase steigt der Luftdruck und presst auf die Trä­nen­drüsen.


Lachen beeinflusst Geist und Psyche positiv.


Aber Lachen lockert nicht nur die Muskulatur, sondern auch starre Ge­dankenmuster. Sichtweisen verändern sich: Patienten wird es möglich, ihre Situation, die daran Beteiligten und sich selbst mit mehr Distanz und aus einer anderen Perspektive zu sehen, zu überdenken und neue Lösungsansätze für Probleme zu finden. Oft eröffnet es einen Ausweg aus einer scheinbar un­entrinnbaren Klemme: einem Kon­­flikt, einer Bedrückung, einer Angst. Denn eines seiner Haupt­auslöser ist das plötzliche Erkennen von Zusammenhängen – dann löst sich die innere Anspannung in Form von Lachen.

Lachen beruhigt: Eine Minute La­chen wirkt ebenso erfrischend wie 45 Minuten Entspannungstrai­ning, wie eine Studie ergab. Denn dabei werden Glückshormone, sogenannte Endorphine ausgeschüttet, dank derer sich selbst unter hoher Ar­beitsbelastung Verspan­nun­gen lö­sen. Zugleich treten weniger Stress­hormone auf: weniger Cortisol, weniger Adrenalin, weniger Dopa­min-Metaboliten, weniger Somato­tropin.


Heitere Menschen, die häufig la­chen, begegnen zudem ihrer Um­welt anders als pessimistisch-ernste. Sie sind gelassener, weniger nervös, kontaktfreudiger, bei anderen be­liebter und dadurch erfolgreicher, im privaten Bereich ebenso wie in der Arbeitswelt. Bei diesem sozialen Aspekt setzen Evolutions­biologen an, um zu erklären, warum vor 10 bis 16 Millionen Jahren die gemeinsamen stammesgeschichtlichen Vor­fahren des Menschen und des Men­schenaffen das Lachen in ihr Verhal­tensrepertoire aufnahmen: Es be­sänf­tigt Artgenossen („Seht her, ich bin doch nett, also tut mir nichts“), drückt große Freude über ihr Er­scheinen, ihre Anwesenheit oder ihr Verhalten aus, kommuniziert positive Gefühle. Bedenkt man, dass Nean­dertaler Kan­nibalen waren, könnte das La­chen auch als raffiniertes Täu­schungs­manöver in Mo­de gekommen sein: „Komm ruhig näher, da­mit ich dich besser fressen kann.“ (2)


Darüber hinaus macht Lachen kreativer. Warum schicken Unterneh­men neuerdings ihre Mitarbeiter in sündhaft teure Lachseminare? La­chen durchbricht die Routi­nen des kon­trollierenden Denkens und Han­delns. Und es macht aufmerksamer: Im Gehirn laufen vermehrt elektrochemische Prozesse ab, die typisch für erhöhte Wach­samkeit sind.


Lachen wirkt sich auf den Körper günstig aus.


Es verbessert die Durchblutung, somit beugt es Herz-Kreislauf-Krankheiten vor. Wie? Durch das Lachen dehnt und erweitert sich das Endothel: das Gewebe, das die Blutgefäße von innen auskleidet; es reguliert nicht nur den Blutfluss, sondern auch den Innendruck der Blutgefäße und die Blutgerinnung. Dadurch spielt es eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Arte­rio­sklerose und von Gefäßverhär­tungen. Herzliches Lachen trainiert die Herzmuskulatur ungefähr so wie eine Viertelstunde auf einem Fahrrad-Hometrainer oder zehn Minu­ten an einer Rudermaschine. „Zwanzig Sekunden Lachen entsprechen der körperlichen Leistung von drei Minuten schnellem Lau­fen“, stellte Fry fest. „Lachen ist Jog­gen im Sitzen“, versichert der deutsche Psychotherapeut Michael Titze (3), Mitbegründer von Humor­Care, eines gemeinnützigen Vereins zur „Förderung von Humor in The­rapie, Pflege und Beratung“. (4) Eine 2009 veröffentlichte Studie der Uni­versität Baltimore erfasste 300 Ver­suchspersonen, von denen jeder Zweite schon eine Herzerkrankung hatte, bis hin zum Infarkt. Was zeich­­nete die gesunden Studien­teilnehmer aus? Sie lachten deutlich öfter über Alltagssituationen. (5)


Schmerzpatienten können nach nur wenigen Minuten Lachen eine Er­leichterung erfahren, die manchmal mehrere Stunden anhält. Warum? Lachen kurbelt die Produktion von Beta-Endorphinen kräftig an: vom Körper selbst produzierte Hor­mone, die wie ein Analgetikum wirken, nur ohne negative Neben­effekte. Gerade in der Schmerz­bekämpfung sieht der US-Medi­ziner Howard Bennett „den vielversprechendsten Einsatz von Lachen als Therapie“. In einem Übersichtsartikel über den Forschungsstand (6) be­richtet er unter anderem von einer Studie, in der 78 frisch Ope­rierte deutlich weniger Analgetika benötigten, wenn sie sich lustige Videos ansahen. (7)


Allerdings scheint die Wirkung eher indirekt: Wer seelisch belastet, traurig oder ängstlich ist, konzentriert sich mehr auf seine Schmerzen und empfindet sie in­ten­siver. Humor lenkt ab, lässt psychische Belastungen vergessen – zumindest zeitweilig. Diesen Zu­sam­menhang erprobte der amerikanische Wissenschaftsjournalist Nor­man Cousins im Selbstversuch: Sei­ne schmerzhafte Spondylarthritis - eine chronisch entzündliche rheumatische Erkrankung, bei der Gelenke versteifen, auch als „Mor­bus Bechterew“ bekannt - behan­del­te er mit lustigen Filmen und witzigen Büchern, die bei ihm regelmäßig Lachanfälle provozierten. Wie er feststellte, war er nach zehn Mi­nuten Lachen weitgehend schmerz­frei, danach konnte er mindestens zwei Stunden problemlos schlafen. Sein Buch Der Arzt in uns selbst (7) verhalf der Lachforschung in den USA in den siebziger Jahren schlagartig zu öffentlicher Auf­merk­samkeit und Anerkennung; Lachtherapien, Lach-Yoga, Lach­clubs, Lachkongresse wurden salon­fähig. Seit 1998 wird alljährlich am ersten Sonntag im Mai der „Welt­lachtag“ begangen.


Bei lachenden Personen steigen zudem deutlich die Blutwerte von Gamma-Interferon, Killerzellen und Antikörpern: wichtigen Ak­teuren im Immunsystem. Die körpereigene hormonartige Substanz Gamma-Interferon aktiviert und koordiniert die Produktion von meh­reren körpereigenen Abwehr­stoffen, während sogenannte Killer-T-Zellen bereits infizierte Zellen vernichten. Ebenfalls vermehrt treten beim Lachen die Antikörper Im­mun­globulin A sowie B-Lympho­zy­ten auf, eine Art weißer Blut­kör­perchen (Leukozyten), die als einzige Zellen imstande sind, Antikörper zu bilden.


Aus solchen bemerkenswerten Resultaten weitreichende therapeutische Schlüsse zu ziehen, hält Fry allerdings für verfrüht: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, erst sensationelle Erkenntnisse hinauszuposaunen und nachträglich mit der Grundlagenforschung zu beginnen. Das wäre so, als würden wir erst die Hose anziehen und anschließend in die Unterhose schlüpfen“ – und insofern „liege noch in den Win­deln“.9 Alle erwähnten segensreichen Ef­fekte scheinen nämlich nur kurzzeitig aufzutreten, höchstens für ein paar Stunden; langfristig nützen sie unserer Gesundheit eher mittelbar - abhängig davon, wie gut wir mit Stress fertig werden. So schädigt Stress messbar die Schutz­schicht in den Blutgefäßen, die das Herz versorgen. Das kann dort zu schweren Gefäßentzün­dungen führen, bis hin zum Infarkt. Sonnige Gemüter sind eher dagegen gefeit, weil sie mit Druck entspannter umgehen – und fröhliche Menschen lachen mehr.


Auch unserem Immunsystem hilft Lachen auf Dauer nur, wenn sich darin eine Persönlichkeit ausdrückt, die mit Stress gut zurechtkommt. Anfang der neunziger Jahre wurden 394 Gesunde zunächst nach ihrem Empfinden von Anspannung be­fragt, daraufhin mittels Nasen­trop­fen mit Rhinoviren infiziert, typischen Schnupfenerregern. Das Er­gebnis fiel eindeutig aus: Das Im­mun­system von Stressresistenteren setzte sich wirksamer gegen das Virus zur Wehr – leicht zu Stres­sen­de hingegen zogen sich eher eine Erkäl­tung zu. (10)


Insofern fiel jeder Witz, den du während dieser Camptage gehört hast, in therapeutischer Absicht, und hoffentlich mit wohltuenden Folgen, die sich nicht auf kurzfristige Konvul­sio­nen deines Zwerch­fells beschränken, sondern dein Gemüt insgesamt ein wenig aufgehellt, entspannter und stressresistenter gemacht haben. Zur Erinne­rung und um eine gewisse Nach­haltigkeit sicherzustellen (Smi­ley!), stellen wir dir auf den folgenden Seiten eine Auswahl der besten Camp­­witze und Anekdoten zusammen; in künftigen Auflagen dieses Buchs werden weitere folgen, so viel ist gewiss.


Mit angezogener Lachbremse - Wie weit darf Humor gehen?


Ganz schön frech, dieser „Dr. med. Heckmeck“: Seit einer halben Stunde schon treibt er weißgeschminkt, mit roter Pappnase, im Speisesaal eines Alten- und Pflegeheims vor und mit vierzig hochbetagten Be­wohnern seine üblen Späße – als aus­gebildeter und diplomierter „Klinik-Clown“, zahlendes Mitglied im „Dachver­band Clowns in Medi­zin und Pflege Deutschland e.V.“ Dreist schnappt er sich einen Rollstuhl, in dem er unter grotesken Verrenkun­gen mit immer neuen kläglichen Anläufen vergeblich Platz zu nehmen versucht; endlich sitzend, führt er vor, wie blöd man sich in so einem Gefährt anstellen kann. Einem verdutzten Greis säu­bert er mit einem Staubwedel die Glatze.


Wohlwis­send, dass ein Groß­teil seines Publi­kums dement ist, mimt er den Ver­gess­lichen: Mit wach­sender Ver­zweif­lung sucht er fünfmal einen Schlüssel, den er fünfmal wenige Sekunden zuvor in die Seitentasche seines Kostüms gesteckt hat. Er tut so, als müsse er dringend Pippi machen, übersieht aber beharrlich den Nachttopf, der zwischen seinen Beinen steht. Für Depressive mimt er den Trauerkloß, der alle paar Sekun­den aus läppischstem Anlass in Tränen ausbricht: selbst die hängende Blüte einer Topfpflanze, ein Tapetenmuster, ein gepunktetes Kleid lassen ihn losheulen. Als wäre ihm nicht klar, dass alle Anwesenden hier ihrem nahen Ende entgegensehen, nimmt er einem unsichtbaren Gevatter Tod eine Sense ab und tritt ihn in den Allerwertesten, mit ausgestreckter Zunge und erigiertem Mittel­finger.


All das geht doch entschieden zu weit, oder? Darf man sich über Schwä­chen, Belastungen, Ängste, Ein­schränkungen aufgrund von Alter, Krankheit oder Behinderung derart hemmungslos und unsensibel lustig machen, zumal in Anwesen­heit von Betroffenen? Kränkt man sie damit nicht?


Zumindest Dr. Heckmecks Publikum sieht das anscheinend nicht so eng. Immer wieder ertönt schallendes Gelächter, werden die Kapriolen des Clowns von spontanem Applaus unterbrochen. Ein einziger Senior schüttelt den Kopf, winkt ungehalten ab, verlässt demonstrativ den Saal. Die übrigen scheinen belustigt, ja begeistert.


Wie weit Humor mit gesundheitlich Angeschlagenen gehen darf, stand auch während zweier „Auswege“-Therapiecamps 2015 zur Debatte. In den täglichen „Morgenkreisen“ hatte der Mode­rator eine mehrteilige „Vorlesung“ über das medizinische Grund­konzept der Camps gehalten – in satirischer Form, illustriert mit Cartoons, die er auf eine Groß­leinwand projizierte. Von den insgesamt 70 Patienten und Ange­hö­rigen, die daran teilnahmen, scheint die Präsentation 68 belustigt zu haben: Weder mündlich im An­schluss an diese Veran­staltungen, noch in den während der Camptage geführten Tage­büchern, noch in abschließend auszufüllenden Frage­bögen, noch in darauffolgenden Brie­fen und Telefonaten äußerten sie die geringste Kritik. Bloß zwei protestierten: Manche Zeichnungen seien doch ziemlich „unter der Gürtellinie“, meinte einer; eine andere hinterlegte anonym im „Mecker-Briefkasten“, sie finde „die Witze teilweise sehr unpassend und makaber“; unser Pro­gramm müsse doch „von Liebe und Gemeinschaft getragen sein, nicht von Sarkasmus und schwarzem Humor“.


Heftige Widerstände gab es hingegen im Therapeutenteam. So un­ver­froren und ohne das gebotene Fein­gefühl, teilweise ver­letzend dürfe man Hilfe­suchende doch nicht auf den Arm nehmen, befand eine Mehr­heit. Das Risiko, Wun­den zu schlagen, sei zu groß.

„Und wenn hier ein Spezi­alcamp für religiöse Neuro­tiker verschiedener Konfes­sio­nen statfände: Dürften wir dann keinesfalls Karikaturen von Mohammed zeigen?“, argumentierte der Moderator. „Ihr würdet sagen: ‚Um Gottes Willen, bloß nicht! Damit verletzen wir religiöse Gefühle zutiefst. Abgesehen davon riskieren wir unangemeldete Besu­che von islamistischen Sprengstoff­experten.’ Ich halte dagegen: Wir sollten es – sofern wir Karikaturen von Jesus und Buddha danebenstellen.“


Trotzdem verschwand die „Vorle­sung“ aus dem Programm der folgenden Camps. Zurecht?


Die Erfolgsgeschichte der „Klinik-Clowns“ liefert überreichlich Belege dafür, dass Leidende auf Humor, der auf ihre Kosten geht, im allgemeinen keineswegs beleidigt reagieren – sie lachen mit, auch über sich selbst. Sogar Krebs­kranke im End­stadium tun es, ebenso Kriegsopfer in Flüchtlings­lagern der Dritten Welt: „Clowns ohne Grenzen“, die sie dort hin und wieder bespaßen, überschreiten jegliche Geschmacks­grenze, ohne mit der künstlichen Wimper zu zucken. Wie können solche Dreistigkeiten Leidenden gut tun? Der Clown hilft ihnen, für eine kurze Weile auf Distanz zu gehen: zu sich selbst, ihrer misslichen, oft als ausweglos empfundenen Lage. Die Perspektive wechselt. Die Faxen des Clowns bringen sie da­zu, die eigene Person, ihre deprimierenden Lebensumstände ab­wechslungsweise einmal nicht bitterernst zu nehmen; sie schaffen einen erleichternden Kontrapunkt zu all dem Jammern und Hadern, Leiden und Selbstbemitleiden, das den Alltag in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Pal­liativatationen und Hospizen prägt – Schicksals­mühlen, deren nicht immer nachvollziehbaren Regeln sich die meisten ausgeliefert fühlen, ohnmächtig und entmündigt, jeglicher Privat- und Intim­sphäre beraubt.


Warum wird Klinikclowns kaum je vorgeworfen, sie amüsierten sich gemeinerweise auf Kosten anderer? Es liegt am Geheimnis ihrer besonderen Komik: Zum Lachen bringt der Clown, indem er immer auch sein eigenes unentwegtes klägliches Scheitern zur Schau stellt, es der Lächerlichkeit preisgibt – und sich zugleich grimassierend und feixend über es erhebt. Er entblößt sich. Egal auf wessen Kosten er Schabernack treibt: Der Doofste ist am Ende er selbst, buch­stäblich der Depp, denn das Wort „Clown“ leitet sich vom lateinischen colonus her, was „Bau­ern­tölpel“ bedeutet. In der Rolle des „dummen August“ verkörpert er das unentwegte Versagen und Schei­tern des Menschen, seine Un­zulänglichkeit, Verletzlichkeit und Lebensuntüchtigkeit, über die er sich andererseits durch Selbst­iro­nie triumphierend erhebt. Diesem Prinzip folgten die um­strittenen „Morgenkreis-Vorle­sungen“: Jeder dritte Cartoon nahm gleichermaßen die Thera­peu­ten und Camp­orga­ni­sa­toren auf die Schippe.


Warum blieben wir trotzdem nicht dabei? Ein einziger Patient, der sich verspottet, verhöhnt, in seiner Wür­de verletzt fühlt, ist einer zuviel – egal, wie überwältigend die Mehr­heit ist, bei welcher der Humor glänzend ankommt. Denn nicht um statistischen Durch­schnitt geht es uns, sondern um jeden Einzelnen. Und anhaltende Meinungsverschie­denheiten im Therapeutenteam, selbst wenn sie bloß einen Rand­aspekt des Camp­geschehens betreffen, beeinträchtigen zwangsläufig dessen besonderen spirit – und da­mit indirekt auch die Atmosphäre innerhalb der gesamten Campge­mein­schaft. Der therapeutische Wert von Humor entscheidet sich letztlich nicht am statistischen Ver­hältnis zwischen Lachern und Pikierten – sondern daran, ob er in ausnahmslos jedem Fall Behand­lungsziele unterstützt, statt sie zu gefährden, indem er die therapeutische Be­ziehung beeinträchtigt. Clowne­reien an Orten, wo Kranke Hilfe suchen, dürfen nirgendwo einen „bitteren Nachgeschmack“ hinterlassen, keinerlei „Kollateral­schäden“ anrichten. Treten sie auf, war´s die besten Witze nicht wert.


Anmerkungen

1 Fry in einem Interview mit dem SZ-Magazin, 10.12.1999.

2 Fry im SZ-Interview, a.a.O.

3 In einem Interview mit dem Nachrich­tenmagazin Der Spiegel, 17.1.2014.

4 Siehe www.humorcare.com

5 Pressemitteilung der University of Ma­ry­land, Baltimore, im Juli 2009 („Laugh­ter is the Best Medicine for Your Heart“)

6 „Humour in Medicine“, Southern Medi­­cal Journal 96 (12) 2003, S. 1257-1261.

7 James Rotton/Mark Shats: „Effects of State Humor, Expectancies, and Choice on Postsurgical Mood and Self-Medica­tion: A Field Experiment”, Journal of App­lied Social Psychology 26 (20) 1996, S. 1775-1794.

8 Anatomy of an Illness As Perceived by the Patient, New York 1979; dt.: Der Arzt in uns selbst. Die Geschichte einer erstaun­li­chen Heilung − gegen alle düsteren Progno­sen, Reinbek 1984.

9 Im SZ-Interview, a.a.O.

10 Sheldon Cohen u.a.: “Psychological Stress and Susceptibility to the Com­mon Cold”, New England Journal of Medi­cine 325/1991, S. 606-612.


Dieser Beitrag erschien zuerst im Buch von Harald Wiesendanger: Auswege – Kranken anders helfen (2015).


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